Der Weg ins Apfelreich - Anna Fredriksson - E-Book
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Der Weg ins Apfelreich E-Book

Anna Fredriksson

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Beschreibung

Der Herbst ist im südschwedischen Kivik angekommen und die Apfelbäume tragen bereits Früchte. Vanja kann ihre erste Kunstausstellung seit langer Zeit feiern, sie wird ein großer Erfolg. Doch ein Geist aus der Vergangenheit taucht bei der Eröffnung auf und wirft sie ganz schön aus der Bahn …
Ihre Tochter Sally bekommt in ihrem Bed & Breakfast tatkräftige Unterstützung von ihrem neuen Freund Peter, mit dem sie im Liebesglück schwebt. Doch eine Sache lässt sie nicht los: Sie hat einen Onkel, doch ihre Mutter Vanja hüllt sich über ihren Bruder in Schweigen. Sally bleibt nichts anderes übrig, als selbst Nachforschungen anzustellen, um die Familie wieder komplett zu machen.
Auch Sallys Tochter Josefin eröffnet endlich ihre eigene Vintageboutique, doch die Kunden bleiben aus. Ist ihr Traum bereits vorbei, bevor er richtig angefangen hat?

Frühling, Sommer und Herbst im Bed & Breakfast von Sally in Skåne: drei Frauen, drei Generationen und drei Geschichten darüber, was es bedeutet, Mutter und Tochter zu sein.

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Seitenzahl: 470

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Cover

Titel

Anna Fredriksson

Der Weg ins Apfelreich

Die Jahreszeiten-Saga: Herbst

Aus dem Schwedischen von Elke Ranzinger

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Vägen till äppleriket bei Forum, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4997.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© 2020 Anna FredikssonFirst published by Forum, SwedenPublished by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München; Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77807-3

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Josefin

Vanja

Sally

Vanja

Informationen zum Buch

Der Weg ins Apfelreich

Vanja

Ein leichter Wind wehte über den Friedhof von Södra Mellby. Einige vertrocknete Blätter wurden aus dem Gras hochgewirbelt und flatterten um die Grabsteine herum. War die Natur nicht vielleicht jetzt im Frühherbst am allerschönsten? Vanja saß neben Sally auf einer Bank und konnte just in diesem Augenblick die Frage guten Gewissens mit Ja beantworten. Das Wetter war mild und sonnig, das Laub lag als goldgelber Teppich unter den Bäumen und die Früchte am Hagebuttenstrauch leuchteten hellrot. Märta, die große, zottelige Berner Sennhündin, lag auf dem Boden, mit einem würdevollen Ausdruck, als erwartete sie, gleich fotografiert zu werden.

Vanja stand auf, um den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu schließen, so früh am Morgen war es mittlerweile doch ziemlich frisch. Dann setzte sie sich sofort wieder, denn sie wollte nicht, dass diese Stunde ein baldiges Ende nahm. Für ein Gespräch unter vier Augen hatten Sally und sie kaum Gelegenheit gehabt. Zumindest nicht in der Art. Ruhig und nett, ohne irgendjemanden in der Nähe.

»Das war eine gute Idee von dir, hierherzufahren und nach dem Gedenkhain zu schauen.«

Sally nickte.

»Ich wollte das schon eine ganze Weile, habe es aber nicht geschafft. In der Pension war mit den ganzen Gästen einfach zu viel los. Aber jetzt hat es gut gepasst. Das Frühstücksbuffet ist aufgebaut und als ich raus bin, haben noch alle geschlafen.«

Vanja war noch nie hier gewesen, in diesem Gedenkhain. Dem Ort, an dem im Abstand von dreißig Jahren Åkes und Georgs Urnen beigesetzt worden waren. Sie hatte es nie für nötig befunden und außerdem war Sentimentalität sowieso nicht ihr Ding, deshalb hatte die Vorstellung gereicht, dass sie die beiden Männer weiter in sich trug. Natürlich trauerte sie, aber eben auf ihre Art.

Sally strich sich eine Strähne hinters Ohr, bekam nicht mit, dass Vanja sie musterte. In mancherlei Hinsicht war ihre Tochter Georg wahnsinnig ähnlich. Vom Profil her irgendwie. Aber auch bezüglich ihres Charakters. Sally hatte eine außergewöhnliche Art, ihren Gesprächspartnern das Gefühl zu geben, ganz bei ihnen zu sein. Josefin hatte erzählt, ihrer Mutter sei der Umgang mit Menschen aller Couleur immer leichtgefallen. Das konnte sich Vanja gut vorstellen. Georg war auch so gewesen.

Vielleicht aber lag der Grund für Sallys Eigenschaften in etwas anderem. Vielleicht waren sie aus ihrer langanhaltenden Einsamkeit zu erklären. Sie war extrem darum bemüht, in ein soziales Umfeld eingebettet zu sein.

Vanja blickte wieder über den Friedhof.

»Hier möchte ich auch einmal liegen.«

»Bis wir darüber sprechen müssen, ist noch eine Weile hin.«

»Weiß man’s? Aber du hast Recht, ich bin gesund und munter und bleibe das hoffentlich auch noch lange.«

Märta stand auf, trottete rum und schnüffelte hier und da. Wenn niemand in der Nähe war, durfte sie unangeleint herumstreunern.

Vanja spürte, dass Sally sie ansah.

»Du weißt doch, was die meisten Leute auf die Frage antworten, was sie ihrem jüngeren Ich sagen würden?«

»Was denn?«

»Irgendwas in Richtung, ›Immer ruhig bleiben, es wird sich alles finden.‹ Ist das nicht ziemlich bescheuert?«

»Wie meinst du das?«

Vanja kapierte nichts. Wie kam Sally jetzt darauf? Manchmal waren sie schon sehr verschieden. Sally stand auf und schüttelte die Beine, stampfte etwas auf.

»Naja, das tut es ja nun nicht immer. Sich finden. Meist ist es eher genau andersherum.«

Sie gingen Richtung Parkplatz. Es war Zeit für den Heimweg. Vanja stand auf und folgte ihr.

»Was wäre denn deiner Meinung nach eine gute Antwort auf die Frage? Was würdest du sagen?«

»Vielleicht eher: ›Nimm jetzt nicht alles so furchtbar ernst, vermutlich wird in der Zukunft vieles noch schlimmer.‹«

Vanja lachte los. Sally konnte wirklich genauso erbarmungslos zynisch sein wie sie selbst.

»Da könnte was dran sein«, sagte sie. »Wobei ja andererseits die Kindheit und Jugend ziemlich viel Bedeutung für den Rest des Lebens hat.«

»Ja, aber trotzdem. Man sollte seinem jüngeren Ich lieber sagen, du bist jetzt jung und süß und dir stehen alle Türen offen. Warte erst mal, bis du fünfzig bist.«

Das klang ziemlich düster. Und doch irgendwie komisch. Vanja grinste wieder.

»Ich verstehe, was du meinst. Man ist irgendwie immer mehr sich selbst ausgeliefert. Irgendwann kommt der Tag, wo man einsieht, dass einen tief drinnen niemand versteht. Dass das schlicht nicht die Aufgabe der anderen ist.«

Von fern knirschte der Kies. Vanja und Sally blickten in Richtung des Geräuschs und sahen den Priester. Er hatte dieselbe Schifferkrause und kurzgeschnittene Stirnhaare wie immer. Bei ihnen angekommen, schüttelte er beiden die Hand, erst Vanja, dann Sally. Dann tätschelte er Märta, liebevoll, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass sie nicht angeleint war.

»Was macht ihr denn hier? Einen kleinen Morgenspaziergang?«

»Genau«, antwortete Vanja.

»Es verspricht ja heute ein richtig schöner Tag zu werden.«

Sie pflichteten ihm bei. Der Pfarrer musterte sie eindringlich. Offenbar wollte er etwas fragen, sagte aber nichts, vielleicht spürte er, dass es zu aufdringlich wäre. Obwohl er schon häufiger ziemlich neugierig gewesen war. Nicht zuletzt in Verbindung mit Åkes Begräbnis, als er bei der Planung der Zeremonie viel zu viele Fragen gestellt hatte. Darüber war Vanja noch nicht hinweg. Nichtsdestotrotz war das Begräbnis schön gewesen.

Der Pfarrer richtete seinen dünnen Strickpullover, aus dessen Bund der weiße Priesterkragen herausragte. Nach einem kurzen Hüsteln lächelte er Vanja an.

»Ich habe gehört, Sie geben nun Malkurse auf Vallmogården? Das hat mir Liselott gestern bei ICA erzählt.«

»Ja, richtig. Wir haben die Scheune ausgeräumt und darin ein Atelier eingerichtet. Heute ist der letzte Kurstag.«

»Wie schön, dass Sie sich da eingemietet haben, damit Harald und Josefin den Hof behalten können. Und dass es für Sie in letzter Zeit so gut gelaufen ist. Gratulation zu Ihren Erfolgen.«

»Danke.«

»Was ist das denn im Kurs für Malerei?«

»In erster Linie Aquarell. Und Gouache und noch ein bisschen was anderes.«

Der Pfarrer sah etwas verloren aus.

