Zornige Väter - Lisa Lercher - E-Book

Zornige Väter E-Book

Lisa Lercher

4,7

Beschreibung

In ihrem Kriminalroman "Zornige Väter" blickt die österreichische Krimiautorin Lisa Lercher hinter die Kulissen vermeintlich funktionierender Familien - und trifft wieder den Nerv unserer Zeit: Zwischen unerbittlichen Scheidungskriegen, radikalen Väterorganisationen und ihrer als Alleinerzieherin verzweifelnden Freundin droht die engagierte Beamtin Anna Posch zu zerbrechen. Sie gerät in einen Strudel aus illegalen Machenschaften und muss sich die Frage stellen: Sind Familienglück und ewige Liebe wirklich nur noch Illusion? Lisa Lercher in Höchstform: Ein gesellschaftspolitisches Dauerthema, gewürzt mit packender Krimispannung.

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Seitenzahl: 300

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Lisa Lercher

Zornige Väter

Kriminalroman

© 2014

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Überarbeitete E-Book-Ausgabe

Originalausgabe: Milena Verlag, Wien 2010

ISBN 978-3-7099-3567-5

Coverbild: www.photocase.com/dioxin

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Die Situation ist eindeutig - eine Frau in den Armen eines Mannes. Es könnte ein romantischer Anblick sein, wäre es nicht die falsche Frau in den Armen des falschen Mannes. Die Türschnalle entgleitet meiner Hand und schnellt nach oben. Thomas wendet den Kopf. In seiner Miene findet sich nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Yasemin hat mich wohl nicht bemerkt. Ihr Kopf lehnt noch immer an seiner Schulter.

Ich stehe unschlüssig in der Tür. Für einen empörten Abgang ist inzwischen zu viel Zeit verstrichen. Außerdem, woher nähme ich mir eigentlich das Recht? Thomas kann im Grunde tun und lassen was er will, Frauen umarmen, so viele er will. Er ist nichts weiter als ein Kollege. Einer von denen, die ich nett finde. Sehr nett sogar - zumindest bis vor zwei Minuten.

Eine Strähne hat sich aus Yasemins Hochsteckfrisur gelöst und ringelt sich auf der blitzblauen Seidenbluse. Der wadenlange dunkle Rock spannt um ihren Hintern. Hat sie zugenommen?

„Komm rein!“ Thomas winkt mich näher.

Der hat Nerven!

Erst jetzt bemerke ich, dass Yasemins Oberkörper zuckt. Ein kurzer Schluchzer bestätigt meinen zweiten Eindruck. Yasemin weint.

„Was ist los?“

Thomas deutet auf den Schreibtisch. Eine Zeitung liegt aufgeschlagen neben dem Telefon. Blutiges Familiendrama im Advent, lese ich. Ein niedliches Kleinkind mit Zöpfchen lächelt mir entgegen. Daneben das Foto eines Buben, der mit großen Augen traurig in die Kamera schaut. Kindern und Ehefrau die Kehle durchgeschnitten. Täter nach missglücktem Selbstmordversuch im Koma. Die Schlagzeile sagt im Grunde alles. Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum Yasemin weint.

Neben der Zeitung steht ein Aschenbecher mit drei Zigarettenstummeln. Zwei davon haben Lippenstiftreste am Filter. Eigentlich ist Rauchen in den Amtsräumen verboten. Seit wann raucht Yasemin?

„Was ist los?“ wiederhole ich meine Frage.

Yasemin löst sich langsam aus Thomas’ Umarmung. Ihr Gesicht ist fleckig, die Lider vom Weinen geschwollen. DieWimperntusche hat schwarze Schlieren unter ihren ausdrucksvollen dunklen Augen hinterlassen. Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Nase. „Hallo“, murmelt sie.

Wortlos reiche ich ihr ein Taschentuch und schäle mich dann endlich aus meinem Anorak.

„Ich hol uns Kaffee.“ Thomas lässt mich mit meiner Kollegin allein.

Yasemin setzt sich schwerfällig auf ihren Bürostuhl. Sie wirkt erschöpft und irgendwie gealtert. Ihr Blick bleibt an der Meldung über die grausamen Morde hängen, ihre Lippen beginnen zu zittern.

Als hochqualifizierte Fachkraft der Wiener Hotline für soziale Notlagen sollte ich wissen, was in solchen Situationen zu tun ist. Ich fühle mich überfordert. Schließlich nehme ich die Zeitung, falte sie und lege sie neben mich auf den Aktenschrank. Ich greife nach Yasemins Hand. Sie zuckt zusammen.

„Ich hätte es verhindern können!“, stammelt sie.

Was hätte sie verhindern können? Den Amoklauf dieses Wahnsinnigen, der seine Familie ins Jenseits befördert hat?

Thomas betritt mit drei Plastikbechern auf einem Clipboard, das als Tablett dient, das Zimmer. Er drückt Yasemin einen der Becher in die Hand. In manchen Situationen hilft es, sich irgendwo festzuhalten.

„Was hättest du verhindern können, Yasemin?“

Thomas lehnt am Fensterbrett und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Meine Kollegin reagiert nicht.

„Yasemin hat die Familie gekannt. Sie war mit Fatma befreundet!“, erklärt er.

„Verwandte?“ Seit ich mit Yasemin das Büro teile, habe ich einiges über türkische Familienclans gelernt. Der Zusammenhalt ist eng, das soziale Netz funktioniert vielfach besser als bei uns. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten.

„Fatma ist eine Schulfreundin.“ Yasemin wischt sich über die Augen, die Schlieren der Wimperntusche zeichnen ein neues Muster auf ihre hohen Backenknochen.

„Das tut mir leid. Furchtbar, so was“, sage ich betroffen. „Aber was hättest du tun können?“

Yasemins Augen sind vom Weinen gerötet, ihre Nase ist geschwollen. „Sie hat mich um Hilfe angefleht.“ Sie wird von einem neuerlichen Schluchzen geschüttelt.

