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Mallorca-Flair und Inselwissen: ein hochspannender Urlaubskrimi. Ein Schuhfabrikant, so wohlhabend wie unbeliebt, wird in Santanyí erschlagen aufgefunden. Sein Tod kommt gleich mehreren Menschen gelegen: dem unerwünschten Schwiegersohn, der psychisch labilen Tochter und einem Nachbarn, der eine alte Rechnung begleichen will – vor allem aber Verònica, der Stiefschwester des Toten, die darüber hinaus Chefinspektor Gabriel Ferrer den Kopf verdreht. Dann gibt es eine zweite Leiche, und das Blatt wendet sich dramatisch.
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Seitenzahl: 362
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Claudia Wenk, 1965 in Hamburg geboren, ist hauptberuflich für eine internationale Hilfsorganisation tätig und gibt außerdem Schreibworkshops. Sie veröffentlichte bisher mehrere Kurzkrimis und erhielt 2015 den Publikumspreis des schleswig-holsteinischen Krimifestivals KrimiNordica. Claudia Wenk gehört zu den Finalistinnen des Mallorca-Krimi-Wettbewerbs mit der Mallorca Zeitung und der Literaturagentur Lianne Kolf.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Katharina Jaeger/Lookphotos Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-389-9 Mallorca Krimi Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Für meine Eltern
1
Graphitgraue Wolkenberge hatten sich vor die Sonne geschoben. Eine eigenartige Stille senkte sich über die Ebene. Selbst die Hühner waren verstummt. Gerade noch waren sie aufgeregt gackernd im Zickzack durch ihr Gehege gerannt und hatten sich immer wieder blitzschnell gegenseitig einen Schnabelhieb verpasst. Jetzt suchten sie Schutz in ihrem Stall.
Sie beobachtete durch das Fenster, wie Senyora Pons einen Riegel vor die Tür schob. Als fürchtete sie, der aufkommende Wind könne sich eine ihrer Hennen holen. Oder womöglich den Hahn.
Es wurde von Augenblick zu Augenblick dunkler. Die Umrisse der Windräder am Horizont im Süden von Campos waren kaum noch auszumachen. Bei schönem Wetter konnte sie sonst die Holzlamellenflügel der alten Pumpmühlen, mit denen früher Grundwasser gefördert und Sümpfe trockengelegt wurden, klar erkennen.
Eine Gänsehaut lief über ihre Arme. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Die unbeschwerte Sommerszenerie hatte sich in nur wenigen Minuten völlig verändert. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Sie versuchte sich einzureden, dass dies kein schlechtes Vorzeichen war und nichts mit dem zu tun hatte, was an diesem Tag vielleicht noch kommen würde.
Das Klingeln des Telefons zerschnitt wie ein Schrei die angespannte Stille. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie das Gespräch annahm. »Dr.Mayol, sind Sie es?«
»Ja, ich–«
»Endlich. Wie ist es gelaufen?«
»Ich fürchte, ich habe keine guten Neuigkeiten für Sie.«
Eine Panikwelle rollte heran wie donnernde Brandung. Draußen zogen sich die Unheil verkündenden Gewitterwolken zu einer blau-schwarzen Wand über der flachen Landschaft im Süden der Insel zusammen.
Sie drehte dem Fenster den Rücken zu. »Reden Sie.«
»Er will nicht verkaufen.«
»Was genau hat er gesagt? Will er darüber nachdenken? Will er vielleicht mehr Geld?«
»Hören Sie, ich habe nicht einmal fünfzehn Minuten mit ihm sprechen können, bevor er mich gebeten hat, sein Haus zu verlassen. Um es freundlich auszudrücken. Er hat seine Ablehnung nicht begründet. Ich denke nicht, dass es ein weiteres Gespräch geben wird.«
»Der verdammte Scheißkerl.«
Für eine Sekunde herrschte Schweigen.
»Es tut mir leid, nicht mehr für Sie tun zu können.«
»Ja, mir tut es auch leid. Sehr sogar.«
»Auf Wiederhören.«
Ein Klicken in der Leitung zeigte an, dass das Gespräch beendet worden war. Für einen Moment stand sie bewegungslos da.
»Doch, es wird ganz sicher ein weiteres Gespräch geben. So leicht kommt er diesmal nicht davon«, flüsterte sie.
2
Miquel Planas fluchte. Schwere Regentropfen zerbarsten bereits auf der Windschutzscheibe, während er noch nach einem Parkplatz in der Nähe des Hauses suchte. Er war die enge Straße zwischen den luxuriösen Villen oberhalb der von Felsen gesäumten Bucht in Cala Santanyí bereits in beide Richtungen abgefahren. Zweimal. Er fand keine Lücke.
Verdammt, dachte er, wenn ich den Wagen noch weiter weg abstellen muss, bin ich bis auf die Knochen nass, wenn ich zu Fuß zum Haus laufe.
Er fühlte sich außerdem nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Er kam geradewegs aus Llucmajor, wo er sich mit seinen Kumpels beim Stammtisch des Fanclubs von Real Mallorca einige Gläser Herbes genehmigt hatte. Und wie immer hatte er es sich nicht nehmen lassen, vor der Heimfahrt einmal das Denkmal der Schuhmacher auf dem palmenbestandenen kleinen Platz an der Carrer D’Antoni Maura zu passieren und in seine Richtung zu spucken. Die eingemeißelten Handwerksszenen standen für den Wohlstand, zu dem die Zunft der Stadt verholfen hatte. Für Planas stand die in Stein gehauene Ehrung für die verfahrene Situation, in der er sich befand. Daher pflegte er sein Ritual, weil er sonst nichts ausrichten konnte gegen den einen Schuhfabrikanten, den er so hasste.
Eigentlich hätte ich in diesem Zustand gar nicht mehr Auto fahren dürfen. Zumindest geht Sitzen besser als Laufen. Er grinste bei dem Gedanken, wendete erneut den Wagen und fuhr auf das Haus zu. Er hatte die Nase voll. Er würde auf die Auffahrt fahren und sich vor die Garage seines Schwiegervaters stellen. Der würde heute sicher nicht mehr wegfahren wollen.
Er stoppte den Wagen, sprang heraus und hakte das Tor auf. In wenigen Sekunden war er bereits klitschnass. Das Regenwasser lief ihm in den Hemdkragen. Er fluchte abermals, bevor er endlich den Wagen auf dem Grundstück parkte.
Gerade wollte er im Laufschritt zur Haustür eilen, als er eine Stimme vernahm.
»Was machst du denn da? Ich hab dir doch gesagt, du sollst deinen Wagen nicht vor der Garage parken.«
Sein Schwiegervater. Als hätte er es geahnt. Planas überkam augenblicklich eine große Wut, denn der Alte hielt einen übergroßen Regenschirm über sich, während er selbst inzwischen aussah wie ein aus der Bucht gefischter nasser Hund.