»Klingt spannend.«

Vanja nickte. Der Kurs war wirklich geglückt. Ende August hatte sie Gorm angerufen und ihn gebeten, an seiner Galerie Brinck-Jensen einen Aushang für einen Malkurs in Österlen anzubringen. Und Josefin hatte ihre Freundin Lou in Malmö dasselbe im Klamottenladen Broken Twill machen lassen, wo Vibekes Tochter Grethe nun beschäftigt war. Knapp zwanzig Personen hatten sich angemeldet. Dänen wie Schweden, und die ersten acht hatten einen Platz bekommen. Fünf Frauen und drei Männer verschiedenen Alters.

Der Blick des Pfarrers wanderte zwischen Vanja und Sally hin und her.

»Es freut mich so, Sie miteinander zu sehen. Mutter und Tochter. Als wir das letzte Mal hier waren, bei Åkes Begräbnis, war das noch ganz anders.«

Beide nickten, aber keine sagte etwas. Der Pfarrer wusste auch so genug. Vanja vermied es, ihn anzusehen. Sie richtete den Blick in die Ferne, wo die orangefarbenen Baumwipfel wie Wellen im Wind wogten. Wie unglaublich viel war doch in diesem Frühling und Sommer geschehen! Mehr als in vielen Jahren zuvor.

Der Pfarrer verabschiedete sich, dann waren sie wieder nur zu zweit. Oder dritt, wenn man Märta mitrechnete.

Vanja ging langsam Sally hinterher zum Auto. Beim Anblick ihrer Tochter kam ihr das Bild vom Frühjahr in den Sinn. Das große, sperrige Werk mit seinen abstrakten Feldern und seltsamen Farben und der Badewanne in der Mitte. Jetzt war es weg.

Der Verkauf war Ende Juli über die Bühne gegangen. Gorm hatte sich gemeldet, über und über glücklich mit dem Preis, den der Käufer bezahlen wollte. Vanja war in erster Linie geschockt, aber auch froh, vor allem als ihr klar wurde, dass sie dadurch genug Geld haben würde, um die Scheune auf Vallmogården zu mieten. Und natürlich war es eine Anerkennung. Nach all den Jahren der Schufterei gefragt zu sein, angesehen und geschätzt zu werden. Es war noch immer unfassbar für sie.

Vanja hoffte, dass der Käufer mit dem Bild zufrieden war. Es handelte im Grunde genommen von einem kleinen Kind. Der Tochter, die sie verlassen hatte, als sie vor fast fünfzig Jahren weggegangen war. Sie bekam einen Kloß im Hals und trat nach einem Laubhäufchen, genervt von sich und diesem bescheuerten Mangel an Selbstbeherrschung.

Dann fokussierte sie die Gedanken auf etwas anderes, das mit ihrem neuen Erfolg als Künstlerin zu tun hatte. Denn auf die Pension Pomona, in der bis vor einigen Wochen ihr Jugendwerk gehangen hatte, wartete hoffentlich eine gesicherte Zukunft. Der Ruf hatte sich offenbar verbreitet, es gab bereits Reservierungsanfragen für den nächsten Sommer. Ab und zu hatte Vanja Führungen durchs Haus gemacht, bis Ende Juli sämtliche der Jugendwerke an die Galerie Brinck-Jensen verliehen worden waren. Gorm hatte auf eine mehrmonatige Ausstellung gedrängt, die Vernissage sollte am dreizehnten Oktober stattfinden.

Sie hatten den weinroten VW-Bus erreicht. Vanja holte den Autoschlüssel raus.

»Sicher, dass ich dich nicht heimbringen soll?«

»Ich gehe gern«, sagte Sally. »Aber danke für das Angebot.«

Vanja öffnete die Autotür. Eine Eingebung stoppte sie. Was wusste Sally eigentlich über das Bild mit der Badewanne? Vermutlich nichts.

»Du weißt, dass ich im Sommer ein Bild verkauft habe?«

Sally legte Märta gerade die Leine an.

»Josefin hat es erzählt. Sie ist wahnsinnig froh, dass dir das genug Geld eingebracht hat, um die Scheune zu mieten. Dass Harald und sie auf dem Hof bleiben können, bedeutet ihr alles.«

»Ja, das ist toll.«

Vanja setzte sich hinters Steuer.

»Aber manchmal bereue ich, dass ich dieses Bild verkauft habe. Du hättest es haben sollen, denn das Motiv hat mit dir zu tun. Vielleicht hätte ich ein anderes Werk für eine ebenso große Summe verkaufen können.«

Sally schüttelte den Kopf.

»Denk nicht so. Mir reicht es schon, das zu wissen.«

Vanja schluckte, um die Tränen zurückzuhalten. Die eigene Tochter so etwas sagen zu hören. Das hätte sie sich niemals auch nur zu wünschen getraut, und nun war es Wirklichkeit.

»Leider kann ich es nicht mehr ändern. Verkauft ist verkauft.«

Sally lächelte und blinzelte in die Sonne.

»Vielleicht kannst du was Neues malen?«

»Ja. Vielleicht.«

Ganz so einfach war das nicht, aber das wollte Vanja jetzt nicht erklären.

»Hast du immer gemalt und gezeichnet?«, fragte Sally. »Schon als Kind?«

»Ich erinnere mich nicht richtig. Vermutlich ja.«

»Was hast du am liebsten gemacht? Gemalt oder irgendein Spiel? Oder was anderes?«

Vanja lachte auf.

»Glaubst du wirklich, dass ich das noch weiß? Ich bin über siebzig.«

Sally sagte nichts mehr. Sie sah auf die Uhr und gähnte, wirkte etwas müde. Vanja wusste, dass sie hart arbeitete, sieben Tage die Woche. Heute war der erste Tag des Apfelmarkts. Die Pension Pomona war für das ganze Wochenende ausgebucht, morgen reisten die Teilnehmer des Malkurses ab. Danach kamen bestimmt neue Gäste, die im Sommer gebucht hatten, und nach deren Abreise würde es abermals nicht lange dauern, bis die Pension wieder gefüllt war. Das Risiko einer Pleite, vor der Sally im Sommer solche Angst gehabt hatte, war aus der Welt. Außerdem hatte sie Zusatzeinnahmen in Verbindung mit dem Kurs, denn Peter und sie hatten angeboten, für die Verpflegung an den Mittagen zu sorgen.

In der kurzen Zeit, die sie einander kannten, hatte Vanja begriffen, wie effektiv Sally im Lösen von Problemen war. Konkret, schnell und klug. Man merkte, dass sie in ihrem Leben in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Jobs gearbeitet hatte. Von Pflegekraft über Garderobiere zu Kellnerin und Empfangsdame war sie alles mal gewesen. Was auch geschah, sie würde klarkommen.

»Danke für die Hilfe bei der Verpflegung«, sagte Vanja. »Wir haben die ganze Woche über fantastisch gegessen.«

»Gern geschehen.«

Sie verabschiedeten sich und Sally machte sich mit Märta auf den Weg den Mellby Hügel hinunter, während Vanja nach Hause fuhr, um sich fertig zu machen.

Ihre Hände lagen ruhig auf dem Steuer, sie atmete lang und genussvoll ein. Das Dasein war in bester Ordnung. Hätte sie das nur gewusst, als im Frühling durch Åkes Tod und Sallys Umzug nach Kivik alles über sie hereinbrach. Dann hätte sie das letzte halbe Jahr ruhiger geschlafen.

Als sie auf die Straße nach Svinaberga bog, dachte sie an ihr eigenes schönes Zuhause, das Stallgebäude auf Peters Hof. Die leere Ecke im Atelier kam ihr in den Sinn, wo das Bild gestanden hatte. Junge Fachleute mit dünnen, weißen Baumwollhandschuhen hatten es mit äußerster Vorsicht weggetragen und in einen Transporter geladen.

Vanja parkte den VW-Bus. Bei Gelegenheit würde sie Gorm nach dem Käufer des Bilds fragen. Das durfte sie nicht vergessen, falls Sally es irgendwann wissen wollte.

Sally

Der Duft von Mandelteig, Vanille und warmen Äpfeln füllte die ganze Küche. Sally nahm den fertigen, goldbraun gebackenen Apfelkuchen aus dem Ofen. Sobald er abgekühlt war, wollte sie ihn aufs Frühstücksbuffet stellen, damit die Gäste zweifelsfrei wussten, es war Herbst und Apfelmarkt in Kivik. Anderen Menschen ein Gefühl von Gemütlichkeit zu verschaffen, war das Schönste, was es für sie gab. Und noch schöner war das in der eigenen Pension.

