Der Traum vom einfacheren Leben - Anna Fredriksson - E-Book

Der Traum vom einfacheren Leben E-Book

Anna Fredriksson

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Beschreibung

Es ist Mittsommer im kleinen Fischerdorf Kivik und Sally erfüllt sich einen Lebenstraum: Sie eröffnet ihr Bed & Breakfast. Josefin, ihre Tochter, hilft ihr aus, wo sie kann. Sie braucht Geld, denn ihr Traum von einem einfacheren Leben, von Selbstständigkeit auf dem eigenen Hof mit ihrem Verlobten Harald, stellt sich langsam, aber sicher als Luftschloss heraus. Doch Harald will an Vallmogården festhalten, komme, was wolle. Josefin ist hin- und hergerissen – wie kann sie ihrer Mutter helfen und gleichzeitig den Hof und ihre Beziehung retten?
In Kopenhagen versucht Sallys Mutter Vanja, sich zurechtzufinden. Doch ihre Sehnsucht nach ihrer Enkelin Josefin wird immer stärker. Und vielleicht auch die Sehnsucht nach ihrer Tochter Sally? Wird Vanja die Rückkehr nach Kivik wagen? Gibt es noch eine Chance zur Versöhnung – oder ist es schon zu spät?

Frühling, Sommer und Herbst im Bed & Breakfast von Sally in Skåne: Drei Frauen, drei Generationen und drei Geschichten darüber, was es bedeutet, Mutter und Tochter zu sein.

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Seitenzahl: 450

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Cover

Titel

Anna Fredriksson

Der Traum vom einfacheren Leben

Die Jahreszeiten-Saga: Sommer

Aus dem Schwedischen von Elke Ranzinger

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Ett enklare liv bei Forum, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4974.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© 2019 Anna FredikssonFirst published by Forum, SwedenPublished by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: Bethel Fath/lookphotos; FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77659-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Sally

Josefin

Vanja

Josefin

Informationen zum Buch

Der Traum vom einfacheren Leben

Josefin

Den ganzen Vormittag über hatte Josefin entlang der Zaunpfosten gegraben, die Harald in einer Reihe in die Erde geschlagen hatte. Sie hatte herausgefunden, dass die Drahtnetze, die man an den Pfosten befestigte, zur Fuchsabwehr ein Stück in die Tiefe reichen mussten. Und das untere Ende musste man unbedingt circa dreißig Zentimeter ausbreiten und dann mit Erde bedecken. Eine mühsame Arbeit. Aber die Hühner sollten endlich an der Giebelseite der Scheune ein neues Freigehege bekommen.

»Vielleicht hätten wir uns lieber für aufstellbare Gitterteile entscheiden sollen«, sagte sie. »Die man fertig kauft.«

Harald wischte sich ein paar Schweißtropfen vom Gesicht. Seine Stirn glänzte in der Sonne.

»Quatsch, das sieht doch wie ein Gefängnis aus.«

Josefin nickte. Die selbstgebaute Holzkonstruktion, die noch einen Anstrich mit falunroter Dispersionsfarbe erhalten würde, um in die Umgebung zu passen, war besser. Außerdem war das Ganze eine Geldfrage. Harald hatte von den benachbarten Bauern eine große Rolle galvanisierten Hühnerdraht geschenkt bekommen, der sonst nur weggeworfen worden wäre.

Sieben mal dreizehn Meter groß sollte der Auslauf werden, mit einem kleinen Baum in der Mitte, der den Hühnern Schutz vor Sonne und Regen bot. Hühner vertrugen Hitze nicht, brauchten jedoch auch in Maßen Sonnenlicht. Falls ein Dach nötig werden würde, plante Harald einen mit Maschendraht bespannten Holzrahmen. Kein Raubvogel sollte ihre Hühner erwischen.

Allmählich wurde es heiß. Die Sonne stand hoch und bald war es Zeit für eine Mittagspause. Josefin zog die alte Lederjacke ihrer Großmutter aus, legte sie auf das gestapelte Feuerholz, stützte sich auf den Griff des Spatens und blickte über Wiesen und Kornfelder. Die Vegetation erstreckte sich in den verschiedensten Gelb- und Grüntönen. So frisch und saftig wirkte sie nur ganz kurz, dann wurden die Farben satter und dunkler.

Die Kühe des Nachbarn glotzten von ihrer Weide herüber. Sobald sie Josefin entdeckten, schauten sie, als wäre sie eine faszinierende Außerirdische. Dass sie nun schon seit drei Jahren auf Vallmogården lebte, war völlig egal, die Kühe waren noch immer gleich verwundert.

Josefin lauschte dem eindringlichen Vogelgesang aus den Büschen und Bäumen, versuchte sich daran zu erinnern, was sie von ihrem Onkel Åke über Vogelstimmen gelernt hatte. Sie waren kaum zu unterscheiden, aber das Wichtigste fiel ihr doch ein: Vögel kommunizierten fast wie Menschen. Sie äußerten so ihr Begehren, versuchten einander zu übertrumpfen und trainierten ihren Gesang, um immer besser zu werden. Manche hatten mehr Talent als andere. Josefin sah zum Himmel hoch. Es war jetzt brütend heiß. Die Sonne brannte ihr auf den Rücken. Zwar wäre etwas kühleres Wetter schön, aber sie hoffte trotzdem, es würde halten. Morgen war nämlich Mittsommerabend und Einweihungsfest. Ihre Mutter eröffnete nach zwei Monaten anstrengender Vorbereitungen ihre Pension Pomona.

Josefin ging zu Harald und legte die Arme um ihn. Er küsste sie auf die Stirn.

»Müde?«

»Ja, und hungrig. Was hältst du von einer Mittagspause?«

»Gleich.«

Sie strich ihm mit dem Zeigefinger über die Augenbrauen. Diese lieben Augen. Harald war so zuverlässig und beharrlich. Er hatte immer tausend verschiedene Projekte am Laufen und ständig neue Ideen. Als liefe in ihm eine Art Motor.

Er deutete zu einer Ecke des Rechtecks.

»Grab noch bis dorthin, dann machen wir Mittag.«

Josefin griff wieder nach dem Spaten und grub weiter. Seit einer Woche hatten sie jeden Vormittag geschuftet. Und das würden sie auch morgen tun. Und übermorgen. Und überübermorgen. Am liebsten würde sie am Nachmittag freimachen und schwimmen gehen, aber dafür war keine Zeit. Nachmittags gab es eine Menge zu tun.

Harald wandte sich zu ihr.

»Übrigens, ich werde die Björks mal bitten, rüberzukommen, um uns bei der Mahd zu helfen. Danach können wir sie zum Kaffee einladen.«

Nach einem Kaffeekränzchen mit Svante und Kristin Björk vom Nachbarshof sehnte sich Josefin nicht sonderlich. Kristin redete beinahe ohne Punkt und Komma und Svante war mit seinem heftigen Österlen-Dialekt nur unter größter Anstrengung zu verstehen. Meist drehten sich die Gespräche um Landwirtschaft, ums Vieh oder das Wetter.

»Wir müssten uns eine Mähmaschine zulegen«, sagte sie. »Dann bräuchten wir nicht jedes Jahr die Nachbarn bitten, uns beim Gras mähen zu helfen. Und beim Pressen und Einwickeln der Ballen.«

»Ja, aber solche Sachen kosten.«

»Aber vielleicht findet man eine gebrauchte Mähmaschine im Netz?«

»Wir haben dafür kein Geld.«

Josefin verscheuchte eine Fliege. Das Mähen des Grases zu Heu und zu Silage war schon länger ein Sorgenthema. Wie immer war das Geld knapp. Jetzt mehr denn je.

Eigentlich hatte sie nichts gegen ein sparsames Leben. Gebrauchte Werkzeuge, einfacher Standard und für einen begrenzten Zeitraum etwas einseitige Nahrung war kein großes Problem für sie. Sie war es von klein auf gewohnt, Kleidung aufzutragen, da die finanzielle Situation ihrer Mutter mitunter angespannt gewesen war. Der gezwungene, oberflächliche Kontakt mit dem benachbarten Bauernpaar hingegen war schwerer zu ertragen.

»Können wir nicht versuchen, den alten Mäher zu reparieren?«

In einem Verschlag hinterm Schuppen stand vom Vorbesitzer eine Mähmaschine, aber sie war verrostet und kaputt.

Harald schüttelte den Kopf.

»Zwecklos. Die ist hinüber.«

Die Lederjacke rutschte beinahe vom Holzstapel. Josefin legte sie wieder ordentlich obendrauf. Wenn nur ihre Großmutter noch hier leben würde, in dem gelben Längsgebäude bei Peter in Svinaberga. Sie hätte die kaputte, alte Mähmaschine mit irgendeinem pfiffigen Dreh wieder zum Laufen gebracht. Wenn es um Landwirtschaft ging, hatte ihre Großmutter quasi Superkräfte. Konnte sie irgendwas mal nicht reparieren, fand sie immer eine Art, das Problem zu umgehen.