»Mensch, es ist nichts frei in der Straße, und es gießt. Das siehst du doch.«
»Das interessiert mich nicht. Du kennst die Regel.«
Die Regel. Planas hätte beinahe laut losgelacht. Wer außer Bernat Crespí brauchte derlei Regeln für das Zusammenleben mit seiner eigenen Familie? Vermutlich niemand. In Wirklichkeit ging es ihm doch nur darum, den alten, zerknautschten Seat des Schwiegersohns nicht vor seiner Nobelvilla sehen zu lassen. Er war nicht ausreichend repräsentabel. Und das war schließlich alles, worauf es ankam. An jedem einzelnen verdammten Tag.
»Willst du denn heute noch weg?«
»Das hat damit nichts zu tun. Los, los.« Mit einer gebieterischen Handbewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen, gebot Crespí seinem Schwiegersohn, das Grundstück von seinem Auto zu befreien. Überheblich kräuselten sich die Lippen unter dem bleistiftdünnen Oberlippenbart, dessen Enden sich leicht nach oben bogen, was ihm Ähnlichkeit mit Salvador Dalí verlieh.
Planas hasste diesen Gesichtsausdruck. Es reichte ihm. »Und wenn nicht? Lässt du mein Auto abschleppen, oder rufst du gleich die Polizei und lässt mich verhaften?«
»Hier habe immer noch ich das Sagen. Du wohnst in meinem Haus auf meinem Grund und Boden, und solange das so ist, hast du dich nach meinen Regeln zu richten.«
Damit drehte Crespí sich um und ließ Planas im Regen stehen. Er war nicht einmal laut geworden, doch diese ätzende Arroganz war schlimmer, als wenn er gebrüllt hätte.
Planas ballte die Fäuste. Er konnte nichts machen. Iñes und er konnten sich im Moment nichts anderes leisten. Sie waren den Schikanen des Alten ausgeliefert.
Nicht mehr lange, schwor er sich ein ums andere Mal. Irgendwann werden die Karten neu gemischt.
Er rannte zurück zum Auto, tränkte den Sitz mit seiner triefenden Kleidung und suchte sich einen Parkplatz in einer weiter entfernten Nebenstraße.
Dieser Scheißkerl, dachte er bei jedem Schritt zurück zum Haus, bei dem ihm das Wasser aus den Schuhen quoll. Nicht mehr lange, das schwöre ich.
3
Iñes Crespí hörte, wie sich nach zwei vergeblichen Versuchen endlich der Schlüssel im Schloss herumdrehte.
»Wie siehst du denn aus?«, entfuhr es ihr, als ihr Mann vor ihr stand und sich anschickte, die Enden seines Hemds auszuwringen. »Du tropfst den ganzen Teppich voll. Geh ins Bad!«
»Da kannst du dich bei deinem Vater bedanken. Ich durfte nicht auf der Auffahrt parken. Nicht mal bei dem Wetter hat der Kerl ein Einsehen.«
»Bitte, Miquel, nicht schon wieder eine Diskussion über meinen Vater. Meine Mutter sagt, er hatte heute einen schlechten Tag. Da war so ein Typ bei ihm, ein Anwalt oder ein Notar. Sie weiß es nicht genau. Seitdem ist er ungenießbar.«
Mit vor Wut verzerrtem Gesicht kickte Planas seine schmutzigen Schuhe in die Ecke des Korridors, wobei sich Dreckspritzer über die blütenweiß gekalkte Wand verteilten. Iñes warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
»Seitdem? Guter Witz. Ich würde sagen, dein Vater ist immer ungenießbar. Eines Tages, das sage ich dir, eines Tages brennt mir die Sicherung durch. Mir oder jemand anderem. Gibt ja genug Menschen, die er schikaniert. Nur so werden wir endlich unsere Ruhe haben.«
»Bist du verrückt geworden? Wie kannst du so etwas sagen?«
»Das ist meine ehrliche Meinung. Es wäre eine Befreiung für alle.«
»Du weißt doch nicht, wovon du redest. Soll ich dir sagen, was passieren würde? Es gäbe niemanden mehr, der sich um meine Mutter kümmert. Das hinge alles an mir. Finanziell und überhaupt. Es ist doch bisher schon schwer, wenn sie einen akuten Schub hat wie im Moment, in ihrer Euphorie drei Dinge auf einmal machen will und am Ende von allem die Hälfte vergisst und Dinge durcheinanderbringt. Auf alles müssen wir ein Auge haben. Irgendwann müsste ich sie wahrscheinlich betreuen wie ein Kind.« Das Kind, das wir nicht haben, dachte sie, behielt diesen Gedanken jedoch für sich. »Ich könnte nie mehr arbeiten gehen. Wir hätten weniger Geld. Soll ich weitermachen?«
»Es gibt für alles eine Lösung. Du musst den Gedanken nur mal ganz zu Ende denken, falls du verstehst, was ich meine.«
Iñes fragte nicht nach. Sie wollte es nicht wissen. Sie war dieser Gespräche so überdrüssig. Seit Jahren ging das schon so. Miquel hatte recht, mit ihrem Vater konnte man nicht unter einem Dach leben. Er hatte sich über die Jahre zum Tyrannen entwickelt, ganz nach seinem eigenen Vater.
Sie erinnerte sich noch gut an ihren Großvater. Herrschsüchtig und grob war er gewesen. Und wenn seine Familie nicht tat, was er wollte, war ihm schon mal die Hand ausgerutscht. Jedenfalls galt das für seine erste Familie. Oder er hatte die kleine Iñes an den Ohren gezogen, wenn sie über den Rasen gelaufen und dabei aus Versehen auf die akkurat angeordneten Kräuterbeete getreten war. Oder das Gartentor nicht richtig hinter sich geschlossen hatte, wenn sie von der Schule oder von Freunden nach Hause gekommen war.
Ihr Vater hatte, solange sie sich zurückerinnern konnte, kein gutes Wort für ihren Großvater übrig gehabt. Doch nach dessen Tod war er genauso geworden wie er. Vielleicht war er sogar noch schlimmer. Er wendete keine körperliche Gewalt an, doch Worte konnten manchmal viel verletzender sein.
Iñes ging ins Bad, drückte eine Schlaftablette aus der Vertiefung unter der Silberfolie und spülte sie mit Leitungswasser hinunter. Wenigstens für ein paar Stunden wollte sie nicht mehr darüber nachdenken müssen.