Sie machte eine Runde durchs Erdgeschoss, um nach dem Feuer im Kachelofen zu sehen und danach, ob fürs Frühstück irgendwas fehlte. Nachdem nun alle von Vanjas Bleistiftzeichnungen und Aquarellen an die Galerie in Kopenhagen verliehen waren, war das Haus voll mit zurückgebliebenen hellen Rechtecken an den Wänden. Aber das schien die Gäste nicht zu stören. Einige sagten, am interessantesten sei für sie, das Haus zu sehen, in dem Vanja gelebt hatte, und sie hätten fest vor, irgendwann die Ausstellung in Kopenhagen zu besuchen.

Die Pension war voll, und das schon seit dem Sommer. Alle Teilnehmerinnen von Vanjas Kurs hatten eigene Zimmer gebraucht, also waren Speziallösungen notwendig geworden. Zwei wohnten in den beiden Doppelzimmern, die Sally Ingrid Marie und Granny Smith genannt hatte. In den Einzelzimmern Astrachan und Cox Orange nächtigten weitere zwei. Die Schlafplätze für die verbliebenen vier Personen hatte sie schaffen können, indem sie ausnahmsweise das große Haus dafür nutzte. Dabei war aber jedes Zimmer draufgegangen, sogar ihr eigenes Schlafzimmer. Was nichts gemacht hatte, sie hatte bei Peter in Svinaberga unterschlüpfen können und es war wunderbar dort.

Natürlich hatte sie Vanja die Bitte um Hilfe nicht abschlagen können, schließlich hatte sie erheblichen Anteil am Überleben der Pension Pomona. Wäre Vanja nicht in die Bresche gesprungen, hätte Sally vielleicht im August schließen müssen.

Sally ging zurück in die Küche. Durchs Fenster sah sie Peter aufs Haus zukommen. Wenn sie ihn sah, wurde sie innerlich irgendwie zart und zerbrechlich. Er was so schön, noch immer konnte sie kaum begreifen, dass sie mit ihm zusammen sein durfte. Manchmal fühlte sie sich wie eine unbeholfene Gymnasiastin.

Peter und sie wollten nun das letzte Mittagessen für Vanjas Kursgruppe oben auf Vallmogården zubereiten. Darauf freute sich Sally, wie schon an jedem Tag zuvor. Es gab nichts Besseres, als mit Peter in der Küche zu stehen und über alles und nichts zu plaudern, manchmal unterbrochen von einer Pause zum Küssen.

Derart bedingungslos zu jemanden zu gehören, war für sie noch immer wahnsinnig ungewohnt. Peter hatte eine Lebenseinstellung, nach der man zusammen für jedes erdenkliche aufkommende Problem eine Lösung finden konnte.

Innerhalb dieser kurzen Zeit war er zu einer Selbstverständlichkeit in ihrem Dasein geworden. Kaum konnte sich Sally mehr vorstellen, wie es ohne ihn gewesen war. Ohne diesen Mann, der behauptete, sie mache ihn allein dadurch glücklich, dass sie den Raum betrete. Der sagte, sie strahle und leuchte und sie habe in allem, was sie tue, eine kindliche Lebensfreude. Wenn Sally ihm das nicht glauben wollte und ihn daran erinnerte, wie schwer sie es in ihrem Leben mitunter gehabt hatte, lachte er sie nur an, sodass das Grübchen auf seiner Wange sichtbar wurde, und fügte an, das könne man an der Dunkelheit in ihren Augen natürlich auch sehen. Ohne das wäre sie jetzt nicht, wer sie war.

Sie wohnten nicht zusammen, verbrachten aber so viel Zeit wie nur möglich miteinander. Peters enge Freundschaft mit Vanja war kein großes Problem mehr, eher im Gegenteil. Er half Sally, ihre Mutter zu verstehen, oder versuchte es zumindest.

»Hallo!« Peter trat in den Flur. »Ich hab dich heute Morgen gar nicht rausschleichen hören. Wie das hier duftet! Ist das Apfelkuchen?«

Sally umarmte ihn und versprach ihm ein Stück, falls eines übrig war, nachdem die Gäste sich beim Frühstück daran bedient hatten. Dann erzählte sie von dem Spaziergang mit Vanja oben in Södra Mellby und dem Besuch im Gedenkhain.

»Es war so schön da. Einfach nur eine Weile zusammen zu sein und zu reden. Ganz ungestört.«

»Das freut mich.«

Er drückte die Lippen nacheinander auf Sallys Augenbrauen, langsam und zärtlich. Da fiel Sallys Blick durchs Fenster, einige Gäste traten aus dem Flügelgebäude, sie riss sich los, gleich würden sie hier in den Flur kommen.

»Guten Morgen«, sagte sie, als sie vorbeigingen.

Die Gäste erwiderten den Morgengruß. Sally stellte schnell den Kuchen aufs Buffet. Dann öffnete sie auf der Suche nach einer blaugestreiften Kanne, die ihr wieder in den Sinn gekommen war, in der Küche Schrank um Schrank. Irgendwo musste sie sein, dessen war sie sich sicher, obwohl sie sie seit dreißig Jahren nicht gesehen hatte. War sie vielleicht irgendwo anders im Haus gelandet? Als Blumenvase und dann vergessen. Sally würde sie finden.

Sie begann im Obergeschoss, wo ein paar der Kursteilnehmer wohnten. Da auch sie unten beim Frühstück waren, konnte sie diskret einen Blick in jeden Raum werfen. Nachdem sie sicherheitshalber angeklopft hatte, öffnete sie die Tür zum früheren Zimmer ihres Vaters Georg. Ihr Blick verweilte auf den auffälligen Bettvorhängen, die sie vor dem Kurs aufgehängt hatte. Der Stoff hatte ein für die Siebzigerjahre typisches Blumenmuster und erinnerte sie stark an ihre Kindheit. An die Zeit, als sie in Schlaghosen und Clogs oder Cordrock und geringelten Kniestrümpfen herumgelaufen war. Oder bei Regen auf ihrem Bett gelegen und Unsere kleine Farm Band für Band verschlungen hatte. Zu der Zeit waren auch Liselott und sie durch Kivik geradelt, hatten am Strand an den von der Weide hängenden Lianen geschaukelt und mit Luftmatratzen in den Wellen gebadet.

Große, runde, blaugrüne Blumen bedeckten den gesamten Stoff. Sally ging hin und schnüffelte zaghaft daran, meinte sich plötzlich daran zu erinnern, dass ihre Mutter ein ganz ähnlich aussehendes Kleid gehabt hatte. Vielleicht nicht exakt so, aber das Blumenmuster war in der Art gewesen.

Ihre Mutter. Sprich Vanja. Diese beiden Personen zusammenzubringen, fiel Sally noch schwer. Die eine, eine diffus verschwommene Gestalt, hatte sie auf den Schoß genommen und sie zu den Klängen der heute im begehbaren Schrank liegenden, alten Spieluhr gewiegt. Die andere gab es hier und jetzt, mit grauen, wirren Haaren, den Falten, ihrem scharfen Profil und eindringlichen Blick. Sie hatte sich als feiner Mensch entpuppt.

Die Worte, die Vanja ihr irgendwann im Sommer ins Ohr geflüstert hatte, würde Sally nie vergessen. Die Sätze waren ihr durch den ganzen Körper gegangen. Ich werde dich nicht aufgeben. Der Schmerz und das Leid, das ich verursacht habe, tun mir leid, aber jetzt bin ich jedenfalls da.

Beim Gedanken daran wurden ihre Augen feucht. Wie viel Mut und Kraft diese Aussage Vanja gekostet haben musste. Von dem Moment an hatte sich alles verändert.

Sally wischte sich über die Nase. Für ein paar Minuten suchte sie nach der Kanne, gab dann auf und ging weiter in Åkes Zimmer. Auch hier war ein Kursteilnehmer untergebracht und so bewegte sie sich vorsichtig zwischen Taschen und aufgehängten Kleidungsstücken hindurch. Am Fenster stand der Schreibtisch, an dem Åke oft gesessen und seine Briefmarken sortiert hatte. Jetzt war er mit Aquarellzeichnungen und unterschiedlichsten Skizzen bedeckt.

Hier hätte Milena bei ihrem nächsten Besuch vielleicht auch unterkommen können. Doch ihre frühere Stockholmer Nachbarin hatte seit dem Sommer nichts mehr von sich hören lassen. Damals hatte Milena gesagt, sie wolle zum Apfelmarkt zurück sein, aber danach war es still geworden. Vielleicht hatte sie nach ihrer Scheidung ein neues Leben angefangen, war einem Mann begegnet oder hatte einen aufregenden Job gefunden. Oder alles zusammen. Sally nahm sich vor, sie, sobald es ein wenig ruhiger geworden war, anzurufen.

