Der Tote im Zoo - Susanne Fletemeyer - E-Book

Der Tote im Zoo E-Book

Susanne Fletemeyer

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Skurril, charmant und voller Witz – ein tierisch spannender Kriminalroman mit unerwarteten Wendungen. Ein toter Tierpfleger, eine bizarre Botschaft, ein verschwundenes Zwergschwein: Ihr erster Fall in der neuen Dienststelle führt Kommissarin Inga Haarmann in den Zoo. Kam das Opfer einer Befreiungsaktion radikaler Tieraktivisten in die Quere? Ist das ehemalige Zirkusschwein Daphne dabei ausgebüxt? Und dann sind da noch die rätselhaften Aufzeichnungen im Notizbuch des Toten. Nach und nach kommt Inga Geheimnissen auf die Spur, die bis nach Südfrankreich ins Périgord führen.

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Seitenzahl: 492

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Susanne Fletemeyer, geboren 1967 in Bad Pyrmont, erschafft sich mit dem Erfinden von Geschichten den perfekten Gegenpol zu ihrem Beruf als Technische Redakteurin. Wenn sie nicht gerade Bedienungsanleitungen schreibt, erweckt sie leidenschaftlich gern skurrile Charaktere auf dem Papier zum Leben. Sie lebt mit ihrer Familie in der Region Hannover.

www.fletemeyer.net

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: suze/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-953-2

Originalausgabe

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Die Wahrheit ist zu schlau,um gefangen zu werden.

Wilhelm Busch

Prolog

Frankreich, Périgord, drei Jahre zuvor

Er schob beide Arme unter die Achseln des betäubten Bauern und hob ihn mit einem Ruck an. Gebückt schleifte er ihn rückwärts durch den schmalen Gang tiefer ins Innere der Höhle. Bertrands Beine hüpften wie Puppenglieder über den unebenen Felsboden, der allmählich abwärtsführte. Auf halber Strecke löste sich ein Schuh vom Fuß des Bewusstlosen und blieb liegen.

Am Eingang zur großen Kammer schienen die Wände zurückzuweichen und im Dunkeln zu verschwinden. Tropfsteine ragten von der Decke, der Schein seiner Stirnlampe verlor sich in der Düsternis. Er legte den schlaffen, schweren Körper auf dem Plateau am Rand der Höhle ab, wischte sich mit zitternden Händen den Schweiß aus den Augen. Bertrand kilometerweit auf seinen Schultern durch den Wald zu tragen, hatte seine Kräfte aufgezehrt.

Etwa zweieinhalb Meter unter der Felskante, an der er kniete, erfasste das Licht der Stirnlampe bleiche Knochen auf dem Höhlenboden. Das Skelett eines Hundes oder eines Fuchses vielleicht. In tieferen Lagen musste es Risse im Fels geben, aus denen ein Gas strömte, das schwerer als Luft war. Man konnte es weder sehen noch riechen, doch eine Kerze erlosch, sobald man sie mehr als einen Meter weit unter das Plateau absenkte. Tiere, die sich dort unten aufhielten, erstickten.

Vor Jahren hatte sein Freund die Höhle auf der Suche nach seinem Hund entdeckt. Indem er Hectors leisem Bellen gefolgt war, war er auf den engen, überwucherten Eingang gestoßen. Den Hund hatte er damals nur noch leblos bergen können.

Mit den Füßen schob er Bertrand Stück für Stück zum Rand des Plateaus. Gesteinsbrocken prasselten in die Tiefe. Das Glasauge des Bauern starrte ihn blicklos an, als wäre er längst tot, doch noch atmete er. Speichel rann ihm aus dem Mund, der zu einem grotesken Grinsen verzogen war. Genau so sah er aus, wenn er die tägliche Schnapsration intus hatte.

»Der Einäugige ist noch immer ein ganzer Mann«, prahlte er gern, wenn er als letzter Gast das »Le Coq Rouge« verließ und nach Hause torkelte.

Jeder im Dorf wusste, was Jeanne, seiner Frau, in diesem Zustand blühte. Abschaum war er, noch dazu so dumm, sich mit dem Boss anzulegen.

»Lasst den Bastard diskret verschwinden«, hatte der Boss schließlich gefordert, doch das war nur der letzte Anstoß gewesen. Den Plan, seine Sandkastenfreundin und heimliche Liebe von dem Tyrannen zu befreien, hatte sein Freund schon lange gefasst. Nur konnte er es nicht selbst tun, die Krankheit fraß ihn langsam auf, und so hatte er ihm versprechen müssen, die Sache für ihn zu erledigen.

Noch zögerte er, sein Werk zu vollenden. Dann spannte er entschlossen die Muskeln an und rollte den Körper über die Kante. Der dumpfe Aufprall hallte von den Wänden wider.

Zehn Minuten, dann würde es mit Bertrand vorbei sein.

1

Kriminalhauptkommissarin Inga Haarmann kannte den Weg zu Meyers Hof noch von ihrem letzten Zoobesuch. Fröstelnd schloss sie den Reißverschluss ihrer Jacke. Zu dieser frühen Stunde zeigte sich die Sonne nur als blasser Streifen am Horizont, und nach dem Unwetter letzte Nacht hatte es sich empfindlich abgekühlt. Bewusst atmete sie tief ein und aus. Ihr war immer noch latent übel, aber die Kopfschmerztabletten hatten zu wirken begonnen. Hoffentlich hatte sie sich nicht ebenfalls das Virus eingefangen, das die Kollegen vom Bereitschaftsdienst flachgelegt hatte, weswegen man sie an ihrem freien Wochenende aus dem Bett geklingelt hatte.

Vor der Box mit den künstlichen Kühen blieb Inga stehen. Sie dachte daran, wie ihre Nichte beim letzten Zoobesuch imaginäre Milch aus einem der Plastikeuter in den Eimer gemolken hatte. Angesichts dessen, was sie im Schweinestall der Themenwelt erwartete, fiel es ihr schwer, sich die heitere Atmosphäre jenes Sommernachmittags ins Gedächtnis zu rufen. Sie strich über ihr kinnlanges Haar, das sich in der feuchten Luft schon wieder kräuselte, und straffte die Schultern. Dann ging sie weiter bis zum Stall, wo der Transporter der KTU neben dem Eingang parkte. Unter der offenen Klappe stand ein Streifenpolizist und nippte abwesend an einer Kaffeetasse.

»Moin«, grüßte sie, aber er reagierte nicht. Erst als sie ihn erneut ansprach und ihren Dienstausweis vorzeigte, nahm der junge Kollege sie wahr.

»Entschuldigung. Bin etwas durch den Wind. Meine erste Leiche.«

Inga nickte ihm mitfühlend zu. Sie nahm sich einen der verpackten Einweganzüge, riss die Folie auf, entfaltete den Overall und stieg hinein. Nachdem sie sich Schutzhüllen über die Schuhe gestülpt und Latexhandschuhe angezogen hatte, duckte sie sich unter dem Absperrband hindurch, das man um den Stalleingang gespannt hatte.

Eine Seite der zweiflügeligen Tür des Schweinestalls stand offen. Noch einmal tief durchatmend trat Inga ein. Der typische Geruch nach Tierleibern, Dung und Stroh schlug ihr entgegen. Sie wartete, bis sich ihre Augen an das matte Licht der Stallbeleuchtung gewöhnt hatten.

Vor ihr erstreckte sich ein langer gefliester Gang, beidseitig gesäumt von Tierboxen, die von brusthohen Backsteinsäulen und Holzgattern begrenzt wurden. Ein Dachstuhl aus Holzbalken überspannte das lang gestreckte Gebäude. Hier und da tauchte ein borstiger Rücken oder ein Rüssel hinter den Gattern auf, war ein Grunzen oder Scharren zu hören.

Scheinwerfer, die man um den Fundort der Leiche aufgestellt hatte, flammten auf. Geblendet kniff Inga die Augen zusammen und ignorierte das Pochen in ihren Schläfen.

Auf halber Strecke, wo sich der Gang verbreiterte, gab es einen Abzweig, der nach rechts zum Außengehege führte. Etwa zwei Meter weiter lag das Opfer bäuchlings auf dem Steinboden des Ganges, halb begraben unter einem wuchtigen Gerät, dessen hölzerne Griffe wie Hörner über ihm aufragten. Ein Pflug, erkannte Inga. Eins dieser altertümlichen Modelle, vor die man früher einen Ochsen oder Ackergaul gespannt hatte. Die eiserne Pflugschar hatte dem Mann gleichsam den Schädel gespalten. In der Blutlache, die sich gebildet hatte, lagen ein Kehrblech und ein Handfeger. Das Gesicht des Mannes steckte in dem Dreck, den er wohl hatte aufkehren wollen.

Es blitzte. Ein Kriminaltechniker umrundete den Toten und schoss Fotos. Forensik-Stefan? Der hochgewachsenen Statur nach konnte er es sein. Aber als Inga einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, war er es doch nicht. Sie atmete auf. Nach gestern Abend wollte sie ihm so schnell lieber nicht über den Weg laufen.