»Jedenfalls sollten wir mit der Mahd nicht warten, bis das Grünfutter überständig wird und keine Nährstoffe mehr hat«, sagte Harald. »Also frage ich die Björks.«

Er lächelte sie an, blinzelte gegen die Sonne.

»Vielleicht solltest du versuchen, einen neuen Job zu finden. Damit wir ein wenig Geld reinkriegen.«

»Wenn es jetzt was gibt. So mitten im Sommer.«

Josefin stach den Spaten energisch in die Erde.

Einen Teilzeitjob zu finden, war nicht so leicht gewesen, wie sie im Frühling gedacht hatte. Sie hatte sich mit einer sechswöchigen Vertretungsstelle als Assistentin in der Bibliothek in Simrishamn begnügen müssen. Besonders viel hatte sie dabei nicht verdient, aber der kleine Lohn machte trotzdem etwas aus. In der ersten Woche hatten ihr die Bibliothekarinnen noch geholfen, danach wusste sie selbst, wie man Bücher und Zeitschriften katalogisierte und registrierte. Es hatte ihr Spaß gemacht, den Besuchern Tipps zu geben und mit ihnen über Gott und die Welt zu plaudern.

Jetzt war die Vertretung vorbei und sie vermisste die Arbeit sehr. Bis zuletzt hatte sie gehofft, im Herbst weitermachen zu können. Wenn es jeden Tag dunkler und kühler wurde, wäre es bestimmt wundervoll gewesen, weiterhin jeden Morgen aufzustehen, die kurze Strecke nach Simrishamn zu fahren und in die Wärme der hellen Bibliothek zu treten. Aber die eigentliche Assistentin kam im August wieder.

Der Plan vom Frühling existierte jedenfalls noch. Josefin sollte ein Jahr lang halbtags arbeiten, um ein zusätzliches Einkommen zu generieren. Wenn auch damit der Hof nicht weitergeführt werden konnte, würden sie sich nach etwas anderem umsehen. Aber bestimmt war es jetzt noch schwieriger, einen Job zu finden, als im April.

Harald wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Vielleicht braucht deine Mutter Hilfe in ihrer Pension?«

»Sie kann mich doch noch nicht bezahlen.«

»Frag zumindest mal nach. Uns hilft jede Krone.«

Josefin grub weiter. Arbeiten bei ihrer Mutter. Fühlte sich falsch an. Irgendwie wie ein Rückschritt.

»Wär schon super, wenn du was extra verdienst«, sagte Harald.

Er rüttelte an einem Pfosten, um zu prüfen, ob er ihn tief genug in den Boden getrieben hatte. Wenn sie nur auch alles so positiv sehen könnte wie er. Als sich Josefin vor ein paar Tagen über den fleckigen Anstrich des Wohnhauses Gedanken gemacht hatte, hatte er nur lachend gemeint, das mache im Sommer überhaupt nichts. Im Zusammenspiel mit den Stockrosen und Weinranken sei die Patina der Fassade schön. Und natürlich hatte er damit recht.

Mittlerweile wog der Spaten gefühlt Tonnen. Josefin massierte sich die rechte Schulter und blickte dabei in Richtung Anbauflächen. Der Frühsommer war eine hektische Zeit, die Liste der Aufgaben schien unendlich. Vor allem mussten die Pflanzen raus aus dem Gewächshaus und nach einer kurzen Zeit der Abhärtung im Freien gesetzt werden.

Die Kartoffeln würden irgendwann im Juli erntereif sein. Sie waren in Töpfen vorgezogen worden und damit früher dran, und auch das übrige Gemüse war am Wachsen.

Josefin ließ den Blick zur Schafweide schweifen. Dort lag etwas im Gras.

»Was ist das da?«

»Was?«

Sie deutete zur Weide.

»Auf dem Boden. Links vom Wäldchen.«

Harald schirmte die Augen vor der Sonne ab. Dann hatte er es eilig. Er lehnte den Spaten an die Scheunenwand und hastete auf dem lehmigen Pfad zur Schafweide. Am Wäldchen angekommen blieb er stehen und wedelte mit dem Arm.

Josefin eilte ihm hinterher. Aus der Ferne sah sie, dass Harald neben etwas hockte, das in einer kleinen Senke mit höherem Gras auf dem Boden lag.

Ihr Schritt wurde langsamer und sie ging näher. Das Schaf lag mit ausgestreckten Läufen regungslos im Gras.

»Nein, nicht Ullis!«

Sie sank auf die Knie. Ihr war egal, dass die Hose von Erde und Dreck Flecken bekommen würde. Sie strich über den leblosen Körper.

»Woran kann sie gestorben sein?«

Harald kratzte sich am Nacken und studierte das tote Tier.

»Vermutlich am Alter. Sie war ja schon zwölf. Vielleicht das Herz. Wie bei einem Menschen.«

»Also auf jeden Fall war sie nicht abgemagert. Ihre Zähne haben durchgehalten. Sie hatte sogar noch alle Vorderzähne.«

»Ja, darauf haben wir gut geachtet.«

Josefin bürstete sich die Hosenknie ab und schluckte die Tränen runter. Tiere sterben, so etwas geschah auf einem Hof, darauf musste man gefasst sein. Aber Ullis war besonders gewesen. Eine echte Matriarchin, die natürliche Anführerin der Herde.

»Glaubst du, sie hatte eine Krankheit? Irgendwas Ansteckendes?«

»Nein, ich glaube, eine Untersuchung ist nicht nötig. Aber ich frage den Tierarzt, ob wir eine Überweisung zur Obduktion brauchen. Und was die kosten würde. Plus dem Kadavertransport.«

Auf dem Rückweg legte Harald den Arm um Josefin.

»Ich geh rein und rufe bei der Tierkörperbeseitigung an. Arbeite du weiter.«

Josefin begann, die Kabelbinder vorzubereiten, mit denen der Hühnerzaun am Holz befestigt werden sollte. Diese Methode war Harald von den Björks empfohlen worden.

Irgendwann würde die Graberei vorbei sein und der neue Hühnerhof fertig. Ein schönes Gehege mit falunrot gestrichenem Holz. Dann hatten die Hühner einen perfekten Ort zum Herumspazieren.

Aber Ullis war weg.

Vanja

Ein weiterer heller Sommerabend in Kopenhagen. Vanja blickte über den Hinterhof und die Dächer. Aus den offenen Fenstern der Nachbarn drang Gemurmel, Gelächter und Musik hallten von den Backsteinwänden wider. Aber in ihrer Wohnung war es ruhig und friedlich.

Morgen war Sankt-Hans-Tag. Oder Mittsommernacht, wie es in Schweden hieß, wo sie die vergangenen Jahre gelebt hatte. Nun zählte nur noch die dänische Bezeichnung.

Vanja verließ die Küche. Sie legte Tschaikowskys JuniBarcarole auf, um ihre Stimmung aufzuhellen. Die flinken Töne füllten das Wohnzimmer und sie setzte sich aufs Sofa, um mit den Beinen auf dem Puff ein Weilchen zu lesen. Ibsens Nora oder Ein Puppenheim auf Dänisch. Sie hatte den dünnen Band in einem Antiquariat in ihrem Viertel gefunden. Ein schlichtes Taschenbuch in ganz langweiliger Ausgabe, abgegriffen und abgenutzt. Der Umschlag war wahrlich kein Schmuckstück.

Sie schlug das Büchlein beim Lesezeichen auf. Las weiter über Nora, Helmers Ehefrau. Die Frau, die sich gezwungen sah, Mann und Kind zu verlassen, um ein Mensch und keine Puppe zu sein. Der von Helmer gesagt wurde, ihre heiligsten Pflichten seien die, die sie gegen ihren Mann und ihre Kinder habe, worauf sie ihm trotzig antwortete, sie habe andere, ebenso heilige Pflichten. Habe sie nicht, entgegnete Helmer und wollte wissen, welche Pflichten das wohl sein sollten. Noras Antwort war einfach: die Pflichten gegen sich selbst.

Vanja hob den Blick. Er blieb an der großen Topfpflanze am anderen Ende des Raums hängen, während die Gedanken weiterzogen. Pflicht. Ein schwer definierbarer Begriff. Konnte so ziemlich alles bedeuten, je nach Zeit und Umständen.