In diesem Zimmer hatte Josefin auch den Stapel alter Notizbücher gefunden. Die handgeschriebenen Zeilen darin waren für Sally entscheidend gewesen im Bestreben, ihre Herkunft zu verstehen. Indem Åke Vanjas Wiedervereinigung mit ihrem Kind verhindert hatte, war er, selbst wenn das natürlich nicht seine Intention gewesen war, der Ursprung ihrer ganzen Familientragödie. Der Verursacher jener Wunde, die seit dem Frühling endlich heilen konnte. Was wiederum Åkes Verdienst war, nachdem er Sally das Haus vererbt und sie damit zu ihrem Umzug nach Kivik veranlasst hatte. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um seine Schuld wiedergutzumachen.

Der Schreibtisch mit den gedrechselten Beinen hatte unter der Tischplatte zwei Schubladen direkt nebeneinander. Was war da eigentlich drin? Sally zog an einem der Griffe, aber die Schublade ließ sich nicht öffnen. Zuerst glaubte sie, sie würde nur klemmen, doch sie war tatsächlich abgeschlossen. Die Schublade daneben ging jedoch auf. Darin lagen ein paar leere Kuverts, ein grauer Tacker und einige Bleistifte.

Aber sie musste auch die verschlossene Schublade öffnen, aus blanker Neugier.

Sally ging ins Erdgeschoss, um nach irgendwas zu suchen, womit sie das Schloss knacken konnte. Sie holte aus der Küche eine Spicknadel, eine Büroklammer und ein Messer. Die Spicknadel und das Messer waren als Dietrich gänzlich ungeeignet, die Schublade ließ sich noch immer nicht bewegen. Die Büroklammer aber zwang das Schloss schließlich in die Knie.

Vorsichtig zog Sally die Schublade heraus und war zunächst enttäuscht, nur eine Rolle Klebeband und eine Schere darin zu finden. Aber unter der Schere lag etwas. Ein Foto. Es hatten einen Gelbstich und zeigte eine junge Vanja in einem Wollpullover. Sie lehnte an einem Baum und lächelte mit geschlossenem Mund in die Kamera. Sie sah bleich und fahl aus, ganz und gar nicht braungebrannt und freudestrahlend wie auf dem im Frühjahr gefundenen Bild, auf dem sie hochschwanger war.

Neben Vanja stand jemand und hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Ein Mann mit rotblonden Haaren, so um die dreißig Jahre alt. Er trug typische Siebzigerjahre-Klamotten, braune Schlaghosen und einen Duffelcoat mit Kapuze. Hinter dem Paar sah man einen weißen Zaun und einen Garten, und dann war noch die Ecke eines Hauses mit Fachwerkfassade zu erahnen. Das Bild war offenbar im Winter aufgenommen, die schemenhaften Bäume im Hintergrund waren kahl.

Vermutlich war das dieser Hof in dem kleinen dänischen Örtchen Søvind, von dem Vanja ab und zu erzählte. Dann musste der Kerl Knud sein, der Bewohner des Landwirtschaftskollektivs, mit dem Vanja zusammen gewesen war. Ihre dänische Freundin Vibeke hatte Knud in ihren Tagebuchaufzeichnungen erwähnt, diesem dicken Papierberg, den Josefin im Juli aus Kopenhagen mitgebracht hatte.

Sally legte das Foto zurück und schloss die Schublade. Wieso hatte Åke dieses Bild wohl aufgehoben? Sie musste es Vanja zeigen und danach fragen.

Da fiel ihr wieder ein, was sie hier eigentlich gewollt hatte, und sie sah sich im Zimmer um. Da! Ganz oben auf dem Regal stand die gestreifte Kanne. Hell, hellblau. So bekannt auch noch nach all den Jahren.

Sie holte sie runter und ging zurück ins Erdgeschoss. Märta kam sofort an und stupste mit bettelndem Blick gegen ihre Beine.

»Ja, ja, du kriegst gleich was zum Fressen.« Sally streichelte die weichen Ohren.

Sie gab Märta frisches Wasser und füllte Trockenfutter in den Fressnapf, das die Hündin sofort verschlang. Anschließend schaute Sally nach dem Frühstücksbuffet, stellte die mit Apfelsaft gefüllte Kanne hin und brachte ein paar benutzte Tassen und Teller zum Geschirrspüler.

Sie nahm Märta mit nach draußen, um am Meer langzulaufen. Vor Liselotts Haus blieb Sally stehen und winkte durchs Fenster. Liselott kam auf die Terrasse. Sie war noch im Morgenmantel und hatte die Zahnbürste in der Hand.

»Hallo. Ist heute der letzte Tag mit den Kursleuten?«

»Ja, genau. Sie reisen morgen ab, aber dann kommen neue Gäste. Was machst du heute?«

»Bei ICA arbeiten.«

»Dann bis später. Muss ein paar Sachen kaufen.«

Liselott lächelte. Dasselbe offene, frohe Lächeln, das sie schon als Kind gehabt hatte. Wie schön, sie jetzt immer in der Nähe zu haben und nicht nur im Sommer, wie früher als Kinder. Über Banalitäten plaudern zu können. Oder wenn etwas anstand auch über wichtige Dinge.

Sally und Märta gingen weiter. Ohne Liselott hätte die Pension Pomona nicht Wirklichkeit werden können. Sie hatte von Anfang an bei der Renovierung und einer Menge anderem Zeug geholfen, obwohl sie ihren Job bei ICA und einen eigenen Fußpflegesalon hatte, um den sie sich kümmern musste. Liselott war so froh darüber, dass Sally zurückgekommen war und sich dauerhaft im Ort niedergelassen hatte, das hatte ihren Alltag von Grund auf verändert. Sie hatte sich dazu entschieden, alles dafür zu tun, um Sally bei der Verwirklichung ihres Traums zu helfen. In gewisser Weise hatte sie den Traum in Teilen übernommen und zu ihrem eigenen gemacht. Neben Freundinnen waren sie nun ein Arbeitsgespann.

Der Spaziergang war belebend. Nach einer Stunde war Sally zurück und ließ Märta im Garten von der Leine. In der Küche hatte Peter bereits als frühes Mittagessen ein einfaches Pastagericht für sie beide zubereitet. Er vermischte die gekochten Nudeln mit der Soße, steckte einen Löffel in die Pfanne und ließ Sally probieren.

»Mhm, was ist das?«, sagte sie. »Das schmeckt himmlisch.«

»Artischocken, braune Butter und Salbei. Und ein bisschen Zitronenabrieb und Parmesan.«

Peter probierte auch einen Löffel. Er sah zufrieden aus.

»Das hat meine Mutter immer gemacht. Sie hatte es von meiner Großmutter gelernt, die war Halbitalienerin.«

»Deine Großmutter? Aha.«

Mit einem Mal wurde Sally klar, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was ihre Mutter immer gegessen hatte, als sie klein war. Sie wusste überhaupt nichts. Nicht einmal, wer ihre Großmutter war.

»Seltsam eigentlich. Dass ich absolut nichts davon weiß, wie Vanja als Kind gelebt hat.«

»Hast du sie danach gefragt?«

»Ja, ein wenig. Gerade erst heute Morgen. Als wir oben an der Kirche waren. Aber ich habe keine direkte Antwort bekommen. Sie schien nichts erzählen zu wollen.«

Peter rührte die Nudeln um und drehte ein paar Mal die Pfeffermühle.

»Nein, über ihre Kindheit hat sie noch nie gern gesprochen. Und zwar egal mit wem, soweit ich weiß.«

Sally begann das Frühstücksgeschirr einzusammeln. Sicher, es war schön, ihre Mutter zurückbekommen zu haben, wenn auch spät. Aber woher kam Vanja eigentlich? Wie war sie zu der geworden, die sie war? Auch wenn sie nun miteinander Kontakt haben und reden konnten, gab es doch etwas, das fehlte. Eine Perspektive dahinter.

Vanja

Goldenes Licht, wolkenfreier Himmel und sanfter Wind. Man hatte ein leichtes Gefühl von Hochsommer, obwohl es Ende September war. Vanja fuhr die Schotterstraße entlang und sprach über Freisprechanlage mit ihrem Galeristen. Sie hatte ihn angerufen, um eine Antwort auf ihre brennende Frage zu bekommen.

»Wer ist eigentlich der Käufer des großen Bilds mit der Badewanne?«

»Weiß ich nicht«, sagte Gorm. »Der Kauf war anonym.«

»Du hast also keinen Namen?«

»Nein. Ich hatte nur Kontakt mit irgendeiner Angestellten, einer Assistentin oder so was, ich kann mich nicht erinnern.«

Vanja war enttäuscht. Und Gorm klang nicht besonders an der Frage interessiert, für ihn war das Werk verkauft und die Sache erledigt. Er sprach nun über die Ausstellung und alles, was für die Vernissage in zwei Wochen geregelt werden musste. Plötzlich sprudelte er vor Enthusiasmus.

