Zwischen Himmel und Meer - Anna Fredriksson - E-Book
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Zwischen Himmel und Meer E-Book

Anna Fredriksson

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Beschreibung

Sally lebt mit Anfang fünfzig allein in Stockholm. Sie hat nie erfahren, warum ihre Mutter sie als Kind verlassen hat, und auch heute kämpft sie noch mit dieser Erfahrung – und auch damit, zu ihrer eigenen Tochter Josefin nur sporadisch Kontakt zu haben.

Als Sally das Haus ihres Onkels in ihrem Heimatdorf erbt, scheint dies die perfekte Gelegenheit, einen Neuanfang zu wagen – denn Josefin lebt mittlerweile wieder in Österlen und betreibt einen Biohof. Doch Sally ahnt nicht, dass auch ihre eigene Mutter Vanja wieder dort lebt – und zu Josefin eine enge Bindung aufgebaut hat.

Da sitzt Sally nun, in einem baufälligen Haus, in einem Dorf, das sie kaum wiedererkennt, mit einer Tochter, die nichts mit ihr zu tun haben will, und einer Mutter, der sie am liebsten aus dem Weg gehen würde … Sally entschließt sich, neu anzufangen: Aus dem alten Haus soll ein wunderschönes Bed&Breakfast werden, und für Josefin will sie endlich die Mutter zu werden, die sie immer sein wollte.

Frühling, Sommer und Herbst im Bed&Breakfast von Sally in Skåne: Drei Frauen, drei Generationen und drei Geschichten darüber, was es bedeutet, Mutter und Tochter zu sein.

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Seitenzahl: 462

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Sammlungen



Titel

Anna Fredriksson

Zwischen Himmel und Meer

Die Jahreszeiten-Saga: Frühling

Aus dem Schwedischen von Elke Ranzinger

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Mellan himmel och hav bei Bokförlaget Forum, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4902.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4902© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2022© 2018 Anna FredrikssonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: living4media, München: Haus (Cecilia Möller); iStock by Getty Images, München: Blütenzweig (Gerhard Pettersson); FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77340-5

www.suhrkamp.de

Zwischen Himmel und Meer

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Josefin

Sally

Vanja

Sally

Informationen zum Buch

Sally

Ihr Rücken tat weh und dabei hatte der Tag gerade erst begonnen. Sally stützte sich auf die Theke und massierte die schmerzhafte Stelle oberhalb des Steißbeins. In der vergangenen Woche hatte sie jeden Tag kurzfristig einspringen und von frühmorgens bis Kneipenschluss arbeiten müssen. Was besser war, als gar keine Schichten zu bekommen.

Die Bauarbeiter und Handwerker waren eingetrudelt und warteten auf ihre Bestellungen. So gut wie alle waren Stammgäste, saßen auf festen Plätzen, hatten Lieblingsgerichte und kannten Sallys Namen. Sie unterhielten sich lautstark zu dritt oder zu viert und nur ein paar saßen auch allein und starrten in die Zeitung oder auf die Startlisten der Trabrennen.

Sally richtete sich wieder auf und lächelte einem Gast zu, der an ihr vorbei zur Toilette ging. Ihr eigenes Lokal würde eine ganz andere Atmosphäre haben. Ruhig, gemütlich und rundherum angenehm entspannt. Sie konnte ihr einladendes Restaurant direkt vor sich sehen. Ließ die Fantasie schweifen, erspann ein ganzes Hotel mit Zimmern, in denen es an nichts fehlte. Sie sah vor ihrem inneren Auge jedes Detail der kleinen Lobby. Malte es sich mehr und mehr aus, wie schon so oft, schon ihr halbes Leben lang.

Der Gast kam von der Toilette zurück, und Sally schenkte ihm erneut ein höfliches Lächeln. Er setzte sich an einen Tisch in der Ecke, in der normalerweise einer der Stammgäste saß. Aber der Ecktisch war leer. Oh nein. Sie hatte ihn völlig vergessen.

Die Leuchtstoffröhre an der Betondecke des Kellers flimmerte, die Luft war muffig. Sally kniete sich auf die Matratze und berührte den Mann am Oberarm. Er schlief tief und reagierte nicht.

»Zeit zum Aufwachen.«

Sie rüttelte ihn sanft. Seine Augen waren geschlossen, öffneten sich aber ruckartig und wurden weit wie graugrüne Untertassen. Starrten angsterschrocken, bis er sie erkannte und sich beruhigte. Sally streckte ihm den runden Pappbecher mit Deckel hin.

»Hier. Ich habe dir ein bisschen heiße Suppe mitgebracht, falls du möchtest. Und dann raus mit dir, bevor dich mein Chef entdeckt.«

Der Mann atmete schwer und rappelte sich langsam hoch. Er wirkte noch immer betrunken. Stank nach kaltem Rauch und Alkohol. Sie fasste ihn unter der Achsel und half ihm hoch.

»Beeil dich, ich muss arbeiten.«

Er stolperte über die Ecke der Matratze und fand mit ihrer Hilfe das Gleichgewicht wieder. Auf wackligen Beinen drehte er sich zu ihr. Machte ein Gesicht, das die Furchen in seiner Haut noch deutlicher hervortreten ließ.

»Du hast es so gut. Was weißt du schon vom Leben? Bist frisch und jung. Du hast die ganze Zukunft noch vor dir.«

»Danke für das Kompliment, aber ich bin fünfzig. Einundfünfzig, um genau zu sein.«

»Ach? Na, dann bestimmt glücklich verheiratet. Mit Familie, Einfamilienhaus und Ferienhäuschen. Alles perfekt.«

Sie zog ihn Richtung Ausgang.

»Ich wohne allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Also: Nein. Stimmt nicht.«

»Keine Kinder?«

»Eins. 600 Kilometer entfernt.«

Er blieb stehen.

»Wollen wir mal einen Kaffee trinken gehen?«

Sie ließ lachend seinen Arm los und schob ihn vor sich her.

»Das fragst du jedes Mal. Nein, danke. Jetzt los.«

Sally deutete auf die Kellertür.

»Tschüss, bis morgen. Nüchtern und durch den normalen Eingang.«

»Ja, ja.«

»Vergiss deine Suppe nicht.«

Sie drückte ihm den Pappbecher in die Hand und er schlurfte davon, die Treppe hoch.

»Pass auf dich auf«, rief sie ihm nach.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, ging sie rasch zurück und stopfte die Matratze wieder in den Verschlag mit dem Sperrmüll.

Der Gastraum war fast vollständig gefüllt und der Lärmpegel unerträglich wie immer. Zusätzlich zu den lautstark quatschenden Gästen und der sowieso miserablen Akustik musste auf einem Fernsehapparat an der Decke auch noch pausenlos eine Sendung nach der anderen flimmern. Meist lief Sport, oder Realityformate mit schreienden, streitenden Leuten.

Sally balancierte auf jedem Unterarm zwei Teller. Zweimal Hamburger, einmal Köttbullar und einmal Fleischwurst. Sie blickte durch das kleine, fettverschmierte Fenster der Schwingtür in den Gastraum. Die Bauarbeiter und Handwerker waren weg, jetzt waren die Büroleute dran.

Hinter ihr im Bratdunst lärmte die Küchenbelegschaft mit Töpfen und Pfannen, als wäre sie ein Orchester.

»Sally, Telefon für dich.«

Cedric war aus seinem Büro gekommen. Sally zog den Bauch möglichst weit ein und richtete ihre Schürze, auf der vorne ein Fettfleck prangte, sie hatte keine zum Wechseln dabei. Auf Cedrics Anordnung musste sie das Waschen der Arbeitskleidung selbst übernehmen und sie wollte das abends erledigen, falls im Waschkeller eine Maschine frei war.

»Ich bin rangegangen«, sagte er. »War doch okay?«

Sally blieb mit den Tellern in der Hand stehen. Machte er Scherze? Er, der seit seinem ersten Tag ein absolutes Handyverbot während der Arbeitszeit predigte, und zwar selbst wenn keine Gäste da waren.

Aber Cedric lächelte nicht einmal. Machte nur eine schnelle Kopfbewegung in Richtung Flur.

»Deine Tochter. Du kannst im Büro telefonieren.«

Josefin? Ihr Herz fing wild an zu schlagen. Warum rief Josefin an?