Eine ganze Weile saß sie nur da. Dann blickte sie zur Uhr. Halb acht. Um diese Zeit war Josefin bestimmt mit Harald, Peter und Sally irgendwo draußen am Abendessen, falls das Wetter in Skåne ebenso schön war wie hier. Vielleicht grillten sie bei Haralds Eltern. Dann war sicher auch seine Großmutter Erna dabei. Vanjas Jugendfreundin.

Morgen würde die ganze Runde in Åkes Haus Mittsommer feiern. Sally würde ihre Pension Pomona eröffnen. Peter hatte am Telefon berichtet, dass das Einweihungsfest am Mittsommerabend stattfinde.

Vanja schlug das Büchlein zu und legte es aufs Sofatischchen. Sie stand auf und ging zu dem Webstuhl in der Zimmerecke mit dem halbfertigen Webstück darauf. Ein Flickenteppich, den sie vor ein paar Monaten begonnen hatte in der Hoffnung, daraus neue Energie und Inspiration zu gewinnen. Aber dann war sie seiner überdrüssig geworden und hatte ihn sein lassen.

Sie hatte große Sehnsucht nach den Ölfarben und Leinwänden in Svinaberga. Und nach dem luftigen Atelier in Peters altem Stall, wo sie im Frühling einen regelrechten Flow gehabt hatte. Sie hatte ihre erste Malerei seit achtundvierzig Jahren begonnen und mit mehreren weitergemacht. Nur um dann einfach abzubrechen und abzuhauen, wie ein Flüchtling vor einem Krieg. Die Kunstwerke waren geblieben, wo sie waren.

Genug gegrübelt. Vanja ging zum Plattenspieler und wechselte die Schallplatte. All Along the Watchtower. Ein genialer Song. Sie mochte Jimi Hendrix’ Version lieber als die von Bob Dylan.

Dann setzte sie sich an den Webstuhl und webte weiter, energisch und bestimmt. Der Teppich musste fertig werden, sie konnte nicht unendlich viele halbherzig begonnene Projekte am Laufen haben.

There are many here among us who feel that life is but a joke. Der Song war von 1968, dem Jahr, bevor sie fortgegangen war. Vanja summte mit. Jimi Hendrix’ Stimme und Gitarrentöne verschmolzen mit den Bildern in ihrem Kopf. Eine ereignisreiche Zeit damals.

Nach einer Weile verließ sie den Webstuhl, das musste für heute reichen. Mitten im Raum blieb sie stehen. Seltsam leer, beinahe wie ausgehöhlt.

Die Balkontür stand halb offen. There must be some kind of way outta here.

Ob sie sich nichtsdestotrotz einen Whiskey und einen Zigarillo gönnen sollte? Seit zwei Monaten hatte sie nichts Stärkeres getrunken als Wein. Kein Tropfen Hochprozentiges, seit sie Svinaberga verlassen hatte. Irgendwie hatte sie schon beim Gedanken daran Ekel empfunden. Wie auch beim Rauchen. Als hätte sie alles Hedonistische noch einsamer fühlen lassen.

Vanja legte eine neue Platte auf. Layla von Eric Clapton. Wie wild hatte sie nicht als junge Frau zu diesem Lied getanzt? Auch später. Viele, viele Male. Mit großem Ausdruck.

Vanja schlüpfte in ihre Wildlederjacke und Sandalen. Wie gut es tat, die stickige Wohnung zu verlassen! Sie trat aus der Haustür, lief den Bürgersteig entlang, bog um die Straßenecke und kam an dem Laden vorbei, in dem früher eine dunkle, schäbige Weinstube gewesen war. An einem der Tische hatten immer irgendwelche alten, abgeschrappten Existenzen gehockt, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Männer mit ungepflegtem Bart und narbiger Haut, dralle Frauen mit schweren Brüsten unter unförmigen T-Shirts. Vanja hatte jeden Stammgast gekannt. Gute Seelen, die sich umeinander kümmerten. Aber die Weinbar war verschwunden und stattdessen gab es nun einen Eisladen, der mindestens dreißig verschiedene Sorten italienisches Eis verkaufte. Die Wände waren mit weißen Fliesen gekachelt und das Licht im Laden war immer grell. So steril wie die Rezeption einer Zahnarztpraxis.

Vanja wollte gerade die Straße überqueren, als sie ein gedämpfter Schrei stoppte. Ihr Blick wanderte die Hausfassade hoch. Zwei Stockwerke über ihr stand ein Fenster offen. Daraus drangen verzweifelte Schreie einer jungen Frau. Eine Männerstimme brummelte dumpf. Dann ein weiteres Aufheulen, etwas lauter.

Vanjas Herz schlug einen Salto. Sie rannte zur Haustür, blickte durch das kleine Glasviereck, ein paar Wohnungstüren gingen auf.

Sie pochte an die Scheibe.

»Hallo! Aufmachen!«

Ein älterer Glatzkopf schaute verwirrt in ihre Richtung. Sie hämmerte noch einmal an die Tür, damit er verstand, wie ernst die Lage war.

Schließlich watschelte er in Pantoffeln an und öffnete wortlos. Vanja rief ihm zu, er solle so viele Nachbarn wie möglich zusammentrommeln, und stürzte zur Treppe.

Lieber Gott, hilf mir, dachte sie, obwohl sie eigentlich Atheistin bis aufs Blut war.

Sie zog das Handy aus der Jackentasche. Bereitete sich darauf vor, den Notruf zu wählen und die Polizei zu bitten, so schnell wie möglich zu kommen. Währenddessen hetzte sie Stufe um Stufe nach oben, bis sie keuchend den zweiten Stock erreicht hatte. Hinter einer der alten, gemusterten Holztüren hörte man aufgebrachte Stimmen.

Vanja rüttelte am Türgriff. Abgeschlossen.

»Hallo, aufmachen!«

Sie hämmerte mit der Faust an die Tür und brüllte. Registrierte, dass sie nicht mehr allein war. Ein paar Nachbarn waren ihr gefolgt.

»Der Kerl, der da wohnt, ist ein Idiot«, sagte ein junger Typ mit Dreadlocks.

Einige Nachbarn stimmten ihm zu. Der Mann streite seit Jahren mit seiner Freundin. Eine ältere Dame erklärte, sie spreche öfter mit deren Mutter, die wieder und wieder versucht habe, ihre Tochter dazu zu bewegen, den Mann zu verlassen. Was gewöhnlich eine Weile hielt, aber nicht lange.

Vanja hämmerte wieder an die Tür.

»Aufmachen! Oder wir rufen die Polizei.«

Es wurde mucksmäuschenstill. Dann hörte man Schritte und Bewegungen. Jemand fummelte am Schloss herum. Ein blonder, unrasierter Mann Mitte dreißig in schmutzigem T-Shirt und schlechtsitzender Jeans öffnete. Er starrte Vanja grimmig an.

»Was gibt’s?«

»Wir wollen wissen, was hier vor sich geht.«

Eine verheulte, am ganzen Körper bibbernde Frau um die dreißig tauchte hinter dem Mann auf.

»Komm her, Schatz.« Vanja streckte ihr die Arme entgegen. »Er tut dir nichts mehr.«

Die Frau wich zurück.

»Aber er hat mich nicht geschlagen.«

»Sicher? Soll ich nicht die Polizei rufen?«

»Nein, nein. Nicht nötig.«

Der Mann wollte die Tür schließen, aber Vanja stellte den Fuß hinein.

»Du behandelst sie schlecht.«

Er runzelte die Augenbrauen.

»Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Ihr könnt gehen.«

»Ich gehe nicht, bevor ich nicht weiß, dass sie in Sicherheit ist.«

»Verdammte Scheiße, hau ab!«

Die Frau brach in Tränen aus. Vanja zog sie zu sich, und diesmal ließ sie sich umarmen. Zitternd drückte sie sich wie ein Kaninchenbaby an Vanja.

»Mama«, flüsterte sie. »Ich werde meine Mama anrufen.«

»Mach das«, sagte Vanja.

Der Mann grapschte nach einer grauen Kapuzenjacke, drängelte sich durch die versammelten Nachbarn und trampelte eilig die Treppe hinunter.

Vanja wartete, während die junge Frau ihr Telefon holte. Sie sprach für ein paar Minuten leise hinein. Die Nachbarn verschwanden einer nach dem anderen in ihre Wohnungen. Schließlich war nur Vanja übrig.

Sie dachte an Sally. Eine alleinerziehende Mutter. Sie hatte mit Josefin in Södermalm in einer Wohnung gelebt, die dieser ähnlich sein musste. War es Sally irgendwann schlecht ergangen?

Vanja wusste nicht viel über das Leben ihrer Tochter. Eigentlich kaum etwas.

»Ich warte hier, bis deine Mutter kommt«, sagte sie, als die junge Frau aufgelegt hatte.