„Hat sie sich bedroht gefühlt?“

Yasemin nickt. „Ich habe ihr geraten, mit den Kindern ins Frauenhaus zu flüchten. Wir wissen ja, dass es immer gefährlich wird, wenn sich die Frauen trennen wollen. Er ist total ausgeflippt, als sie ihm vor zwei Wochen gesagt hat, dass sie weg will. Die Nachbarn haben die Polizei geholt.“

„Ist er weggewiesen worden?“, frage ich, weil sich die Möglichkeit, einen gewalttätigen Partner mit Hilfe der Polizei aus der unmittelbaren Umgebung der Opfer entfernen zu lassen, in der Praxis sehr bewährt hat.

„Ja. Er hat sich aber auch total aufgeführt. Fatma hat mich noch am selben Abend aus dem Krankenhaus angerufen.“

„Sie war verletzt?“

Aus Yasemins Augen purzeln Tränen, sie schnieft. „Mmh.“

„Ihre Nase war gebrochen. Ansonsten das Übliche, blaue Flecken und eine geprellte Schulter, weil er sie gegen den Kasten gestoßen hat“, ergänzt Thomas.

Obwohl seine Stimme sachlich klingt, höre ich die unterdrückte Wut. Ich erinnere mich, dass Thomas gesagt hat, er wäre gern einmal für eine halbe Stunde mit einem dieser Typen allein in einem Zimmer. Den meisten wäre er vermutlich gewachsen, muskulös und durchtrainiert wie er ist. Aber ich weiß auch, dass das keine Lösung ist - selbst wenn die Vorstellung in manchen der Fälle, mit denen wir zu tun haben, etwas Befreiendes hat.

Yasemin schnäuzt sich ausgiebig. Ich schubse die Papiertaschentücher in ihre Richtung. Sie zieht ein frisches Tuch aus der Packung und wischt sich über Augen und Mund und sagt: „Und ein gebrochenes Handgelenk.“

Mein Blick fällt auf die Zeitung. Die Story ist natürlich auch der Aufmacher für die Titelseite des kleinformatigen Blatts, das gratis in jeder U-Bahnstation aufliegt. Welcher Chefredakteur würde sich so was entgehen lassen?

Fatma war ausgesprochen hübsch, eigentlich eine Schönheit. Ich versuche, mir die junge Frau mit aufgeplatzten Lippen und einem blauen Auge vorzustellen. Sie wirkt so glücklich, lächelt mit strahlenden Augen von dem Foto. Wie konnte er ihr das antun?

Als hätte Yasemin meine Gedanken erraten, sagt sie: „Er war so wahnsinnig eifersüchtig. Dabei hat er überhaupt keinen Grund gehabt. Fatma war ihm immer treu. Ich glaube, dass sie ihn trotz allem geliebt hat.“

Wenn ich nicht wüsste, dass sie mindestens so viel Fachwissen wie ich hat, müsste ich jetzt zu einem langen Monolog ansetzten - über Abhängigkeiten, Manipulation, fehlendes Selbstwertgefühl und so weiter. So belasse ich es bei einem knappen „Kein Mensch will geschlagen werden“.

„Natürlich nicht.“ Thomas rückt von der Fensterbank ab und stützt sich mit den Unterarmen auf die Lehne eines der Besuchersessel. „Aber du sieht ja oft genug, wie schwierig es ist, Beziehungen zu beenden, auch wenn sie einen fast schon umbringen. Es nützt halt nichts, wenn dir alle anderen sagen, du sollst dich endlich trennen. So lange du selber nicht soweit bist, wirst du immer eine Entschuldigungen finden, warum du weiter machst, warum du ihm noch eine allerletzte Chance gibst oder warum er wieder einmal nicht allein schuld ist.“

Mir braucht er keine Vorträge halten!

„Sie wollte sich ja trennen, hat sogar schon einen Termin in der Frauenberatungsstelle gehabt und sich wegen der Scheidung informiert. Und er ist wegen der Körperverletzung angezeigt worden und hat ein Betretungsverbot gekriegt.“

„Und wie ist das dann passiert?“ Ich deute auf die Zeitung.

Yasemin schüttelt den Kopf. Sie klammert sich an ihre Kaffeetasse. „Ich weiß nicht. Gestern haben wir noch … wenn ich das geahnt hätte … ich hätte …“, stammelt sie.

Thomas hockt sich neben Yasemin. Er streichelt über ihre Hand. Die Vertraulichkeit der Geste stört mich. Der Silberring an seinem Mittelfinger blitzt auf. „Yasemin hat gestern am Nachmittag noch mit Fatma telefoniert. Ihr Mann wollte sich unbedingt zu einer Aussprache treffen. Yasemin hat ihr natürlich abgeraten. Noch dazu, wo die Pistole verschwunden war.“

„Welche Pistole?“ Ich rutsche nach vorne auf die Sesselkante.

„Fatmas Mann war Polizist. Er hat sie mehrfach mit seiner Dienstwaffe bedroht, einmal sogar abgedrückt.“

Das wird ja immer besser! Wieso weiß ich nichts von dieser Geschichte?

„Die Pistole war nicht geladen - und er war betrunken.“ Yasemin klinkt sich wieder in unser Gespräch ein.

„Du willst ihn aber jetzt nicht entschuldigen, oder?“ Einen Augenblick lang bin ich mir nun doch nicht sicher, ob Yasemin in diesem speziellen Fall die nötige professionelle Distanz hat. Wie hat sie das vorhin mit der Liebe gemeint?

„Das hat Fatma gesagt.“ Yasemins Ton ist ein wenig schroff. „Nüchtern war er der liebevollste Ehemann und Vater, den man sich vorstellen kann. So hat sie es mir wenigstens erzählt. Und ich wüsste nicht, warum sie mich anlügen sollte.“

Ich schnaube verärgert durch die Nase. „Darum geht es doch gar nicht.“

„Worum dann?“ Yasemins Unterlippe zittert.