Cedric donnerte die Schwingtür auf.

»Aber erst servieren! Mann, echt.«

Er fuhr sich in einer Geste der Hoffnungslosigkeit über die Stirn. Der Küchenchef am Herd lachte auf. Sie eilte in den Gastraum und servierte die Teller.

»Åke ist tot.«

Josefin am anderen Ende klang gefasst. Sally wagte kaum, sich zu bewegen.

»Åke? Was sagst du?«

»Es war das Herz.«

»Was ist passiert?«

»Er ist einfach zusammengebrochen, in Simrishamn.«

Sally riss sich die Schürze ab, band sie dann mit umständlichen Verrenkungen wieder um, während sie sich das Telefon ans Ohr presste. Aus dem Gastraum drang trotz geschlossener Tür Gemurmel und Porzellanklirren. Der Rock spannte an Bauch und Schenkeln, die Bluse klebte an der Taille.

»Wann?«

»Gestern Nachmittag. Mitten auf dem Marktplatz.«

Sally setzte sich langsam hin und stützte den Ellbogen auf Cedrics Schreibtisch. Josefin hustete. Zog etwas Rotz hoch.

»Er wurde direkt ins Krankenhaus eingeliefert, aber es war trotzdem zu spät. Es ging wohl sehr schnell.«

Wie alt war Åke gewesen? Sally rechnete an den Fingern nach. Geboren fünfunddreißig. Einundachtzig also. War er wirklich schon über achtzig gewesen? Ja, das musste stimmen.

Josefin putzte sich die Nase.

Sally ritzte mit dem Zeigefingernagel Kreise in die zerschrammte Tischplatte. Sie hörte zum ersten Mal seit drei Jahren von Josefin. Davor, das gesamte erste Jahr über, hatte sich in erster Linie Sally gemeldet. Ein paarmal im Monat, per Mail oder SMS oder Telefon.

»Ich kann gut verstehen, dass du traurig bist«, sagte sie.

Keine Antwort, nur weiter Weinen. Was konnte sie sonst sagen? Was fürsorglich klang.

»Ist jemand bei dir?«

Wie hieß Josefins Freund gleich wieder? Ihr Kopf war mit einem Mal wie leergefegt.

»Ja, Harald ist hier.«

»Harald, gut. Und die Beerdigung? Wann soll die sein?«

»Weiß ich nicht. Ist noch zu früh, um das zu sagen.«

Natürlich. Sally bereute die Frage, aber sie musste versuchen, das Gespräch noch ein wenig am Laufen zu halten. Wenn sie schon einmal die Chance auf eines hatte.

»Die Kirche in Vitaby würde gut passen. Die ist schön.«

Josefin antwortete nicht. Das Begräbnis war momentan das falsche Thema. Trotzdem musste Sally es ansprechen. Alles andere wäre ebenfalls falsch.

»Ich komme runter. Schließlich war er mein Onkel.«

Noch immer keine Antwort. Sie versuchte es weiter.

»Als Kind habe ich jeden Sommer bei ihm verbracht.«

»Ich weiß.«

Sally schwieg. Josefin wusste, dass sie kein besonders enges Verhältnis zu ihrem Onkel gehabt hatte. Åke war ziemlich schwer zugänglich, niemand, der einen leicht in sein Leben ließ. Niemand wie ihr Vater, der laut, warm und lustig gewesen war.

Nach jenem grauenvollen Morgen hatte sie Kivik verlassen und den Kontakt mit Åke abgebrochen. Josefin hat gewissermaßen Sallys Platz eingenommen und ihn zu ihrem Ersatzgroßvater erkoren.

Sally machte einen weiteren Anlauf.

»Sag, wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann.«

»Klar.«

Kurz und gleichgültig. Es war Zeit aufzulegen.

»Danke für deinen Anruf«, sagte Sally. »Dass du mir Bescheid gegeben hast.«

»Dachte, du solltest es wissen. Tschüss.«

Dann war das Gespräch vorbei. Sally blieb mit dem Handy in der Hand sitzen. Vor drei, vier Jahren, als sie Josefin noch angerufen oder ihr SMS geschickt hatte, waren diese Versuche meist unbeantwortet geblieben. Dann hatte Josefin in einer SMS klargemacht, sie wolle keinen weiteren Kontakt. Für eine Weile hatte sich Sally trotzdem bei ihr gemeldet. Bis es zu schmerzhaft wurde und sie aufgab. Und jetzt war es, wie es war.

Josefin lebte ihr Leben viele Kilometer entfernt. Wie war es wohl für sie, auf diesem Hof? Packte sie die ganze Arbeit, die ein solches Leben sicher erforderte, so wenig Erfahrung, wie sie nach einer Kindheit auf Södermalm in Stockholm und mit dem Vitabergsparken als einzigem Naturerlebnis in dieser Richtung hatte?

Sally strich mit dem Daumen übers Handydisplay. Sie hatte einen Kloß im Hals.

Ihre Tochter war erwachsen geworden. Sie lebte an einem schönen, ruhigen Ort mit einem Mann, den sie liebte, ja, das war auf jeden Fall gut. Sie hatte ihre eigene Welt und einen Lebensstil, der sie glücklich machte und den sich vorzustellen Sally schon im Ansatz scheitern ließ.

Es zählte für Josefin nur noch die Familie ihres Freunds. Die hatte sie offenbar wie eine eigene Tochter aufgenommen. Liebte Josefin und umgekehrt.

Sally stopfte sich das Handy in die Schürzentasche, für den Fall, dass Josefin nochmal anrief. Was nicht sonderlich wahrscheinlich war.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und Cedric guckte herein. Ungeduldig, fragend. Sie schoss förmlich vom Stuhl hoch.

»Es ging um einen Verwandten. Meinen Onkel. Er ist gestorben.«

»Mein Beileid.«

»Danke.«

Er legte ihr unbeholfen die Hand auf die Schulter.

»Du kannst dir den Rest des Tages freinehmen. Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Nein, nicht nötig.«

Sally rückte den Rock auf den Hüften zurecht, stopfte die Bluse in den Bund und band die Schütze noch einmal. Der schwarze Arbeitsrock saß stramm an der Taille, die Bluse spannte an den Schultern und stand zwischen den Knöpfen leicht offen. Eigentlich war die ganze Kluft zu eng, aber Sally kannte Cedrics Antwort auf die Bitte, eine neue anzuschaffen.

»Okay.« Er ging zur Tür. »Arbeite einfach weiter.«

Sein Blick blieb an der Schürze hängen. Ihr fiel der Fettfleck ein und sie legte die Hände darüber. Cedric verschwand mit einem Seufzer.

Sally zupfte die Schürze zurecht, sodass sie besser saß. Hing, während sie den Saum glattstrich, dem Telefongespräch nach. Zweifelsohne würde sie zu dem Begräbnis gehen. Es war die erste Chance seit vier Jahren, Josefin zu sehen.

Josefin

Danke für deinen Anruf. Das war das Letzte, was ihre Mutter am Telefon gesagt hatte. Vier Worte, in höflichem Tonfall.

Josefin stellte Butter und Käse auf die karierte Wachstischdecke. Sie würde zum Begräbnis kommen. Hierher, nach Kivik. Das war zu viel, fast unfassbar. Dann käme das ganze alte Zeug wieder hoch.

Danke für deinen Anruf. Wer sagte so etwas? Zur eigenen Tochter. Daran zeigte sich nur, wie weit sie sich in den letzten Jahren voneinander entfernt hatten. Und selbst wenn Josefin gewollt hätte, sie hätte ihrer Mutter den Wunsch nach einem Treffen nicht erfüllen können.

Das Geheimnis war im Weg.

Anfangs hatte es sich merkwürdig angefühlt, ihrer Mutter nichts zu erzählen, aber mittlerweile war es ganz natürlich. Sie brauchte nichts über Josefins Leben hier zu wissen. Und nachdem das Geheimnis nun seit drei Jahren existierte, wäre es absurd, ganz nebenbei mit einer so großen Sache herauszuplatzen.

Ja, stimmt, ach übrigens, ich habe Kontakt zu meiner Großmutter aufgenommen, deiner Mutter, die verschwunden ist, als du klein warst.