»Danke.«

»Ich bin Vanja. Und du?«

»Grethe.«

Sie gaben einander die Hand. Dann standen sie im Treppenhaus herum. Grethe schien niemanden in die Wohnung einladen zu wollen. Vielleicht, weil es nicht ihre war.

Nach einer Weile rumpelte der alte Aufzug hoch. Eine Frau mit grauen, kurzen Haaren und schwarzer Brille stieg aus. Sie war in den Sechzigern.

»Danke für Ihre Mühen. Ich versuche meiner Tochter zu helfen, aber es ist schwierig.«

Vanja betrachtete die Frau eingehend. Der Mund kam ihr irgendwie bekannt vor, die Kinnpartie. Diese Art, die Oberlippe einen Hauch über die Unterlippe zu legen, als würde sie an einem Minikaramellbonbon saugen.

»Vibeke?«

Die grauhaarige Frau schrak zusammen, dann lachte sie. Sie war noch immer schön, selbst nach so vielen Jahren.

»Vanja! Lieber Himmel. Bist du das?«

Sie sahen einander schweigend an. Vibekes Augen hinter den Brillengläsern wurden feucht.

»Ich wusste nicht, dass du wieder in Kopenhagen bist«, sagte Vanja.

»Bin ich. Schon eine Weile.«

»Du hast doch geheiratet? Bist nach Helsingör gezogen?«

Vibeke nickte.

»Aber dann habe ich mich scheiden lassen. Vor zwei Jahren. Und jetzt bin ich hier.«

Vanja drückte ihre Hand. Vibeke wiederzusehen war unreal. Ihre Haare waren früher dunkel gewesen und lang, bis zur Taille. Die Kurzhaarfrisur stand ihr jedoch noch besser. Die Brille verlieh ihr Würde.

Vibeke wandte sich an ihre Tochter.

»Grethe, das ist Vanja. Meine liebe, alte Freundin und Kollegin. Wir haben früher Wohnung und Atelier geteilt. Zusammen mit ein paar anderen Künstlern.«

Grethe nickte Vanja höflich zu.

Vibekes Kleidung war schlicht wie eh und je. Eine kragenlose, kurze Jacke und eine gerade, weiße Hose, alles aus eierschalenfarbenem Leinen. Bestimmt selbstgenäht. Das hatte sie damals in den Siebzigern ziemlich gut beherrscht.

»Hast du mit sonst noch jemandem Kontakt?«, wollte Vanja wissen.

»Nein. Überhaupt nicht.«

Vibeke nahm die Brille ab, trocknete sich die Augenwinkel und rieb mit einem Jackenzipfel über das Glas.

Dann sah sie Vanja wieder in die Augen.

»Du also hier, Vanja. Das hätte ich im Leben nicht erwartet.«

Die beiden lachten los, im exakt selben Augenblick.

Josefin

Josefin hob ein paar Holzleistenabschnitte vom Rasen auf und quetschte sie in einen Papiersack, die die Handwerker unter der Traufe an der Hinterseite des Hauses vergessen hatten. Dorthin würde wohl kein Gast kommen. Es gefiel ihr nicht, dass noch immer Bauabfälle ums Haus lagen, obwohl heute Eröffnungsfeier war.

Ihre Mutter schienen die Spuren des Renovierungschaos nicht groß zu stören. Solange man im Flügelgebäude übernachten konnte, war sie zufrieden. Eine Weile hatte sie gefürchtet, die Gästezimmer würden vielleicht nicht rechtzeitig fertig, aber die Handwerker hatten ordentlich rangeklotzt und nun konnten sechs Gäste empfangen werden.

Im Flügel warteten jetzt vier kleine Zimmer, zwei davon Doppelzimmer. Alle hatten Apfelnamen: Ingrid Marie und Granny Smith, Astrachan und Cox Orange. Bisher gab es nur ein Gemeinschaftsbad für alle Gäste. Es war hübsch mit Kacheln im Schachbrettmuster gefliest und hatte einen Vintage-Waschschrank. Irgendwann in der Zukunft sollte jedes Zimmer Toilette und Dusche bekommen. Vielleicht schon vorm nächsten Sommer.

Josefin schaute noch einmal prüfend übers Grundstück. Ein Fetzen Bauplastikfolie hatte sich in einem Busch verfangen, schnell entfernte sie ihn. Abgesehen von einigen Säcken Mörtel in einer Ecke war der Garten ordentlich. Sie hoffte, der Blick der Leute würde stattdessen von allem Schönen angezogen. Zum Beispiel der Lavendelhecke entlang des Hauses, in der sich Schmetterlinge tummelten. Fast schienen sie im Sonnenschein zu tanzen, wenn sie sich auf die leuchtend violetten Spitzen setzten, um gleich darauf wieder abzuheben.

Die Schnur mit farbigen Wimpeln, die Peter und Harald zwischen Apfelbaum und Dachgiebel befestigt hatten, flatterte im Wind. Josefins Mutter hatte zwei gebrauchte Sitzgarnituren gekauft und in verschiedenen Winkeln des Gartens platziert. Die weiße Farbe blätterte etwas ab und Tische wie Stühle brauchten eines Tages einen neuen Anstrich, aber sie passten perfekt. Am Tor zur Straße hatte Flynn, der Nachbar ihrer Mutter, ein selbstdesigntes Schild befestigt. Pension Pomona stand darauf, mit einem stilisierten Apfel daneben. Mehr als einmal waren vorbeispazierende Touristen ins Haus gekommen und hatten ein Zimmer buchen wollen. Ihre Mutter hatte entschuldigend gesagt, sie habe noch nicht eröffnet, heiße sie aber gern ab Mittsommer willkommen.

Flynn und seine Frau Britta hatten ihr auch ganz umsonst beim Erstellen einer Homepage geholfen. Dort gab es Bilder und Informationen über die Geschichte des Fischerörtchens und über Åkes Haus sowie einen Buchungskalender. Eine ganze Reihe Buchungen war bereits eingetrudelt.

Im Augenblick versuchte ihre Mutter, mitten im Garten die Mittsommerstange aufzurichten, was nicht zu gelingen schien. Die Stange, die sie mit Peter am frühen Morgen fabriziert hatte, war gerade einmal eineinhalb Meter hoch, von Birkenzweiglein umhüllt und hatte an jeder Seite des Kreuzes einen baumelnden Blumenkranz.

»Ist es hier besser?«, fragte ihre Mutter, als Josefin an ihr vorbeiging.

»Leider nicht.«

Sie lachten los. Ihre Mutter gab auf. Stattdessen machte sie einen Rundgang und rückte die neuen Gartenmöbel zurecht. Dicht gefolgt von Märta, dem großen, zotteligen Hund, der ihr ununterbrochen hinterhertrottete.

Josefin warf einen Blick in Haralds Richtung, der Gläser aus der Küche brachte und ihr aufmunternd zunickte. Es gab kein Entrinnen, sie musste ihrer Mutter die Frage stellen. Jetzt, bevor die Gäste kamen.

»Was meinst du, Mama, gibt es im Sommer viel zu tun? In deiner Pension.«

Ihre Mutter blieb stehen.

»Das werden wir sehen, wenn es angelaufen ist. Aber alle, mit denen ich rede, sagen dasselbe. Man kann sich nie vorstellen, wie viel Arbeit es wird. Egal wie vorbereitet man auch ist.«

»Dann könnte ich ja vielleicht ein winziges bisschen bei dir arbeiten?«

Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch.

»Hier?«

»Ja. Teilzeit. Ich kann putzen und Betten machen. Was auch immer.«

Märta hatte sich hingesetzt. Josefins Mutter tätschelte ihr schweigend den Kopf.

»Nur bis August. Oder vielleicht September«, sagte Josefin. »Während ich einen anderen Job suche.«

»Natürlich. Wenn du möchtest. Aber ich kann dir nicht viel zahlen.«

»Na klar.«

»Okay, dann machen wir es so.«

Ihre Mutter setzte ihren Rundgang übers Gelände fort. Josefin ging zu Harald, der die Gläser in Reihen auf dem Tisch anordnete.

»Geht in Ordnung. Ich kann eine Weile bei Mama arbeiten. Bis ich im Herbst etwas Neues suchen kann.«

»Bravo.«

»Was hat eigentlich der Tierarzt über Ullis gesagt? Müssen wir für eine Obduktion zahlen?«

»Nein, der Mann von der Tierkörperbeseitigung war sicher, dass es nur das Alter war. Und der Transport wird auch nicht so teuer, weil sie unter hundert Kilo gewogen hat.«

Josefin atmete auf. Traurig war es trotzdem. Als sie Ullis gestern auf eine Schubkarre gewuchtet und dann auf den Hofplatz geschoben hatten, wo sie von einer Plane abgedeckt auf die Abholung warten durfte, war furchtbar gewesen. Ein paar Stunden später war der Tierkadavertransport gekommen und hatte den toten Schafskörper mit einem Kran aufgeladen, um ihn zur Vernichtung zu fahren.