Einer der Männer im weißen Overall kam auf sie zu. Unter der Kapuze erkannte Inga die buschigen Augenbrauen ihres Kollegen Sahin Yilmaz. »Dachte eigentlich, du wärst schneller hier als ich«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Wohnst du nicht quasi um die Ecke?«

»Hat halt ein bisschen gedauert, bis ich auf Betriebstemperatur war nach gestern Abend. Außerdem bin ich mit dem Fahrrad da.«

Sahins müde Augen musterten sie. »Von der Party bist du jedenfalls eher weg als ich.«

»Solche Feiern sind einfach nicht meins.« Inga zuckte mit den Schultern. Tatsächlich hatte sie schnell genug davon gehabt, sich neben den in Grüppchen stehenden Kollegen herumzudrücken. Vor allem aber hatte sie Dezernatsleiter Vollbert entrinnen wollen, ehe er sie erneut zur Bar lotsen konnte, um dröhnend »noch zwei Klare« zu ordern und mit ihr zum wiederholten Mal auf sein dreißigjähriges Dienstjubiläum anzustoßen. Allein bei dem Gedanken an Alkohol zog sich ihr Magen schon wieder zusammen.

Sie unterdrückte die aufkeimende Übelkeit und konzentrierte sich. »Was wissen wir über den Toten?«

Sahin blätterte in seinen Notizen. »Er heißt Albert Jakubeit. Hat hier als Tierpfleger gearbeitet. Sein Kollege hat ihn heute Morgen gefunden. Anhand der Leichenstarre schätzt die Ärztin, dass der Tod zwischen neunzehn Uhr gestern Abend und heute Früh um drei eingetreten ist.«

»Unfall? Oder hat jemand nachgeholfen?«

»Wissen wir noch nicht. Dieses Ding, das den Mann erschlagen hat …« Sahin unterdrückte ein Niesen. »Verdammte Tierhaarallergie.«

»Das Ding ist ein Pflug«, bemerkte Inga. »Historisch vermutlich.«

Sahin nickte. Er öffnete den Reißverschluss des Overalls, pulte ein zerknautschtes Taschentuch aus seiner Jeans und schnäuzte sich. »Ob an der Hängevorrichtung manipuliert wurde oder ob das Teil von allein abgestürzt ist, untersuchen die Kollegen jedenfalls noch.«

Inga richtete den Blick auf die Aufhängung. An dem Pflug war eine Kette befestigt, die zur Decke strebte. Sie führte in eine Umlenkrolle, die an einen Balken geschraubt war, ihr Ende baumelte ins Leere. »Wer bitte hängt so ein schweres Teil mitten über dem Besuchergang auf, ohne es doppelt und dreifach zu sichern?«

Sahin versenkte das Taschentuch wieder in seiner Hosentasche. »Der Stall wird zurzeit umgestaltet und ist für Besucher geschlossen. Der Handwerker hat den Pflug wohl gestern erst dort aufgehängt und die Kette provisorisch an dem alten Traktor dahinten festgemacht. – Moment.« Er angelte sein klingelndes Handy aus der anderen Tasche, warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und ging ran. »Iremgül, was gibt’s?« Er drehte ihr den Rücken zu. »Kann gerade nicht. Bin im Dienst«, hörte Inga ihn sagen. Dann folgte ein Schwall türkischer Worte. Seine Ex, konstatierte Inga. Das konnte dauern.

Der Anzug raschelte, als sie zu dem Traktor hinüberging, an dem sich einer der Kriminaltechniker zu schaffen machte. Inga konnte sich nicht erinnern, diesen blau lackierten Lanz Bulldog bei ihrem letzten Zoobesuch im Schweinestall gesehen zu haben. Man hatte ihn neben dem Seitenausgang zum Freigehege aufgestellt und den Durchgang dafür anscheinend extra verbreitert.

»Moin.« Sie trat neben den Kriminaltechniker, der die Kupplung an der Front des Traktors mit Pinsel und Rußpulver auf Spuren untersuchte. Er grüßte zurück. Als Landkind hatte Inga oft genug auf einem Traktor gesessen, um zu wissen, dass man solche Maulkupplungen vornehmlich zum Rangieren von Anhängern nutzte.

»Der Handwerker hatte die Kette nur mit einem einfachen Ringbolzen arretiert«, sagte Sahin, der sein Telefonat wohl beendet hatte und ihr gefolgt war.

Inga drehte sich zu ihm um. »Also brauchte den nur jemand rausziehen, und der Pflug krachte nach unten?«

Sahin nickte, war jedoch immer noch nicht vollkommen bei der Sache. Sein Blick klebte am Handy, während sein Daumen über das Display wanderte. Selbst im Angesicht einer Leiche ließ er sich von seiner Familie gängeln. Er zog eine Grimasse und steckte das Handy endlich weg. »Wie gesagt, es war ein Provisorium. So hat es mir jedenfalls der Kollege des Toten erklärt.«

»Den Bolzen suchen wir übrigens noch«, bemerkte der Kriminaltechniker. »Und es sieht nicht so aus, als wäre die Kette irgendwo gerissen. Die Halterung am Pflug scheint ebenfalls intakt zu sein.«

Nachdenklich blickte Inga zu dem Toten hinüber. »Wenn es kein Unfall war, handelt es sich auf alle Fälle um Maßarbeit. Darf ich kurz was ausprobieren?«

Der Kriminaltechniker nickte und machte ihr Platz. Sie bückte sich und streckte probehalber eine Hand nach der Kupplung aus, dann ging sie neben dem Traktor in die Hocke. In beiden Positionen versperrte ihr sowohl der Traktor als auch eine halbhohe Holzwand den Blick auf die Leiche.

»Was machst du denn da?«, wollte Sahin wissen.

»Dachte nur, der Täter könnte hier unten am Traktor auf den richtigen Moment gelauert haben.« Inga richtete sich wieder auf und ging zur Seite. »Aber so hätte er nicht gesehen, wann sich das Opfer an der richtigen Stelle befand.«

»Den Bolzen zum passenden Zeitpunkt zu ziehen, stelle ich mir insgesamt schwierig vor«, sagte der Kollege von der KTU und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Ich glaube ohnehin nicht, dass sich der Täter versteckt und dem Opfer aufgelauert hat«, meinte Sahin. »Für mich sieht das eher nach einer spontanen Tat aus. Die Eingangstür ist nicht beschädigt. Es kann also gut sein, dass das Opfer den Täter selbst hereingelassen hat. Davon abgesehen hat jemand dahinten eine Art Drohbrief hinterlassen. Ganz traditionell aus Schnipseln.« Er deutete auf einen Balken, an den mit Reißzwecken ein Zettel gepinnt war.

»ZOOBESUCH TOT GUT! FREIHEIT ALLEN TIEREN!«, las Inga und trat näher.

Die aufgeklebten Buchstaben der bizarren Botschaft bestanden nicht aus dem üblichen dünnen Zeitungspapier, sondern aus hochwertigem Glanzpapier, wie es für Prospekte verwendet wurde. Genauer für Prospekte des Zoos. Von den Flyern, die am Eingang für die Besucher bereitstanden, hatte Inga selbst schon einige in der Hand gehabt. Das ebenfalls aus einem solchen ausgeschnittene Bild eines pummeligen Hängebauchschweins klebte unter der schiefen Buchstabenreihe.

»Da hat einer den Zooplan mal ganz kreativ verarbeitet«, murmelte Inga, während sie vergeblich nach ihrem Handy tastete. Warum vergaß sie immer wieder, es herauszunehmen, ehe sie den Overall anzog? Notgedrungen öffnete sie den Reißverschluss ein Stück, angelte das Gerät aus der Jackentasche und fotografierte den Brief.

Die Aufnahmen von der Leiche hatte der Fotograf anscheinend auch im Kasten, denn er packte seine Ausrüstung bereits zusammen. Inga achtete darauf, den Pfad nicht zu verlassen, den die Kollegen von der KTU angelegt hatten, und ging so nah an den Toten heran, wie sie durfte. Die Techniker hatten blutige Schuhabdrücke markiert. Jemand schien den Leichnam umrundet zu haben. Sie ging in die Hocke und betrachtete die Spuren genauer. Derjenige war nur mit der Schuhspitze in die Blutlache getreten, sodass keine kompletten Abdrücke zu sehen waren.

Sahin trat neben sie. »Spuren des Täters?«

»Möglicherweise.« Inga, deren angeschlagener Magen beim Anblick der Leiche und dem Blutgeruch rebellierte, erhob sich wieder. Wenigstens wehte etwas Frischluft durch den Stall. Woher eigentlich?

Inga folgte dem Luftstrom und blieb vor einer der Tierboxen stehen. Eine Luke, durch die die Schweine ins Außengehege gelangen konnten, stand offen.

»Gibt es neben dem Haupteingang noch weitere Ein- oder Ausgänge?«, fragte sie Sahin.

»Hinten links kommt man durch eine Tür nach draußen auf den Besucherweg«, sagte er. »Die war aber im Gegensatz zum Haupteingang abgeschlossen.«

»Und wohin führt diese da?« Inga zeigte auf eine schmale Pforte an der hinteren Stirnseite des Gebäudes.

»Keine Ahnung. Die ist ebenfalls zu. Aber der Tierpfleger, der den Toten gefunden hat, kann uns sicher Auskunft geben.«

Inga nickte. »Den können wir auch gleich fragen, ob die Schuhabdrücke eventuell von ihm stammen.«

Der Kollege des Toten hockte mit gesenktem Kopf auf einem Strohballen am hintersten Ende des Stalls und starrte auf seine Schuhe. Er trug die khakifarbene Tierpflegerkleidung, sein Gesicht lag im Schatten einer Schirmmütze. Als Inga ihn ansprach, sprang er auf, nahm die Kappe ab und drehte sie nervös in den Händen.

»Kriminalhauptkommissarin Haarmann«, stellte sie sich vor. »Meinen Kollegen, Kriminaloberkommissar Yilmaz«, sie zeigte auf Sahin, »kennen Sie ja schon.«

Der Tierpfleger reichte ihr seine schwielige Rechte. »Sven Meinhardt.« Ein durchdringender Zigarettengeruch ging von ihm aus. Die Leiche, das Stallaroma und jetzt auch noch das. Inga brauchte dringend frische Luft.