Josefin stellte zwei Teebecher auf den Küchentisch. Nein. Bisher war es nur darum gegangen, sich um sich selbst zu kümmern. Nun aber benötigte sie eine Strategie für den unerwarteten Besuch ihrer Mutter.

Josefin wickelte sich in ihre Strickjacke. Sie war abgetragen und an den Ellbogen fast durchgewetzt, hielt aber in Kombination mit Jogginghose und Schaffellpantoffeln ordentlich warm. Die Küche war am Morgen kalt, und sie hatte sich vor dem Anruf nicht einmal fürs Heizen Zeit genommen. Jetzt stopfte sie ein zerknülltes Stückchen Zeitung und ein paar Holzstücke in den alten Eisenofen, legte ein Streichholz hinein und beobachtete, wie das Feuer aufflammte.

Das Holz, das der vorherige Besitzer des Vallmogården zurückgelassen hatte, war trocken und gut gewesen. Es hatte lange gereicht, war aber letztes Jahr gegen Frühlingsanfang zur Neige gegangen. Seitdem mussten Josefin und Harald Bäume auf der Weide fällen. Das Wohnhaus im Winter warm zu halten brauchte Unmengen an Holz, weit mehr, als sie geahnt hatten.

Josefin schnitt ein paar Brotscheiben ab und legte sie in den Brotkorb. Danke für deinen Anruf. Sie wollte wirklich keinen Dank dafür. Sie hatte nur auf direktem Weg eine Information überbracht. Weil es notwendig war. Sonst nichts.

Der Frühstückstisch war gedeckt, als Letztes zündete Josefin eine Kerze an. Vor dem Fenster erstreckte sich der graubraune Acker des Nachbarn, mittendrauf ein Schwarm schwarzer Krähen. Der diesjährige März war farblos und mild wie üblich hier in Skåne. Josefin öffnete das Fenster einen Spalt, die Luft roch leicht nach Erde und Rauch aus dem Schornstein. Alles war still, abgesehen von ein paar zwitschernden Spatzen im Schneeballstrauch.

Åke.

Josefin riss ein Blatt von der Küchenrolle, hielt es ans Gesicht und ließ die Tränen laufen. Ohne sich zu wehren, versank sie in der Sehnsucht, der Erkenntnis, dass sie ihn nie mehr sehen würde.

Seit sie klein war, hatte sie jeden Sommer bei Åke verbracht. Er hatte mit ihr Karten gespielt, ihr Fahrradfahren beigebracht, immerzu geduldig erklärt, wie die Natur funktionierte, und den Pflanzen, Vögeln, Fischen und Insekten Namen gegeben. Hatte sie aufwachsen sehen. Und war überglücklich gewesen, als sie ihn an jenem Tag vor vier Jahren angerufen hatte, um ihm zu erzählen, sie und Harald hätten einen Hof gekauft und würden dauerhaft nach Kivik ziehen. Im Jahr darauf hatte er sogar ihre Großmutter mit Wärme aufgenommen, diese frühere Schwägerin, die er seit fünfundvierzig Jahren nicht gesehen hatte. Åke war nie nachtragend gewesen, hatte immer Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden gewusst, und am wichtigsten waren für ihn sein Leben lang enge Beziehungen zu den Menschen gewesen, die ihm am Herzen lagen.

Josefin wischte sich die Nase ab. Versuchte, die Situation nüchtern zu betrachten. Menschen starben, wenn sie alt wurden. So war es seit jeher, und so würde es ewig bleiben. Åke war einundachtzig Jahre alt geworden, dafür konnte man dankbar sein. Aber sich daran zu gewöhnen war schwer.

Stampfende Schritte vor der Haustür. Harald kam in die Küche und zog auf dem Fußabstreifer die lehmigen Gummistiefel aus. Die Wollsocken rutschten halb nach unten und er zog sie wieder über die Jeans hoch.

»Wie ist es gelaufen? Das Gespräch.«

»So lala. Ein wenig angestrengt. Aber jetzt ist es geklärt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Mama kannte Åke nicht richtig.«

Noch bevor er aus seinem dicken Überpullover geschlüpft war, ging Harald zu Josefin und umarmte sie. Zog sie mit seinen von der Arbeit gestählten Armen an sich.

»Und du? Wie geht es dir?«

Ohne zu antworten, legte sie die Stirn an seine Achsel. Spürte die Wärme, die Kratzigkeit des Pullovers. Den Geruch von regenfeuchter Schafswolle und Stroh. Er strich ihr über den Hinterkopf.

»Jetzt frühstücken wir. Danach sieht die Welt gleich besser aus.«

Sie schnäuzte sich. Er hatte recht, wie üblich.

»Du bist jetzt erwachsen«, sagte er. »Du kannst selbst entscheiden. Und das hast du getan.«

Sie nickte, das war wahr.

»Mit ihr zu brechen war das Beste, was ich in meinem Leben je gemacht habe. Ich meine, abgesehen davon, mit dir hierherzuziehen, natürlich.«

Harald lachte kurz auf, legte ihr die Hände an die Wangen und küsste sie.

Sie setzten sich an den Tisch. Harald goss ihr Tee in den Becher, ließ einen Löffel Honig hineintropfen. Gab einen Schwapp Milch darauf, exakt in der Menge, die sie mochte. Josefin bestrich eine Scheibe Sauerteigbrot mit Butter. Sie registrierte, dass er sie beobachtete, während er Joghurt in einen tiefen Teller löffelte und Müsli darüberstreute. Seine hausgemachte Eigenmischung, die im Backofen geröstet wurde.

»Was hältst du von der Kirche in Vitaby?«, fragte er. »Die ist sehr schön.«

Sie hielt beim Butterschmieren inne. Als hätte Harald ihre Mutter gehört. Aber es war ja die Wahrheit, die Kirche war wirklich wunderschön. Åke wäre dort sicher gerne begraben, inmitten der hügeligen Landschaft mit Licht, Himmel und Luft rundherum.

Obwohl vielleicht die Kirche in Södra Mellby die einleuchtendere Alternative war. Mit dem Örtchen hatte er mehr zu tun gehabt als mit Vitaby.

»Wir machen es in Mellby«, sagte sie. »Ich spreche heute mit dem Beerdigungsinstitut. Verabrede einen Termin.«

»Deine Mutter kommt wohl zum Begräbnis, oder?«

»Glaub schon.«

»Und was hast du da vor? Du musst dir überlegen, wie du mit der Situation umgehen willst.«

Sie seufzte. Überlegt hatte sie das seit gestern, ununterbrochen.

»Ja. Einerseits ist da Oma und andererseits weiß ich nicht, wie ich mit Mama umgehen soll.«

»Das wird sich finden. Sie ist doch nur einen Tag hier oder so.«

Für Harald war immer alles furchtbar einfach. Er hatte die Fähigkeit, Menschen zu vertrauen, an das Gute in ihnen zu glauben, bis das Gegenteil bewiesen war. Aber das war auch keine große Kunst, wenn man noch nie im Stich gelassen worden war. Zumindest nicht von Menschen, die einem am nächsten standen.

»Was du auch tust, alles wird gut«, sagte er.

Harald kratzte seinen Teller sauber. Dann stand er auf, um wieder nach draußen zu gehen. Sie beobachtete ihn in seinen Bewegungen. Die Art, wie er praktische Dinge anging, hatte etwas Befreiendes.

»Was, meinst du, sollen wir heute machen?«, fragte sie.

Harald stellte den Teller an die Spüle.

»Wir müssen nach den jüngeren Obstbäumen sehen. Wie es ihnen im Winter ergangen ist. Hoffen wir mal, dass ihnen die Nager nicht allzu sehr zugesetzt haben.«

»Vielleicht sollten wir uns eine Katze zulegen?«

»Das wäre gut. Oder einen Hund.«

Josefin wurde es etwas leichter ums Herz. Darüber sprachen sie häufiger. Ein Hund, der den Hof bewachte. Am liebsten einen Dänisch-Schwedischen Farmhund wie Åkes braun gescheckte Mitzi. Klein und wendig, gut drinnen wie draußen zu halten. Ihr treuer, ständiger Begleiter mit eigenen Arbeitsaufgaben. Aber jetzt im Augenblick konnten sie sich das nicht leisten.

Harald ging zur Tür und schlüpfte wieder in die Stiefel.