»Denk nicht daran«, sagte Harald.

Er faltete ein paar Leinentischdecken auseinander und legte sie auf die Tische. Peter hatte den Rasenmäher geholt, um an ein paar Stellen nachzubessern. Er und ihre Mutter warfen einander einen kurzen Blick zu und lachten, wie sie es jetzt seit knapp zwei Monaten machten. Josefin beobachtete sie diskret. Die beiden waren verliebt, das war unübersehbar, auch wenn ihre Mutter behauptete, sie seien nur Freunde. Besonders heute leuchteten sie förmlich, wenn sie nur in die Nähe voneinander kamen. Ihre Mutter trug ein Kleid mit Blümchenmuster, das sie vorige Woche in einem Secondhandladen gefunden hatte, und Peter eine helle Hose und ein weißes Hemd mit hochgerollten Ärmeln. Sie waren braungebrannt und aufgekratzt wie zwei frischgebackene Abiturienten.

Es war viel geschehen, seit ihre Mutter nach Kivik gekommen war. Das war im März gewesen, gleich nach ihrer Trennung von Frank. Damals hatte sie bleich und erschöpft ausgesehen und tapfer ihre Rückenschmerzen verschwiegen, obwohl Josefin ihr die Schmerzen hatte ansehen können. Nach einer kurzen Zeit in Kivik waren sie wie weggeblasen. Seither tat ihrer Mutter überhaupt nichts mehr weh. Eines war einfach klar, hier war der Ort, an dem sie sein sollte.

Die Tische waren fertig und die Tischtücher mit Klammern befestigt. Allmählich wurde Josefin nervös. Bald war es zwei Uhr. Dann würde sich der Garten füllen. Ihre Mutter hatte eine Menge Leute, die sie in Kivik kennengelernt hatte, eingeladen, sowohl Nachbarn wie Freunde. Die Einzige, die fehlte, war Josefins Großmutter Vanja, die seit zwei Monaten wieder in Kopenhagen lebte. Josefin telefonierte ab und zu mit ihr. Die Gespräche waren nett, aber ob es ihrer Großmutter gut ging oder nicht, war schwer zu sagen. Sie erzählte vor allem von ihren Spaziergängen und ihrem Webstuhl; wie uninspiriert sie sei, aber dass das Webstück trotzdem bedeutsam sei. Es klang eine Spur einsam. Josefin ahnte, dass ihre Großmutter Sehnsucht nach Kivik hatte, wo ihr eigentliches Leben war. Nach dem Alltag, der im Frühjahr, kurz vor Walpurgisnacht, so jäh abgebrochen war.

In der Küche war Liselott, die Kindheitsfreundin ihrer Mutter, noch mit der Zubereitung des Essens beschäftigt, mehrere Salate und Lachs und Aufschnitt. Sie hatte entschieden, den Sommer über jede freie Minute in der Pension auszuhelfen. Josefin machte sich daran, das frischgebackene Brot aufzuschneiden und die Scheiben hübsch in Körbchen zu drapieren. Dann wischte sie den Küchentisch ab, mixte ein Dressing und arrangierte luftgetrockneten Schinken auf einer Servierplatte. Ihre Mutter sollte sehen, dass sie anpacken konnte.

Als allmählich alles fertig war, inspizierte Josefin das Erdgeschoss. Hier unten war noch immer alles mit Åkes alten Möbeln eingerichtet. Was angeschafft werden musste, hatte ihre Mutter bei Flohmärkten oder Versteigerungen gekauft, mit Ausnahme der Betten im Flügelgebäude, die waren alle neu. In der Pension Pomona sollte man gut schlafen, darauf legte ihre Mutter Wert.

Im Speiseraum hatten Peter und Liselott die Wände tapeziert und die Holzverzierungen gestrichen. Peter hatte in einem Antiquitätenladen der Gegend einen alten, schweren Konsolentisch gefunden und angekarrt, und gemeinsam hatten sie ihn an die Wand des Speiseraums gewuchtet. Dort würde jeden Morgen ab acht Uhr das Frühstücksbuffet bereitstehen.

Åkes Bücherregale standen noch am alten Ort, voll mit Büchern. Josefin ließ den Finger über die Buchrücken gleiten. Die Titel waren ihr alle vertraut. Die Romane wie auch die Sachbücher, vor allem über Biologie. Als Biologielehrer hatte Åke fast alles über die Natur gewusst.

Auf einem Fensterbrett im Speiseraum lag der leopardenfleckige Stein, den sie am Strand bei Haväng gefunden hatte. Er gehörte in dieses Haus. Josefin wog ihn in der Hand. Sie war noch immer dabei zu verdauen, was sie über Åke erfahren hatte. Ihr Bild von ihm hatte sich nach den Erzählungen von Haralds Großmutter geändert. Åke war neidisch auf seinen Bruder Georg, ihren Großvater, gewesen. Sowohl auf seine Ausbildung und seinen Beruf als Architekt wie auch auf seine Entscheidung, nach Stockholm zu ziehen. Vor allem aber auf seine Familie, seine Frau Vanja und seine Tochter Sally.

Als ihre Großmutter 1969 fortgegangen war, war ihr Großvater am Boden zerstört gewesen. Er hatte sich seiner dreijährigen Tochter allein angenommen, aber, soweit Josefin verstand, zu viel getrunken und viele Frauen gehabt. Åke hingegen war immer Junggeselle geblieben, zumindest nach außen hin. Falls er im Laufe der Jahre irgendwelche Affären gehabt hatte, waren sie kurzfristig gewesen. Davon wusste Josefin nichts, und man hatte ihr auch nichts in die Richtung erzählt.

Åke schien sehr verbittert und enttäuscht von seinem Leben gewesen zu sein. Ihre Großmutter hatte sich ein paar Jahre später voller Reue wieder gemeldet und versucht, ihr Kind zu treffen, aber da hatte Åke Georg dazu gebracht, ihr das abzuschlagen. Und damit die Familie gespalten.

Der Gedanke daran war ziemlich merkwürdig. Insbesondere, da die beiden Brüder im Sommer das Haus zusammen bewohnt hatten. Aber Åke war immer ein schweigsamer Mensch gewesen.

Am Wintergarten, der vom Sonnenlicht durchflutet wurde, blieb Josefin stehen. Ein Fenster war geöffnet und mit einem Haken befestigt. Der Duft erblühter Rosen und frischgeschnittenen Grases zog herein, versetzt mit einem schwachen Hauch von Tang und Strand. Das nahe Meer blitzte wie ein dunkelblaues Band zwischen den Häusern. Dieser Tag war dafür gemacht, Feste zu feiern.

Fröhliches Lachen drang ins Haus, die Gäste kamen an. Josefin strich ihr Kleid glatt und eilte nach draußen. Dorfbewohnerinnen und Nachbarn strömten durchs Gartentor, sommerlich hübsch und feierlich, manche sogar mit Blumenkränzen auf dem Kopf. Auch die Handwerker waren dabei. Ihre Mutter erhielt eine Menge Geschenke, wurde umarmt und beglückwünscht. Märta bellte und wedelte frenetisch mit dem Schwanz, als sie Flynns goldfarbenen Hund Chester entdeckte.

»Herzlich willkommen!« Ihre Mutter deutete zu den Gartentischen. »Nehmt euch gerne was zu trinken.«

Ein Mann mit schütterem Haar und einem hellgrauen Anzug überreichte eine eiserne Gartenlaterne mit einem Seidenband um den Handgriff. Das war Jörgen Rådström von der Sparbanken in Simrishamn, Åkes Bankberater, der ihrer Mutter mit allem Juristischen und Finanziellen rund um das Erbe geholfen hatte, wie der Grundbucheintragung und dem Abschluss einer Hausratsversicherung.

Olle und Yvonne, das Nachbarspaar von direkt gegenüber, brachten als Einweihungsgeschenk einen Rattansessel. Josefins Mutter platzierte ihn in einer Ecke des Gartens. Direkt neben dem Jasminstrauch, da könne man dann abends vom Duft der Blumen eingehüllt träumen.

»Und du kannst dort die Bücher für den Lesekreis lesen«, sagte Yvonne. »Im Herbst geht es wieder los.«

Olle klopfte ihrer Mutter auf die Schulter.

»Im Sommer ist dafür nicht viel Zeit.«

Die Gäste bedienten sich am sommerlich leichten Buffet und verteilten sich im Garten. Josefin beobachtete Peter, der allen Champagner anbot. Und er blickte nun zu ihrer Mutter, wenig diskret. Sie sah wie eine Königin aus, mit aufrechtem Rücken und im Sonnenlicht glänzenden, offenen Haaren. Vielleicht hatte sie noch nie so schön ausgesehen.