„Ich finde es halt schwierig, eine Freundin zu beraten. Schon gar, wenn man die gesamte Familie kennt. Da hat man nicht so die Distanz …“

„Du glaubst also auch, dass ich …“ Das Ende des Satzes geht in ihrem Schluchzen unter.

„Anna, hör auf. Das bringt doch nichts.“ Thomas’ Versuch, die entstandene Spannung zu glätten, macht mich noch aggressiver.

„Aufhören? Womit denn? Was habe ich denn gesagt?“, fauche ich ihn an.

„Deine Mimik reicht.“

„Himmel noch einmal! Schauen wird man ja noch dürfen!“ Unwirsch springe ich auf. Die Rückenlehne meines Sessels knallt gegen die Wand, eines der Sesselbeine stößt gegen meine Wade. Das wird sicher ein ordentlicher blauer Fleck.

Yasemin hat die Schultern hochgezogen und zerknüllt das Taschentuch zwischen ihren Fingern.

Thomas betrachtet mich scheinbar gelassen. Der Muskel nahe an seinem rechten Ohr zuckt. Seit er die Haare wieder lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt, sind solche Regungen gut sichtbar.

Yasemin greift nach den Zigaretten, die neben dem Usambaraveilchen auf der Fensterbank liegen. Mit zitternden Fingern steckt sie sich eine davon zwischen die Lippen. Thomas nimmt die Packung und hält sie mir auffordernd hin.

„Friedenspfeife?“

„Tut mir leid“, ringe ich mir schließlich ab. Ob ich damit meine Mimik oder den umgefallenen Sessel meine, lasse ich offen. Okay, Okay! In gewisser Weise hat er ja recht. Das Letzte, was Yasemin jetzt brauchen kann, ist Kritik. Aber sind die beiden nicht ein wenig zu empfindlich, wenn sie schon Probleme mit einer gerunzelten Stirn haben?

Ich seufze. Eigentlich bin ich Gelegenheitsraucherin. Ich greife nach einem der Glimmstängel. Wenn das keine Gelegenheit ist, was dann? Ich schiebe eine Haarsträhne hinter die Ohren und beuge mich nach vor, damit Thomas mir Feuer geben kann. Ich inhaliere tief. Der erste Zug macht mich benommen, die leichte Übelkeit verschwindet rasch.

Das Telefon läutet. Der Arbeitsalltag hat begonnen. Ich greife nach dem Hörer. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung ist sehr leise. Ich muss meine neue Klientin mehrmals bitten, lauter zu sprechen, weil ich sie kaum verstehe. Yasemin dämpft ihre halb gerauchte Zigarette aus, Thomas schiebt den Aschenbecher in meine Reichweite. Die Frau am Telefon beginnt umständlich mit ihrer Geschichte, während meine Zigarette langsam im Aschenbecher verglüht. Sie erzählt mir lang und breit, wie sie ihren Mann fürs Leben kennen gelernt hat und dass sie sofort gewusst hat, dass er der Richtige ist. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Fatmas klaffende Halswunde taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich male mit dem Kugelschreiber kleine Kreise auf einen Schreibblock und warte, dass meine Klientin zum Kern der Sache kommt.

Thomas kippt das Fenster und winkt mir zu. Yasemin schließt sich ihm an, als er das Büro verlässt. Die beiden sind eigentlich ein schönes Paar.

„Soll ich es tun?“ Die Frage meiner Klientin reißt mich unsanft aus meinen Gedanken.

Was tun? „Was spricht dafür?“, ziehe ich mich mit einer Floskel aus der Affäre.

„Ich hätte gern ein Kind von ihm.“

Wo liegt das Problem?

„Ich habe etwas gespart. Auch wenn er nicht viel hat, weil er ja für seine vier Kinder noch Alimente zahlt …“

„Und wünscht sich Ihr Partner noch ein fünftes Kind?“

Die Frau übergeht meine Frage. „Ein Urlaub geht sich in den nächsten Jahren dann halt nicht aus. Aber mit einem Baby kann man ohnehin keine weiten Reisen unternehmen.“

„Wenn Sie sich beide ein gemeinsames Kind wünschen, dann …“

„Ich bin mir sicher, wenn es da ist, freut er sich. Jetzt hat er natürlich Bedenken wegen der Alimente, und für seine Exfrau muss er auch noch zahlen. Er ist sehr verantwortungsbewusst. Ich dürfte ihm gar nicht sagen, dass ich die Pille schon seit zwei Monaten nicht mehr …“

Ich unterdrücke ein Stöhnen und greife mir stattdessen an die Stirn. Warum ist die Emanzipation an manchen Frauen ganz so spurlos vorüber gegangen?

„Ich halte es für keine gute Idee, wenn Sie die Pille absetzen, ohne sich vorher mit Ihrem Partner zu besprechen. Es könnte ja auch sein, dass er gar kein weiteres Kind mehr haben möchte. Wären Sie denn bereit, das Baby auch ohne seine Unterstützung großzuziehen?“

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Ich verstehe Ihren Kinderwunsch sehr gut. Die Rahmenbedingungen sind aber schwierig und Sie sollten sich gut überlegen, welche Alternativen es gibt, wenn Ihr Freund nicht zu einer neuen Familie steht.“

Die Frau seufzt. „Ich weiß. Sie haben recht. Es ist kompliziert und doch wieder nicht. Da ist so viel Liebe zwischen uns, damit müssten wir es doch schaffen. Oder nicht?“

Ich sollte dieses Gespräch aufzeichnen und der Frau die Kassette schicken. Ich bin mir sicher, dass der Tag kommt, wo sie abstreitet, das jemals so gesagt zu haben. Spätestens dann, wenn er sie hochschwanger sitzengelassen hat, um Gott weiß wo ein neues, familienloses Leben anzufangen.