»Ist ein bisschen ungemütlich hier drinnen. Wir bräuchten wirklich Erdwärme. Dann müssten wir nicht die ganze Zeit daran denken, Holz zu holen. Wir sollten eine Fußbodenheizung installieren und die elektrischen Heizkörper durch warmwasserbetriebene ersetzen.«

»Aber das Haus ist doch nicht richtig isoliert. Da ist Erdwärme vielleicht nicht die beste Lösung?«

»Ich glaube noch daran. Aber wir können jemanden fragen, der sich damit auskennt.«

Sie lachte über seine Hartnäckigkeit.

»Klar. Aber im Augenblick haben wir kein Geld dafür.«

Harald richtete sich auf.

»Stell dir mal vor, wir hätten es hier nächsten Winter richtig warm, mit richtigen Heizkörpern. Ich könnte vielleicht von Mama und Papa Geld dafür leihen. Was meinst du?«

Wortlos nahm sie die beiden Teetassen vom Tisch. Er kannte ihre Meinung.

»Fang doch schon mal mit den Obstbäumen an, ich mache schnell den Abwasch«, sagte sie. »Komme gleich nach.«

Sie stellte die Tassen auf die Arbeitsfläche neben dem Fenster. Draußen überquerte Harald den gekiesten Hofplatz, ging an den Hortensienrabatten vorbei und verschwand dann hinter dem Giebel des Holzschuppens.

Ihre Mutter kam bald. Würde hier im Dorf auftauchen und nicht nur Josefin treffen, sondern auch Harald und Peter und Liselott und einen Haufen anderer Leute, Nachbarn und weiß der Himmel wen. Und ihre Großmutter. Auf der Beerdigung. Das war nicht zu verhindern. Was bedeutete, dass ihre Mutter es wissen musste. Vorher.

Josefin nahm die Gießkanne und gab der auf dem Fensterbrett überwinternden, beschnittenen Pelargonie einen kleinen Schluck Wasser.

Neben der Pflanze stand das Bootsmodell. Ein Geschenk von Åke, der es wiederum von seinem Vater, dem Skipper, bekommen hatte. Ein zweimastiger Schoner. Hilda, der Name des Schiffs, stand in winzig kleinen Buchstaben am Bug. Åke hatte dieses Boot geliebt. In jungen Jahren hatte er von einem Leben als Kapitän geträumt, war aber stattdessen Biologielehrer geworden.

Sie hob den Blick, um nicht wieder loszuheulen. Die Dachrinnen am Holzschuppen mussten gereinigt werden. Sie waren randvoll mit altem, schwarzbraunem Laub. Eine einfache Arbeit, wenn man sie gemeinsam machte. Zusammen mit Harald war nichts sonderlich schwierig oder lästig. Josefin hatte schon wieder Sehnsucht nach ihm, obwohl er erst seit fünf Minuten weg war. Bald würde sie ebenfalls durch die Obstbäume marschieren und tote Zweige und Knospen mit Frostschaden inspizieren.

Noch ein Tag im Paradies. Sie lachte kurz in sich hinein. Klang fast ironisch, aber so war es eben.

Sally

Der Fernseher an der Decke wurde durch das klirrende Leeren der Altglascontainer an der Müllsammelstation übertönt. Sally sortierte das Besteck ein. Hier und da warf sie einen Kontrollblick in den Gastraum, ob irgendein Gast ihrer Aufmerksamkeit bedurfte. Aber alle hatten etwas zu essen oder tranken Kaffee.

Was wohl Josefin in diesem Augenblick tat? Sie und Åke hatten einander sehr nahegestanden. Heute hätte sie einer Mutter bedurft. Eines Elternteils mit Lebenserfahrung, das völlig anders Trost spenden konnte als ein gleichaltriger Lebensgefährte.

Aber vielleicht hatte sie ihre Schwiegereltern als Stütze.

Sally legte die letzte Gabel ins richtige Fach. Jedes Mal, wenn die Schwingtür aufging, drang aus der Küche Herdgeklapper und Gescharre, vermischt mit den Brüllereien zwischen Köchen und Servicepersonal. Sie versuchte, nicht hinzuhören.

Sie hatte Kivik vor unfassbar langer Zeit verlassen. Wie würde ihre Rückkehr nach dreißig Jahren werden? Was, wenn die Erinnerungen an ihren Vater zu viel werden würden? Wenn sie von ihnen überrollt werden und deshalb den Boden unter den Füßen verlieren würde? Wie ihr das als Einundzwanzigjährige fast passiert war, und weswegen sie hatte fortgehen müssen. Sie hatte gewusst, jeder Millimeter würde sie dort auf ewig an seinen Tod erinnern, und sich geschworen, nie wieder zurückzukehren.

Danach hatte sie sämtliche Bande nach Kivik gekappt. Das war ihre Art gewesen, zu überleben, aber wahrscheinlich war das für alle rundherum schwer verständlich. Liselott hatte sich noch ein paar Mal per Telefon gemeldet, der Kontakt wurde aber bald spärlicher und hörte dann ganz auf.

Von der Straße drang das Heulen einer Sirene, als ein Einsatzfahrzeug vorbeijagte. Sally brachte die Salzstreuer in eine hübsche Anordnung. Gab es Liselott noch? Das Mädchen, das mit seinen Eltern und drei jüngeren Brüdern im Nachbarhaus gewohnt hatte. Sie hatte braune, von allen als kastanienfarben bezeichnete Locken gehabt und ein ansteckend glucksendes Lachen. Bei jedem Grinsen oder Prusten hatte sich auf unwiderstehliche Weise ihr Zahnfleisch komplett entblößt. Zusammen mit einer dritten Freundin, Nora, hatten sie jeden Tag im Sommer eine Menge ausgeheckt. Sich teils überworfen, aber immer wieder vertragen, da es nur um Pipifax gegangen war.

»Sally!«

Cedrics durchdringende Stimme ließ Sally zusammenfahren. Sie begann, die Gläser herumzuschieben, platzierte sie in gleichmäßigen Reihen neben Wasserkaraffe und Servietten.

»Verdammt nochmal!«

Dann war er da, packte sie am Arm und zerrte sie in die Küche. Die Schwingtür knallte vor und zurück.

»Was höre ich da, heute Morgen lag ein Suffkopf im Kellerflur. Weißt du etwas darüber?«

Sally wich seinem Blick aus, während sie nach einer guten Erklärung suchte.

»Das warst bestimmt du, die da wieder einen Penner reingelassen hat.«

Cedric brüllte, als hätte sie das ganze Viertel in Lebensgefahr gebracht.

»Es war einer unserer Stammgäste«, erklärte sie. »Seine Ex hatte ihn ausgesperrt.«

»Glaubst du, das hier ist eine Scheißpension?«

»Er ist die halbe Nacht herumgeirrt, und außerdem war es draußen hundekalt.«

»Du schnallst es nicht, oder? Wir haben doch bereits diverse Beschwerden von Nachbarn bekommen.«

Sein zorniges Gesicht kam näher. Die dicken Wangen mit ihren vertikalen Furchen ließen ihn wie eine alte Bulldogge aussehen. Sie wich einen Schritt zurück.

»Das Essen wäre sonst weggeworfen worden.«

»Das tut nichts zu Sache. Solche Leute gehören verscheucht.«

Der Koch platzierte fünf fertiggebratene Hamburger auf die Teller, legte Garnitur darauf und schob alles zu Sally. Er deutete mit dem Pfannenwender auf sie.

»Was machst du hier? Raus mit dir.«

Cedric gab ihr einen Schubs.

»Ja, mach, dass du wegkommst, auf deinen billigen Schuhen.«

Der Koch feixte. Das Lachen hallte an den gekachelten Wänden wider. Sally lud sich die Teller auf beide Unterarme und eilte in den Gastraum.

»Vergiss die Pommes nicht!«, rief der Küchenchef.

Als sie gerade auf dem Rückweg in die Küche war, vibrierte es in ihrer Schürzentasche. Sie holte das Handy heraus. Eine Nachricht von Frank. Heute Abend Sushi? Und vorher in die Bar?

Sie beantwortete beide Fragen mit Ja und schlug sieben Uhr vor. Dann würde sie ihm die Neuigkeit erzählen. Dass ihr ein natürlicher Anlass beschert worden war, nach Kivik zu fahren und Josefin zu treffen. Die vielleicht ihre Meinung ändern und sich versöhnen würde.