4
Im Nachbarhaus wurde der Vorhang am Fenster im Erdgeschoss wieder ordentlich in Falten gelegt. So, wie er gewesen war, bevor er dezent zurückgezogen wurde, um den Blick auf die streitenden Männer freizugeben. Ganz brachte Maria Garau es noch nicht fertig, sich abzuwenden. Sie verharrte nah an der Scheibe, als hoffte sie auf eine Zugabe.
»Eines Tages schlagen die sich die Köpfe ein«, sagte sie zu ihrem Sohn Josep, der hinter ihr am Küchentisch saß und in der »Diari de Balears« blätterte.
»Ach, was du wieder hast«, erwiderte Josep Garau desinteressiert.
»Ich sag es dir, das knallt da eines Tages. Der ist doch von Anfang an nicht einverstanden gewesen mit dem Schwiegersohn.«
Garau verdrehte die Augen. »Woher willst du das denn wissen. Hat er dir das vielleicht erzählt?«
»Das braucht mir niemand zu erzählen. Ich kann eins und eins zusammenzählen. Der ist nicht gut genug für seine Tochter. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr, weil du selbst noch ein Kind warst. Schon als Iñes noch klein war, durfte sie nicht mit den anderen Kindern spielen. Sie musste herausgeputzt und frisiert mit ihrer Mutter in den Künstlerateliers in Santanyí und auf Vernissagen in Palma posieren, während alle anderen unten am Strand herumgetobt sind.«
»Tja, wir waren böse Schmuddelkinder.« Garau seufzte theatralisch.
»Ach was, Schmuddelkinder. Ganz normale Kinder wart ihr. Damals konnte man sein Kind auch noch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit den anderen draußen in der Bucht herumstromern lassen, ohne Angst haben zu müssen, dass es abends nicht wieder nach Hause kommt.«
»Außer…« Garau beendete den Satz seiner Mutter nicht, denn er wusste schon, was kam.
»Außer wenn ihr euch an der Caló des Moro herumgetrieben habt. Hundertmal haben dein Vater und ich damals gesagt, ihr sollt euch von den Klippen fernhalten…«
»Aber…« Garau gab die Stichworte vor wie ein Souffleur.
»Aber diese verrückten Klippenspringer, die hatten es euch angetan. Wie oft habe ich zu deinem Vater gesagt, ›Josep wird sich das Genick brechen. Verbiete ihm, dorthin zu gehen‹, habe ich gesagt.«
Maria erinnerte sich mit einem Schaudern an die malerische Bucht, deren Strand die Besucher nur zu Fuß über einen abschüssigen Pfad erreichen konnten. Gastronomie und Rettungsschwimmer hatte es nicht gegeben. Gerade deshalb hatten sich dort die wagemutigsten Jungs getroffen, um sich von den mit Pinien bewachsenen Felshängen ins Wasser zu stürzen. Sie war heute noch froh, dass ihr Josep nicht so mutig gewesen war.
»Und dennoch, früher war alles besser.«
Einer aufmerksameren Zuhörerin wäre Garaus ironischer Ton aufgefallen. Maria allerdings war zu beschäftigt mit dem Fortgang ihrer Ausführungen. »War es auch. Zumindest gab es da noch nicht diese grässlichen Castingshows im Fernsehen. Ich sage dir, wenn es die schon gegeben hätte, die hätten die Iñes da hingeschleppt. Immer was Besonderes sollte sie sein. Mit diesen ganzen Diäten. Das arme Ding. Die Iñes hat als Kind nie etwas Anständiges zu essen bekommen. Und das hat mir ihre Mutter selbst erzählt.« Maria reckte den Zeigefinger in die Luft, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Ein winziger Tropfen Olivenöl rann dabei hinab zu ihrem Handgelenk. Das Schauspiel nebenan hatte begonnen, als sie gerade mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt gewesen war.
Sie hatte die weiblichen Hausangestellten schon vor langer Zeit entlassen, da diese ihrer Meinung nach ihrem Mann viel zu oft schöne Augen gemacht hatten. Nach seinem Tod hatte sie es dabei belassen, sich um die Küche und den Rest des Hauses selbst zu kümmern. Und das hatte einen ganz einfachen Grund: Das eingesparte Geld konnte sie in die horrende monatliche Telefonrechnung investieren. Der tägliche Schwatz mit ihren Freundinnen war ihr heilig. Und etwas anderes hatte sie schließlich sowieso nicht zu tun.
»Die war sogar noch stolz darauf, dabei hätte sie sich schämen sollen. Jeden Abend grünen Salat und Mineralwasser. Und Pa amb oli, allerdings für das arme Mädchen ohne Olivenöl. Von Schinken ganz zu schweigen. Das ist doch nichts für ein Kind. Sie musste ja in die Designerkleider passen, die der Herr Schuhfabrikant für sie ausgesucht hatte.«
»Mission erfüllt. Sie ist dünn wie eine Stricknadel«, meinte Garau ohne eine Spur von Mitleid.
»Sicher. Ihre Eltern haben ja auch den Grundstein gelegt für so eine Essstörung.«
»Woher hast du denn das wieder? Aus einem deiner Magazine? Oder einer Dokusoap?«
»Ach, davon hast du keine Ahnung.«
Plötzlich hielt Maria den Atem an. Da war etwas. Sie meinte, eine Bewegung im Nachbargarten wahrgenommen zu haben. Bei den Oleanderbüschen. Und einen Schatten?
Erwartungsfroh kniff sie die Augen zusammen, um den Regenschleier mit ihrem Blick zu durchdringen. Als sie jedoch nichts ausmachen konnte, verzog sie enttäuscht das Gesicht, wie um eine ersehnte Fortsetzung der Abendunterhaltung gebracht. »Komisch, ich dachte, ich hätte…«
»Was?«
»Ach, nichts«, seufzte Maria, verließ ihren Posten und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der sopa de peix, die auf dem Herd leise vor sich hin simmerte. Der Duft von Fisch, Lorbeer und Knoblauch hing schwer in der Luft.
5
Es war bereits spät in der Nacht, und ihre Wut war noch immer nicht verraucht. Verònica Martí lief auf und ab über den kühlen Steinboden und ließ dabei eine Handvoll matt schimmernder Kunstperlen von einer Hand in die andere kullern. Das beruhigte sie.
Aufgezogen zu einer Kette, hatten die Perlen ihrer Mutter gehört. Es war ein Geschenk ihres Mannes gewesen, der das Schmuckstück eigens für sie hatte anfertigen lassen, als der zehnte Hochzeitstag mit dem einhundertsten Geburtstag des Unternehmens »Majorica« in dasselbe Jahr gefallen war. Sie riss, als sie das Haus verloren, als würde damit auch die letzte Verbindung zu ihrem bisherigen Leben durchtrennt werden.