„Schauen Sie, meine Erfahrung ist, dass man so ein Familienprojekt im Idealfall gemeinsam angehen sollte. Gerade dann, wenn ein Partner schon Kinder hat und er finanziell …“

„Ich verstehe Sie schon“, unterbricht mich meine Klientin. „Ich werde darüber nachdenken. Danke. Es läutet an der Tür. Ich muss aufmachen. Auf Wiederhören.“

Das Gespräch endet abrupt. Ich starre auf den Hörer und lege schließlich auf. Ich bin mir sicher, dass die Türglocke nur ein Vorwand war. Und ich möchte darauf wetten, dass die Frau ihrem Freund nichts über ihren Verhütungsboykott erzählen wird. Wahrscheinlich habe ich sie in ein paar Monaten wieder in der Leitung und suche ihr die Adressen einiger Abtreibungskliniken heraus. Ich muss aufpassen. Ich werde langsam zynisch. Aber das ist verständlich, wenn man so lange wie ich bei einer Hotline arbeitet. Der Alltag hier bestätigt die Befürchtungen leider allzu oft.

Mein Kaffee ist längst kalt geworden und ich friere. Ich schließe das Fenster und drehe die Heizung höher. Yasemin kommt zurück, die schwarzen Schlieren in ihrem Gesicht sind verschwunden, die Augen und der Mund sind frisch geschminkt. Nur die leicht gerötete Nase erinnert noch an ihren Zusammenbruch.

Sie greift nach dem Wasserkocher. „Soll ich uns frischen Kaffee kochen?“

„Gern!“ Die Debatte über fehlende Professionalität im Fall von Klienten, die Freunde oder Bekannte sind, sparen wir vorläufig besser aus. Dafür braucht es ein anderes Klima und mehr Abstand zu dem aktuellen Anlass. Außerdem läutet mein Telefon schon wieder. „Krisentelefon Posch.“

„Ja, hier Teschl“, meldet sich eine Männerstimme. „Ich hätte gerne gewusst, wann ich mit einer Antwort auf meinen Brief an den Herrn Stadtrat rechnen darf? Bin ich da bei Ihnen richtig?“

Ich erfahre, dass Herr Teschl sein Schreiben schon vor zwei Wochen abgeschickt hat. „Wissen Sie, es ist dringend. Ich brauche Unterstützung, meine Exfrau lässt mich die Kleine jetzt gar nicht mehr sehen. Der Stadtrat hat damals bei dieser Veranstaltung …“

Das Läuten von Yasemins Telefon lenkt mich ab. Sie nimmt das Gespräch an, lauscht kurz und antwortet dann auf Türkisch. Das ist nicht weiter außergewöhnlich. Schließlich hat sie die Stelle im Magistrat vor allem auch deshalb bekommen, weil sie Türkisch spricht. Seit wir unser Beratungsangebot erweitert haben, melden sich zunehmend mehr türkische Frauen, die oft trotz jahrelangen Aufenthalts in Wien kaum ein Wort Deutsch sprechen.

Mein Klient hat bemerkt, dass ich ihm nicht zugehört habe. „Wenn ich nicht in den nächsten Tagen eine Stellungnahme bekomme, werde ich …“ Er lässt die Drohung offen. Ich bemühe mich, ihn zu beschwichtigen und verspreche, dass ich mich um den Verbleib seines Briefes kümmern werde. Scheidungsväter, denke ich bei mir. Fatmas lächelndes Gesicht taucht vor mir auf.

Ich notiere eine E-Mail-Adresse, unter der ich Teschl erreichen kann, falls sein Schreiben nicht auffindbar ist. Plötzlich bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass etwas nicht stimmt. Yasemin sitzt wie erstarrt in ihrem Sessel. Sie ist kalkweiß, ihr Blick geht ins Leere. Die Stimme aus dem Telefonhörer ist deutlich zu vernehmen. Nachdem ich kein Türkisch verstehe, hilft mir das nicht weiter. Ich versuche, mit Handzeichen ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie nimmt mich jedoch nicht wahr. Mein Klient fragt ungeduldig nach, ob ich die Adresse nun endlich hätte. In diesem Moment beginnt Yasemin zu reden. Zunächst holpern Worte wie abgehackt über ihre Lippen, dann beschleunigt sich ihr Redefluss und sie beginnt zu gestikulieren.

Als ich mein Gespräch beendet habe sehe ich, dass nun auch wieder Tränen aus ihren Augen purzeln. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist noch lauter geworden. Es ist eine Männerstimme und für mich klingt es so, als würde Yasemin beschimpft. Warum knallt sie den Hörer nicht einfach auf die Gabel? Wir sind zwar eine öffentliche Serviceeinrichtung, aber jeden Umgangston müssen wir uns deshalb noch lange nicht bieten lassen. Vielleicht wäre es ohnehin besser, sie würde sich Zeitausgleich nehmen und nach Hause gehen. Nach der Geschichte mit ihrer Schulfreundin wird heute wohl nicht mehr viel mit ihr anzufangen sein. So etwas nimmt einen mit!

Ich greife nach Yasemins Hand. Sie ist kalt. Yasemin schreckt auf und zieht die Hand zurück, als ob die Berührung sie elektrisiert hätte. Auch ihre Haltung verändert sich. Sie sinkt wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Ihre Tränen hinterlassen dunkle Flecken auf der Seidenbluse. Ihr Gesprächspartner scheint immer noch sehr aufgeregt. Dann, Yasemin will gerade etwas sagen, höre ich plötzlich das Besetztzeichen. Hat der Typ einfach aufgelegt?

Yasemin kauert in ihrem Sessel, ihre Finger krampfen sich um den Hörer, sie schnieft.