Diese Neuigkeit würde Frank mit Sicherheit nicht in Jubel ausbrechen lassen, aber sich freuen würde er sich doch ihretwegen. Das war auch bitter nötig. Es war lange her, dass er in ihrer Nähe fröhlich gewirkt hatte.

Er musste einfach verstehen, dass das eine neue Chance war, ein Lichtstrahl inmitten der Traurigkeit über Åkes Tod. Als sie das Handy zurück in die Schürze steckte, fühlte sich ihr Körper allein beim Gedanken an Josefin leichter an. Als könnte sie jeden Augenblick abheben und fortfliegen.

Vanja

Vanja parkte ihren alten, weinroten VW-Bus auf dem Parkplatz hinter ICA, ging die Rampe zu dem großen Supermarkt hoch, aber an den Glasschiebetüren vorbei, blieb stehen und schaute übers Meer. Das machte sie immer so. Der Kontrast zwischen dem banalen Einkaufscenter und der atemberaubenden Aussicht war wie ein sich stets veränderndes Kunsterlebnis.

Als sie schließlich Richtung Eingang ging, klingelte ihr Handy. Erneut Josefin. Bestimmt das fünfte Mal heute. Natürlich war das Mädchen verzweifelt. Åke, der heißgeliebte Bruder ihres Großvaters, war gestorben.

»Wie geht’s dir, Schatz?«

Im Laden griff Vanja nach einem Einkaufskorb. Josefin am anderen Ende heulte, wie bei jedem Gespräch seit gestern Abend. Seit sie die Nachricht erhalten hatten, war ihre Stimmung ein einziges Auf und Ab, aber dieser schonungslose erste Schmerz würde bald nachlassen.

»Ich habe nicht gewusst, dass Åkes Herz so schwach war«, sagte Josefin schniefend. »Er hätte öfter zur Kontrolle gehen müssen. Dann wäre das nicht passiert.«

»Das kann man nicht wissen.«

Vanja ging durch die Regalreihen und versuchte sich daran zu erinnern, was sie einkaufen wollte.

Josefin klang, als würde sie sich allmählich beruhigen. Sie hatte starke Emotionen, die sie aber nie völlig überwältigten, sie war eher ein rationaler Typ. Genau wie Vanja.

»Er hätte jedes Jahr eine Gesundheitsuntersuchung machen sollen«, sagte Josefin.

Vanja öffnete die Kühlschranktür zu den Molkereiprodukten und griff nach einem Liter Milch.

»Du weißt genau, dass er sich darauf nie eingelassen hätte. Erinnerst du dich nicht daran, wie wir ihn wegen dieser Bronchitis damals beinahe zu einem Arzt schleifen mussten?«

Josefin schnäuzte sich, noch einmal. Vanja bekam selbst einen Kloß im Hals.

»Wir müssen anfangen, über das Begräbnis nachzudenken«, sagte Josefin.

Vanjas Blick scannte die Regale nach Dingen, die ihr vielleicht fehlten.

»Nicht jetzt, mein Schatz. Das kriegen wir schon hin.«

»Ja, aber … Mama kommt.«

Sie griff wahllos nach einer Konservendose und warf sie in den Einkaufskorb. Ihre Hand zitterte.

Sally. So weit hatte sie noch nicht gedacht. Natürlich würde Sally zur Beerdigung kommen.

»Ein Schritt nach dem anderen«, sagte Vanja. »Heute sind wir einfach nur traurig.«

Josefin stieß einen abgehackten Seufzer aus.

»Ach, und außerdem, Oma, habe ich überlegt, in der Kirche etwas zu singen. Wenn Peter dazu spielt.«

»Das wird sicher schön, du wirst sehen. Ich kann ihn fragen. Jetzt geh für eine Weile raus zu den Schafen. Das ist Balsam für die Seele.«

Das Schniefen am anderen Ende wurde schwächer und das Gespräch war beendet, fürs Erste. Vanja ging weiter durch den Laden.

Sally in Kivik. Der Gedanke war ihr in den drei Jahren nicht ein einziges Mal gekommen, er war zu abwegig gewesen. Josefin hatte mit ihrer Mutter gebrochen, aus mehrerlei Gründen. Sally hatte irgendwo sechshundert Kilometer entfernt existiert, wo sie mit ihrem Partner lebte, und hatte überdies Josefin unmissverständlich klargemacht, sie wolle nie wieder nach Kivik zurückkehren, dieser Ort sei für sie ein abgeschlossenes Kapitel.

Vanja und Josefin hatten einander in aller Ruhe kennenlernen können. Sie waren durch Blutsbande miteinander verbunden und mit der Zeit wesentliche Bestandteile im Leben der anderen geworden. Um nicht zu sagen ein lebensnotwendiger.

Mutige Josefin. Vanja lachte in sich hinein. Wirklich unglaublich, dass sich ihre Enkelin vor drei Jahren getraut hatte, bei ihr in Kopenhagen aufzutauchen. Vanja hatte die Wohnungstür geöffnet und vor ihr stand ein blonder Teenager, den sie noch nie gesehen hatte. Was war das für ein Schock! Und was für eine Veränderung war daraus gefolgt.

Zuvorderst ihre Rückkehr nach Kivik. Bei jedem Einkauf und auf jedem Spaziergang durch den Ort hatte sich Vanja gewappnet. War vorbereitet auf Blicke, Flüstern und Kommentare. Aber eigentlich hatte kaum jemand darauf reagiert, dass sie wieder in der Gegend war. Kaum jemand erinnerte sich an sie, mal abgesehen von ein paar betagten Nachbarn in der Umgebung von Åkes Straße. Die hatten sie angestarrt wie ein Gespenst.

Sie hatte den Kopf nicht eingezogen, hatte Angst und Scham verborgen. Hatte ihnen einfach freundlich zugenickt und war weitergegangen. Sie mussten sich gewundert haben, warum in aller Welt sie zurückgekommen sei, aber Vanja hatte sie sich wundern lassen, und mit der Zeit gewöhnten sie sich offenbar daran. Wie Menschen es nun mal tun.

Fünfundvierzig Jahre. Eine schrecklich lange Zeit.

Sally war kein Leid geschehen, das war also nochmal gut gegangen. Diese Information war vielleicht das Kostbarste an der Begegnung mit Josefin.

Man konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Man konnte nur Veränderungen für die Zukunft schaffen. Das hatte Josefin gesagt, damals vor drei Jahren in Kopenhagen. Ruhig und sachlich hatte sie erklärt, Vanja habe jetzt die Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen. Indem sie spät, aber doch ihre Großmutter werde. Eine unfassbare, einzigartige Chance. Selbstverständlich hatte Vanja diese ergriffen, verstand sie doch genau, was das mit sich brachte. Und sie hatte es keine Sekunde bereut.

Vanja lief weiter durch den Laden, griff nach allerlei Zeug, das man vielleicht gut auf Vorrat hatte. Spülmittel, Zahnpasta und eine Tüte türkischen Pfeffer. Was konnte sie für Josefin tun? Nicht viel. Außer für sie da sein, wenn sie es brauchte, und versuchen, sie zu trösten. Wie das mit Sally gehen sollte, würden sie später herausfinden.

In der Schlange an der Kasse stand eine kleine Gruppe aus vier Personen, allem Anschein nach zwei Paare, in exklusiven Jacken. Die Gruppe sprach laut in Stockholmer Dialektfärbung. Alle waren schlank und durchtrainiert, leicht sonnengebräunt. Eine der Frauen hatte ihre Sonnenbrille in die blonden Haare hochgeschoben. Sie blätterte in einem dicken Modemagazin, während sie sich an dem Gespräch beteiligte.

Vanja schnaubte leise. Golfer. Konnten die nicht bei sich bleiben, drüben an der Westküste, in Båstad und Torekov? Mussten sie unbedingt auch in Österlen einfallen? Von Sommer zu Sommer wurde es schlimmer.

Offenbar war das eine Paar frischgebackene Besitzer eines im Herbst verkauften, alten Fachwerkhauses nahe dem Meer. Sie jammerten, wie geschmacklos die Vorbesitzer es renoviert hätten und was vor dem Sommer alles gemacht werden müsse. Das andere Paar überlegte, vielleicht auch etwas zu kaufen, nur schade, dass so wenig Häuser auf dem Markt seien.