Jemand plingte an ein Glas und das Partygemurmel verstummte. Liselott war auf einen wackligen Gartenstuhl geklettert.

»Es ist an der Zeit, auf Sally anzustoßen. Sie hat hier wirklich ein unglaubliches Werk vollbracht! Natürlich haben ihr Peter, ich und noch ein paar andere geholfen, aber das meiste hat sie selbst gemacht. Und heute ist es fertig. Den Bauschutt auf der Rückseite betrachten wir einfach als Bonus oder als Kunstwerk.«

Rundherum wurde gelacht. Josefin schielte zu ihrer Mutter, die unsicher lächelte. Vielleicht dachte auch sie an die einzige Verwandte, die nicht da war. Großmutter.

Liselott erhob ihr Glas.

»Herzlichen Glückwunsch, Sally! Prost! Auf den Sommer! Und auf deine Pension Pomona!«

Alle applaudierten und prosteten. Liselott wandte sich an Sally.

»Und dann möchte ich dich nur an das erinnern, was du mir ganz am Anfang gesagt hattest, bevor du noch als Eigentümerin des Hauses ins Grundbuch eingetragen warst. Deine Pension Pomona sollte gemütlich und persönlich sein und jeden mit offenen Armen empfangen.«

Liselott reckte drei Finger in die Luft.

»Das waren deine drei Leitworte und sie treffen exakt auf dich als Person. Noch einmal: auf dich! Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, dich wieder in Kivik zu haben.«

Josefin stellte sich zu Harald.

»Wie gut du das mit dem Job hingekriegt hast«, sagte er. »Ich bin so stolz auf dich.«

»Danke, gleichfalls.«

Sie strich ihm über die Wange. Alles würde sich regeln. Ihre Mutter hatte ihre Pension eröffnet und zumindest den Sommer lang gab es hier einen Nebenjob.

Ein paar Stunden später verließen Josefin und Harald das weiterhin andauernde Fest und fuhren zurück nach Vallmogården. Die Tiere mussten versorgt werden. Als sie auf den Schotterweg zu ihrem Hof einbogen, folgte ihnen ein Road Ranger, um dann auf den Hofplatz zu rauschen und quietschend abzubremsen. Es waren die Nachbarsbauern, die Björks. Svante saß am Steuer und die Schwatztante Kristin winkte durchs offene Fenster.

»Hallo ihr zwei!«

Sie stieß die Autotür auf und stieg aus. Ihr stämmiger Körper steckte heute in einer abgeschnittenen Zimmermannshose mit einem Schmutzfleck auf der Seite. Die nackten Beine waren sonnengebräunt und als die Hose etwas hochrutschte, offenbarte sich auf dem Oberschenkel eine deutliche Linie, über der die Haut weiß leuchtete.

»Wir wollten uns doch um eure Mahd kümmern. Und schwupps sind wir auch schon hier, mit unserem Balkenmäher.«

»Ihr seid unglaublich«, sagte Harald.

Er wandte sich an Josefin.

»Ich habe ihnen zu erklären versucht, dass sie nicht unbedingt am Mittsommerabend kommen brauchen.«

Svante stieg ebenfalls aus dem Auto.

»Du hast gemeint, es muss gemacht werden. Und auf einem Hof sind ja alle Tage gleich.«

Er trug seinen üblichen Arbeitsoverall und sein Bauernkäppi.

»Wir dachten, wir kommen einfach rüber und bringen es hinter uns, sobald ihr nach Hause kommt. Mit einem Balkenmäher geht das ganz fix. Sonst ist die Arbeit ganz schön zäh.«

Harald strahlte.

»Wie lieb von euch. Wo ihr doch selbst so viel zu tun habt.«

Svante lachte nur und manövrierte den schweren Balkenmäher von der Ladefläche.

»Klar, aber da merkt man kaum, wenn noch ein paar Sachen auf die Liste kommen. Es geht in einem Aufwasch.«

Kristin half beim Abladen. Oben herum trug sie ein schwarzes Unterhemd, auch das nicht besonders sauber.

»Wir helfen gerne aus. Macht ja Spaß. Und so haben wir obendrein ein wenig Gesellschaft. Wo doch Mittsommer ist.«

Die Maschine erreichte den Boden. Kristin wischte sich den Schweiß von der Stirn, ihr ohnehin sonnenverbranntes Gesicht war vor Anstrengung tiefrot geworden. Sie deutete zur Scheune.

»Ihr baut immer noch am Hühnerhaus?«

Harald wirkte etwas beschämt.

»Ja, aber wir sind bald fertig.«

»Das wird sicher schön«, sagte Svante. »Dann habt ihr genug Platz.«

Harald lächelte Josefin an.

»Und eines Tages haben wir vielleicht zwanzig Hühner.«

»Elf reichen wohl. Fürs Erste.«

»Ja, wie du schon sagst: fürs Erste.«

Kristin öffnete die Beifahrertür noch einmal, kramte in dem ganzen Kruscht auf dem Boden herum und fischte ein Paar schmutzige Arbeitshandschuhe heraus.

»Da sind sie. Na dann, los geht’s.«

Josefin stand etwas abseits. Langsam und sorgfältig trampelte sie das Relief einer im Lehm getrockneten Traktorspur platt. An diese Art von gegenseitigen Besuchen auf dem Land hatte sie sich noch nicht gewöhnt. Dass Nachbarn einfach ohne Vorwarnung auftauchten, wenn man nicht darauf vorbereitet war. Besonders die Björks.

Es wurde allgemein vorausgesetzt, dass man es nett fand, Besuch zu bekommen, insbesondere wenn einem bei etwas geholfen wurde. Und selbstverständlich war das sehr generös. Aber Josefin war von der Eröffnungsfeier müde. Am liebsten hätte sie sich aufs Sofa gelegt und eine Serie geglotzt.

Harald war sichtlich selig. Seine Augen leuchteten und er trottete hinter den Björks her, als diese mit dem Balkenmäher in Richtung Weide gingen. Josefin folgte ihnen schnell. Sie nahm Haralds Hand und richtete den Blick geradeaus, auf Kristins braune Beine und breiten Po. Die Waden spannten sich bei jedem Mal an, da die Nachbarin bei jedem Schritt auf die Fußballen ging, um den Balkenmäher auf dem Pfad vor sich herzuschieben.

An der Weide angekommen setzte Svante die Maschine in Gang und legte mit der Arbeit los. Kristin ließ sich Zeit, sie blieb am Feldrand stehen und blickte über die flache, wellige Hügellandschaft. Josefin betrachtete sie. Kristin hatte die Fähigkeit, sich wirklich an der Natur zu erfreuen, nie schien sie davon gesättigt oder gelangweilt zu sein.

Josefin versuchte es ihr nachzutun. Drüben an der Stierweide der Nachbarn konnte sie an einer schweren Kette an einem Pfahl befestigt den kräftigen Atlas erkennen.

Ullis fiel ihr ein, die Arme, die keinen weiteren Sommer mehr erleben würde. Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen. Das Laub raschelte.

Dann trat Kristin lachend zu ihr.

»Gleich wird gegrillt. Das wird richtig schön. Wir haben ein wenig gemischtes Grillgut mitgebracht, das wir mariniert haben.«

Josefin bereitete sich auf ein nichtssagendes Gespräch vor. Sie musste sich darauf einstellen, so gesellig wie möglich zu sein. Wieder einmal.

Sally

Sally streckte den Rücken. Sie hatte mehrere Stunden Leute umarmt und herumgeführt und dabei erzählt, was im Haus und Flügelgebäude gemacht worden war und was noch ausstand. Ihre Mundwinkel taten von all dem Lächeln weh. Sie war es nicht gewohnt, derart im Mittelpunkt zu stehen.

Die Mittsommerstange war noch weiter zur Seite gekippt, aber das machte nichts. Die Einweihungsfeier war in jeder Hinsicht geglückt. Allmählich lichtete sich das Cocktailgewimmel auf der Wiese, die Leute verabschiedeten sich nach und nach. Josefin und Harald waren schon längst nach Vallmogården aufgebrochen. Liselott stand in der Küche und füllte den Geschirrspüler. Peter knotete Mülltüten zu und redete mit ein paar Gästen.

Das Fest war vorüber, was irgendwie auch erleichternd war. Dennoch war Sally nicht nur glücklich.

Eine Person hatte auf der Feier gefehlt. Unter anderen Umständen hätte Vanja vielleicht da sein können. Hätte Sally gratuliert und wäre stolz auf sie gewesen. Hätte mit allen darüber gesprochen, wie schön sich ihre Tochter Åkes Haus angenommen hatte, das in der gemeinsamen Familiengeschichte einen so zentralen Platz einnahm.