„Yasemin, was ist denn los?“

Sie schnieft neuerlich und legt den Hörer auf die Tischplatte anstatt auf die Gabel. Sie wischt sich über die Augen.

„Wer war denn das?“

„Fatmas Bruder“, antwortet sie leise.

„Und wieso schreit der so mit dir?“

Sie zögert. Ich warte geduldig.

„Er meint, ich hätte ihr helfen können. Sie hätte nicht sterben müssen.“ Weidwund würde ich den Blick nennen, den Yasemin mir zuwirft.

Ist an diesem Vorwurf etwas dran? „Wie kommt er darauf?“

„Immerhin hat sie sich an eine öffentliche Stelle gewandt. Und wir haben nichts getan.“

„Was hätten wir denn tun sollen? Uns bei ihr einquartieren und ihren Mann mit gezielten Tritten schachmatt setzen? So wie in Drei Engel für Charlie?“

Ich merke sofort, dass ich mit diesem Kommentar zu weit gegangen bin. „T’schuldige!“

Yasemin greift nach den Taschentüchern und schnäuzt sich damenhaft dezent.

„Glaubt er wirklich, wir hätten es verhindern können?“

„Er sagt, wenn einem nicht einmal die öffentlichen Stellen helfen, darf sich keiner wundern, wenn die Ausländer zur Selbstjustiz greifen. Und außerdem ist das ganze Land sowieso total ausländerfeindlich und wenn Fatma keine Türkin gewesen wäre, hätten wir auch mehr für sie getan und so weiter und so fort.“

Sie lehnt sich erschöpft und ein wenig mutlos in ihren Sessel zurück.

„Blödsinn. Gerade weil ihr befreundet wart, war sie doch bei dir an der besten Adresse. Du kennst dich aus, hast ihr alles erklärt, die Telefonnummern weitergegeben, sie über die rechtlichen Möglichkeiten informiert …“

Jedenfalls hoffe ich, dass es so war. Das Besetztzeichen aus dem Hörer, der noch immer am Tisch liegt, nervt. Aber wenn ich Yasemin bitte endlich aufzulegen, läutet es ganz bestimmt gleich wieder.

„Ich hätte sie mehr drängen sollen. Sie einfach überreden, dass sie mit den Kindern ins Frauenhaus geht. Nach der Geschichte mit der Pistole war doch eigentlich klar, dass er zu allem fähig ist.“

„Hinterher weiß man es immer besser. Alle geben dann ihren Senf dazu. Was war eigentlich mit der Familie? Bei euch helfen die doch viel mehr zusammen. Der Bruder hätte ihm doch klar machen können, dass es so nicht geht.“

Aus Erfahrung weiß ich, dass mitunter auch angedrohte Prügel und ein wenig mehr soziale Kontrolle des Umfeldes Wunder wirken können. Der Fall aus dem Tiroler Bergdorf, wo der Pfarrer dem gewalttätigen Familienvater ein blaues Auge verpasst hat, ist mir noch in deutlicher Erinnerung. Zusätzlich zur Abreibung hat der Pfarrer dem Mann angedroht, die Schandtaten bei der nächsten Sonntagspredigt von der Kanzel aus zu verkünden. Natürlich mit Namensnennung, sonst hätte das Ganze ja keinen Sinn gehabt. Soweit ich weiß, hat sich der Betreffende in den darauf folgenden Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert. Aber leider ist ja nicht immer so ein beherzter Pfarrer zur Stelle, und bei der Vielzahl an Kirchenaustritten, ist der Erfolg der Methode vermutlich sowieso beschränkt. Außerdem ist da noch die Sache mit der Gewaltlosigkeit, für die wir immer eintreten. So sehr mir die Geschichte mit dem Pfarrer gefällt, mit unserem Ansatz ist sie nicht vereinbar. Oder ist da einfach nur eine Lücke in unserem theoretischen Konzept?

„Die Familie.“ Yasemin schnaubt durch die Nase. „Die Familie“, wiederholt sie.

„Wollte die ihr nicht helfen?“

„Die Familie war gegen die Heirat. Eigentlich hat es schon angefangen, als Fatma ihn ihren Eltern vorgestellt hat. Sie haben von Anfang an versucht, ihr das auszureden. Aber Fatma ist manchmal so richtig stur … war stur. Er war es für sie. Die große Liebe. Und wahrscheinlich war auch ein wenig Trotz dabei.“

„Trotz?“

„Ihre Eltern wollten, dass sie Mehmet heiratet. Seine Eltern sind aus demselben Dorf wie ihre Eltern und haben auf dem Brunnenmarkt ein großes Geschäft. Der wäre wirklich eine gute Partie gewesen, und aus der Community ist er auch. Aber nein, sie hat sich für diesen Manfred entschieden, einen Polizisten aus dem Waldviertel.“

„Ihr Mann war Österreicher?“ Ich schüttle erstaunt den Kopf. Blöd auch, wie komm ich darauf, dass der Mann Türke war? Wegen der durchgeschnittenen Kehlen?

„Stand doch in der Zeitung.“

Das Läuten meines Telefons erlöst mich aus einer Situation, die peinlich werden könnte. Immerhin bin ich gerade auf eine kleine Gruppe von Vorurteilen gestoßen, die ich auf gar keinen Fall vor Yasemin ausbreiten möchte. Ich vergewissere mich auf dem Display, dass es sich um ein externes Gespräch handelt, hebe ab und lasse den Hörer gleich wieder auf die Gabel fallen. Dann schalte ich meine Klappe auf das Tonband um, das darüber informiert, dass wir gerade eine wichtige Besprechung haben. Stimmt auch – irgendwie.

„Ein Waldviertler? Muss ich überlesen haben.“

„Auch Österreicher schneiden anderen die Kehle durch“, sagt Yasemin sarkastisch.

Erwischt! Ich weiß ja, dass meine Mimik Bände spricht.