»Wie wär’s, wenn wir uns draußen unterhalten?«

»Gute Idee«, näselte Sahin, dem seine Allergie zu schaffen machte, und auch Sven Meinhardt wirkte erleichtert, der beklemmenden Atmosphäre im Stall zu entkommen.

Kaum saß der Tierpfleger an einem der Tische vor Meyers Gasthof, kramte er eine zerknautschte Tabakpackung aus der Hosentasche. »Nee, was für ’n Schreck aber auch. Und das auf nüchternen Magen. So einen Tod wünscht man nicht mal seinem ärgsten Feind.« Mit bebenden Fingern drehte er sich eine Zigarette.

Sahin setzte sich ihm gegenüber und klappte sein Notizbuch auf. Inga zog sich einen Stuhl heran und nahm neben ihrem Kollegen Platz. Ihr war noch immer flau, aber die frische Luft tat gut. Sie war dankbar, dass Sahin protokollierte. So konnte sie sich ganz auf den Zeugen konzentrieren.

Sven Meinhardt zündete die etwas schief geratene Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch in die Luft. Bei Tageslicht wirkte er deutlich älter. Struppige Koteletten verliehen seinem Gesicht etwas Wölfisches. Sein schütteres Haar trug er nach hinten gekämmt und zu einem dünnen Zopf gebunden. Tiefe Krähenfüße rund um seine Augen ließen vermuten, dass er sonst gern lächelte. »Oh Mann, das ganze Blut.« Er saugte heftig an seiner Zigarette. »Und Daphne ist auch noch weg.«

»Wer ist Daphne?«, fragten Inga und Sahin wie aus einem Mund.

»Unser Zwergschwein. Ist abgehauen. Rennt jetzt irgendwo im Zoo rum und frisst sich durch.«

Sahin winkte ab. »Wenigstens müssen wir wegen eines entlaufenen Schweins keine Warnung rausgeben. Wenn es, sagen wir mal, ein Tiger wäre …«

Mit den Fingerspitzen massierte Inga sich die Schläfen. »Lassen wir das Schwein mal beiseite. Wann haben Sie Ihren Kollegen zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Gestern Abend, so gegen halb sieben. Er und ich, wir haben dem Hannes, das ist einer der Handwerker hier, sogar noch geholfen, diesen elenden Pflug da hochzuhieven.« Er sah Inga an. »Ganz schön makaber, was? Danach hat der Albert Feierabend gemacht. Viertelstunde später bin ich auch gegangen.«

»Und der Handwerker, dieser Hannes …«

»Hannes Sänger.«

»Ist Herr Sänger noch dageblieben?«

»Nee, der ist noch ’n paar Minuten eher los als der Albert und ich.«

»Und sind Sie Ihrem Kollegen, also Herrn Jakubeit, anschließend noch irgendwo begegnet? In der Umkleide oder so?«

Meinhardt schüttelte den Kopf. »Hab schnell geduscht und mich umgezogen, weil ich direkt nach der Arbeit verabredet war.«

»Mit wem?«

»Mit der Janin. Janin Mull. Arbeitet im Shop am Eingang. Hab sie da abgeholt, und dann sind wir essen gegangen. Indisch, die Janin steht da drauf. Danach waren wir im Kino und noch was trinken.« Sven Meinhardt senkte die Stimme. »Erstes Date, Sie verstehen?«

Inga nickte. »Aus irgendeinem Grund ist Ihr Kollege später noch mal zurück in den Stall. Können Sie sich erklären, warum?«

»Kann sein, dass er noch mal nach dem Rechten sehen wollte. Er hatte es nie besonders eilig, nach Hause zu gehen.« Nachdenklich zog er an seiner Zigarette. »Allerdings war er gestern irgendwie aufgekratzt. Hat mir sogar viel Spaß bei meinem Date gewünscht. War mal richtig nett, der Albert.«

»Sonst etwa nicht?«

»Na ja …« Er drückte die Kippe aus. »Franzose halt. Von wegen, bei uns in Frankreich ist alles besser und so. Hat gemeckert, dass ich seinen Namen falsch ausspreche. ›Allbär‹ würde er heißen.« Er zuckte mit den Schultern. »Hab mir manchmal ’n Spaß draus gemacht, ihn damit auf die Palme zu bringen. Aber sonst fand ich ihn okay. Weiß man denn schon, wann er … Todeszeitpunkt und so?«

Inga verneinte. »So schnell lässt sich das nicht feststellen, jedenfalls nicht genau.« Sie atmete tief durch, doch das half nur bedingt gegen die Übelkeit. Sie zog ihr Handy hervor, suchte das Foto, das sie von dem Drohbrief gemacht hatte, und zeigte es ihm. »Das hier hat jemand im Stall aufgehängt. Hing der Wisch gestern Abend auch schon da?«

Sven Meinhardt kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, um besser lesen zu können. »Nee. Also das … das wär mir aufgefallen.«

Inga steckte das Handy wieder ein und rieb sich die Stelle über der Nasenwurzel. »In Ordnung, Herr Meinhardt. Dann erzählen Sie uns doch bitte, wann und wie Sie Ihren Kollegen gefunden haben. Um wie viel Uhr fängt Ihre Schicht an?«

»Normalerweise um halb acht. Aber ich bin heute schon ’ne Stunde früher zur Arbeit«, sprudelte es aus ihm heraus. »Konnte eh nicht mehr schlafen, und außerdem war ich unruhig wegen der Elfie, ob die schon gekalbt hatte. Hab also drüben im Kuhstall nachgesehen, war aber noch nix. Dann bin ich rüber zum Schweinestall und sehe, dass die Tür ’n Spalt offen steht. Kam mir gleich komisch vor, denn ich hatte abends natürlich abgeschlossen, und die anderen sind eigentlich nie so früh da. Und als ich reingehe, na ja, da seh ich auch gleich die Bescherung. War ’n Riesenschreck, kann ich Ihnen sagen. Das viele Blut …« Er schauderte. »Handy war natürlich alle, hatte ich mal wieder vergessen aufzuladen. Also bin ich losgerannt, zum Gemeinschaftsgebäude …«

Inga versuchte, sich auf den Zeugen zu konzentrieren, doch Sven Meinhardts Stimme klang auf einmal wie durch Watte gedämpft.

»Alles in Ordnung?« Sahin blickte sie besorgt an.

Mechanisch nickte Inga, doch dann erfasste sie eine Welle der Übelkeit. »’tschuldigung«, stammelte sie, presste sich die Hand vor den Mund und rannte heftig würgend los. Wohin? In dem Gebäude neben dem Spielplatz war ein WC, das wusste sie, doch bis dorthin schaffte sie es nie und nimmer.

In ihrer Not erbrach sie sich in ein Gebüsch.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Es raschelte, und sie meinte, zwischen den Zweigen ein leises Grunzen zu hören. Doch als sie genauer hinsah, bewegte sich dort nichts mehr.

***

Angespannt schob sich Petru Bernard auf den Rücksitz des Taxis. »Zum Flughafen bitte«, wies er den Fahrer an, woraufhin dieser die Limousine in den Verkehr einreihte.

Der Mann musterte ihn im Rückspiegel. »Sie sind nicht aus Deutschland, oder? Darf ich fragen, woher Sie kommen?«

Petru ignorierte die Frage. Nervös sah er auf die Uhr. Bestimmt war Alberts Leiche längst gefunden worden.

»English? Français?« Der Fahrer ließ nicht locker.

Petru hätte besser die S-Bahn genommen, das wäre anonymer gewesen. Demonstrativ faltete er die Zeitung auf, die er am Bahnhof gekauft hatte. Das brachte den Fahrer zum Schweigen. Er starrte auf die Buchstaben, ohne den Inhalt zu erfassen. Hoffentlich hatte gestern Abend im Zoo niemand gesehen, wie er den Schweinestall verließ. Zwar war ihm kein Mensch begegnet, aber was, wenn man ihn aus dem Restaurant heraus beobachtet hatte?

Er atmete tief durch. Unwahrscheinlich. Dafür war es zu dunkel gewesen. Außerdem halfen ihm Spekulationen dieser Art nicht weiter. Besser, er konzentrierte sich auf die Probleme, die vor ihm lagen. Wie etwa auf die Frage, ob Albert wirklich die Beweise gegen ihn besessen oder ob er geblufft hatte.

Sein Handy vibrierte. Er zog es aus der Manteltasche, sah auf das Display. »Zut«, fluchte er leise, dann ging er ran.

Le Baron kam direkt zur Sache. »Hast du die Probe?« Wie immer klang seine Stimme samtweich und ein wenig gelangweilt. In einem alten James-Bond-Film wären jetzt Blofelds Hände mit dem Siegelring am kleinen Finger zu sehen, die seine schneeweiße Katze kraulten, so Petrus Eindruck. In Wirklichkeit zierte kein Ring die Finger seines Chefs, der ihn mit seinen schwarzen Klamotten und den spitzen Zügen an eine Krähe erinnerte. Zudem würde Le Baron vermutlich eher auf Katzen schießen, anstatt sie zu streicheln.