Ein sichtlich dummer, unrealistischer Gedanke. Aber den hatte es den ganzen Nachmittag über gegeben. Tief in ihr.

Im Obergeschoss war es erholsam leer. Sally trat in das Zimmer, das ihrem Vater Georg gehört hatte und das nun das Gästezimmer für über Nacht bleibende Bekannte geworden war. Der abgetretene Teppich war das Einzige, was sie von der ursprünglichen Einrichtung behalten hatte. Statt des schmalen Einzelbetts aus goldgelbem Kiefernholz gab es ein anständiges Doppelbett nach kontinentalem Stil mit dem Kopfteil an der Wand. Liselott hatte eine hübsche Überdecke genäht. Zwischen den Fenstern stand ein weißer, abgeschrappter Sekretär, den Sally preiswert gekauft hatte. Saubere, weiße Gardinen schmückten die zwei hohen Fenster. An einer Wand hing eine eingerahmte Meereskarte der Hanöbukten.

Die Gedanken an Vanja ließen Sally den begehbaren Schrank öffnen. Hinter einer Schachtel auf dem obersten Regal lag die alte Spieluhr. Die weiße aus Kunststoff, die sie gefunden hatte, als sie im Frühjahr zum ersten Mal seit dreißig Jahren hierhergekommen war.

Sally setzte sich aufs Bett und zog an der schmuddeligen Nylonschnur mit dem Knoten am Ende. Sie lauschte der Melodie, wieder und wieder. Unglaublich, dass diese Spieluhr noch immer funktionierte.

Die Schnur wurde langsam aufgezogen und stoppte dann, die Musikschleife brach jäh ab, aber Sally zog die Spieluhr nicht noch einmal auf, sondern betrachtete das gezeichnete Bild auf der Vorderseite. Den kleinen Kerl mit der roten Zipfelmütze und der Flöte und den Vögeln und dem Kaninchen um ihn herum.

»Ist Sally drinnen?«

Peters Stimme drang durchs offene Fenster aus dem Garten herauf.

»Ich glaube ja«, antwortete Liselott. »Sie ist ins Obergeschoss hoch.«

Sally legte die Spieluhr wieder an ihren Platz. Auf der Treppe begegnete sie Peter.

»Hey«, sagt er. »Ich habe mich gefragt, wo du abgeblieben bist.«

»Ich brauchte nur einen Augenblick Ruhe.«

Ihr fiel nichts ein, was sie noch hätte sagen können, war plötzlich verlegen und wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Seine Augen waren so intensiv. Das hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung im Frühjahr gedacht. Auf Åkes Begräbnis oben in der Kirche von Södra Mellby.

Peter stand nun ein paar Stufen unterhalb von ihr.

»Hast du Lust auf ein Glas Wein an der Mole? Später heute Abend, so gegen neun? Wenn alles aufgeräumt ist.«

Sally legte die Hand aufs Geländer. Ohne Vorwarnung begann ihr Herz zu rasen, dabei waren sie doch schon den ganzen Tag zusammen gewesen.

»Das wäre sehr schön.«

Peter richtete seine Hemdärmel, zog sie noch ein Stückchen hoch.

»Dann ist das abgemacht.«

Sally eilte die Treppe hinunter, da er nicht sehen sollte, wie sie rot wurde, und weiter in die Küche, um die Essensreste im Kühlschrank zu verstauen.

Peter betrauerte noch immer Ellen, seine an Krebs verstorbene Frau. Das Letzte, was Sally wollte, war eine Grenze überschreiten und ihn zusätzlich belasten.

Sie war schon damit zufrieden, ab und zu in seine Augen sehen zu dürfen und von ihm angelächelt zu werden. Mitzukriegen, wie er sich durch die dunkelbraunen, an den Schläfen leicht graumelierten Haare fuhr. Und mit ihm zu reden und lachen und arbeiten.

Ein Glas Wein. Warum nicht? An der Mole, gegen neun. Ein gemütlicher Ausklang dieses langen Tages. Sonst nichts.

Die Sonne ging langsam unter, aber noch war der Himmel hell. Noch badeten eine Menge Leute. Einige Kinder kämpften unter Gelächter und Rumgespritze darum, mit Anlauf vom betonierten Kai ins Wasser zu springen. In den letzten Tagen hatte die Badetemperatur bei um die achtzehn Grad gelegen, und wenn die Sonne schien, konnte es nachmittags sogar wärmer werden.

Die Meerestemperatur änderte sich so gut wie täglich, in von der Windrichtung abhängigen, jähen Wechseln. Blies er vom Land her, erwärmte sich das Wasser schnell auf über zwanzig, in seltenen Fällen sogar bis auf vierundzwanzig Grad, aber sobald der Wind vom Meer her wehte, sanken die Temperaturen sofort und konnten auf um die vierzehn, manchmal auch bis unter zwölf Grad fallen. Die Gewohnheitsschwimmer interessierte das wenig, sie sprangen trotzdem jeden Morgen ins Wasser. Sally gehörte nicht zu ihnen, aber wenn sie doch mal morgens schwimmen gegangen war, war sie ganz untergetaucht, egal was das Thermometer angezeigt hatte.

Peter hatte einen Korb mit einer Flasche Weißwein, einer Tüte Chips und einem Schokoladenkuchen mitgebracht. Ihr eigener Beitrag waren Kissen und Decken. Sie setzten sich am beinahe äußersten Ende der Nordmole auf zwei Felsbrocken. Er schenkte den Wein in die Gläser. Sally griff in die Chipstüte und betrachtete den Horizont. Der Sonnenuntergang sah jeden Abend anders aus. Es gab ihn in unendlich vielen Variationen. Manchmal leuchtete der Himmel flammend orange, als würde es auf der anderen Seite der Erde brennen. An anderen Abenden war er einfarbig pastellblau mit einer hellrosa Bordüre über dem silberglänzenden Wasserspiegel. Heute Abend zogen die Wolken Streifen in verschiedenen Nuancen von Hellrot und Violett.

Peter prostete ihr zu.

»Gratuliere zur geglückten Eröffnung.«

»Danke. Und danke für all deine Hilfe.«

Er ließ das Glas sinken.

»Woran denkst du gerade?«

»An Sonnenuntergänge. Wusstest du, dass die Farben mit der Luftfeuchtigkeit zu tun haben?«

Er lachte auf.

»Ja?«

»Hat Josefin erzählt. Sie weiß das von Åke.«

»Interessant. Das habe ich noch nie gehört.«

Sally sah wieder nach Nordwesten. Ihr gefiel, dass sie nie wusste, was für ein Schauspiel sie am Abend erwarten würde.

»Und ich denke an Vanja«, sagte sie. »Schade, dass sie heute nicht dabei war.«

»Ja, es hätte euch bestimmt gefallen, einander kennenzulernen. Glaube ich.«

Sally drehte ihr Glas am Stiel. Sie hoffte, dass das die Wahrheit war. Ungeachtet dessen, wer Vanja war, und ungeachtet der Tatsache, dass sie einander nicht mehr als ein paar mickrige Minuten gesehen hatten.

»Es muss für dich jetzt anders sein«, sagte Peter. »Nachdem du sie getroffen hast.«

Sie nickte.

»Irgendwie ist es trauriger.«

Dafür, wann man aufhörte, seine Mutter zu vermissen, gab es keine zeitliche Begrenzung. Obwohl Sally schon über fünfzig war, war in ihr immer noch diese unbestimmte Sehnsucht, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Diese Leere, die sie immer hatte füllen müssen, die aber nach der Begegnung mit Vanja im Frühling neue Konturen bekommen hatte. Vanja hatte physische Gestalt angenommen und sich mit der Zeit in Sallys Gedanken präsenter gemacht.

Nun lebte sie in Kopenhagen und die beiden hatten keinen Kontakt, aber trotzdem existierte sie. Sally konnte sie vor sich sehen und ihre Stimme hören.

»Trauriger?«, fragte Peter. »Inwiefern?«

Sally trank einen Schluck Wein. Brachte es etwas, es zu erklären? Damit anzufangen, mehr und mehr über ihre Kindheit nachzudenken. Wie die eigentlich gewesen war. Dass sie sowohl ihre Mutter wie auch Geschwister vermisst hatte. Ja, eigentlich auch einen Vater. Georg war auf vielerlei Arten abwesend gewesen. Hatte zu viel getrunken, ständig gearbeitet, war schlampig und unstrukturiert. Als Kind war Sally Meisterin darin geworden, sich um sich selbst zu kümmern. Ohne Hilfe oder Bestätigung von außen zu überleben.