„Wäre doch anzunehmen, dass er sie erschießt? Nicht? Wieso hat eigentlich die Polizei nichts getan? Sie hat ihn doch angezeigt?“

Yasemin lacht bitter auf. „Die Polizei? Einem Kollegen?“

„Du meinst, die Männer haben wieder einmal zusammengehalten?“

Yasemin schiebt die Zigarettenpackung zwischen Aschenbecher und Kaffeetasse hin und her.

„Ganz so war es nicht. Die dürften ein ernstes Wort mit ihm geredet haben, was im Endeffekt aber nicht wirklich geholfen hat. Außerdem hat er die Waffe nach Dienstschluss auf dem Revier lassen müssen.“

Ich schnalze beeindruckt mit der Zunge. „Immerhin. Wir hatten auch schon Fälle, wo gar nichts in diese Richtung passiert ist.“

„Fatma ist trotzdem tot.“

„Und zu ihren Eltern konnte sie nicht, weil die ihr gesagt haben, du hast dir die Suppe mit dem Österreicher eingebrockt, nun löffle sie gefälligst auch selber aus“, mutmaße ich.

„So ähnlich. Oder nein, eigentlich nicht. Fatma war sich da selber im Weg. Sie wollte lange nicht zugeben, wie es zwischen ihr und Manfred aussieht. Sich zuerst gegen die Eltern durchsetzen und dann eingestehen, dass sie mit ihren Bedenken recht gehabt haben? Das geht doch nicht.“ Yasemin schiebt die Zigarettenpackung resolut zur Seite. „Das geht nicht.“

„Und eine Trennung?“

„Eine Trennung?“ Yasemin schaut mich an, als ob sie an meinem Geisteszustand zweifeln würde. „Das hätte sie ihren Eltern nie angetan. Die Schande.“

Leben wir wirklich im 21. Jahrhundert? „… den Eltern angetan! So was Deppertes. Was war mit ihr und den Kindern? Sich selbst kann man das schon zumuten?“ Diesmal kann ich mich nicht bremsen.

„Das verstehst du nicht!“ Yasemin klingt eingeschnappt.

Eh klar, wenn’s ums Eingemachte geht, wirft sie mir mangelndes Kulturverständnis vor. „Wieso erklärst du es mir dann nicht?“

Ein Klopfen an der Tür unterbricht den beginnenden Streit. Thomas steckt seinen Kopf herein. „Was ist bei euch? Der Senatsrat hat sich grad beschwert, dass er niemanden erreicht.“

Er bemerkt den abgelegten Telefonhörer und vermutlich auch Yasemins neuerlich von Wimperntuschspuren gezeichnetes Gesicht. „Alles klar. Soll ich ihm sagen, dass ihr grad mit einem schwierigen Fall beschäftigt seid?“

Yasemin verneint und auch ich schüttle den Kopf. Pflichtbewusst legt sie den Hörer auf die Gabel.

„Mir ist nicht gut. Ich würde gern nach Hause gehen“, sagt Yasemin gleich darauf.

„Kein Problem.“

Meine Kollegin meldet sich vorschriftsmäßig im Vorzimmer des Senatsrats ab, schlüpft in ihren Mantel und verlässt das Büro.

Nervös schaue ich auf die Uhr am Display meines Handys. Ich sollte längst im Büro sein. Die Straßenbahn hat sich in den letzten zehn Minuten nur wenige Meter vorwärts bewegt. Grund ist eine Demonstration auf der Ringstraße. Der Fahrer informiert uns, dass mit einem längeren Aufenthalt zu rechnen ist und öffnet die Falttüren.

Ich rufe Thomas an und sage ihm, dass ich mich verspäte.

Der Demonstrationszug ist vor dem Parlament zum Stehen gekommen. Ich dränge mich an Männern unterschiedlicher Altersgruppen vorbei. Einige haben ihren Nachwuchs dabei. Frauen sind nur wenige hier. Kinder brauchen Väter, lese ich auf einem der Transparente. Nicht ohne meinen Sohn, steht auf einem anderen. Offenbar bin ich mitten in die Proteste der Scheidungsväter geraten. Ich erinnere mich dunkel an die Ankündigung in den gestrigen Abendnachrichten. Ein junger Mann drückt mir einen Flyer in die Hand. Haben Väter Rechte?, lautet der provokante Titel des Textes. Ich falte das Blatt und stecke es ein.

Vor der Rampe beim Parlament steht eine Rednertribüne. Ein dunkelhaariger Mann hat sie unter großem Applaus betreten. Das muss ein Sprecher der Bewegung sein.

„Liebe Freunde, liebe Väter, sehr geehrte Damen und Herren“, beginnt er seine Ausführungen. „Die Zeiten ändern sich, so wie das Bild vom Vater. Wir lassen uns nicht länger von einem Staat bevormunden, der unsere Rechte mit Füßen tritt. Wir, die neuen Väter, wollen Anerkennung. Unser Vatersein beschränkt sich nicht auf Alimente. Geld ersetzt keine Vaterliebe …“

Der angenehme Bariton ist gut zu verstehen.

„Wer ist das?“, frage ich einen älteren Mann neben mir.

„Doktor Hummer. Der ist gut, der wird auch die Politiker überzeugen. Höchste Zeit, dass etwas getan wird. Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen, die stinken zum Himmel, so wie bei meinem Sohn, stellen Sie sich vor …“

„Ich muss leider“, unterbreche ich seinen Redefluss. Ich nicke dem Mann zu, der mir verdutzt nachschaut. Der engagierten Rede dieses Doktor Hummer würde ich gern weiter zuhören, aber ich muss endlich in die Arbeit.

Bin beim Chef, lese ich auf dem Post-it, das auf meinem Bildschirm klebt. Wieso ist Yasemin nicht im Krankenstand geblieben? Die geblümte Kaffeetasse neben ihrem Notizbuch ist noch halb voll. Was der Senatsrat wohl von ihr will?