»Bien sûr.« Er registrierte zufrieden, wie emotionslos er klang. Er hatte alles im Griff. Sich selbst und die Situation sowieso! »Es läuft alles nach Plan, keine Sorge.«

Ein Lachen, das mehr wie ein Husten anmutete, drang aus dem Lautsprecher. Petrus imaginäre Bond-Kamera wanderte nach oben und zeigte eine Nahaufnahme von Le Barons Lippen, die ein spöttisches Lächeln umspielte. »Wenn das Zeug etwas taugt, will ich aber endlich wissen, wer dein geheimnisvoller Lieferant ist.«

Petru brach der Schweiß aus. Er konnte nur hoffen, dass Le Baron nicht von Alberts Tod erfuhr und die entsprechenden Schlüsse zog. »Warten wir ab, was die Tests ergeben«, sagte er ruhig, obwohl sein Herz raste.

»Gut. Ich erwarte dich heute Abend.« Damit legte Le Baron auf.

Petru ließ das Handy sinken. Dieser verdammte Albert! Sogar jetzt, wo er tot war, machte er nur Probleme. Hätte der Idiot ihm auch nur einen Hauch vertraut und sich an die Verabredung gehalten, wäre er jetzt nicht in der Bredouille.

Die Stimme des Fahrers riss ihn aus seinen Gedanken. »Also doch. Vous êtes français.«

»Deutscher Klugscheißer«, murmelte Petru auf Korsisch und war froh, als das Taxi vor dem Abflugterminal hielt. Er drückte dem Mann einen Schein in die Hand. »Rest für Sie.«

Ein kalter Wind fegte beim Aussteigen unter seinen Mantel. Petru zog den Griff seines Handgepäckkoffers heraus und ging auf den Eingang des Terminals zu. Die automatischen Türen öffneten sich, zwei Uniformierte traten ins Freie. Flughafenpolizei. Reflexartig änderte Petru die Richtung. Suchten sie bereits nach ihm? Was, wenn er sich getäuscht und Albert doch die Wahrheit gesagt hatte?

Ruckartig blieb Petru stehen. Panik machte sich in ihm breit. Er sollte den Flug sausen lassen und lieber nach den Unterlagen suchen, die Albert angeblich besessen hatte. Nervös schaute er sich um. Die Polizisten waren in ihren Streifenwagen gestiegen, der nun langsam vom Parkplatz auf die Straße rollte. Petru schüttelte den Kopf. Albert hatte niemandem vertraut, nicht einmal seiner Frau. Wenn es die Beweise wirklich gab, dann lagen sie in irgendeinem Versteck – das die Polizei möglicherweise aufstöbern würde, sollten sie wegen Alberts Tod ermitteln. Falls sie ermittelten. Dass dieses Gerät ihn erschlagen hatte, sah doch eher wie ein Unfall aus.

Petru fasste den Koffergriff fester. Verdammte Kreisgedanken. Er hatte die Szenarien letzte Nacht oft genug durchgespielt und am Ende beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Würde er die Sache eben ohne Albert durchziehen. Mit festem Schritt ging er durch die Schiebetüren.

Während er in der Schlange an der Sicherheitskontrolle stand, zog er aus der Innentasche seines Mantels den gepolsterten Umschlag, den er dem toten Albert abgenommen hatte. Er hatte die Leiche seitlich anheben müssen, um ihn aus der Jackentasche zu ziehen. Zum Glück trug er immer Handschuhe bei sich. Alberts Smartphone hatte er gleich mit eingesackt, später die SD-Karte rausgenommen und das Gerät entsorgt. Diese Dinger verrieten der Polizei schließlich mehr, als einem lieb sein konnte. Er nahm das Fläschchen mit der Probe aus dem Umschlag und packte es in den Klarsichtbeutel zu seinem Nasenspray und dem Shampoo. Die Seiten mit Alberts Anweisungen steckte er wieder ein.

Am Transportband zog er den Mantel aus und legte ihn in eine der Plastikwannen. Als er den Beutel und sein Handy daneben platzierte, wies ein Kontrolleur auf die Sachen und holte eine zweite Wanne heran. »Separat bitte.«

Rasch packte er Handy und Beutel in die andere Wanne. Die bräunliche Flüssigkeit in dem Fläschchen schlug winzige Blasen. Sie konnte gut als Rasierwasser durchgehen.

Erst als die Wanne mit dem Beutel in den Röntgenapparat fuhr, merkte Petru, dass er die Luft angehalten hatte. Lächerlich. Als würde irgendjemand ahnen, wie brisant der Inhalt war.

»Bitte die Schuhe ausziehen.« Der Kontrolleur hatte eine steile Falte auf der Stirn. Petru schlüpfte aus seinen Slippern und legte sie ebenfalls auf das Band.

Der Gang durch die Schleuse verlief reibungslos. Petru sammelte seine Sachen ein, zog Schuhe und Mantel wieder an und nahm den Hindernisparcours durch die Duty-free-Shops.

Die Maschine nach Toulouse war pünktlich. Er musste nicht lange warten, bis die Fluggäste zum Einsteigen aufgefordert wurden.

Auf der Gangway zum Flugzeug brummte sein Handy. Vivien hatte ein Foto geschickt. Sie hielt die Wange gegen eine Pferdeschnauze gedrückt und lächelte unbeschwert.

Seine Tochter durfte nie erfahren, in welcher Funktion er wirklich für Le Baron tätig war, dass er nicht nur als sein Sekretär fungierte, sondern auch die speziellen Aufgaben erledigte. Das vor ihr geheim zu halten, wurde immer schwieriger, je älter sie wurde.

***

Im Waschraum roch es nach Reinigungsmitteln. Inga spülte sich den Mund aus und ließ warmes Wasser über ihre Hände laufen. Sie blickte in den Spiegel. Ihre Wangen bekamen langsam wieder etwas Farbe. Nachdem sie sich nun endlich erbrochen hatte, ging es ihr direkt wieder besser. Mit beiden Händen glättete sie ihre Haare und straffte die Schultern.

Sie beeilte sich, zum Biergarten zurückzukehren, doch auf dem Weg dorthin kam ihr bereits der Tierpfleger mit Schubkarre und Rechen entgegen. »Geht’s wieder?«, fragte er sie.

»Alles gut«, erwiderte Inga. »Aber was ist mit Ihnen? Sollten Sie sich heute nicht lieber freinehmen?«

»Schon in Ordnung. Außer mir ist ja keiner mehr da. Die Rieke, unsere Revierleiterin, hat heute noch Urlaub. Und die Tiere füttern sich ja nicht von allein. Außerdem würde ich zu Hause nur vor mich hin grübeln.«

»Dann will ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten«, sagte Inga. Sie nickte ihm noch einmal zu und eilte weiter.

In ihrer Tasche, die noch immer auf dem Stuhl im Biergarten lag, fand sie einen zerknickten Streifen Kaugummi. Das Minze-Aroma vertrieb den schalen Geschmack aus ihrem Mund; sie fühlte sich nahezu wiederhergestellt.

Sahin stand etwas entfernt vor dem Gasthof und unterhielt sich mit einem hochgewachsenen Mann in mittleren Jahren. Beim Näherkommen erkannte sie ihn. Sie hatte das Foto des Zoodirektors erst kürzlich in der Zeitung gesehen. Neben ihm war eine blonde Frau, die ihre Hände tief in ihrer Daunenjacke vergraben hatte und immer wieder nervös in Richtung Stall blickte.

»Furchtbare Sache.« Der Zoodirektor wirkte geschockt. Er hatte einen kräftigen Händedruck, zu dem seine polternde Stimme passte. Mit den groben Stiefeln und dem karierten Hemd, das aus seinem Parka ragte, sah er aus, als wollte er gerade zu einer Wanderung aufbrechen. »Wir sind hier so etwas wie eine große Zoofamilie. Dass einer von uns auf diese Weise aus dem Leben gerissen wurde … Ich kann es noch gar nicht fassen.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Meinen Sie, wir müssen die Themenwelt komplett schließen?«

»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, erwiderte Inga.

Er nickte. »Bald soll der Winterzoo aufgebaut werden, wissen Sie. Dann wird gerade Meyers Hof zum Besuchermagnet.«

»Verstehe.« Inga hatte den Winterzoo im letzten Jahr besucht und wusste, dass man die zentrale Wiese zur Eislauffläche umfunktionieren und daneben Weihnachtsmarktbuden aufbauen würde. »In erster Linie müssen wir dafür sorgen, dass die Kollegen von der Kriminaltechnik ungestört arbeiten können«, sagte sie.

»Den Zugang zum Schweinestall kann man problemlos beschränken, weil er etwas abseits liegt.« Die Frau befreite ihre Rechte aus der Daunenjacke und reichte sie Inga. »Fiona Meyer, Presseabteilung.«

»Wenn die Presse erst einmal Wind davon bekommt, wird es hier vor Reportern nur so wimmeln«, meinte Sahin düster.

»Dass wir diese schlimme Sache so diskret wie möglich angehen werden, versteht sich von selbst«, beteuerte der Direktor.

»Das ist gut«, sagte Inga. »Ich muss Sie sowieso darum bitten, alles, was wir hier besprechen, vertraulich zu behandeln. Es ist wichtig, dass keine Informationen nach außen dringen, die unsere Ermittlungen gefährden könnten. Ein Pressesprecher der Polizei wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, damit Sie sich abstimmen können.«

»Natürlich.« Die Pressefrau reichte Inga ihre Visitenkarte. »Am besten verweisen Sie ihn gleich an mich.« Sie verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. »Kann ich sonst irgendetwas tun?«

»Eine Sache wäre da«, meldete sich Sahin. »Im Stall hing ein Brief, ausgeschnittene Buchstaben, auf ein Blatt Papier geklebt. Vielleicht eine Art Bekennerschreiben.«

»Der Täter hat eine Nachricht hinterlassen?« Fiona Meyers Blick wanderte zwischen Inga und Sahin hin und her.