»Aber etwas weiter hinten steht eine Bude vielleicht bald zum Verkauf«, sagte die Frau des ersten Paars, ihre Jacke war knallblau. »Meine Nachbarin hat erzählt, der Besitzer sei gestern gestorben. Einfach so tot umgefallen.«

Sie wandte sich an den dunkelhaarigen Mann neben sich.

»Du weißt, dieses große, weiße Haus? Mit dem Turm.«

»Ach, das. Der Kerl ist gestorben?«

»Hat unsere Nachbarin gesagt.«

Vanja kramte im Einkaufskorb zwischen ihren Füßen herum. Mit dem »Kerl« musste Åke gemeint sein.

Sie warf verstohlene Blicke zu den vieren, die andere Frau strahlte plötzlich.

»Aha, dann können wir vielleicht hoffen, dass es verkauft wird.«

»Ich drücke euch die Daumen.«

Die Frau in der knallblauen Jacke legte die Einkäufe aufs Förderband. Fettarmer Joghurt, Obst, Vollkornbrot, Hähnchenfilets, tiefgefrorene Blaubeeren. Kein Stückchen Schokolade.

An der Kasse saß Liselott. Die dunkelbraunen Haare fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern.

»Hallo.« Sie lachte die Stockholmerin breit an, die das Lächeln mit einem angedeuteten Nicken erwiderte.

Liselott scannte nacheinander die Waren ein. Die Frau hielt kurz im Auflegen ihrer Einkäufe inne. Mit einer Tüte Leinsamen in der Hand drehte sie sich zu ihrer Freundin um.

»Aber angeblich gibt es irgendeine Nichte in Stockholm«, sagte sie. »Die scheint schwierig zu sein.«

Vanja hielt den Atem an und lauschte mit gesenktem Blick. Die Frau trug klobige Wanderschnürstiefel, als wollte sie zu einer Tageswanderung in die Berge. Sicher eine teure Marke.

»Inwiefern?«, fragte die Frau mit der Sonnenbrille im Haar.

»Ich weiß es nicht. Habe nur davon gehört.«

Vanja griff nach den Sachen in ihrem Einkaufskorb. Die Frau legte die letzte Flasche Gemüsesaft aufs Förderband und zückte ihre Karte. Die anderen wechselten das Gesprächsthema, nun ging es um Zinsentwicklung.

Vanja lud ihre Waren auf. Ja, das Haus. Åke war unverheiratet und kinderlos gewesen. Wer würde seine schöne Kapitänsvilla erben? Vermutlich hatte er sie Josefin vermacht.

Sie nahm das letzte Teil aus dem Korb, einen Käse zum Sonderpreis. Und erinnerte sich voll Freude daran, wie sie und die anderen in dem dänischen Kollektiv auf ihrem Hof eigenen Grünschimmelkäse hergestellt hatten. Ach, war das herrlich gewesen, damals in den Siebzigern. Sie würde es Josefin beibringen, es war nicht schwer. Nicht, wenn man jung war und Energie im Überschuss hatte.

Die zwei Paare hatten alles in Tüten gepackt und waren auf dem Weg zum Ausgang, lachend und gestikulierend. Vanja hörte sie über ihre erwachsenen Kinder sprechen und wie vielversprechend deren Zukunft sei. Der eine studierte im Ausland. Die andere praktizierte in einer Anwaltskanzlei. Vor allem taten sie wohl, was man von ihnen erwartete, anstatt gründlich darüber nachzudenken, wie sie ihr Leben leben wollten. Wie das Josefin und Harald getan hatten.

Jetzt war Vanja dran. Liselott sah sie bedauernd an.

»Ich habe von Åke gehört. Tut mir sehr leid.«

»Ja. Wir sind alle ganz traurig.«

»Der ganze Ort wird ihn vermissen.«

Liselott registrierte die Waren ohne ihr obligatorisches Lächeln.

»Windig heute«, sagte sie, als sie ein Bündel Bananen abwog.

»Ja, ziemlich. Ostwind.«

Liselott schob die Bananen weiter.

»Sag Josefin und Harald schöne Grüße. Und Peter.«

»Mache ich.«

Vanja nahm eine Papiertüte. Åke hatte erzählt, Liselott sei eine Spielkameradin von Sally gewesen, als sie klein waren. Für einen Augenblick fiel ihr wieder ein, was diese Stockholmer gerade gesagt hatten, über Sally. Ihre Tochter. Die dieselben Fältchen um den Mund hatte wie Vanja, und dieselben braunen Augen wie ihr Papa Georg. Das hatte sie auf den Fotos, die ihr Josefin gezeigt hatte, deutlich sehen können, damals, vor drei Jahren.

Abgebrochene Beziehungen zwischen Mutter und Tochter. Auch das wurde offenbar von Generation zu Generation weitervererbt.

Eine leichte Übelkeit überkam sie, aber sie schluckte sie hinunter. Sich in Scham und Schuld zu suhlen führte nirgendwohin. Es gab so viele Vorstellungen davon, wie man leben sollte. Wenngleich sie selbst ihren Blick auf Familienbande längst überdacht hatte. Sie verachtete sie nicht mehr, wie vor dreißig Jahren. Und dennoch. Viele Menschen sollten sich aus alten, erstickenden Strukturen befreien und so leben, wie sie es wollten. Das hatte sie zumindest immer versucht.

Vanja packte mit resoluten Griffen ihre Einkäufe in die Tüten. Sie würde sich jedenfalls bestimmt nicht um solcherlei Blödsinn scheren. Menschen, die sich anmaßten, so etwas zu verbreiten, waren einfach nur bedauernswerte Wichte. Jeder sollte sich mit sich selbst beschäftigen und versuchen, das eigene Leben möglichst gut hinzukriegen. Das Beste aus dem zu machen, was man hat.

Sally

Sally zitterte in ihrem dünnen Mantel. Es schneite leicht und ein Wind wehte, im Laufe des Tages waren die Temperaturen unter null gefallen, das Straßenpflaster war glatt. Das enge, kleine Lokal zu betreten war, wie von einer liebenswürdigen Umarmung empfangen zu werden. Der Barkeeper begrüßte sie mit einem Lächeln, zwirbelte seinen gewachsten Bart. Die Stimmung war so behaglich und friedlich wie immer. Seit knapp fünf Jahren war diese Bar um die Ecke einer der Lieblingsorte von Frank und ihr.

Ein Blick auf die Uhr. Fünf vor sieben. Sally stellte sich an den Tresen, orderte ein Glas Weißwein und nahm den Schal ab, ließ den Mantel aber an, da ihr noch immer kühl war. Nach einem ganzen Tag Hin-und-Her-Gerenne zwischen Tischen und Gästen tat ihr Kreuz weh, aber sie versuchte, jetzt nicht daran zu denken. Sie würde heute Abend die schmerzende Stelle unter der warmen Dusche massieren.

Ihr Blick schweifte durchs Lokal. Hier sah es ziemlich ähnlich aus wie bei der ersten Begegnung mit Frank. Obwohl die in einer anderen Bar stattgefunden hatte. Rein zufällig waren sie nebeneinander zu stehen gekommen und hatten angefangen, miteinander zu sprechen. Sie waren beide nicht angetrunken gewesen und am Ende des Abends auch nicht miteinander nach Hause gegangen. Stattdessen hatten sie sich für den nächsten Tag auf eine Tasse Kaffee verabredet. Und dieses Gespräch war so erfüllend, dass sie sich am folgenden Freitag zum Abendessen treffen wollten. Da hatte ihr Frank erzählt, er sei verheiratet, aber im Begriff, sich zu trennen. Er und seine Frau wollten es gerade ihrem Zweijährigen sagen, die Situation war also emotional angespannt.

Sally hatte erst nicht recht daran geglaubt, dass er sich trennen würde, aber nach einem halben Jahr war die Scheidung durch.

Sie hatte ihn ihrer achtzehnjährigen Tochter vorgestellt und von da an war alles ziemlich schnell gegangen. Nur wenige Monate später zog Frank bei ihr ein. Und damit fingen die Probleme an.