»Deine Jugendwerke sind noch fantastischer, wenn man sie richtig ausgestellt betrachtet. Ich habe schon einen Vorschlag zur Hängung, mit dem großen Bild im Zentrum. Bin gespannt, was du davon hältst. Wann kommst du her?«

»Montag in einer Woche.«

»Vibeke und Grethe werden sich so freuen. Bis dann.«

Sie beendeten das Gespräch. Es war Viertel vor zehn, bald würde der letzte Kurstag in vollem Gang sein. Die Woche war schnell vergangen. Vanja und Vibeke hatten die acht Teilnehmer jeden Tag von zehn bis fünf Uhr unterrichtet. Mittags hatte die Gruppe gemeinsam die leckeren Speisen von Sally und Peter gegessen, entweder in der großen Vallmogården-Küche oder, wenn das Wetter schön genug gewesen war, draußen. Ums Abendessen hatten sich die Teilnehmer selbst kümmern müssen, in der Gegend gab es gute Restaurants jeder Preisklasse.

Während der Woche hatten die Teilnehmer vier wasserbasierte Techniken ausprobiert: Aquarell, Gouache, Tusche und Acryl. Zu sehen, wie die unterschiedlichen Techniken Luft und Licht darstellen können, war eine große Bereicherung für sie gewesen.

Heute war nach dem Mittagessen ein Ausflug geplant. Nicht weit weg, nur in die Landschaft rundherum. Laut Vorhersage sollte das Wetter den ganzen Tag über schön sein. Die Gruppe würde ein paar Stunden draußen arbeiten und das natürliche Licht fließen lassen.

Vanja drückte auf den erstbesten Song ihrer zuletzt gehörten Playlist. Tainted Love von Soft Cell, dieser alte Knaller von Anfang der Achtziger. Einer Zeit, in der viele Gleichaltrige damit beschäftigt waren, sich um Kinder oder Ehemänner zu kümmern, oder beides. Selbst war sie so oft wie möglich ausgegangen und hatte in Nachtklubs getanzt und sich bisweilen alt gefühlt. Wie idiotisch. Sie war noch nicht einmal vierzig gewesen.

Sie bog auf die Schotterstraße Richtung Vallmogården ab, verringerte das Tempo ein wenig, damit der Song Zeit hatte auszuklingen, und öffnete für maximale Wirkung das Seitenfenster ganz.

»Wee-hoo!«, rief sie in Richtung Kuhweide. »Guten Morgen!«

Die Kühe drehten alle ihre großen Häupter und folgten ihr mit dem Blick. Sie käuten wieder und wirkten etwas verdutzt. Vanja winkte ihnen zu und freute sich, den Tieren ein wenig Unterhaltung bieten zu können, bevor sie für den Winter in den Stall zurückmussten.

Die Musik pumpte aus dem Lautsprecher und sie drehte die Lautstärke etwas hoch. Die Töne dröhnten über Äcker und Wiesen. Dieses überbordende Lebensgefühl sollte mit auf den Hof kommen, damit die Kursteilnehmer verstanden, dass ihr letzter Tag besonders toll werden würde.

Als Vanja auf den Hofplatz einbog, waren alle anderen schon da. Drei Autos parkten an der Scheunenwand, wo Josefin, Vibeke und Grethe warteten und wegen der wummernden Musik erstaunt in Richtung Auto starrten. Vibeke kicherte dermaßen los, dass sie die Hand vors Gesicht schlagen musste. Vanja lächelte. Vibeke war lange Zeit nicht besonders fröhlich gewesen, jetzt strahlte sie richtig vor Freude über ihre bloße Existenz. Darüber, den furchtbaren Fahrradunfall im Sommer überlebt zu haben und dem Krankenhaus wie auch ihrer engen Wohnung entflohen zu sein, endlich befreit von allem, was den Namen Hilfsmittel für Behinderte verdiente.

Die Freundin hatte während der vergangenen Tage auch als Künstlerin ein völlig neues Selbstvertrauen bekommen. Offenbar hatte sie endlich Anerkennung erhalten, die Kursteilnehmer respektierten sie als Lehrerin und Mentorin zutiefst. Vor dem Kurs hatte Vibeke Vanja Aufnahmen von ein paar ziemlich erstaunlichen Bildern geschickt. Unglaublich, wie viel künstlerische Vitalität trotz der vielen Jahre Schaffenspause noch in ihr steckte.

Und dann war da ihr Schreiben. Nach ihrem Besuch in Kopenhagen hatte Josefin Vanja überraschend einen Ordner überreicht, der sich als Vibekes Tagebuchaufzeichnungen aus den Siebzigern erwiesen hatte. Vibeke hatte ihre Erlaubnis gegeben und Josefin hatte gewollt, dass Vanja alles durchlas. Mit großem Unbehagen hatte sie sich durch die engbeschriebenen Blätter gezwungen. Aber sie war auch erstaunt über den im Text steckenden Detailreichtum und das Formulierungsvermögen. Es knisterte schier. Vibeke war in jungen Jahren ein ausgemachtes Schreibtalent gewesen, und war es vielleicht noch immer. Aber davon sollte niemand wissen. Sie wollte unter absolut keinen Umständen, dass ihr Werk an einen Verlag geschickt wurde. In ihren Augen war das Ganze nichts wert.

Als Vanja aus dem VW-Bus stieg, kam Josefin mit großen Schritten auf sie zu. Sie wirkte verärgert.

»Oma, du musst die Musik nicht brüllend laut aufdrehen, wenn du auf unserem Weg fährst. Denk an die Nachbarn.«

»Du meinst, die Kühe des Nachbarn? Die sahen aus, als würden sie meinen Geschmack schätzen. Ich glaub, ich habe sie sogar ein paar Tanzschritte machen sehen. Aber vielleicht war das auch Einbildung.«

»Die Leute in den Höfen hier rundherum wollen es ruhig und friedlich. Wir müssen hier nicht ständig Trara machen, nur weil wir einen Kunstkurs abhalten.«

»Schätzchen, ist doch nichts passiert.«

Vanja legte Josefin den Arm um die Schultern. Nichtsdestotrotz war es nett, dass sie darauf erpicht war, die Nachbarn nicht zu stören. Mitten im Grünen.

Vanja sah sich um. Zwischen den Gebäuden des Vierseithofs war es windstill. Hier fühlte man sich immer wie in einer Umarmung. Irgendwas hatte das Traditionsreiche und Ursprüngliche. Einstmals war Vallmogården ein Kleinbauernhof gewesen, später hatte hier ein älteres Ehepaar gelebt, das es nicht wirklich geschafft hatte, Gebäude und Grund so in Schuss zu halten, dass nicht alles mehr oder minder verfiel. Dann hatten Josefin und Harald übernommen und das Ganze etwas auf Vordermann gebracht. Aber es war noch viel zu tun.

»Hab ich dir schon gesagt, wie perfekt die Scheune diese Woche funktioniert hat?«, sagte Vanja. »Harald und du, ihr müsst Tag und Nacht gerackert haben, um sie herzurichten.«

Josefin nickte, ihre Miene hatte sich aufgehellt.

»Ja, mehr oder weniger. Das Streichen war nicht so schwer, das ging ziemlich fix. Am meisten Arbeit hatten wir damit, den ganzen Krempel aus dem Teil der Scheune abzutransportieren.«

»Was habt ihr mit dem Kram gemacht?«

Josefin deutete Richtung der Felder, die sich zwischen den Gebäuden erstreckten. In der Ferne sah man den Nachbarhof.

»Svante und Kristin haben uns ein paar der alten Landmaschinen abgenommen. Svante möchte versuchen, sie zu reparieren. Vor allem aber war es, um uns zu helfen.«

»Das ist nett.«

»Dann war da eine Menge Müll, vor allem Sperrmüll. Wir haben viele Touren nach Måsalycke gemacht.«

»Der Vintageladen da drüben wird schön.«

Vanja nickte in Richtung der Kurzseite der Scheune, wo auf provisorischen Tischen Kleidung lag. Auch an klapprigen Kleiderstangen hingen Sachen.

Josefin wurde ganz lebhaft.

»Und wie. Da drüben wollen wir an der ganzen Wand Holzstangen anbringen und auf der anderen Seite Regale. Das haben wir morgen vor. Wenn wir es schaffen.«

Die junge Frau brannte dafür, ihre alte Scheune schön zu machen, obwohl es mitten in der Erntezeit war. Darin erkannte sich Vanja wieder. Wenn man jung war, packte man quasi alles.

»Ihr seid fantastisch«, sagte sie. »Ich bin wirklich stolz auf euch.«

Das Mädchen schlenkerte wie eine Fünfjährige wild mit den Armen.

»Danke für die ganzen Kleider, Oma. Dass wir die bekommen haben, bedeutet uns wahnsinnig viel.«

»Papperlapapp, ich ziehe davon sowieso nichts mehr an. Seit Jahren schon nicht. Das war also kein Opfer. Im Gegenteil! Gut, dass ich sie loswerden konnte und im Abstellraum etwas mehr Platz bekommen habe.«

Josefin und Grethe gingen weg. Die beiden hatten miteinander eine schöne Woche verbracht, Vanja war froh, das Vibeke ihre Tochter mitgebracht hatte. Mit ihrem Hintergrund als Yogalehrerein in Kopenhagen hatte sich Grethe zudem im Kurs nützlich machen können. Die meisten in der Gruppe hatten nach Kursende gegen fünf Uhr an der nachmittäglichen Yogastunde teilgenommen.