Doch es war nicht ausschließlich Wut, was Verònica empfand. Es kam noch etwas anderes hinzu. Eine unsägliche Enttäuschung. Sie hatte auf dieses Vorhaben jahrelang hingearbeitet, alles getan, was ihr möglich gewesen war. Und sie hatte doch verloren. Ärger über Antoni Mayol grummelte außerdem in ihren Eingeweiden.
Er hatte ein weiteres Gespräch ausgeschlossen. Und auch noch einfach das Telefonat beendet, ohne mit ihr eventuelle nächste Schritte zu besprechen. Ein Hasenfuß. Ganz offensichtlich der falsche Mann für ihr Anliegen.
Wie damals, dachte sie.
Ihre Mutter hatte auch den falschen Anwalt und Crespí die besseren Kontakte gehabt. Monat für Monat waren die Ersparnisse ihrer Mutter geschrumpft. Crespí hatte sie mit seiner Hinhaltetaktik regelrecht ausgeblutet. Dazu kam, dass sie sich vom kaltschnäuzigen und vermeintlich einflussreicheren Crespí gewaltig hatte einschüchtern lassen. Am Ende hatte sein längerer Atem gesiegt. Und nun war es zu spät.
Verònica schloss die Augen. Bilder stiegen vor ihrem inneren Auge auf. Sie erschienen ihr wie die vom verlorenen Paradies. Sie sah die unzähligen, von ihrer Mutter gepflanzten orangefarbenen Marigold, die die Auffahrt säumten wie eine Zierborte. Sie liebte den aromatischen Duft und verband mit ihm immer die Erinnerung an eine bessere Zeit.
Sie dachte an die Obstbäume im Garten hinter dem Haus. Es gab Orangen, Feigen und Äpfel, eingerahmt von wildem Rosmarin und den Oleanderbüschen. Die Kinder hatten von den Physalis genascht, als die tiefgelben Früchte noch gar nicht richtig reif gewesen waren, sondern noch so sauer, dass sie die komischsten Grimassen schnitten, wenn sie sie verspeisten. Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen gleich darauf über ihre Wangen, sosehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen. Alles verloren. Alles vorbei und nur noch Erinnerung. Und irgendwann würde auch die verblassen.
Verònica schnäuzte in ein Papiertaschentuch. War wirklich alles vorbei? Ihr Blick wanderte zu ihrem Schreibtisch, über den Stapel Papiere. Anwaltskorrespondenz, Gebäudegutachten und eine Testamentskopie.
Crespí verkauft also nicht. Jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt nicht. Vielleicht sogar nie. Und? Soll er doch zum Teufel gehen, wo er zweifellos hingehört. Sie ballte ihre Faust und fühlte sich wie Scarlett O’Hara mit der Erde von Tara in der Hand. Wäre es ihr nicht so ernst gewesen, hätte sie gelacht.
Sie machte sich selbst ein Versprechen. Crespí würde sie nicht kleinkriegen. Diesmal nicht.
Verònica atmete ein paarmal tief durch, straffte die Schultern, bis die Wirbel knirschten, und merkte, wie ihre Melancholie wieder dem Groll Platz machte. Das war gut. Groll trieb sie voran.
Ihr Blick blieb abermals an den Papieren hängen. Der Samen für einen neuen Plan wurde gepflanzt.
Dann hole ich mir das Haus eben auf andere Weise wieder. Er hat es ja nicht anders gewollt.
Doch erst nahm sie sich eine Schaufel und fegte die Scherben vom Nachmittag zusammen.
6
Bernat Crespís Augen weiteten sich. Mit einem hohen, entgeisterten Japsen nach Luft wich er einen Schritt zurück. Fast machte er einen Hüpfer. Im selben Moment wurde ihm klar, wie das wirken musste. Dass er seinem Gegenüber dadurch zeigte, wie eiskalt er erwischt worden war und dass er die Kontrolle über das Geschehen verloren hatte.
Er straffte sich, plusterte sich auf wie ein Kampfhahn und holte tief Luft. Doch alles ging so schnell, dass er nicht wahrnahm, wie sich die Hand seines Gegenübers zur Seite ausstreckte und nach etwas langte. Zu sehr war er damit beschäftigt, seiner Bestürzung Herr zu werden und stattdessen seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen. Doch noch bevor er fragen konnte, was zum Teufel dies alles zu bedeuten hatte, sauste der Arm auf ihn zu.
Zum Ausweichen war keine Zeit. Der Sockel der Statuette traf ihn genau an der Schläfe. Crespí konnte gerade noch seine Augenbrauen empört hochziehen, bevor seine Beine nachgaben. Er spürte, wie etwas Warmes über sein Gesicht rann, ehe um ihn herum alles schwarz wurde.
7
Der Duft von frisch zubereitetem café con leche wogte durch den Raum. Er mischte sich mit der kühlen Morgenluft, die durch die weit aufgerissenen Fenster strömte und den Mief der Nacht vertrieb. Es würde ein strahlender Tag werden. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken hatten sich verzogen und machten einem kobaltblauen Himmel Platz.
Einzig der Lärm von draußen störte den morgendlichen Frieden. Eine Garage der Palmesaner Feuerwehr befand sich direkt neben dem Kommissariat in der Carrer de Marbella. Bereits zum zweiten Mal rückte ein Einsatzfahrzeug aus.
Inspektor Rafael Salvà streckte seinen Strubbelkopf durch die Tür zum Büro seines Vorgesetzten, der in diesem Moment in seine Ensaimada biss und Puderzucker über Hemd und Tastatur verteilte. »Gabriel, es gibt Arbeit.«
Chefinspektor Gabriel Ferrer sah vom Bildschirm auf. Es war sechs Uhr. Er war noch nicht das, was er im Allgemeinen unter bereit für den Tag verstehen würde. Er sah seinen jüngeren Kollegen Salvà auffordernd an. »Worum geht es?«
»Die Kollegen von der Polícia Local in Santanyí haben uns gerade benachrichtigt. Die haben einen Toten. Fremdeinwirkung.«
»Fremdeinwirkung. Haben die es auch etwas genauer?«
»Schlageinwirkung.«
»Wo?«
»Auf den Schädel.«
»Wo der Tote gefunden wurde, will ich wissen.« Begriffsstutzigkeit konnte Ferrer am frühen Morgen noch weniger vertragen als zu anderen Tageszeiten.