Peter lauschte aufmerksam, als sie beschrieb, wie sie sich gefühlt hatte. Einsam und wie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Das klingt in etwa so, wie auch Vanja ihre Kindheit beschreibt«, sagte er. »Auch wenn sie ganz anders ausgesehen hat als deine. Aber es gibt viele Gemeinsamkeiten.«

Sally nahm sich einen Chip. Sie wusste fast nichts über Vanjas Kindheit. Außer das, was Peter einmal erzählt hatte, dass sich die Behörden ihrer angenommen hätten und sie in einer Pflegefamilie gelandet sei.

»Hast du wirklich nie versucht, Kontakt mit Vanja aufzunehmen?«, fragte er. »Als Teenager.«

»Nein.«

»Auch nicht als Erwachsene? Hast du nie nach ihr geforscht?«

Sally wechselte ihre Position auf der dünnen Decke, ihr war der Po auf dem harten Felsen eingeschlafen.

»Ein einziges Mal. Ein paar Jahre nach Papas Tod. Ich war wohl ungefähr fünfundzwanzig.«

Sie richtete den Blick wieder aufs Wasser, zu der dunstigen Linie zwischen Himmel und Meer.

»Mein Vater hatte gesagt, meine Mutter würde in Dänemark leben. Also habe ich in einem dänischen Telefonbuch nach ihrem Namen gesucht. Und eine Vanja Larsson in Kopenhagen gefunden. Eine Künstlerin.«

»Hast du angerufen?«

»Ja. Aber nicht sie war am Apparat, sondern ein dänischer Kerl, der sich besoffen anhörte. Ich habe kein Wort verstanden.«

Eine Weile schwiegen sie. Knabberten Chips, brachen sich Stücke vom Schokoladenkuchen und tranken Wein.

»Danach habe ich es nie mehr versucht. Ich glaube, ich hatte Angst bekommen.«

Allmählich wurde es kühl und Sally zog einen langärmligen Pullover über. Von der Sonne war außer einem schmalen Streifen an der Horizontline beinahe nichts mehr zu sehen.

»Ich wollte nur eine Mutter haben. Es mag abgedroschen klingen, aber ich hatte immer ein Loch an der Stelle im Herzen, wo meine Mutter sein sollte.«

»Warum abgedroschen? Das ist doch klar.«

Sie schluckte heftig gegen die aufsteigenden Tränen an. Wenn der Mensch, der einen geboren hat, einen nicht in seinem Leben haben wollte, warum sollte man dann eigentlich existieren? Das war die ultimative Ablehnung.

Genaugenommen wusste sie noch immer nicht, was das alles sollte. Die Pension. Der Sommer, der nun kam. Die Menschen, die sie kennengelernt hatte. Alles, worüber sie eigentlich glücklich war, erschien nur bedeutungslos.

Peter zog seine Decke näher an ihre.

»Versuch, dass dir Vanja egal ist. Sie wird alt und ist außerdem ein bisschen durchgeknallt. Du lebst jetzt dein Leben.«

Er legte ihr den Arm um die Schulter. Wie ungewohnt und zugleich selbstverständlich sich das anfühlte. Als säße sie in einem sicheren, warmen Zuhause.

Sally drehte den Kopf zu ihm. Er beugte sich einen Hauch vor und streifte ihre Lippen mit seinen. Zuerst ganz leicht, als würde er eine Frage stellen. Dann zielgerichteter. Sie legte ihm die Hand an die Wange. Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn richtig.

Josefin

Hemden, Pullover und Jeans trockneten auf der Leine zwischen den Apfelbäumen. Harald kämpfte gerade mit einem nassen Bettbezug, als Josefin mit einem Arm weiterer Wäsche ankam. Er nahm ihr das Bündel ab und sie hängten die Sachen gemeinsam auf.

»Also einen Wäschetrockner vermisst man hier wahrlich nicht«, sagte Harald. »Was gibt es Besseres als frischluftgetrocknete Wäsche?«

Josefin schüttelte den umgedrehten Ärmel aus einem Hemd.

»Na ja, ein Wäschetrockner wäre auch kein unbedingter Fehler.«

»Bald haben wir einen. Vielleicht schon im Winter.«

Harald befestigte eine Socke mit einer Wäscheklammer. Er pfiff vor sich hin und griff nach dem nächsten Teil, einem gestreiften Pullover.

»Jetzt, wo du einen Job in der Pension hast, können wir uns einen leisten. Wenn wir eine Weile sparen.«

»Eine neue Mähmaschine ist aber wichtiger.«

»Wir haben die Björks. Die helfen uns gerne wieder, das weiß ich.«

»Ja, aber ich möchte nicht ständig auf unsere Nachbarn angewiesen sein.«

»So oft ist es auch wieder nicht. Svante und Kristin sind doch super.«

Er hängte den Pullover auf, versuchte, den weichen Stoff bestmöglich glattzustreichen. Josefin wollte beinahe fragen, ob sie ihn nicht auf einen Bügel hängen sollten, verkniff es sich aber. Sie kannte Haralds Antwort. Ihm sei es gleich, ob die Wäsche beim Trocknen Falten bekomme, er habe nie davon geträumt, geschniegelt und gestriegelt auszusehen. Und den Hühnern und Schafen sei es sicher egal.

Harald nahm ein Hemd aus dem Wäscheberg.

»Aber ich kann natürlich Mama und Papa fragen. Ob sie uns was leihen können.«

»Nein, lass das. Denen reicht es damit, uns zu helfen. Das weißt du.«

»Ich kann ihnen versprechen, dass wir es so schnell wie möglich zurückzahlen. Sobald wir aus der Gründungsphase raus sind.«

Josefin hängte ein Geschirrhandtuch auf. Die Gründungsphase. Auf die verwies Harald immer mal wieder. Sie dauerte nun bereits drei Jahre. Jedes Mal, wenn sie diesbezüglich verwundert nachhakte, erklärte er, ein neues Leben aufzubauen, brauche Zeit. Es gehe um Langsamkeit an sich. Und man brauche eben Geduld und müsse auch mal ertragen, andere um Hilfe zu bitten. Gefälligkeiten unter Nachbarn waren eine Selbstverständlichkeit auf dem Land. Vielleicht gehörte da auch ein finanzieller Beitrag von Eltern dazu, wenn diese sich das leisten konnten.

Josefins Mutter konnte das jedenfalls nicht. Die hatte mit ihrer Pension zu tun, deren Kosten höher waren als erwartet.

Das letzte Teil fand seinen Platz auf der Leine, ein ausgewaschenes T-Shirt. Josefin schaute zwischen zwei Wäschestücken hindurch zu Harald. Er stellte das Leben auf dem Hof nie in Frage. Das sollte sie auch. Sie hatten dieselbe Ansicht, wie sie leben wollten. Nachhaltig und umweltfreundlich, ohne materielle Statusjagd.

Ein einfacheres Leben. Das war ihr gemeinsamer Traum. Aber manchmal fiel es Josefin schwer, den zu fühlen, tief im Innersten.

Eine Stunde später fuhr sie nach Kivik zu ihrer ersten Schicht in der Pension, deutlich adretter gekleidet als sonst. Sie wusste nicht, was ihr ihre Mutter zahlen würde, das würde sich zeigen.

Der Fischerort füllte sich langsam. Die meisten Menschen flanierten am Hafen entlang, schauten sich die kleinen Boote an und kauften im Fischgeschäft ein. Bald war es Juli, und mit jedem Tag kamen nun mehr und mehr Touristen. Am meisten waren es immer zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Juli zu Kiviks Jahrmarkt. Danach nahm die Anzahl an Leuten rapide ab. Von Mitte August an kehrte Ruhe im Ort ein, eine Zeit, auf die sich die ständigen Einwohner freuten. Dann gehörte Kivik wieder ihnen, bis zum Apfelmarkt im September.

In der Pension Pomona war ordentlich was los. Im Garten saßen Gäste über ausgebreiteten Landkarten von Skåne. Josefins Mutter ging lächelnd umher, redete mit ihnen, räumte Tische ab und nahm neue Bestellungen entgegen. Es schien bereits routinierte Abläufe zu geben.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie. »Du kannst als Erstes die Gästezimmer herrichten.«

Josefin holte Staubsauger, Putzeimer, Putzmittel und Wischmopp und putzte Zimmer für Zimmer, bemühte sich, den Boden blitzblank zu wischen und die Betten perfekt zu machen. Besonders viel Spaß hatte sie bei dieser Arbeit nicht, aber zumindest war es ein Job. Im Herbst würde sie sich eine andere Halbtagsstelle suchen. Vielleicht in der Altenpflege oder in einem Kindergarten. Sicher eine ziemliche Zusatzbelastung zur Arbeit auf dem Hof, aber das musste sie einfach hinkriegen.