»Kommst du, Vanja?«

Vibeke winkte sie heran. Sie gingen durch die weit geöffneten Holztore. Der Boden der Scheune bestand aus alten, wunderschön handgefertigten Ziegeln. Vanja inspizierte die frisch gestrichenen Wände. Harald und Josefin hatten wirklich saubere Arbeit geleistet, nachdem sie die Scheune von all dem Müll befreit hatten. Alle großen Risse und Fugen waren sorgfältig zugespachtelt worden und nun waren die Wände kalkweiß. Das zum First oben offene Dach sollte vorerst so bleiben. Die Holzbalken hatten einen eigenen Charme, und etwas Patina brauchte es fürs richtige Gefühl. Zumindest konnte man sich das in Ermanglung von Zeit und Geld einreden.

Zwischen den Holzbrettern am Giebel fiel das Sonnenlicht durch und schaffte eine für kreatives Schaffen gemachte Stimmung. Durch die Sprossenfenster aus mundgeblasenem Glas flutete das Licht, und es haute Vanja fast um, wie viel Raum und Atmosphäre dieser Ort hatte. Hier konnte man wirklich alles Mögliche veranstalten.

Sie ließ den Blick über die Wand der Kurzseite schweifen, wo die Kleiderstangen angebracht werden sollten. Man konnte sich gut vorstellen, wie der kleine Vintageladen aussehen würde, wenn alles fertig war. Hübsch aufgehängt würde ihre alte Kleidung, die Jacken, Hosen und Röcke, wahrscheinlich ziemlich attraktiv wirken.

In der Mitte des Raums gab es einen rechteckigen Tisch mit zehn Stühlen rundherum. An einer Wand standen einige von Peter gebraucht gekaufte Staffeleien. In einem Regal lag das Material, das Vanja für das Malen in Aquarell, Tusche und Acryl angeschafft hatte. Sie hatte Bleistifte, Kohlekreiden, Aquarellfarben, Pinsel, Zeichenblöcke und jede Menge anderer Sachen im Netz bestellt. Die Gruppe war schon dabei, sich ihr Arbeitsmaterial zusammenzusuchen und ihre Plätze rund um den großen Tisch einzunehmen.

Vibeke stellte sich vor sie.

»Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen! Dann ist heute auch schon unser letzter Kurstag. Vanja und ich dachten, wir widmen uns vor allem der Tuschezeichnung, aber auch Kohle und Grafit. Wer Aquarell malen will, darf das aber natürlich auch.«

Die Teilnehmer wirkten erwartungsvoll. Vanja hörte, wie Vibeke sich anstrengte, Schwedisch zu sprechen, was bisher unerwartet gut gelungen war. Aus ihrem Mund kam schlicht ein Skandinavisch, das für alle leicht zu verstehen war.

Dass Vibeke und sie hier nun wirklich gemeinsam standen! Schon in den Siebzigern hatten sie das Künstlerinnenduo V&V gegründet, ein Projekt, das aber nie besonders weit gediehen war. Nun durften sie stattdessen anderen ihr Wissen und ihre Erfahrungen vermitteln.

»Wir arbeiten heute mit kleinen wie auch großen Formaten«, sagte Vanja. »Der Schwerpunkt liegt auf dem Sehen und dem Ausdrucksmittel der Zeichnung.«

Sie hielt einen Skizzenblock hoch.

»Linie, Fläche, Raum, Richtung und Bewegung. Ihr werdet verstehen, was ich meine, wenn ihr losgelegt habt.«

Vibeke ergriff wieder das Wort.

»Am Nachmittag gehen wir dann raus und arbeiten experimentell mit Aquarell und machen verschiedene Zeichenübungen. Wir wollen darüber sprechen, wie wir Charakter und besondere Qualitäten verschiedener Pigmente herausarbeiten, und schauen, wie ihr alle eure Bilder weiterentwickeln könnt, indem wir nach eurem eigenen Ausdruck und eurer euch innewohnenden eigenen Kreativität suchen.«

Der Vormittag verflog. Vanja und Vibeke gaben den Teilnehmern persönliche Anleitung und erklärten zugleich Möglichkeiten des Zeichnens. Sie gingen herum und studierten die Werke der Teilnehmerinnen, gaben Tipps und Feedback, hörten zu und betrachteten das, was entstand. Die meisten arbeiteten an Stillleben und Figuren, manche experimentierten frei mit abstrakten Motiven.

Etwas entfernt hatte Vibeke dünne Leinen durch den Raum gespannt und eine Plastikbüchse mit Metallklammern dazugestellt. Daran hingen Aquarelle zum Trocknen.

Vanja war erstaunt, wie interessant es war, alle Ergebnisse zu sehen. Einige Kursteilnehmer waren Anfänger, andere hatten etwas Erfahrung, aber für alle war die Zeit eine echte Entdeckungsreise gewesen. In Formen, Pinselführung und der unterschiedlichen Leuchtkraft der Farben.

Sally und Peter hatten heute ein besonders tolles Mittagessen zubereitet. Der Tisch in der Küche war mit großen Servierplatten gedeckt. Das Hauptgericht waren kleine, schmackhafte Pizzastücke mit Kürbiscreme und Pecorino. Dazu gab es gegrillten Spitzkohl mit gerösteten Haselnüssen und selbstgemachter Mayonnaise, einen grünen Salat und frische Wachsbohnen mit einem Dressing aus Öl, Zitronensaft, Dijonsenf und Basilikum.

Die Gruppe aß gemeinsam an dem großen Tisch mit Vanja an der einen und Vibeke an der anderen Stirnseite. Alle schienen sich wohlzufühlen und mit sich nach ihren Anstrengungen ganz zufrieden.

Vanja plingte an ihr Glas und stand auf, um eine kurze Abschiedsrede zu halten.

»Vielen herzlichen Dank an Sally und Peter für ihr fantastisches Essen die ganze Woche. Wir haben es wirklich genossen.«

Sie machte eine Pause und sah von einem zum anderen. Sie mochte jeden und jede in der Gruppe. Es waren sympathische Menschen und in dieser vergangenen Woche hatte niemand jemand anderen niedergemacht oder auf Kosten der anderen zu viel Raum eingenommen.

»Für Vibeke und mich war es unsagbar schön und bereichernd, euch alle kennenzulernen und an euren Werken teilzuhaben. Ihr wart mutig und habt euch getraut, Tusche, Acryl, Kohle und Grafit auszuprobieren, und dann auch Aquarellmalerei. Eine der schwersten Techniken. Ich finde, ihr seid große Talente, jeder und jede von euch, und ich hoffe, ihr werdet eure Kreativität weiter erforschen.«

Als sie fertig gesprochen hatte, erhielt sie etwas Beifall, und dann ging das gemütliche Geplauder weiter. Vanja setzte sich wieder und aß. Der Kurs besprach den nachmittäglichen Ausflug, zu dem sie bald aufbrechen wollten. Vanja hatte Vibeke überzeugt, wie schon am Anfang der Woche zum Meer hinunterzugehen.

»Was für ein Erlebnis, sich ausgerechnet bei Haväng die Landschaftsmalerei anzueignen«, sagte eine der Schwedinnen. »Ich kann nur sagen, da ist ein Traum in Erfüllung gegangen, das wiederhole ich gerne noch einmal.«

Die Frau erhielt allseits Zustimmung und das Gespräch plätscherte weiter. Vanja lauschte dem heiteren Plappern der Teilnehmer um den Tisch. Das war eine Stunde der Gemeinschaft, und es fühlte sich schön an, dass sie den ganzen langen Nachmittag vor sich hatten.

Der Kurs hatte auf sie eindeutig einen belebenden Effekt gehabt. Das Leben konnte im Augenblick nicht besser sein. Als über Siebzigjährige war sie mit verschiedenen kreativen Projekten beschäftigt und bei guter Gesundheit. Und bald war die Vernissage. Die Ausstellung würde großartig werden, redete sie sich ein, mit dem großen, neuen Werk im Zentrum. Wer der Käufer war, hatte tatsächlich keinerlei Bedeutung.

Vanja sah aus dem Fenster, über die goldgefärbten Baumkronen, umringt von sonnenbeschienenen Feldern und Wiesen. Nichts ging über den frühen Herbst in Österlen.

Dann wurde ihr mit einem Mal eiskalt.

In nur wenigen Tagen war der dritte Oktober. Das Datum, an dem sie vor achtundvierzig Jahren Georg und Sally verlassen hatte. Um auf einen fernen Kontinent auf der anderen Seite der Welt zu verschwinden, zusammen mit einer Gruppe, in der sie niemanden kannte, außer Trine. Oh, Trine! Die Sehnsucht war noch immer unermesslich.