Mein Telefondienst beginnt heute erst am Nachmittag. Seit die Stadträtin aus Gesundheitsgründen vorzeitig aus ihrem Amt geschieden ist, hat sich einiges geändert. Der neue Stadtrat legt besonderen Wert auf Bürgernähe und gute Öffentlichkeitsarbeit. Kein Wunder, er will schließlich nach den nächsten Wahlen wieder mitmischen. Auch wir profitieren davon. Der Senatsrat hat endlich eine Aufstockung des Personals durchgesetzt. Seither bleibt mir mehr Zeit für die Beantwortung der schriftlichen Anfragen. Mein Postfach ist schon wieder übervoll und es wird höchste Zeit, dass ich mich um die Briefe und E-Mails kümmere. Einige davon sind schon mehr als sechs Wochen alt. Dafür kann ich zwar nichts und ich verstehe auch nicht, warum sie so lange im Büro des Stadtrats liegen bleiben müssen, bevor man sie zur Bearbeitung an mich weiterleitet. Den Ärger und die Ungeduld der Bürgerinnen und Bürger bekomme ich aber in jedem Fall ab. So ist das eben im Amt.

Ich schalte den Wasserkocher ein und gieße den Ficus und die Usambaraveilchen auf dem Fensterbrett. Eigentlich könnte ich auch gleich lüften. Sauerstoff soll die Leistungsfähigkeit ankurbeln. Vielleicht ist er auch für meine Motivation gut.

Gestern ist es wieder einmal spät geworden. Mona, meine beste Freundin aus Kindertagen und Mutter meines Patenkindes Marlene, hat mich wieder einmal zum Babysitten gebraucht. Sie ist Alleinerzieherin, der Kindesvater lebt in der Steiermark und den Kontakt zu ihren Eltern hat sie ganz abgebrochen. Mona hat mir zwar angeboten, bei ihr zu übernachten, aber ich wollte lieber in mein eigenes Bett. Am Wochenende soll ich schon wieder auf Marlene aufpassen. Da werde ich dann ohnehin bei Mona schlafen müssen, weil sie über Nacht weg bleibt. Oder ich nehme die Kleine mit zu mir, was aber einen erheblichen Organisationsaufwand bedeutet.

Während ich in Ruhe meinen Kaffee trinke, verschaffe ich mir einen Überblick über die elektronische Post. Eine E-Mail mühsamer als die nächste. Da will eine Frau vom Stadtrat wissen, ob er es für sinnvoll hält, dass ihre Schwiegertochter noch ein zweites Kind kriegt, wo sie doch mit dem ersten schon nicht zurechtkommt. Das Schreiben trägt den Vermerk: mit der Bitte um Antwortentwurf für den Herrn Stadtrat. Das heißt im Klartext, dass ich eine sozialpolitisch vertretbare Antwort in netten Worten entwerfen soll, damit die Frau das Gefühl hat, mit ihrem Problem an der richtigen Stelle gelandet zu sein. Was schreib ich der bloß?

Die nächste E-Mail ist einfacher zu beantworten. Eine junge Mutter beschwert sich, dass die Stadt zu wenig für Wiedereinsteigerinnen tut. Der werde ich die Langfassung unserer Litanei über die Maßnahmen der letzten Jahre schicken. Die wird sich wundern, was die Politik schon alles erreicht hat. Dabei verstehe ich ihr Problem. Seit Mona das Kind hat, bekomme ich hautnah mit, was es bedeutet, berufstätige Alleinerzieherin mit einem Kleinkind zu sein. Mona hat wenigstens mich zum Sitten. Und wenn sie nicht so stur wäre, hätte sie sich längst mit ihrem Vater versöhnt. Vermutlich würde er ihr auch finanziell ein wenig unter die Arme greifen, damit sie nicht jeden noch so beschissenen Auftrag annehmen muss.

Ich gieße mir einen zweiten Kaffee auf und nehme das Briochekipferl aus meinem Rucksack. Das hätte ich jetzt fast vergessen! Ich ziehe meinen Notizblock näher heran. Da war doch gestern dieser Anruf von einem Herrn Teschl. Habe ich sein Schreiben zugeteilt bekommen? Wenn nicht, muss ich in der Kanzlei nachfragen.

Im Arbeitsvorrat des elektronischen Aktes werde ich schließlich fündig. Zu dem Schreiben gibt es Beilagen, die ich mir ausdrucke. Das Lesen am Bildschirm ist mir zu anstrengend.

Dass wir die Vorreiterrolle bei der Erprobung des elektronischen Aktes beim Wiener Magistrat spielen, haben wir dem Stadtrat zu verdanken. Seither wird sämtliche Post, die an die Magistratsabteilung geschickt wird, bei der Eingangsstelle registriert und eingescannt. Die Originalbriefe kommen nach einem halben Jahr in den Schredder. Die elektronisch erfassten Unterlagen werden - wie früher die Papierstücke - bearbeitet und im System abgespeichert. Damit ist alles nun angeblich noch viel schneller und sicherer und soll darüber hinaus eine deutliche Papierersparnis bringen. Letzteres bezweifle ich. Beim Senatsrat türmen sich die Papierberge nach wie vor, und auch die Stöße auf meinem Schreibtisch sind nur unwesentlich kleiner geworden.

Der Hagelzucker des Kipferls schmilzt in meinem Mund. Schade, dass ich keine Butter dabei habe. Briochekipferl mit Butter und Kaffee ist ein Geschmackserlebnis für sich.