»Ob der Brief vom Täter ist, wissen wir nicht.« Inga suchte das Foto auf ihrem Handy und zeigte es ihr und dem Direktor.

»Möglicherweise stammt die Nachricht von Tierrechtlern«, meinte Sahin. »Ihr Tierpfleger Sven Meinhardt sagte, Sie hätten einen ganzen Ordner mit Drohbriefen von solchen Leuten?«

Fiona Meyer nickte ernst. »Das kann man wohl sagen.«

»Unsere Tierpfleger werden von solchen Leuten auch schon mal beschimpft«, ergänzte der Zoodirektor. »Aber Mord? Das wäre ja eine ganz neue Dimension.«

Inga steckte ihr Handy weg. »Können wir den Ordner mal sehen?«

»Natürlich.« Der Direktor wandte sich an seine Pressesprecherin. »Begleiten Sie die Herrschaften bitte in die Verwaltung und kümmern sich darum? Ich sorge derweil dafür, dass der Zugang zum Stall für Besucher abgeriegelt wird.«

Das Gemeinschaftsgebäude, ein dreistöckiger, wuchtiger Klinkerbau, befand sich am südwestlichen Rand des Zoos. Neben der Verwaltung und Presseabteilung seien darin außerdem Personalräume, eine Tierklinik und die Kantine untergebracht, erklärte Fiona Meyer.

Sie folgten der Pressesprecherin in ihr Büro, wo sie einen prall gefüllten Aktenordner aus einem Regal zog. »Das sind alle Drohbriefe aus den letzten zehn Jahren.«

Inga schlug den Ordner auf und blätterte durch die Seiten. Manche Briefe bestanden aus aufgeklebten Zeitungsschnipseln, andere waren ausgedruckt, einige sogar handgeschrieben. Die Absender drohten, Tiere freizulassen, Gehege abzubrennen, den Zoo wegen Freiheitsberaubung oder Tierquälerei zu verklagen. Die meisten Schreiben waren wirr formuliert, einige strotzten zudem vor Rechtschreibfehlern.

»Alles Spinner«, meinte die Pressesprecherin. »Wir nehmen so was schon gar nicht mehr ernst.«

»Gab es denn schon mal den Fall, dass jemand seine Drohung wahr gemacht hat?«, fragte Sahin.

»Bestimmte Personen haben bei uns Hausverbot, weil sie tatsächlich versucht haben, Tiere freizulassen, oder weil sie Mitarbeiter beschimpft haben. Einen Zusammenhang mit einem der Drohbriefe konnten wir allerdings bisher bei keinem feststellen. Ich glaube, die Briefeschreiber wollen sich auf diese Weise einfach nur Luft machen, ohne ihre Identität preisgeben zu müssen. In dieser Hinsicht spielt sich inzwischen immer mehr in den sozialen Netzwerken ab. Aber Hunde, die bellen, beißen ja bekanntlich nicht.«

Inga nickte. »Trotzdem nehmen wir den Ordner mal mit. Vielleicht ergibt sich doch irgendein Zusammenhang.«

»Kann ich mir wie gesagt nicht vorstellen. Die meisten Briefe sind außerdem schon älter. Wobei …« Die Pressefrau überlegte. »Überprüfen Sie doch mal die Tieranwälte Hannover. Die versuchen regelmäßig, den Zoo schlechtzumachen. Schleichen sich rein, machen heimlich Aufnahmen und schneiden sie dann so zurecht, dass der Eindruck entsteht, wir würden unsere Tiere misshandeln. Oder sie rufen zu Protestkundgebungen auf. Deren Ziel ist es schlicht, den Zoo zu ruinieren und zur Schließung zu bewegen.«

»Ist das eine deutschlandweite Organisation?«, fragte Sahin.

Fiona Meyer lachte auf. »Die sind so speziell, die gibt’s bloß hier bei uns. Im Kern besteht der Verein nur aus wenigen Leuten. Dem ersten Vorsitzenden, seiner Frau und noch ein, zwei anderen. Walter Fenrath ist der Kopf des Ganzen, Frührentner, hat irgendwann mal ein paar Semester Jura studiert, aber sein Studium nicht abgeschlossen. Jetzt hat er sich selbst zum Tieranwalt ernannt.«

»Ich sehe schon, Sie haben sich ausgiebig mit diesen Leuten auseinandergesetzt«, meinte Inga.

»Darauf hätte ich liebend gern verzichtet, das können Sie mir glauben. Aber wenn uns dieser dubiose Verein öffentlich beschuldigt, ist es nun mal mein Job, mich um die Gegendarstellung zu kümmern. Und da muss man natürlich wissen, mit wem man es zu tun hat.« Fiona Meyer schrieb die Adresse des Vereins auf einen Zettel und schob ihn Inga zu. »Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«

Sahin blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Diesen Handwerker sollten wir auf jeden Fall noch befragen, Hannes Sänger.«

»Richtig. Ich nehme an, der wird heute, am Sonntag, nicht arbeiten.« Inga nahm eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und reichte sie der Pressespecherin. »Wir bräuchten also die Adresse.«

Fiona Meyer nickte. »Ich kümmere mich drum. Und sicher wollen Sie auch Herrn Jakubeits Angehörige …«

»Die Adresse haben wir bereits«, sagte Sahin. »Er wohnt mit seiner Frau in Kleefeld. Laut seinem Kollegen hat er wohl keine Kinder.«

2

Routiniert steuerte Sahin den Dienstwagen am Pferdeturm vorbei, ließ eine Stadtbahn passieren und überquerte die Gleise. Er warf Inga einen Seitenblick zu. »Du siehst immer noch aus wie Schafskäse. Willst du nicht doch lieber nach Hause?«

Energisch schüttelte sie den Kopf. »Mir geht es gut.« Seit sie sich im Zoo übergeben hatte, fühlte sie sich tatsächlich stetig besser, und auch die Kopfschmerzen waren abgeklungen. Kein Grund also zu schwächeln. Außerdem konnte sie Sahin nicht mit der unangenehmen Aufgabe allein lassen, Albert Jakubeits Frau über den Tod ihres Mannes zu unterrichten. »Klär mich lieber darüber auf, was ich bei der Befragung von dem Meinhardt noch alles verpasst habe.«

»Na ja, die Sache mit den Drohbriefen halt. Sonst haben wir bloß noch darüber geredet, wie er den Stall vorgefunden hat und ob er sich der Leiche genähert oder sie sogar angefasst hat.«

»Und, hat er? Stammen die Schuhabdrücke von ihm?«

»Nein. Er sagte, so nah sei er nicht an ihm dran gewesen. Und es war auch kein Blut unter seinen Schuhsohlen. Nach dem ersten Schock sei er in Panik rausgerannt, meinte er.«

»Das habe ich noch mitgekriegt, sein Handy war nicht aufgeladen. Deshalb musste er zum nächsten Telefon, um die Kollegen von der Schupo anzurufen, nehme ich an.«

»Genau«, antwortete Sahin. »Bevor die eintrafen, ging er zurück in den Stall, um nach dem entlaufenen Schwein zu suchen. Das Gatter der Box stand offen. Das Vorhängeschloss, mit dem es gesichert war, damit Besucher es nicht öffnen können, war nicht mehr da. Im Reflex hat er die Box wohl wieder verriegelt. Aber seine Fingerabdrücke dürften sowieso überall zu finden sein, nicht nur auf dem Gatter. Jedenfalls war er heilfroh, dass die anderen Schweine auf diesem Weg nicht auch noch stiften gehen konnten.«

»Wieso eigentlich nicht?«, fragte Inga. »Die hätten da vom Außengehege doch einfach durchmarschieren können.«

»Eben nicht«, sagte Sahin. »Die Luke dieser Box wurde extra verkleinert, damit die größeren Tiere da nicht durchpassen. Das Zwergschwein ist wohl das einzige seiner Art im Zoo, und Daphne, so heißt das Tier, sollte einen Rückzugsort für sich haben.« Er bremste und fuhr im Schritttempo hinter einem Radfahrer her, bis er eine Möglichkeit zum Überholen fand. »Zum Glück. Wenn die gesamte Rotte ausgebüxt und im Stall auf Entdeckungstour gegangen wäre, hätten die von der Leiche wahrscheinlich nicht viel übrig gelassen, hat der Meinhardt gesagt. Wie bei diesem amerikanischen Farmer vor ein paar Jahren.«

Inga schauderte. Sie erinnerte sich an die Artikel in der Presse. Der herzkranke Mann hatte im Schweinestall seiner Farm vermutlich einen Infarkt erlitten und war von seinen Schweinen nahezu vollständig aufgefressen worden. »Du hast recht. Gut, dass die Viecher nicht rauskonnten. Das Szenario möchte ich mir gar nicht ausmalen.«

»Ich mir auch nicht.« Sahin zog eine Grimasse.

Nachdenklich schaute Inga aus dem Fenster. »Dass die Klappe verkleinert wurde, wissen aber bestimmt die wenigsten. Es kann also gut sein, dass Albert Jakubeit einen vermeintlichen Tierschützer dabei erwischt hat, wie er die Schweine freilassen wollte. Angenommen, er hatte irgendetwas vergessen, kam deswegen noch einmal zurück und sah, dass die Tür offen stand, oder hörte, wie sich jemand im Stall am Gatter zu schaffen machte …«

»Aber warum fegt er dann erst mal in aller Ruhe irgendwelchen Dreck zusammen?«, wandte Sahin ein. »Außerdem hatte der Meinhardt den Stall abgeschlossen. Etwaige Tierschützer hätten also die Tür aufbrechen müssen, um reinzukommen. Die war aber unbeschädigt.«

»Es sei denn, der Täter ist nicht durch die Tür, sondern durch das Außengehege rein. Er kriecht durch eine der Schweineluken in eine Box, klettert über die Brüstung und ist drin.«

»Ich meine aber, dass die Suhle von vorne für Besucher überhaupt nicht zu erreichen ist«, gab Sahin zu bedenken.