Der Abreisetag. Ihn rumzubringen war immer gleich quälend und machte Angst. Jetzt würde sie es zum ersten Mal hier tun, am selben geografischen Ort, an dem auch ihre Tochter war.

Josefin

Josefin tunkte den Pinsel in die Dose mit weißer Farbe und fuhr den letzten Buchstaben in dem Wort nach, das sie gerade geschrieben hatte: QUALITÄTSKLEIDUNG. Das war ein Zusatz unter dem, was bereits darüber in etwas größerer Schrift gestanden hatte: VINTAGELADEN – HERZLICH WILLKOMMEN! Jetzt war das große, pfeilförmige Schild ein bisschen informativer als zuvor. An derselben Stelle gab es von früher schon ein kleineres Holzschild, auf dem in ausgeblichenen Buchstaben stand: GEMÜSE & EIER.

Das neue Ladenschild hatten Harald und sie früh am Morgen an der Landstraße platziert, nachdem sie die Kleidung auf die Stangen im Laden gehängt hatten. Seit die Kursteilnehmer weg waren, hatten sie bis gestern am späten Abend den Laden mit Grethes Unterstützung hergerichtet. Nun war alles fertig. Zugegeben, heimlich hatten sie bereits früher eröffnet, zum Ende der Sommersaison, aber nun sah der Laden so aus, wie Josefin ihn haben wollte. Hoffentlich lockte das Schild vorbeifahrende Leute an. Mehr als die paar, die bisher Gemüse und Eier hatten kaufen wollen, dieser Verkauf hatte sich eher bescheiden gestaltet.

Sie sah die Landstraße entlang. Nicht viel Verkehr, vielleicht noch nicht. Ein paar Autos waren vorbeigefahren, aber bisher hatte noch niemand Interesse gezeigt. Nicht ein einziger Kunde war auf ihre kleine Schotterstraße abgebogen, um herauszufinden, was für Kleidung es auf dem Hof geben könnte.

Vor ihr lag die Ebene, herbstlich mit verwelktem Gras und struppigen, schwarzen Blumenstielen. Die Landstraße war beinahe verlassen, nur wenige Autos fuhren und keines verringerte auch nur die Geschwindigkeit. Aber so würde das doch nicht bleiben? Oder war das vielleicht ganz normal? Es galt, Geduld zu haben.

Josefin drückte den Blechdeckel auf die Farbdose und ging zurück Richtung Hof. Sie hoffte, dass der Zusatz Qualitätskleidung zumindest irgendwen anlockte.

Als sie mit der Planung ihres Vintageladens begonnen und Harald von der Idee überzeugt hatte, waren sie beide aufgeregt und erfüllt vom Vertrauen in die Zukunft gewesen. Sie hatten gedacht, die Dorfbewohner und Nachbarn rundherum würden, sobald sie von dem Laden hörten, direkt darauf reagieren. Würden aus purer Neugier einen Abstecher nach Vallmogården machen, um sich das anzuschauen und vielleicht ein paar aufmunternde Worte zu sagen. Was aber, wenn der neueröffnete Laden nicht anlief?

Sie wollten die alten Sachen ihrer Großmutter verkaufen und dann gab es noch die Sachen vom Vorbesitzer, die Harald und sie in einem Schrank auf dem Dachboden verstaut hatten. Ein Riesenberg alter, ungetragener Kleidung. Vieles davon war von schwedischen Fabrikaten, aber es gab auch ein paar in England gefertigte Jacken und fünf echte Arbeitshosen aus dickem Stoff, die aus Frankreich stammten. Außerdem einen Haufen gut geschnittener Hemden und einige Schuhe und Schnürstiefel. Bei ihrem Sommerjob im Kleiderladen Broken Twill hatte Josefin sich ein Bewusstsein für Qualität angeeignet und erkannte nun ein gutes Produkt. Sie musste nur eine Auswahl treffen, die Goldschätze hervorziehen und sie ordentlich in der Scheune aufhängen.

In dieser Gegend lebten eine Menge Künstlertypen und moderne Stadtflüchtige, überall gab es kulturelle Aktivitäten und Kleinbetriebe. Josefin hatte sich bereits bei verschiedenen lokalen Facebook-Gruppen angemeldet und alle in den Vintageladen, der heute offiziell eröffnete, eingeladen. Aber bisher hatte niemand ihren Beitrag kommentiert.

Was konnten weitere Maßnahmen sein? Vielleicht sollten Harald und sie sich mehr als bisher im Ort zeigen. Sich in Situationen begeben, wo sich alltägliche Gespräche ergeben konnten. Alle darauf aufmerksam machen, dass es ganz in der Nähe einen Hof gab, wo man ab heute Vintagekleidung kaufen und ein richtig geselliges, nettes Paar kennenlernen konnte.

Josefin blickte wieder über die graumelierten Äcker. Die Apfelplantagen in der Ferne brachen unter den Früchten beinahe zusammen. Hier auf dem Land war die Stille regelrecht greifbar, mitunter blieb Josefin heute noch stehen, um ihr zu lauschen.

Beinahe bereute sie ihre Zustimmung zu dem Vorschlag ihrer Großmutter, im Herbst hier einen Malkurs abzuhalten. Als ihre Großmutter im Sommer ihr Bild verkaufen konnte und dadurch genug Geld für das Mieten der Scheune bekommen hatte, hatte alles so einfach und nett geklungen. Josefin hatte sich über all diese Pläne gefreut und Vallmogården gern zu einem lebhaften Treffpunkt für kreative Menschen machen wollen.

Viel weiter hatte sie damals nicht gedacht. Aber jetzt, da der Herbst da war und der Kurs zu Ende, war sie irgendwie nervös. Die Bauern und Apfelbauern rundherum hatten sowieso schon genug Grund zum Tratschen über Josefin und Harald, dieses junge Großstadtpärchen, das ökologisch und unabhängig leben wollte. Einige fanden sie vermutlich naiv und töricht und die wenigsten wussten, dass Harald als Kind viel Zeit auf dem Hof seiner Großeltern in der Nähe von Östra Hoby verbracht hatte oder dass Josefins Großmutter eine erfahrene Landwirtin war. Auch nicht, dass sie beide Kurse in Bodenkunde und Tierhaltung belegt hatten. In den Augen vieler Nachbarn waren Josefin und Harald bestimmt zwei ahnungslose, junge Menschen, die um ihren runtergekommenen Hof kämpften. Aber würde jemand nur fragen, könnte Josefin erzählen, dass sie nachhaltig, einfach und frei leben wollten. Das war es auch schon. Allerdings schienen die meisten Bewohner der Gegend keine Lust auf Kontakt oder Begegnung zu haben. Weder in Facebookgruppen noch sonst wo.

Mit Ausnahme der Björks. Svante und Kristin, das über sechzigjährige Paar mit dem größten und schönsten Hof der Gegend, waren von Anfang an herzlich gewesen. An Haralds und Josefins erstem Abend auf Vallmogården waren die Björks mit einer Pilzlasagne, Salat und Rotwein auf der Türschwelle aufgetaucht. Sie waren immer hilfsbereit gewesen, fast so sehr, dass es anstrengend werden konnte. Josefin schämte sich für diesen Gedanken, waren das doch trotz allem ihre einzigen Freunde hier. Oder vielleicht nicht direkt Freunde. Eher ältere und erfahrenere Mentoren.

Sie schlenderte die Schotterstraße zurück. Drüben beim Steinwall schob Harald noch immer Steine vor und zurück. Jetzt fehlte nicht mehr viel, bald war die niedrige Mauer fertig, bei deren Planung und Konstruktion Vanja geholfen hatte. Hatte er erst ein Projekt angefangen, konnte er nur schwer wieder damit aufhören, insbesondere dann nicht, wenn es dabei um etwas ging, das ihr Leben auf Vallmogården verbessern konnte. Jetzt wälzte er einen Stein herab und wuchtete ihn auf den richtigen Platz auf der Mauer. Dann fuhr er sich durch die rotblonden Haare. Allmählich wurden sie lang, fast reichten sie bis auf die Schultern.

Seit ihrem Aufenthalt in Malmö und Kopenhagen im Sommer war Harald eindeutig bedachter auf sein Aussehen. Das gefiel ihr. In diesen etwas locker sitzenden Hosen mit Hosenträgern sah er hübsch aus. Wie ein unglaublich modebewusster Bauer, beziehungsweise Großstadthipster. Das zu hören würde ihm gar nicht gefallen. Bei dem Gedanken lächelte sie vor sich hin.