Salvà sah ihn entschuldigend an. »In der Küche seines Hauses in Cala Santanyí. Der Name ist Bernat Crespí. Ein Schuhfabrikant.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Die Ehefrau. Sie hat ihre Tochter und den Schwiegersohn geweckt, die im selben Haus wohnen. Die Tochter hat daraufhin die Notrufzentrale benachrichtigt.«
»Und alle drei haben in der Nacht nichts mitbekommen? Was ist denn das wieder für eine Geschichte.« Ferrer strich sich mit einer müden Geste durch das dunkle Haar, das von ersten silberfarbenen Fäden durchzogen war, und griff nach seiner Lederjacke. Den letzten Schluck Kaffee spülte er im Stehen hinunter. »Also los. Sehen wir uns die Sache mal an.«
8
Das Wohnviertel nordwestlich der Bucht von Cala Santanyí bediente gehobene Ansprüche. Von der Carrer sa Costa d’en Nofre gingen mehrere, teilweise im Zickzack verlaufende Nebenstraßen ab, zu deren beider Seiten beeindruckende Villen lagen, die sich ein Polizist nicht leisten konnte. Auch nicht ein Chefinspektor.
Die meisten Häuser trennten Natursteinmauern und üppige Gärten von der Straße. Hier ging es nicht so privat zu wie in Son Moja, aber auch nicht so touristisch wie unten am Strand, der im Sommer von den Tagesausflüglern aus Cala Figuera bevölkert wurde.
Als Ferrer und Salvà an der angegebenen Adresse ankamen, wimmelte es auf der Straße vor der schneeweißen Villa mit der verschachtelten Architektur bereits vor Menschen wie in einem Ameisenhaufen. Sie bahnten sich einen Weg durch die herumstehenden Schaulustigen, die vom Absperrband auf Distanz gehalten wurden. Vermutlich handelte es sich um die lieben Nachbarn.
Ferrer und Salvà marschierten zielstrebig über den sicher dreißig Meter langen Kiesweg auf das Haus zu. Er führte sie durch einen Vorgarten, in dem Zwergpalmen, Agaven, Bougainvilleen und eine Fülle von Geranien wuchsen. Vor dem Eingang trafen sie auf einen uniformierten Beamten, den Ferrer von früheren Einsätzen bereits kannte.
»Bon dia, Sánchez«, begrüßte er den jungen Mann, der ihn auch heute wieder irritiert ansah. Sánchez war kein Mallorquiner, nicht einmal ein Katalane, wusste Ferrer. Er stammte aus der Provinz Pontevedra, und so kam ihm der katalanische Gruß wohl eher wie der seiner portugiesischen Nachbarn auf der anderen Seite des Río Miño zu Hause in Galicien vor. Ferrer hatte den Eindruck, Sánchez konnte sich hier einfach nicht daran gewöhnen.
»Wie schaut es aus? Können Sie mir schon etwas sagen?«
»Buenos dias, Chefinspektor Ferrer. Die Tatortsicherung ist abgeschlossen. Die Familie ist im Haus. Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn. Die Notärztin Doctora Pujol hat sich den Toten bereits angesehen.«
»Und ist fröhlich durch unseren Tatort gelatscht?«
Sánchez räusperte sich.
»Nein, ist sie nicht«, ertönte eine leicht pikierte weibliche Stimme hinter Ferrer. »Denn sie ist ja nicht blöd und macht den Job auch nicht zum ersten Mal.«
»Freut mich zu hören. Bon dia, Doctora Pujol.« Ferrer drehte sich um und stand der hochgewachsenen Ärztin mit den streng zurückgebundenen Haaren gegenüber, die ihn sogar noch um ein paar Zentimeter überragte. Vielleicht trug auch das dazu bei, dass er mit ihr einfach nicht recht warm werden wollte.
Doctora Pujol ließ sich von seiner Ironie nicht beeindrucken und begann zu berichten. »Der Mann hat einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf erhalten. Der Schlag ist allerdings nicht wie so oft auf den Hinterkopf ausgeübt worden, sondern auf die seitliche Stirn im Schläfenbereich. Was darauf hindeutet, dass Täter und Opfer sich gegenüber- oder seitlich zueinander gestanden haben. Genaueres müssen die Kollegen von der Rechtsmedizin herausfinden. Die können den exakten Schlagwinkel berechnen.«
Ferrer zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Doctora Pujol, wollen Sie uns unsere Ermittlungsarbeit wegnehmen?«
Die Notärztin quittierte diese Bemerkung mit Nichtbeachtung. »Ob eine durch den Schlag ausgelöste Hirnblutung tödlich war oder wie bei einem Reflextod ein tödlicher Kreislaufstillstand verantwortlich ist, wird ebenfalls eine Obduktion ergeben.« Sie hielt Ferrer den Totenschein vor die Nase. »Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt. Im Gesicht, genauer gesagt um die Augen, und an der Kiefermuskulatur. Nacken und Hals sind noch nicht betroffen, also dürfte der Tod vor circa zwei bis vier Stunden eingetreten sein. Falls Sie noch weitere Fragen haben, stehe ich zu Ihrer Verfügung.« Damit ließ sie den einigermaßen beeindruckten Ferrer stehen und verschwand in der Menge.
Der nahm sein Handy und benachrichtigte erst die Kriminaltechniker und danach die Staatsanwaltschaft. In wenigen Minuten würde der Ameisenhaufen Zuwachs bekommen und er vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr ausmachen können. Vorher wollte er den Toten und den Tatort gesehen haben, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen.
Doch als er einen Fuß auf die Stufen vor dem Eingang setzte, winkte ihm einer der Polizisten zu. »Hier entlang, Chefinspektor. Der Tote ist dort hinten. Im Vorderhaus geht es zur Tochter.«
Ferrer hatte von der Straße aus gar nicht gesehen, dass sich hinter dem Haupthaus mit den schrägen Dächern und der ummauerten Veranda, deren Ziegeldach auf massiven Säulen ruhte, noch ein flacherer Gebäudeteil von beinahe derselben Grundfläche erstreckte. Er hatte einen eigenen Eingang.
Ferrer trat durch die Tür in den Eingangsbereich. Gewohnheitsmäßig schnell nahm er erste Eindrücke in sich auf. Mallorquiner Naturstein und weiße Marmorfliesen bildeten die Kulisse für exquisite Möbel und feinste Stoffe, mundgeblasene Glaskunst und Vasen mit üppigen Blumenarrangements. Ferrer fühlte sich wie am Set für ein Fotoshooting eines der vielen Magazine, in denen die typische Wohnkultur einer bestimmten Region präsentiert wurde.
Die Sonne flutete durch bodentiefe Fenster und malte Kringel auf den spiegelblanken Boden. Und doch lag über all dem eine Schwere, die Ferrer sich nicht erklären konnte. Nicht einmal damit, dass er sich schließlich an einem Tatort befand. Es war, als ließen sich Verdruss und Trostlosigkeit mit Händen greifen.
Die Küche war der letzte Raum am Ende eines langen Korridors. Der Kollege dort tippte sich zum Gruß wortlos an die Stirn, trat einen Schritt zur Seite, damit Ferrer eintreten konnte, und entfernte sich.