»Da könntest du recht haben. Und auf das Gelände hinter dem Außengehege kommen wahrscheinlich nur Zoomitarbeiter«, meinte Inga. »Ach ja. Hast du Meinhardt gefragt, wohin die Tür am Ende des Stalls führt?«

»In einen kleinen Raum, in dem die Tierpfleger das Futter vorbereiten.«

Sahin bog in eine Seitenstraße ab und hielt vor einem der Genossenschaftshäuser aus den zwanziger Jahren, die sich hier nahtlos aneinanderreihten.

Im Gegensatz zu den benachbarten Häusern hatte Nummer neun schon länger keinen neuen Anstrich mehr bekommen. Der schmutzgraue Putz bröckelte, und auch das Mäuerchen aus dunkelroten Ziegeln, das den Vorgarten vom Bürgersteig trennte, sah aus, als würde es einem kräftigen Tritt kaum standhalten.

»Scheint keiner da zu sein«, meinte Inga, nachdem sie bereits zum dritten Mal geklingelt hatte.

»Oder Frau Jakubeit schläft sonntags aus, und wir haben sie gerade aus dem Bett geworfen.«

»Das will ich nicht hoffen«, murmelte Inga, als doch noch der Summer ertönte.

Im Treppenhaus roch es nach Putzmitteln, und als sie im ersten Stock ankamen, erblickten sie eine Frau mittleren Alters in der geöffneten Wohnungstür. Anscheinend war sie gerade dabei gewesen, die Treppe zu wischen. Die Frau trug einen verwaschenen Jogginganzug, der so ausgeleiert war, dass er sich wellte. Eine schulterlange Achtziger-Jahre-Dauerwelle umrahmte ihr teigiges Gesicht.

»Entschuldigung, ich hätte Sie fast nicht gehört.« Sie wickelte das Kabel der Kopfhörer um ihren iPod.

»Sind Sie Mirza Jakubeit?«

Die Frau nickte.

Inga betrat vorsichtig die noch feuchten oberen Stufen, hielt ihren Dienstausweis hoch und stellte sich und Sahin vor.

»Ist was passiert? Etwa mit meinem Mann?« Mirza Jakubeit riss die Augen auf.

»Das sollten wir besser in der Wohnung besprechen«, sagte Inga.

»Entschuldigen Sie, dass es hier so rutschig ist.« Mirza Jakubeit schob den Wischeimer beiseite und lehnte den Mopp an die Wand. »Ich arbeite Schicht und komme oft erst sonntags zum Saubermachen.«

Sie folgten ihr in einen engen Flur, an dessen Wänden eine Galerie aus großformatigen Tierfotos hing. Auch in der kleinen, penibel aufgeräumten Küche hingen entsprechende Aufnahmen.

»Ein Hobby meines Mannes.« Mirza Jakubeit hatte Ingas Blick bemerkt.

Sie nahmen ihr gegenüber am Küchentisch Platz.

Inga behielt sie genau im Auge, als sie ihr mitteilte, dass man ihren Mann im Zoo tot aufgefunden hatte.

Mirza Jakubeits Schultern sackten nach vorne. »Jetzt weiß ich auch, warum er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist.« Es lag ein Zittern in ihrer Stimme. »Und ich hab gedacht … also, ich dachte, im Zoo wär wieder was, dass er dableiben muss.«

»Zuletzt gesehen haben Sie Ihren Mann demnach wann?«

Die Frau zuckte mit den Achseln. Sie wirkte abwesend, ganz so, als realisierte sie erst nach und nach, was passiert war. »Das muss gestern früh gewesen sein. Als er zur Arbeit ging.« Sie schluckte. »Ermordet, sagen Sie?«

»Es deutet einiges darauf hin, dass Ihr Mann einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel«, erwiderte Inga.

»Genaueres werden die Ermittlungen ergeben«, fügte Sahin hinzu. »Sie sagten eben, dass Sie dachten, Ihr Mann wäre über Nacht im Zoo geblieben. Kam das oft vor?«

Mirza Jakubeit senkte den Kopf. »Manchmal. Also … wenn im Zoo was los ist. Wenn ein Tier krank ist oder eine Kuh kalbt. Dann übernachtet er schon mal da. Er hat mir gestern auch tatsächlich eine Nachricht geschickt, dass er später kommt.« Sie angelte ein Handy vom Küchentisch und tippte auf dem Display herum. »Das war um zwanzig nach sieben. Aber dann kam und kam er nicht. Ich hab ihn ein paarmal angerufen. Er ging nicht ran. Da bin ich dann irgendwann ins Bett. Wenn es hektisch wird, vergisst er schon mal, sich zu melden, wissen Sie?«

Sahin nickte und überließ Inga wieder die Gesprächsführung.

Nein, ihr Mann habe keine Feinde gehabt, jedenfalls nicht dass sie wüsste, erzählte Mirza Jakubeit auf Ingas Frage nach verdächtigen Personen. Aber er sei sowieso ein eher verschlossener Mensch gewesen. Sie habe ihn vor drei Jahren über eine Kontaktanzeige kennengelernt. Und als er sie nach nur vier Wochen gefragt habe, ob sie ihn heiraten wolle, habe sie Ja gesagt. »In meinem Alter und mit meinem Aussehen, wissen Sie, da hat man nicht so viele Optionen.«

Über Alberts Vergangenheit konnte sie nicht viel sagen. »Er stammt aus Südfrankreich, aus einem Ort knapp hundert Kilometer nördlich von Toulouse. Dort hat er im großen Stil Schweine gezüchtet. Aber dann kam die Schweinegrippe. Er musste seinen Hof verkaufen, hat keine Arbeit mehr gefunden und ist auf der Suche nach Alternativen in Deutschland gelandet. Am Anfang hat er in der Gastronomie gearbeitet, bis er dann den Job im Zoo bekam.«

»Warum Deutschland?«, fragte Inga.

»Er wollte halt weg aus Frankreich, hat dort keine Perspektiven für sich gesehen. Außerdem konnte er einigermaßen gut Deutsch, weil er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr im Elsass aufgewachsen ist.«

»Wird man denn als Landwirt so einfach im Zoo eingestellt?«, wollte Sahin wissen.

»Nein, vermutlich nicht. Aber Albert hatte eine Ausbildung als Tierpfleger. In Frankreich war er auch zunächst in einem Tierpark angestellt. Bis sein Vater starb und er den Hof geerbt hat. Da musste er seinen Traumjob wohl erst mal an den Nagel hängen.«

»Hatte Ihr Mann noch Verwandte in Frankreich?«, fragte Sahin.

Mirza Jakubeit schüttelte den Kopf. »Seine Eltern leben beide nicht mehr, und Geschwister hatte er keine. Mehr weiß ich nicht. Ich war nie dort. Er … er wurde immer gleich wütend, wenn ich vorschlug, mal hinzufahren. Er hatte mit seinem alten Leben abgeschlossen, glaube ich. Irgendwann hab ich nicht weiter nachgebohrt.« Mit leerem Blick sah sie aus dem Fenster. »Mein Mann war ein einsamer Mensch, genau wie ich. Wir haben uns gut verstanden, uns in unserem Leben miteinander eingerichtet. Da ist alles andere nicht so wichtig, verstehen Sie?«

Inga nickte. Sie selbst konnte sich kaum vorstellen, sich derart zu arrangieren. Doch nach vielen Nächten allein in ihrer Wohnung brachte sie zumindest Verständnis für die Frau auf. Sie erhob sich. »Sollen wir jemanden für Sie benachrichtigen? Eine Freundin vielleicht?«

Mirza Jakubeit lachte freudlos auf. »Wenn ich eins gewohnt bin, dann allein klarzukommen.«

Auf Sahins Bitte hin nahm sie ihr Handy und schickte ein aktuelles Foto ihres Mannes an die E-Mail-Adresse des Präsidiums.

»Wie kam er eigentlich zu dem Namen Jakubeit? Typisch französisch klingt der ja nicht gerade, oder?«, erkundigte sich Sahin, als sie schon in der Tür standen.

»Jakubeit ist ein polnischer Name. Meine Familie stammt ursprünglich aus einem Dorf nahe Danzig. Wir leben allerdings schon in dritter Generation in Deutschland.«

»Ach, dann hat Ihr Mann also Ihren Namen angenommen«, stellte Inga fest.

Mirza Jakubeit nickte. »Dabei hätte ich eigentlich ganz gern Chevrier heißen wollen. Aber er hat darauf bestanden. Jakubeit können die Deutschen besser aussprechen, hat er gesagt.«

Sahin startete den Dienstwagen und scherte aus der Parkbucht aus. »Merkwürdig. Laut seinem Kollegen hat Albert Jakubeit ziemlich auf seine Herkunft gepocht. In Frankreich sei alles besser und so. Aber seinen Namen wollte er partout nicht behalten?«

»Hab ich auch schon gedacht«, meinte Inga. »Und das mit der schnellen Heirat finde ich ebenfalls verdächtig. Im Grunde weiß seine Frau so gut wie nichts über ihn. Wir sollten mal prüfen, ob er in Frankreich Dreck am Stecken hatte.«

Sahin nickte. »Neues Land, neuer Name, neues Glück.« Er bog in eine Seitenstraße ab.