Der Barkeeper stellte ein Glas Weißwein vor Sally. Sie bedankte sich und versank dann wieder in ihren Gedanken.

Frank und Josefin waren nie gut miteinander ausgekommen. Sallys beste Freunde, das Nachbarpaar Milena und Otto, hatten gesehen, wie sie das belastete, aber sie wollte nicht darüber sprechen, wie sehr sie litt. »Mag ja sein, dass Josefin nervt, aber sie ist ein Teenager, also ist sie entschuldigt«, hatte Milena immer gesagt. »Dein Freund wirkt nicht gerade so, als würde er es richtig versuchen.« Jedes Mal hatte Sally ein Argument gefunden, inwieweit die Situation zu Hause auf dem Weg der Besserung sei. Und sich, da sie Frank liebte, eingeredet, das sei die Wahrheit.

Ein Jahr später hatte er ein Ultimatum gestellt: Entweder zog Josefin aus, schließlich war sie schon neunzehn, oder die Beziehung war zu Ende.

Sally trank einen kleinen Schluck von ihrem Wein. Die Hand zitterte, als sie das Glas abstellte.

Selbstverständlich war es falsch gewesen, Josefin zu bitten, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen. Sie sollte sich nur irgendwo etwas zur Untermiete suchen. Mit ihrem Job in einem Kleiderladen konnte sie das finanziell stemmen.

Aber das Gespräch hatte eine andere Richtung genommen, als Sally sich gedacht hatte. Josefin war abgerauscht und am nächsten Tag bei einem Kumpel eingezogen. Ein paar Monate später hatte sie in einer SMS mitgeteilt, sie studiere jetzt in Lund. Das hatte beruhigend geklungen. Sally war überzeugt gewesen, alles würde sich klären, sobald Josefin nur eine Ausbildung gemacht habe, reifer geworden sei und eine Arbeit gefunden hätte, die sie wirklich mochte.

Durch die Eingangstür kamen neue Gäste in die Bar. Sally drehte den Kopf, Frank war nicht dabei. Sie nahm ein paar Erdnüsse aus der Schale auf dem Tresen und betrachtete die beleuchteten Regale vor sich. Dachte an jene lange E-Mail von Josefin, in der sie schrieb, sie und ihr Freund hätten ihr Studium in Lund abgebrochen und einen alten Hof gekauft. Josefin wolle nicht den ganzen Tag lernen, sie sehne sich danach, mit ihren Händen zu arbeiten. Der Hof liege direkt vor Kivik. Sie wolle zurück in die Gegend ihrer familiären Wurzeln und auch mehr Zeit mit Onkel Åke verbringen. Wie der Schnellkauf finanziert worden war, hatte sie nicht erzählt. Nicht einmal, wie ihr Freund hieß. Das erfuhr Sally erst viel später.

Eine Weile nach Josefins Fortgang hatte Frank erklärt, er müsse allein leben. Obwohl er Sally immer noch genauso liebe, habe er das Bedürfnis, sich nach seiner Scheidung erstmal selbst zu finden. Es sei überstürzt gewesen, so kurz nach der Trennung zusammenzuziehen, und besser, wenn sie einfach ein Paar mit getrennten Wohnungen seien. Sally hatte das verstanden und die Vorteile getrennter Wohnungen gesehen. Auch wenn es ein bisschen geschmerzt hatte. Immerhin hatte sie für Frank ihre Tochter geopfert. Oder wie auch immer man das sehen sollte.

»Guten Abend, Fräulein Larsson.«

Sally drehte sich um. Frank schloss die Eingangstür und ging lachend auf sie zu.

Schön. Er schien heute gute Laune zu haben.

»Stehen Sie schon lange hier, so ganz allein? Entschuldigen Sie die Verspätung.«

Seine Nasenspitze war rotgefroren und die schmalen Wangen rosig. Seine blauen, etwas engstehenden Augen waren so stechend wie am ersten Abend. Damals hatte sie gedacht, das seien die schönsten Augen, die sie je gesehen habe.

»Ich bin auch gerade erst gekommen«, sagte sie.

Sie umarmten einander, und er gab ihr einen Kuss auf den Mund.

»Du wirkst fröhlich. Ist etwas geschehen?«

»Ja. Obwohl, eigentlich ist es traurig.«

Er sah sie fragend an.

»Josefin hat angerufen. Sie wollte mir mitteilen, dass mein Onkel Åke gestorben ist.«

Bei Josefins Namen erstarb Franks Lächeln augenblicklich.

»Aha? Moment.«

Sally beobachtete, wie er zum Garderobenständer an der Tür ging. Er wurde umständlich seinen Mantel los, hängte den Schal darüber. Bürstete ein paar Schneeflocken vom Revers. Wieder zurück, legte er den Ellbogen auf den Tresen und nickte dem Barkeeper zu, der sogleich ein großes Glas Bier zapfte.

»War er denn alt?«

»Einundachtzig. Vermutlich Herzinfarkt.«

Der Barkeeper stellte das schäumende Bier auf einen Bierdeckel und verschwand ans andere Ende der Bar. Frank trank einen großen Schluck.

»Ich werde wohl zur Beerdigung fahren«, sagte Sally. »Und Josefin treffen. Ich möchte mich mit ihr versöhnen. Oder es zumindest versuchen.«

Frank kratzte sich an der Nase, wie immer, wenn er Nervosität oder Unsicherheit verstecken wollte. Wenn er zum Beispiel mit der Weinkarte in der Hand dasaß, um teuren Wein zu bestellen, und der Kellner wartete. Oder wie vor ihrem ersten Kuss.

»Und wo soll das hinführen?«, fragte er.

»Dass wir wieder Kontakt haben natürlich. Miteinander telefonieren. Uns treffen.«

Auch wenn Frank keine Miene verzog, konnte Sally sehen, wie verärgert er war.

»Und du hast nie daran gedacht, mit mir darüber zu sprechen?«, fragte er. »Bevor du beschlossen hast, dorthin zu fahren.«

»Nein, ehrlich gesagt nicht. Es geht hier um meine Tochter. Und mein Onkel ist gestorben.«

Er wirkte verblüfft. Normalerweise widersprach Sally nicht so direkt. Mit unsicherer Hand hob sie ihr Glas und trank einen Schluck Wein. Ihr Blick fiel auf Franks Finger, die auf dem Tresen trommelten. Ringlos, was ihr bei ihrem ersten Treffen aufgefallen war, eine Entdeckung, die sie naiv froh gemacht hatte. Ringe konnte man abnehmen, das war keine Garantie, aber sie hatte gespürt, dass er zu haben war. Was nicht ganz gestimmt hatte. Erst später an diesem Abend hatte sie den deutlichen Abdruck in der Haut bemerkt, aber da war sie bereits in ihn verliebt.

»Die Zugtickets zahle ich natürlich selbst«, fügte sie hinzu.

Ihre Bauchmuskeln spannten sich ob seines Erstaunens an, denn sie wusste, es würde bald in Zorn übergehen. Wie üblich.

»Du hast schon ein Ticket.«

»Nein, noch nicht. Aber ich wollte es heute Abend kaufen.«

Er sah sie reserviert an.

»Sonst noch etwas, das uns beide betrifft und das du allein entschieden hast?«

»Jetzt bist du lächerlich. Ich tue dir nicht weh, wenn ich versuche, mich wieder mit meiner Tochter zu vertragen.«

»Also für dich leben Partner in einer Beziehung parallele Leben? Ohne einander darüber zu informieren, was sie vorhaben. Vielen Dank auch.«

»Ich informiere dich ja. Hier und jetzt. Was ist das Problem?«

Er seufzte und rollte die Augen. Trank in mehreren großen Schlucken sein Bier. Sein ganzes Wesen strahlte aus, sie sei ein hoffnungsloser Fall. Und mit ihr zu sprechen schlicht überhaupt keine gute Idee.

Da wusste sie es plötzlich. Als wäre an einem Hebel gezogen worden, der den Stromhauptschalter umlegte. Sie liebte ihn nicht mehr. Schon lange nicht mehr, wenn sie genau darüber nachdachte. Sie hatte das nur bis jetzt nicht kapiert.