Grethe trat mit ihrem Gepäck aus dem Wohnhaus. Sie und Vibeke fuhren heute nach Kopenhagen zurück. Josefin musterte Grethe diskret. Auch ihre dänische Freundin hatte im Sommer zu einem neuen Kleidungsstil gefunden. Statt der ewigen elastischen Yogakleidung trug sie nun eine dunkelblaue Jeans und ein kariertes Hemd. Der Job im Broken Twill hatte deutliche Spuren hinterlassen, auch äußerlich. Grethes Strubbelhaare steckten in einem ordentlichen Pferdeschwanz, und sie wirkte ungezwungener und sorgloser als früher. Was nun nicht wirklich sonderbar war, bedenkt man, dass ihre Mutter beinahe den gesamten Sommer über im Krankenhaus gelegen hatte und zweitweise nicht klar gewesen war, ob sie auch ganz wiederhergestellt werden würde. Was sie nun war.

Vibeke war in den Tagen hier wie beflügelt gewesen, sowohl vom Kurs her wie auch davon, wieder laufen zu können und den Rollstuhl los zu sein. Sie brauchte nicht einmal mehr Krücken. Die Ärzte hatten gesagt, ihr Körper sei exakt so geheilt, wie er sollte.

»Danke, dass ich deinen Hof kennenlernen durfte«, sagte Grethe. »Und die Hühner und Schafe. Und Harald.«

»In dieser Reihenfolge.«

Sie lachten los. Ihre Freundschaft hatte über die Distanz gehalten, war sogar tiefer geworden. Während der vergangenen Woche hatten sie einander über alles, was seit dem Sommer geschehen war, auf Stand gebracht. Grethe war glücklich mit dem Job im Laden. Es gefiel ihr und ihre Chefin Lou fand sie tüchtig.

»Grüß sie«, sagte Josefin.

»Mach ich. Ach, es ist so toll da. Ich möchte wirklich nicht weg.«

Grethe wirkte etwas beschämt.

»Heutzutage höre ich nicht alles einfach wieder auf. Dass ich mich früher so benommen habe, war Noahs Schuld. Er hat mich glauben lassen, dass ich nichts kann.«

Josefin nickte zustimmend. Grethe hatte erzählte, dass sie mit ihrem Ex keinen Kontakt mehr hatte. Das war beruhigend, denn es war ihr schwergefallen, die Beziehung mit ihm endgültig zu beenden.

Grethe lächelte schief.

»Rein ökonomisch gesehen war es sehr gut, mit ihm Schluss zu machen. Ich fasse es nicht, dass ich für alles aufgekommen bin, während wir zusammen waren. Plötzlich bin ich steinreich! Fast schon Multimillionärin!«

Sie lachten wieder los. Grethe verzog das Gesicht.

»Okay, vielleicht nicht steinreich. Aber ich komme super aus. Und heute früh hat eine Freundin angerufen, dass sie eine Wohnung zur Untermiete für mich gefunden hat. Für ein ganzes Jahr. Ohne Wuchermiete! Und sie liegt nur zwanzig Minuten vom Bahnhof weg, also kann ich gut pendeln.«

»Gratuliere! Ich habe gehofft, dass du was Eigenes findest, aber nicht gedacht, dass es so schnell geht.«

»Du hast ja keine Ahnung, wie viel Energie ich habe, seit mit Noah Schluss ist. Ich packe quasi alles.«

Josefin verstand sie genau. Grethe hatte erzählt, dass sie am Wochenende Yogaklassen unterrichtete und einen Abend pro Woche in einem Heim für obdachlose Frauen mithalf.

Dann hievte Grethe ihre Taschen in den Kofferraum und öffnete die Fahrertür ihres Wagens. Sie sollte ihre Mutter bei Vanja in Svinaberga holen, wo Vibeke die ganze Woche gewohnt hatte, und dann nach Kopenhagen fahren.

Grethe und Josefin umarmten einander und versprachen, sich bald wieder beieinander zu melden. Als das Auto vom Hof gerollt war, ging Josefin in die Küche und setzte sich an ihren Laptop. Sie schaute durch ihre Facebook-Gruppen, vor allem die für Kiviker. Niemand hatte auf ihren freudigen Beitrag über den neue Vintageladen mit Qualitätskleidung auf Vallmogården reagiert. Keine Antwort, kein Kommentar. Als wäre sie unsichtbar.

Sie scrollte nach unten. Ansonsten waren die Einwohner sehr aktiv und gesellig unterwegs. Es wurden Nähkurse, Fahrradklubs, Yogagruppen und Spaziergänge angeboten. Der Saunaklub schien sehr gefragt. Außerdem gab es ein Sponsorenessen für den Fußballverein, Mitwirkung am hundert Jahre alten Kino, Konzerte und Treffen des Ortsvereins. Jemand veranstaltete bald bei sich auf dem Grundstück einen privaten Herbstflohmarkt, für den mehrere ihr Interesse bekundet hatten, andere hatten einen Gospelchor gegründet und eine Menge Lob für den letzten Auftritt bekommen.

Fast alles deutete darauf hin, dass Josefin und Harald bisher nicht Teil der Ortsgemeinschaft geworden waren. Vielleicht konnte ihre Mutter gute Ratschläge geben. Sie war ja bei einem Lesekreis und hatte in nur einem halben Jahr eine Menge Leute in Kivik kennengelernt.

Josefin hob den Blick und schaute aus dem Küchenfenster. Durch das diesige Glas des Gewächshauses sah sie die Scheune. Vielleicht war es reines Wunschdenken, hier einen Kleiderladen betreiben zu können, eine dumme, unrealistische Fantasie.

Wie verhielt man sich, wenn man in einem kleinen Ort auf dem Land zum Außenseiter geworden war? Wenn man akzeptiert werden und dazugehören wollte. Um wie die Verrückten zu saunieren oder rundherum auf private Flohmärkte zu fahren, dafür fehlte die Zeit. Aber Singen mochte sie. Vielleicht sollte sie versuchen, in einen Chor zu kommen? Auch wenn sie lieber zuhause sang, mit Peter am Klavier.

Ein großer Pick-up holperte die Schotterstraße lang. Er war verdreckt und verbeult und gehörte den Björks, die zwar ziemlich wohlhabend waren, aber trotzdem mit matschverschmierten, eher schrottreif wirkenden Fahrzeugen rumfuhren. Josefin rappelte sich auf, schlüpfte in die Holzpantoffeln und ging auf den Hofplatz, um die Nachbarn zu begrüßen.

Der Pick-up hielt an. Kristin stieg auf der Fahrerseite aus und Svante öffnete auf der Beifahrerseite die Tür. Beide hatten grüne Arbeitshosen mit Werkzeugtaschen an, Kristin trug einen zerzupften Fleecepullover und Svante ein Flanellhemd in braunbeigen Farbtönen. Beide waren sehnig und kräftig, und wie wenige Jahre ihnen nur noch zum Rentenalter fehlten, war kaum zu glauben. Dass sie dann aber zu arbeiten aufhören würden, stand nicht zur Debatte.

»Hallöchen«, sagte Kristin.

Sie hob ihre Hand in Richtung Josefin. Hier draußen auf dem Land waren Umarmungen zur Begrüßung unüblich. Anders als in der Großstadt.

»Hallo«, sagte Josefin.

Svante zeigte mit einem Kopfnicken in die Ferne.

»Der Steinwall ist bald fertig, sehe ich. Schöne Arbeit.«

»Ja, Harald und Peter haben hart geackert.«

Svante ging hin, um sich den Wall im Detail anzuschauen. Harald sah ihn, legte den Stein, den er gerade schleppte, ab und schüttelte ihm die Hand. Dann schritten die beiden gemeinsam die Mauer entlang. Josefin konnte sehen, wie sie das Bauwerk begutachteten und die Arbeiten kommentierten.

»Bitte.«

Kristin hatte eine Tüte Zimtschnecken aus dem Auto geholt und streckte sie ihr hin.

»Wollte nur was frisch aus dem Ofen rüberbringen, da ihr quasi auf unserem Weg liegt.«

Josefin nahm die Tüte entgegen, ein herrlicher Duft stieg daraus auf.

»Danke! Wollt ihr auf eine Tasse Kaffee reinkommen?«

Auch wenn sie gerade nicht besonders auf einen Kaffee oder Geselligkeit mit den Björks scharf war, musste die Frage doch unbedingt gestellt werden. Sie wollte ja neue Menschen kennenlernen und gerne auch welche, die jünger als sechzig waren.

Kristin schüttelte den Kopf.

»Nein, das schaffen wir nicht. Wir sind unterwegs zu den Johanssons, um ihnen bei der Apfelernte zur Hand zu gehen.«

Sie nickte in Richtung Hammenhög im Westen. Gleich außerhalb des kleinen Örtchens hatte die Familie Johansson ihre Apfelplantage. Josefin wusste zwar, wer sie waren, kannte sie aber kaum. Sie hatte das Paar mittleren Alters und seine zwei Teenagerkinder nur einmal schnell im Vorbeigehen gegrüßt, als sie in einem Gartenlokal in Simrishamn saßen. Svante kam zurück und setzte sich nun ans Steuer. Kristin ging ebenfalls zum Auto, drehte sich dabei nochmal um und lächelte Josefin an.

»Schön, dass ihr euch entschieden habt, den Hof zu behalten, und keine anderen Pläne macht.«