Auf einem massiven Eichentisch, der mindestens zehn Personen Platz bot, zeugten nicht abgeräumte Tapasschälchen von einem Nachtmahl. Ferrer schaute auf Reste von gefüllten Oliven, frittierten Sardinen, Tintenfischringen und in Öl gebackenen Kartoffeln. Überall waren Brotkrümel verstreut. War das Opfer beim Essen gestört worden?
Er ging neben dem Toten in die Hocke und betrachtete ihn. Um die sechzig Jahre alt, schätzte Ferrer. Lackschwarze Haare ohne eine Spur von Grau, mittelgroß, hager, mit langen Armen, die Ferrer an Spinnenbeine erinnerten. Auf den ersten Blick keine weiteren Auffälligkeiten.
Der Tote lag zusammengesackt auf dem Boden, als wäre er gegen die Wand hinter sich geprallt, an ihr hinuntergerutscht und zur Seite vor die Ofenklappe gekippt. Dabei hatte er seine Brille verloren, sie lag neben ihm. An der Innenseite des Bügels erkannte Ferrer den Schriftzug eines namhaften Designers. Crespí hatte sich die gute Sicht etwas kosten lassen.
An der linken Seite des Schädels klaffte eine Wunde, die Ferrer sich nicht näher ansehen wollte. Das überließ er den Medizinern. Über Brust und Bauch des Toten hatte sich ein Blutfleck ausgebreitet, der bereits zu trocknen begonnen hatte und das Burgunderrot des Hausmantels an diesen Stellen fast schwarz wirken ließ. Genau wie das Blut in den Fugen zwischen den erlesenen Mosaikfliesen, das dort ein bizarres Muster gebildet hatte.
Ferrer betrachtete die weißen Tonscherben. Eine Siurell, erkannte er an den roten und grünen Pinselstrichen. Oder vielmehr ein Kunstobjekt, das eine der mallorquinischen Tonflöten darstellte, welche im Original viel kleiner waren. Damit hätte man niemanden erschlagen können. Allerdings mit diesem Exemplar, was er anhand der Bruchstücke schloss. Die glücksbringenden Kräfte, die man der Siurell nachsagte, hatten hier jedoch versagt.
Crespís Augen waren weit aufgerissen. Ferrer fand nicht, dass es aussah, als wäre es vor Angst oder Überraschung geschehen. Vielmehr hatte der Gesichtsausdruck des Opfers einen empörten, hochmütigen Zug. Als ob er fragen wollte, wer es wage, Hand an ihn zu legen. Dieser Ausdruck ließ bei Ferrer spontane Abneigung aufkommen.
Am anderen Ende des Korridors hörte er Stimmen. Die Spurensicherung traf ein.
Gleich wird es ungemütlich, dachte Ferrer, stand auf und ging den Kollegen entgegen.
Er konnte sich nicht helfen, für ihn sahen sie in ihren weißen Kapuzenoveralls immer aus wie Schneezwerge. Er wies ihnen den Weg und trat auf Salvà zu. »Wo ist die Familie?«
»Im Vorderhaus. Die Personendaten sind aufgenommen, und eine erste Befragung wurde durchgeführt. Ergeben hat das erst mal nichts von Wichtigkeit. Niemand hat etwas gehört oder gesehen.«
»Aber wie kann das denn sein? Jemand spaziert mitten in der Nacht ins Haus und erschlägt den Hausherrn?« Ferrer schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie ist der Täter hereingekommen?«
»Es gibt keine Spuren von gewaltsamem Eindringen in das Haus. Jemand hatte also einen Schlüssel oder wurde hereingelassen. Bei der Ehefrau, Leonor Ros Llobera, haben wir es nach Aussage der Tochter mit einer bipolaren Störung in einer akuten manischen Phase zu tun.« Salvà sagte das, als würde er überlegen, ob manisch gleichbedeutend mit gewalttätig war.
Ferrer fand schon immer, dass sein jüngerer Kollege zu viele amerikanische Filme guckte. Dennoch kam auch er ins Grübeln. »Aber in einer manischen Phase leiden die Betroffenen unter Schlafstörungen. Tiefschlaf, sodass sie nichts mehr mitbekommen, ist eigentlich unüblich.«
»Stimmt«, setzte Salvà seine Ausführungen fort. »Sie hat auch nicht geschlafen. Sie hat ihre eigenen Räume auf der anderen Seite des Hauses und dort ein kleines Atelier, wo sie malt. In der Nacht mit Musik über Kopfhörer, um den Rest des Hauses nicht zu stören. Und scheinbar so laut, dass sie selbst nichts mehr hört. Heute früh ist sie in die Küche gegangen, um sich ein Glas Wasser zu holen, und hat ihren Mann gefunden. Doctora Pujol hat ihr eben etwas zur Beruhigung gegeben. Sie steht ziemlich neben sich, aus ihr kriegen wir nicht viel heraus.«
»Und die Tochter?«
»Auch nicht viel besser. Sieht aus, als wäre sie magersüchtig. Seit vier Monaten wegen einer unklaren Stresssymptomatik nicht mehr arbeitsfähig und auch unter Medikamenteneinfluss.«
»Großer Gott, das kann ja heiter werden. Der Schwiegersohn?«
»War gestern beim Stammtisch mit seinen Fußballkumpels in Llucmajor. Kannst dir ja vorstellen, wie das abgelaufen ist. Er hat danach geschlafen wie ein Murmeltier.«
»Gut. Ich bin da vorn an einem Arbeitszimmer vorbeigekommen. Sieh dich dort um. Computer, Notizbuch, Kalender, Telefon. Was auch immer für uns interessant sein könnte. Ich werde erst einmal selbst mit der Familie sprechen.« Ferrer machte kehrt und ging Richtung Ausgang.
»Warte, du brauchst nicht außen herumzugehen. Vorderhaus und Hinterhaus sind durch eine Tür miteinander verbunden. Dort drüben.« Salvà wies auf eine Tür am anderen Ende des Raumes, die Ferrer für eine Tür zu einem Vorratsraum gehalten hatte.
»Was soll das heißen? Der Täter kann also auch durch das vordere Haus eingedrungen sein?«
»Theoretisch ja. Die Überprüfung hat allerdings keine Einbruchsspuren ergeben. Auch nicht an der Tür zum Keller, durch den man ebenfalls ins Haus gelangen kann.« Salvà zuckte mit den Schultern, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass der Täter ihnen keine brauchbaren Hinweise hinterlassen hatte. Doch da war Ferrer schon durch die Tür verschwunden.