Die als Attachment angeschlossenen Unterlagen sind ein Gerichtsbeschluss, das Scheidungsurteil und ein Foto, das einen Mann mittleren Alters mit einem Kind zeigt. Die Qualität des Fotos ist schlecht. Ich könnte es mir auch in Farbe ausdrucken. Allerdings müsste ich dazu ins Vorzimmer des Senatsrats. Seine Sekretärin, Frau Wallner, wacht darüber, dass wir den Farbdrucker nicht für private Zwecke missbrauchen. Ich klicke stattdessen das Foto auf dem Bildschirm an und vergrößere es. Die Haare der Kleinen reichen bis über die Schultern. Sie hält eine Schultüte im Arm und lächelt ohne Schneidezähne in die Kamera. Der Mann daneben hat, wie das Kind, dunkle Augen und einen Schnauzbart. Die beiden wirken sehr vertraut miteinander.

Sehr geehrter Herr Stadtrat!

Ich schreibe Ihnen, weil ich vor kurzem auf einer Veranstaltung eine Rede von Ihnen gehört habe, in der Sie sich sehr für Scheidungsopfer eingesetzt haben.

Mein Name ist Roland Teschl, ich bin 1967 geboren und von Beruf Finanzberater. 2001 habe ich geheiratet und vor sieben Jahren kam meine Tochter Sophia zur Welt.

Vor etwa einem Jahr hat mir meine Frau mitgeteilt, dass sie sich scheiden lassen will. Das war für mich vollkommen überraschend. Sie hat mich nicht wissen lassen, was der Grund für ihren Entschluss ist, mir jedoch gesagt, dass es aus ihrer Sicht nichts weiter zu diskutieren gibt.

Ich gebe zu, dass wir uns mit den Jahren ein wenig auseinander gelebt haben, woran sicher auch mein Beruf (ich war geschäftlich sehr viel unterwegs) mitschuldig ist. Ich habe die Scheidung zwar bedauert, aber den Wunsch meiner Frau selbstverständlich akzeptiert.

Nun zum eigentlichen Problem. Die Beziehung zu meiner Tochter war immer gut. Sie sollen wissen, dass ich mein Kind über alles liebe und alles für es tun würde.

Meine Frau hat mir nun erklärt, dass sie nicht möchte, dass ich meine Tochter weiterhin sehe. Sie war diesbezüglich auch schon beim Jugendamt. Als ich meine Tochter die letzten Male am Wochenende abholen wollte, hat mich meine Frau kurzfristig angerufen und gesagt, dass Sophia krank ist und ich sie deshalb nicht sehen kann. Ich bin davon überzeugt, dass es sich dabei um Ausreden gehandelt hat.

Sehr geehrter Herr Stadtrat – ich weiß nicht, was passiert, wenn ich meine Tochter nicht mehr sehen darf. Dürfen die Mütter denn alles allein bestimmen wenn es um die Kinder geht? Es kann doch nicht im Sinne der Gerechtigkeit sein, dass ein Vater überhaupt keine Rechte mehr hat!!!

Bitte helfen Sie mir und teilen Sie mir mit, was ich tun kann, damit ich weiterhin mit meiner Tochter zusammen sein kann. In dringender Erwartung einer Antwort und mit freundlichen Grüßen

Die Unterschrift ist unleserlich, aber den Namen kenne ich ohnehin. Es irritiert mich, dass ich diesmal ein Gesicht zum Anliegen habe. Fotos bekommen wir so gut wie nie zugeschickt.

Roland Teschl ist zweifelsfrei ein attraktiver Mann. Die ausgeprägte Kinnpartie deutet auf Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen hin. Hat er das nicht auch gestern bei dem Telefonat deutlich gemacht?

Ich überlege, was ich von seiner Geschichte halten soll. Ein gut aussehender Mann, der viel auf Geschäftsreisen ist, da liegt es doch nahe, dass er es mit der Treue nicht so genau nimmt. Ob seine Frau nach all den Jahren einfach nur die Nase von seinen Eskapaden voll hat? Wahrscheinlich hat sie ihm immer wieder gesagt, dass es so nicht weitergeht und dass sie das auf Dauer nicht aushält.

Ich versuche, mich in ihre Situation zu versetzen. Wie wäre es, wenn ich mich nach langen Jahren, schweren Herzens, endlich dazu entschließe, mich von meinem Mann zu trennen? Ihn verlasse, weil er immer wieder mit anderen Frauen schläft? Seine Anzugtaschen durchwühle, heimlich seine Kreditkartenabrechnung durchsehe? Bei jedem blonden Haar auf seinem Mantel Magenkrämpfe kriege? Ist es da nicht logisch, dass man irgendwann an den Punkt kommt, wo man es einfach nur hinter sich haben will? Wo man es nicht mehr erträgt, dass er einen berührt? Wo jeder Blick schon zu viel ist? Ich würde ihn wahrscheinlich auch nie mehr wieder sehen wollen. Aber geht das? Mit einem Kind?

Und er? Erfolgsverwöhnt und von sich überzeugt, kratzt die Entscheidung seiner Frau sicher mächtig an seinem Ego. Vermutlich gehört er zu denen, die meinen, wenn sich hier jemand trennt, dann bitteschön er. Auch wenn er in dem Brief auf verständnisvoll und kompromissbereit tut, die Entscheidung akzeptiert, wie er schreibt.

Das Kind ist der Knackpunkt. Liebt er die Kleine wirklich so abgöttisch, dass er es kaum erträgt, sie nicht zu sehen? Ich kenne wenige Väter, die tatsächlich so empfinden. Viele sind froh, wenn sie ihre Freiheit wieder haben, weil sie mit der Kinderbetreuung ohnehin überfordert sind, noch dazu, wenn es um Töchter geht. Aber da gibt es auch noch die anderen, die den offenen Konflikt mit der Exfrau über die Kinder austragen. Jene, die auf ihrem Recht beharren, die Kinder regelmäßig zu sehen, um sie am Besuchswochenende gleich der Oma zu übergeben. Hauptsache sie können der Exfrau Schwierigkeiten machen. Darum geht es solchen Typen. Ist Roland Teschl einer von denen?

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