»He – geht’s da neuerdings zum Präsidium?«

»Muss nur kurz was erledigen.«

Inga stöhnte auf. Immer dasselbe. Ständig spannte seine Sippe ihn für irgendwelche Gefallen ein. Normalerweise hätte sie vehement widersprochen, doch gerade besaß sie nicht genügend Energie, um sich mit ihm zu streiten. »Na meinetwegen«, murmelte sie, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er lenkte den Wagen in eine Parklücke und schaltete den Motor aus.

»Geht ganz schnell.« Die Tür schnappte zu.

Wenig später schrak Inga aus einem Sekundenschlaf und drehte sich um. Sahin schob einen Kindersitz auf den Teil der Rückbank, der noch Sitzfläche war. Die andere Hälfte hatte er am Zoo umgeklappt, um Ingas Fahrrad zu transportieren.

»Hallo, Inga.« Sahins Tochter kletterte ins Auto und grinste Inga an, während ihr Vater sie anschnallte.

»Hallo, Yasmin«, erwiderte Inga matt.

»Ist dein Fahrrad kaputt?« Die Kleine zeigte auf die leere Gabel von Ingas Rennrad.

»Nein.« Inga lächelte. »Ich habe das Vorderrad nur ausgebaut, damit es ins Auto passt.«

»Warum?«

»Weil ich es brauche, um nachher nach Hause zu fahren.«

Die Kleine zog die Nase kraus. »Warum?«

Inga seufzte. »Weil …«

»Lass die Fragerei, Yasmin.« Mit rotem Kopf richtete Sahin sich auf, nachdem der Gurt eingeschnappt war, und schloss die Tür.

»Du kannst nicht während der Dienstzeit deine Tochter herumkutschieren – das geht einfach nicht«, zischte Inga ihm zu, als er sich wieder hinters Steuer klemmte.

»Was soll ich denn machen?«, raunte er zurück. »Ich habe die Kleine dieses Wochenende, meine Ex ist mit ihrem Neuen verreist, und die Nachbarin kann nicht den ganzen Tag auf sie aufpassen.«

Er warf einen Blick über die Schulter nach hinten und lächelte seiner Tochter zu. »Jetzt bringen wir dich zur Oma, okay?«

Inga sagte nichts mehr. Sie schämte sich ein bisschen. Weder er noch die kleine Yasmin konnten schließlich etwas dafür, dass ihr Vater-Tochter-Wochenende von einer Zooleiche durchkreuzt wurde.

Nachdem sie Sahins Tochter bei seiner Mutter abgeliefert hatten, rutschte Inga tiefer in das Polster. Ihr leerer Magen knurrte. Sie fühlte sich matt.

»Nein, nicht abbiegen«, protestierte sie, als Sahin sich Richtung Präsidium einordnen wollte. Er warf ihr einen irritierten Seitenblick zu, fuhr aber geradeaus weiter. »Wohin dann?«

»Na, was denkst du wohl?« Inga zeigte mit dem Kinn auf ein Dönerschild.

»Wieder ganz die Alte«, tönte Sahin und steuerte grinsend eine Parklücke an.

Kurz darauf saßen sie einander im Imbiss gegenüber.

»Dachte schon, der Bazillus Commissarius hätte dich jetzt auch erwischt, so schlecht wie dir vorhin war«, meinte Sahin.

»Vollberts Schnäpse sind schuld.« Inga zog eine Grimasse. »Wenn ich gewusst hätte, dass wir heute früh zum Einsatz müssen, hätte ich wenigstens eine Ausrede gehabt, das Zeug nicht anzurühren.«

Sahin winkte ab. »Konnte ja keiner ahnen, dass dieses Magen-Darm-Virus die Kollegen inzwischen komplett außer Gefecht gesetzt hat.« Er nahm das Glas mit der scharfen Soße und verteilte sie großzügig auf seinem Dönerteller. »Aber Vollbert, der ist gestern ja mal so richtig aufgetaut. Was wahrscheinlich auch an den Schnäpsen lag.« Er machte eine Armbewegung, als wollte er Ingas Hüfte umfassen. »Mädel, komm, wir trinken noch einen. Auf einem Bein kann man schließlich nicht stehen«, imitierte er den Dezernatsleiter. »Der ist dir ganz schön auf die Pelle gerückt.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Wie gut, dass Forensik-Stefan zur Stelle war, um dich zu retten.« Er grinste breit. »Und dann wart ihr beiden ja auf einmal verschwunden.«

»Wir haben uns ein Taxi geteilt«, sagte Inga frostig. »Das ist alles.«

»Bleib locker. Hab bloß Spaß gemacht«, nuschelte Sahin mit vollen Backen. Er zeigte mit der Gabel auf ihren Teller. »Iss endlich, sonst wird dir gleich vor lauter Hunger noch mal schlecht.«

Während Inga ihre türkische Pizza von der Alufolie befreite, schaufelte Sahin ein wenig beleidigt seinen Döner in sich hinein. Länger als zwei Minuten hielt sein Stimmungstief jedoch nicht an.

»So wie du vorhin gereihert hast, dachte ich im ersten Augenblick, du wärst schwanger.«

»Unsinn. Da müsste es schon zu einer unbefleckten Empfängnis gekommen sein.« Inga rollte das Lahmacun enger zusammen und biss hinein.

»Was nicht ist, kann ja noch …«

Sie feuerte einen Blick auf ihn ab, der ihn augenblicklich verstummen ließ.

»Autsch«, murmelte er, senkte den Kopf und blieb die nächsten Minuten still.

Während Inga mechanisch kaute und schluckte, hing sie ihren Gedanken nach. In ihrem Kopf erklang Bernds höhnisches Lachen: »Du und Kinder? Dann müsstest du ja deine Karriere aufgeben!«

Als sie damals zur Kripo wechselte, war ihr nicht klar gewesen, dass ihr Aufstieg und die Tatsache, dass sie mehr verdiente als er, an seinem Ego kratzen könnten. Bis heute fragte sie sich, warum ihr erst nach zehn Jahren aufgegangen war, dass ihre Vorstellung einer Partnerschaft sich nicht mit seiner deckte. Immer öfter war es zu hässlichen Auseinandersetzungen mit ihm gekommen, ehe sie sich schließlich von ihm getrennt hatte. Seither lebte sie allein. Und jetzt, mit fast vierzig, war der Zug für eigene Kinder bald abgefahren.

Inga trank ihre Cola in einem Zug aus. Sie rupfte gleich mehrere Servietten aus dem Spender, mit denen sie energisch die Krümel fortwischte.

3

Sie betraten das lang gestreckte Gebäude des zentralen Kriminaldienstes. Der moderne Bau sah aus, als wäre er vom Himmel gefallen und nur zufällig neben dem historischen Hauptgebäude der Polizeidirektion gelandet, das mit dicken Sandsteinmauern, Türmchen und Erkern wirkte wie ein Bollwerk. Vor knapp acht Monaten hatte Inga hier ihren Dienst beim Dezernat für Straftaten gegen das Leben angetreten.

»Ich suche nach einer neuen Herausforderung«, hatte sie Dezernatsleiter Fred Vollbert zuvor beim Bewerbungsgespräch weisgemacht, und dass sie in ihrer derzeitigen Position keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr sähe. In Wahrheit war eine vernünftige Zusammenarbeit mit ihrem damaligen Chef schlicht unmöglich geworden, nachdem sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte. Zudem hatte sie dringend einen Tapetenwechsel gebraucht. Und nicht zuletzt musste sie hier nicht ständig damit rechnen, ihrem Ex-Freund über den Weg zu laufen.

Inga und Sahin waren noch nicht in ihrem gemeinsamen Büro angekommen, als der Dezernatsleiter auch schon über den Flur gestakst kam. Der Anblick seiner Hochwasserhosen erinnerte Inga an eine Figur von Wilhelm Busch, deren Name ihr nicht mehr einfiel. Doch der Dreiundfünfzigjährige wirkte nur auf den ersten Blick weltfremd und unbeholfen. Hinter seiner hohen Denkerstirn verbarg sich ein wacher Geist, und selbst in stressigen Situationen behielt er stets den Überblick. Er hatte seine Leute im Griff und Inga gegenüber bislang eine professionelle Distanz gewahrt. Bis gestern jedenfalls. Unwillkürlich legte sich ein altbekannter Druck auf ihre Brust.

»Besprechung in einer halben Stunde«, verkündete Vollbert. Seine Stimme klang kratzig, und seine Gesichtshaut wirkte grauer als sonst. Als Gastgeber war er sicher bis zuletzt auf der Feier gewesen. Wie alle Kollegen war er an Schlafmangel allerdings gewöhnt. Er nickte ihr freundlich zu, bevor er in sein Büro am Flurende verschwand.

Bestimmt war es dem Alkohol geschuldet gewesen, dass er ihr gestern den Arm um die Schultern gelegt und sie an sich gezogen hatte. Er hatte sie ja auch gleich wieder losgelassen.

Entspann dich. Vollbert ist schließlich nicht Peterjahn, dachte sie und atmete tief durch.