9
Ferrer war nicht gut darin, mit Hinterbliebenen zu sprechen. Sein berufsmäßiges Misstrauen verhinderte, dass er Angehörigen in Momenten wie diesem das nötige Mitgefühl übermitteln konnte. Er dachte immer daran, dass einer von ihnen auch der Täter sein konnte. Manchmal wünschte er sich beinahe, für diese Situationen eine weibliche Kollegin an seiner Seite zu haben, die mit mehr Empathie ausgestattet wäre als er selbst. Laut ausgesprochen hätte er das allerdings niemals.
Als er ins Wohnzimmer trat, wo die Familie des Toten beisammensaß, wappnete er sich daher wieder einmal bestmöglich gegen das, was ihn erwartete. Tränen und Verzweiflung und das Nichtbegreifen dessen, was geschehen war. Zu seiner Überraschung traf er nichts dergleichen an. Die beiden Frauen saßen nebeneinander auf einem Sofa, jedoch nicht etwa im Schmerz einander zugewandt, sich gegenseitig stützend. Nein, es war auf den ersten Blick eine Distanz zwischen den beiden zu sehen und zu spüren.
Die Ehefrau war eine verhärmte Frau mit fahler Gesichtsfarbe. Auch die offensichtlich teure Kleidung und der gepflegte Haarschnitt konnten nicht verhindern, dass sie wie die personifizierte Freudlosigkeit auf Ferrer wirkte. Das Medikament, das Doctora Pujol ihr verabreicht hatte, erklärte vermutlich ihre augenscheinliche geistige Abwesenheit. Ihr Blick ging ins Leere, wanderte mal in die eine Zimmerecke, mal in die andere und wieder an der Wand empor bis zur Decke.
Die Tochter war ein jüngeres Abbild ihrer Mutter. Nur sogar noch dünner. Salvà mochte mit seinem Kommentar zu einer möglichen Magersucht richtigliegen. Die langen schwarzen Haare waren wie bei einer der Flamenco-Tänzerinnen, die jeden Mittwoch im »Teatre Sans« in Palma mit rhythmischem Klappern der Schuhsohlen, dem Zapateado, über den Tanzboden wirbelten, streng in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Es fehlten nur der Haarkamm und Blumenschmuck. Ferrer sah ihren leicht geröteten Augen an, dass sie geweint hatte. Inzwischen schien sie sich unter Kontrolle zu haben. Sie wirkte, als sei jeder Muskel und jede Sehne angespannt. Sie riss sich zusammen, das war ihr deutlich anzumerken.
Der Schwiegersohn stand mit dem Rücken zu Ferrer, sah aus dem Fenster in den Garten und wandte sich erst um, als Ferrers Hüsteln ihn dazu aufzufordern schien. Er war unrasiert, mit Rändern unter den Augen, und rauchte mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette, was seine Schwiegermutter augenscheinlich störte. Von Zeit zu Zeit wedelte sie mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, um den Rauch zu vertreiben. Das einzige Zeichen dafür, dass sie doch noch irgendwie mit ihnen hier in der Gegenwart weilte.
Es war eine seltsame Situation. Keiner der drei sah Ferrer an.
Er wusste nicht, an wen er eigentlich das Wort richten sollte. Schließlich räusperte er sich noch einmal mit Nachdruck und sprach einfach in den Raum hinein. »Ich bin Chefinspektor Gabriel Ferrer. Ich möchte Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen.«
Nichts an der Haltung der drei Personen veränderte sich.
»Meine Kollegen haben ja bereits mit Ihnen gesprochen, ich möchte Sie jedoch auch noch einmal fragen, ob Ihnen seitdem noch etwas eingefallen ist, das Sie mir mitteilen möchten.«
Keine Reaktion. Die Qualmwolke einer weiteren Zigarette stieg einsam in die Höhe.
»Gut. Sie werden dennoch zu uns ins Kommissariat nach Palma einbestellt werden. Es lässt sich leider nicht umgehen, Sie ausführlicher zu befragen.«
Bei diesen Worten regte sich endlich etwas. Die Ehefrau begann, mit ihren Zähnen an der Nagelhaut ihres rechten Ringfingers zu rupfen, was gar nicht mehr zu ihrer vornehmen äußeren Erscheinung passte. Der Schwiegersohn stieß ein entrüstetes Prusten aus. Als die Tochter des Hauses endlich als Erste das Wort ergriff, fuhr Ferrer unmerklich zusammen. Die zerbrechliche junge Frau hatte eine ganz zu ihrer Statur passende zarte, jedoch brüchige Stimme.
Wie ein Vogel, der von seinem Gesang heiser geworden ist, dachte Ferrer.
»Was wollen Sie denn noch von uns? Wir haben doch schon alles gesagt, was wir wissen.«
Wie oft er diese Sätze bereits gehört hatte. »Selbst wenn Sie uns zum Tathergang und zu der fraglichen Zeit keine Angaben machen können, brauchen wir dennoch Ihre Hilfe, um uns einen Eindruck von dem To… von Ihrem Vater zu machen. Wir müssen etwas über sein Umfeld erfahren, über die Menschen, mit denen er sich in letzter Zeit vielleicht getroffen hat, ob er etwas erzählt hat über Auseinandersetzungen oder Probleme, die er mit irgendwelchen Leuten hatte. Das ist die übliche Routine.«
Keine Antwort. Die drei verfielen wieder in dieses brütende Schweigen.
»Halten Sie sich also bitte zu unserer Verfügung. Sie hören von uns.«
Ferrer wartete noch einen Moment, um ihnen eine letzte Gelegenheit zu geben, eine Bemerkung zu machen oder eine Frage zu stellen. Nichts geschah. Nur der Schwiegersohn zündete sich eine weitere rote Fortuna an, nachdem er den Stummel der vorigen aus dem Fenster geschnippt hatte.
Ferrer war geneigt, vieles auf den Schock zu schieben. Ungewöhnlich war jedoch, dass gleich alle drei eine so eigenartige Haltung annahmen. Eine Mischung aus Verbocktheit und Teilnahmslosigkeit. Er hatte kein offensichtliches Zeichen der Trauer erkennen können.
Dankbar, dass er es hinter sich hatte, trat er ins Freie und atmete tief durch. Er war wirklich nicht gut in diesen Dingen, stellte er wieder einmal fest.
10
Garau beobachtete das Spektakel vor dem Nachbarhaus vom Küchenfenster aus. Er hatte den Posten seiner Mutter eingenommen, die so nah am Absperrband stand, wie die Polizisten es zuließen. Garau konnte sie sehen. Aus der linken Seitentasche ihres karierten Kittelkleides lugte der Zipfel ihres Putztuchs hervor. Sie hatte es so eilig gehabt, nach draußen zu kommen, um nichts zu verpassen, dass sie vergessen hatte, es aus der Tasche zu nehmen. Diese Blöße hätte sie sich sonst niemals gegeben. Im Gegensatz zu ihr beschäftigten ihre Nachbarn alle noch mindestens eine Putzfrau. Nun stand sie dicht gedrängt beisammen mit ein paar anderen neugierigen Gänsen aus der Straße, denn sensationslüstern waren sie am Ende alle. Sie schnatterten, steckten die Köpfe zusammen und schlugen sich mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund.