Inga hatte gehofft, die Erste im Konferenzraum zu sein, damit sie die Fakten noch einmal in Ruhe durchgehen konnte. Doch als sie eintrat, saß Kriminaloberkommissarin Franca Becker bereits am Tisch. Wie so oft fläzte sie mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Stuhl und streckte die langen Beine aus. »Hallo, Inga.«

»Moin«, antwortete Inga automatisch und ärgerte sich, als sie sah, wie Franca den Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog. Gleich am ersten Arbeitstag hatte die Kollegin sie als »Emsländer Landpomeranze« betitelt, was wohl scherzhaft gemeint gewesen war. Wobei Inga ihre sarkastischen Bemerkungen nie auf Anhieb einordnen konnte.

Während sie Laptop und Kaffeetasse zum anderen Tischende balancierte, spürte Inga, wie die Kollegin sie aus ihren irritierend hellen Augen musterte. Nichts als das leise Surren der Klimaanlage war zu hören, dennoch hing Inga Francas raues Lachen von gestern Abend im Ohr. Ihre dunkle Stimme war das Erste gewesen, was Inga auf Vollberts Feier entgegengebrandet war. Gleich darauf hatte sie Franca, von Kollegen umringt, am Tresen entdeckt, wo sie einen rüden Witz nach dem anderen zum Besten gab. Sie war für ihre scharfe Zunge berüchtigt und verteilte gern Spitznamen, die von mehr oder minder humorvollen Kollegen bereitwillig aufgegriffen wurden. Und ehe die so »Geadelten« sich versahen, wurden sie den Namen nie wieder los.

Franca fuhr sich mit den Fingern durch die raspelkurzen Haare und gähnte laut. »Du sahst aber auch schon mal frischer aus.«

»Dito«, erwiderte Inga knapp und klappte ihren Laptop auf.

Franca sah sie lauernd an. »War bestimmt eine wilde Nacht, wo du doch mit Prince Charming den Ball verlassen hast.« Sie hob die Arme und räkelte sich halb liegend auf ihrem Stuhl. »Obwohl bei Forensik-Stefan trotz Knackarsch ja auch nicht alles Gold ist …«

Ehe Inga noch etwas erwidern konnte, betrat Vollbert, dicht gefolgt von Sahin und Ziekowsky, den Raum, was Franca sofort dazu brachte, ihre Beine einzuziehen und sich aufrecht hinzusetzen.

Ziekowsky nahm Inga gegenüber neben Vollbert Platz und nickte ihr knapp zu. Der Mann war ein kriminalistisches Urgestein und wirkte mit seinem stahlgrauen Bürstenhaarschnitt, den wachen Augen im narbigen Gesicht und dem akkurat gebügelten Hemd das der Stereotyp eines U.S. Marshals aus einer amerikanischen Polizeiserie. Er hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung und galt als besonders erfahrener Kollege. Sicher würde er auch diesmal die Teamleitung übernehmen. Inga wartete darauf, dass Vollbert ihr langsam mehr Verantwortung übertrug, aber anscheinend sah er sie immer noch als Abteilungsküken. Diesen Eindruck hatte er ihr gestern in bierseligem Zustand durch die Blume bestätigt. Und vielleicht hatte er sie wirklich nur eingestellt, um die Frauenquote des Dezernats zu erfüllen, wie ihr Franca neulich gesteckt hatte.

Sahin ließ sich neben Inga auf einen Stuhl fallen. »Alles klar?«, raunte er ihr zu. Inga nickte nervös, angelte das Kabel des Beamers aus dem Schacht in der Tischmitte und schloss ihren Laptop an.

Kurz darauf knallten Schritte über den Linoleumboden im Flur. Noch ehe er die Tür aufriss, wusste Inga, dass es sich um Staatsanwalt Wolf handelte. Wie immer wirkte der glatzköpfige Jurist gehetzt, und nicht zum ersten Mal fragte sich Inga insgeheim, was ohne die markante Hornbrille von seinem Gesicht übrig bleiben würde. Wolf warf einen kurzen Gruß in die Runde und checkte sogleich die Zeit auf seinem Handy, was Vollbert zum Anlass nahm, sofort zu beginnen.

»Inga, was haben wir bisher? Kannst du uns …?« Er verstummte und sah zur Tür. Marlene März, die Pressesprecherin, huschte in den Raum. Eine Entschuldigung murmelnd, umrundete sie den Konferenztisch und setzte sich neben Sahin.

Inga nutzte die Unterbrechung, stand auf und schaltete den Beamer ein. Doch es erschien nur ein blaues Rechteck an der Wand, kein Bild. »Einen Moment.« Sie beugte sich vor und drückte das Übertragungskabel tiefer in den Anschluss, jedoch ohne Erfolg.

»Warte, warte nur ein Weilchen …«, kam es von Franca. Demonstrativ lehnte sie sich zurück und spielte mit ihrem Kugelschreiber.

Inga spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Wie ging noch diese Tastenkombination, damit das Bild über den Beamer angezeigt wurde? Beim dritten Versuch klappte es. Sie setzte sich und öffnete ein Foto des Opfers.

»Albert Jakubeit, geborener Chevrier, fünfundvierzig Jahre«, begann sie und beobachtete, wie Vollbert sich zu Ziekowsky beugte und ihm etwas zuraunte. »Das Opfer …« Sie brach ab und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Dann holte sie tief Luft, erhob sich erneut und umriss mit fester Stimme die Sachlage, wobei sie mehrere Bilder des Tatorts zeigte. »Morgen sollte dieses Provisorium durch eine Kurbelwinde ersetzt werden, mit der man den Pflug hochziehen und runterlassen kann, um ihn je nach Jahreszeit bequem dekorieren oder sauber machen zu können«, schloss sie ihren Bericht.

»Erzähl mir nicht, dass das kein Unfall war«, bemerkte Franca.

»Das habe ich im ersten Augenblick auch gedacht. Nur dass die Hängevorrichtung tadellos in Ordnung ist«, antwortete Inga. Sie blendete ein Detailfoto der Traktorkupplung ein. »Daran war die Kette befestigt. Im normalen Betrieb würde man beim Ankuppeln einen Sicherheitsbolzen mit Splint verwenden, aber in diesem Fall war es bloß ein einfacher Ringbolzen.«

»Kann der sich nicht von selbst gelöst haben?«, fragte Franca.

»Unwahrscheinlich. Da hätte es schon ein Erdbeben geben müssen. Aber der Traktor wurde weder bewegt, noch gab es irgendwelche Erschütterungen. Ich wüsste nicht, wie da ein massiver, senkrecht eingesteckter Bolzen von allein aus der Kupplung heraushüpfen soll. Und selbst wenn, hätten wir das Teil auf dem Boden vorfinden müssen.«

Sahin schaltete sich ein. »Fakt ist, dass der Bolzen verschwunden ist. Jemand muss ihn mitgenommen haben, und das vermutlich nicht ohne Grund.«

»Was auf ein Tötungsdelikt hindeutet«, stellte der Staatsanwalt fest.

Inga nickte. »Außerdem hing das hier am Tatort.« Sie blendete das Foto des Zettels mit den aufgeklebten Buchstaben ein.

»Ein Bekennerschreiben?«, fragte Wolf.

»Möglich. Der Text klingt jedenfalls nicht so, als wäre jemand gut auf den Zoo zu sprechen.«

Sahin räusperte sich. »Und der Kollege, der den Toten gefunden hat, meinte, dass der Zettel noch nicht dort hing, als er Feierabend gemacht hat. Übrigens erhält der Zoo häufiger solche Drohungen.« Er schob den Ordner, den sie von der Pressesprecherin bekommen hatten, in die Tischmitte, von wo ihn sich Franca als Erste schnappte.

»Na, super. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, welcher dieser Bekloppten dahintersteckt«, erklärte sie mit sarkastischem Unterton, während sie blätterte. »Einige der Briefe sind schon mehrere Jahre alt. Ich glaube kaum, dass es einer von denen war.« Sie reichte den Ordner an Vollbert weiter.

»Daher sollten wir mit den Kandidaten beginnen, die im Zoo aktuell auffällig geworden sind«, erwiderte Inga, der Francas Tonfall und die zur Schau getragene Skepsis allmählich auf die Nerven gingen. Sie wandte sich an Vollbert. »Hinten im Ordner sind Infos über Personen, gegen die der Zoo ein Hausverbot erwirkt hat, weil sie zum Beispiel Tiere freilassen wollten. Insbesondere ein selbst ernannter Tierschutzverein ist da wohl ziemlich aktiv, am besten fangen wir mit denen an. Die Tieranwälte.«

»Die Tieranwälte …« Franca blickte grübelnd zur Decke. »Stand über die nicht neulich erst ein Artikel in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung?«

»Stimmt!«, rief Marlene März. »Ein paar von denen hatten sich am Eingangstor eines Schlachthofs angekettet. Und ich meine, mich auch an eine Protestkundgebung vor dem Zoo zu erinnern.«

Inga nickte. »Diese Spur sollten wir als Erstes angehen. Vielleicht finden sich auch Hinweise in den sozialen Netzwerken. Jemand sollte sich durch die Fanseiten des Zoos wühlen, ob da jemand rumstänkert.«

»Also jetzt mal ehrlich«, warf Franca ein. »Solche Leute ketten sich an Tore von Tierversuchslaboren, lassen Tiere frei und so was. Aber Mord? Höchstens im Affekt, weil der Jakubeit sie vielleicht bei irgendeiner Aktion erwischt hat. Außerdem muss man es erst mal hinkriegen, so genau zu treffen.«

»Wie der Täter den Pflug so auf den Punkt zum Absturz gebracht hat, würde mich auch interessieren.« Der Staatsanwalt rückte seine Brille zurecht. »Wo genau liegt dieser Schweinestall eigentlich? Und wie hat der Täter Zugang zu dem Gebäude erlangt?«