Verdammte Heuchler, dachte Garau. Wer von euch konnte ihn denn schon wirklich leiden.
Mit einem Mal kam Bewegung in die Menge. Die uniformierten Polizisten scheuchten die Klatschbasen weiter zurück. Schließlich sah es aus, als würden sie gebeten, sich ganz in ihre Häuser zu begeben. Selbst auf die Distanz konnte Garau die enttäuschten, beinahe schmollenden Gesichter der Frauen erkennen. Im nächsten Moment hörte er die schweren, schleppenden Schritte seiner Mutter auf den Stufen vor dem Eingang.
Seltsam, dachte er spöttisch. Als sie hinauswollte, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern, ist sie die Treppe nahezu hinuntergeflogen.
Mit noch keuchendem Atem legte Maria Garau los. »Hab ich es dir nicht gesagt? Hab ich nicht? Gerade gestern?«
»Ja, Mutter, hast du«, sagte Garau seufzend.
»Es hat ja so kommen müssen eines Tages.« Sie wackelte auf den Korridor und kam mit dem Telefon in der Hand zurück.
»Wen willst du denn so früh am Morgen anrufen?«
»Deine Tante Rosaria natürlich. Sie hat ihn doch auch gekannt. Und meine Freundin Beatriz und–«
»Verstehe schon. Eure Betroffenheit zum Ausdruck bringen.«
Deutlich verärgert schaute seine Mutter ihn an. »Du brauchst gar nicht so moralisch daherkommen. Hast ihn auch nicht leiden können. Jeder bekommt am Ende, was er verdient. Sag mir nicht, dass du das nicht auch so siehst.«
»Oh nein, das sag ich gar nicht. Sie kriegen alle dran am Ende.«
»Sag ich doch, sag ich doch«, plapperte seine Mutter weiter, während er hörte, wie sie im Nebenzimmer auf das Sofa plumpste. »Und nun ist es eben der alte Crespí.«
Er hörte sie wählen. In Seelenruhe steckte er sich eine Zigarette an, ließ den Rauch genüsslich in Kringeln entweichen und wandte sich wieder zum Fenster.
11
Ferrer und Salvà hatten kaum das Haus verlassen, als Iñes zu ihrem Mann herumschnellte, der immer noch qualmend wieder mit dem Rücken zu ihr stand. Mit hochrotem Gesicht und bemüht, die Stimme nicht zu sehr anzuheben, zischte sie ihn an. »Was hast du getan? Was um Gottes willen hast du getan?«
»Ich? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du denkst allen Ernstes, dass ich…?«
»Was soll ich denn sonst denken? Du hast es doch gestern geradezu angekündigt. Und nun ist mein Vater tot!«
Planas schwoll vor Zorn die Halsschlagader an. »Du hast sie doch nicht alle. So was redet man halt mal, machen doch alle. Das heißt doch nicht, dass man es wirklich tut.«
Nachdem er immer lauter wurde, nahm auch Iñes keine Rücksicht mehr auf ihre Mutter, die immer noch wie benommen in einer Sofaecke kauerte. Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »Muss ich etwa allen Ernstes meine Mutter in Sicherheit bringen? Das ist doch der Gedanke, den du gestern zu Ende denken wolltest, nicht wahr? War es nicht das, was du gemeint hast?«
»Sei still! Bist du bescheuert? Die stehen immer noch vor dem Haus. Willst du, dass die das hören?«
Iñes ging gar nicht darauf ein. »Und was kommt danach? Bin ich an der Reihe? Damit du alles erbst?«
Planas packte sie an den Schultern und schüttelte sie, bis sich das Haarband löste. Die Haare flogen ihr ins Gesicht. Tränen schossen ihr aus den Augen. Er ließ sie los. Es war vorbei.
»Nimm deine Medikamente«, war sein knapper Kommentar. Dann ließ er Iñes mit ihrer Mutter allein.
12
Staatsanwalt Felip Castro, dessen ausgeprägte Tränensäcke denen von Luis Buñuel in nichts nachstanden, war inzwischen eingetroffen und hatte mit Ferrer und Salvà das Wichtigste in Kürze besprochen. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit gemacht, und somit gab er die Leiche zum Abtransport in das rechtsmedizinische Institut in Palma frei. Sie winkten den Kollegen mit dem Zinksarg.
Ferrer dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, was das doch für ein unwürdiger Abgang war. Wie eine Sardine in der Blechbüchse.
Er kam glücklicherweise nicht dazu, tiefer in diesen Gedanken einzutauchen, denn Castro ergriff abermals das Wort. »Gut, meine Herren.« Er schaute auf seine goldene Armbanduhr, die eng sein fleischiges Handgelenk umspannte. »Für heute Nachmittag werde ich eine Besprechung einberufen. Bis dahin möchte ich den Tatortbefundbericht und den Bericht der Spurensicherung vorliegen haben, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Wir werden zu klären haben, ob wir richterliche Durchsuchungsbeschlüsse beantragen müssen, welche weiteren Untersuchungen die Kriminaltechniker durchführen sollen und letztendlich auch, wie wir mit der Presse umgehen.« Bei diesen letzten Worten verzog er angewidert das Gesicht. Jeder wusste, dass die Medienvertreter nicht gerade zu seinen geschätzten Freunden zählten.
Ferrer fühlte ganz mit ihm. Auch er redete nicht gern mit den Presseleuten. Er redete eigentlich überhaupt nicht gern. Das unterschied ihn von seinem Kollegen Salvà. Der verkörperte das, was Urlauber aus aller Herren Länder in den Mallorquinern, den Südländern generell, sehen wollten. Lebensfreude, Optimismus, Quirligkeit. Speziell Letzteres war für Ferrer gleichbedeutend mit Geschwätzigkeit– und das war nichts für ihn. Er war ein Vertreter der mallorquinischen Mentalität, welche sich durch Reserviertheit und Wortkargheit kennzeichnete und dementsprechend nicht so populär war. Es brauchte lange, bis man auf der Insel echte Freundschaften schloss. Ferrer war da nicht anders.
Castro schlug ihm die Hand auf die Schulter. »Noch Fragen? Nein? Gut. Ich weiß, dass Sie Ihre Sache gut machen werden. Also los.« Er ließ Ferrer und Salvà im Vorgarten stehen, stieg in seinen schnittigen Sportwagen und brauste davon.