Frank schwieg, wie immer, wenn er wütend war. Sally sagte ebenfalls nichts. Sie war völlig überwältigt von der neuen Erkenntnis, die sie eigentlich längst gewusst hatte. Dass sie sich während der gesamten Beziehung in einem Zustand von Unruhe befunden hatte, in dem es ständig galt, sein Verhalten und seine Kommentare bis ins winzigste Detail zu registrieren und zu interpretieren. Ein ständiger Versuch, herauszufinden, in welcher Stimmung er war, was er mochte und was vielleicht nicht.

Der Schneefall vor der großen Fensterscheibe hatte zugenommen. Schnee mitten im März war für diese Gegend zu spät, aber die pulvrige Schicht würde vermutlich in den nächsten Tagen wegschmelzen.

»Wenn du nicht verstehen kannst, dass ich mit meiner Tochter Kontakt haben möchte, funktioniert das hier nicht mehr«, sagte sie schließlich.

Frank drehte sich zu ihr, wütend, erstaunt und amüsiert zugleich.

»Was? Du machst Schluss?«

»Ja. Genau. Ich gebe auf.«

Sie wartete darauf, dass er seinen Fehler einsehen würde. Und erkannte, dass seit ihrer Entscheidung gegen ihr Kind und für die Liebe zu ihm vier Jahre vergangen waren. Vier lange Jahre, in denen sie Josefin nicht ein einziges Mal getroffen hatte. Drei davon ohne ein Telefongespräch oder einen Kontakt jedweder Art. Das war doch wirklich komplett verrückt!

Aber Frank stand nur schweigend da. Spielte mit dem Bierdeckel herum. Hin und her, vor und zurück.

»Na, dann weiß ich das.«

Mehr sagte er nicht. Sally holte ihren Geldbeutel heraus, um zu bezahlen. Er hob die Hand.

»Ich mach das.«

Die Überlegenheit darin, die Karte zu zücken und sie einzuladen, hatte ihm immer gefallen. Sie erhob keinen Einspruch und wickelte nur den Schal einmal um den Hals. Den Mantel hatte sie noch an.

»Ich melde mich, wenn ich die Sachen gepackt habe, die du bei mir hast«, sagte sie. »Dann kannst du sie dir aus der Wohnung holen, und den Schlüssel wirfst du anschließend einfach in den Briefkasten.«

Frank schwieg wieder. Sie fragte sich, wie lange er wohl Single bleiben würde. Vermutlich nicht lange. Im Hintergrund hatte immer die Exfrau existiert, bereit, ihn zurückzunehmen. Oder vielleicht gab es auch eine andere.

»Brauchst du irgendwas schon heute? Dann kann ich dir das in einer Tüte an die Türklinke hängen«, sagte sie.

Sein Blick war höhnisch.

»Glaubst du wirklich, dass Josefin dich treffen möchte? Nach so langer Zeit.«

Sally antwortete ihm nicht. Sie legte nur die paar Meter bis zur Tür möglichst festen Schritts zurück, dann war sie draußen auf der Straße.

An der Hausmauer lag eine frische Kotzepfütze auf dem Boden, der sie nur haarscharf ausweichen konnte. Aus den Augenwinkeln sah sie eine große Elster heranflattern und sich ein paar Brocken herauspicken.

Dann rannte sie los, und der eiskalte Schnee wirbelte ihr ins Gesicht.

Josefin

Auf dem Gras lag Raureif. Jeder Halm hatte ein weißes Eispelzchen, hauchdünn, fast unsichtbar. Josefin ging in die Hocke, fuhr mit der Hand über die obersten Spitzen, versuchte, wie Åke immer, Frieden in der Natur zu finden, aber es gelang ihr nicht. Es gab zu viel zum Grübeln.

Das Begräbnis war auf Mittwoch, den zwölften April, festgesetzt, in knapp drei Wochen. Sie und Peter, Åkes engster Freund, sollten gemeinsam den Pfarrer treffen. Die Zeremonie besprechen, den Sarg aussuchen, die Musik und wer eingeladen werden sollte.

Und dann war da ihre Mutter. Sie musste über das Datum informiert werden. Danach würde sie die Tage herunterzählen, an deren Ende Josefin eine Lösung dafür gefunden haben musste, mit der Anwesenheit ihrer Mutter umzugehen.

Josefin stand auf, ihre Knie waren steif. Sie entdeckte am Gatter eine vergessene, umgefallene Gießkanne, zurückgeblieben vom letzten Sommer, kippte die letzten bräunlichen Tropfen aus, stellte die Kanne in den Werkzeugschuppen und ging wieder auf den Hofplatz. Zeit, etwas Vernünftiges zu tun.

Der Blick rundherum erfüllte sie noch immer mit Befriedigung. Sie würde den Tag, an dem ihr Harald die Anzeige im Netz gezeigt hatte, nie vergessen. Ein alter Skåne-Hof, gebaut 1885, fast unberührt und nicht kaputtrenoviert. Vom Preis her erschwinglich, und dennoch mit Stall, Speicher, Hühnerhaus, Scheune und Holzschuppen. Das Wohnhaus war kaum modernisiert und teilweise nicht einmal isoliert, aber zumindest war für Strom, Wasser und Abwasser gesorgt. Ihr Glück war groß gewesen, als sie sich von Haralds Vater das Auto geliehen hatten und zur Besichtigung gefahren waren und beim Herumgehen einfach alles großartig fanden. Sämtliche alten Türen und Fenster, diese für die Seele des Hauses so wichtigen Details, waren noch original. Und die Lage war fantastisch. Sie hatten am selben Abend den Vertrag unterschrieben und danach mit einer Flasche echtem Champagner, einem Geschenk an Harald, gefeiert.

Josefins Blick wanderte zum Gatter der Weide. An den Stahldrähten hingen Regentropfen, die bei jedem Windstoß vibrierten. Die Farbe blätterte allmählich ab, und es sollte im Sommer gestrichen werden. Wie auch das Hühnerhaus, an dem die alte Latexfarbe aufplatzte und in Fetzen abfiel. Latexfarbe, was für eine idiotische Wahl. Was hatte sich der vorherige Besitzer dabei gedacht?

»Dann fahre ich mal.«

Harald kam mit dem Geldbeutel in der Hand durch die Tür. Er steckte ihn in die hintere Hosentasche und ging zu seinem Auto, das direkt neben ihrem parkte. Zwei Schrottkarren, billig gebraucht gekauft, aber bisher funktionierten sie gut. Er wollte beim Nachbarbauern ein paar Säcke Hafer kaufen. Svante und seine redselige Frau Kristin luden zum Lunch, gewürzt mit einer großen Portion Anekdoten aus der Gegend, inklusive Ansichten und guter Ratschläge über Landwirtschaft. Sie waren freigiebig und verliehen bei Bedarf bereitwillig Werkzeug und Maschinen. Zu Beginn waren die Björks für sie so etwas wie Mentoren gewesen, und waren es mitunter noch. Gleich nach ihrer Großmutter.

»Sicher, dass du nicht mitwillst?«, fragte Harald.

Josefin nickte und ging in Richtung Gewächshaus. Er setzte sich bei geöffneter Fahrertür ins Auto.

»Ja, ja. Ich verstehe. Du brauchst eine Weile deine Ruhe.«

Mit einem kleinen Klick rastete der Sicherheitsgurt ein.

»Wo soll denn deine Mutter eigentlich wohnen, wenn sie kommt. Bei uns, oder was?«

Josefin blieb abrupt stehen.

»Du meinst … hier?«

»Wir können wohl nicht verlangen, dass sie ins Hotel geht. Wenn wir einen ganzen Hof haben.«

Sie bohrte mit der Stiefelspitze in einer Pfütze herum. Ihre Beine waren plötzlich völlig kraftlos. Bisher gab es nur zwei möblierte Schlafzimmer im Wohnhaus. Ihr eigenes und dann noch ein Extrazimmer, mit einer Nähmaschine und einem schmalen Gästebett darin, in dem ihre Großmutter manchmal übernachtete. In dem konnte ihre Mutter nicht liegen, das fühlte sich völlig falsch an.

Die anderen Zimmer waren vielleicht im Sommer nutzbar, aber zu Beginn des Frühlings waren sie ausgekühlt und unwirtlich. Das Sofa im Fernsehzimmer ginge natürlich. Der Kachelofen heizte gut.

»Dann in Åkes Haus?«, fragte Harald. »Das steht leer.«

Josefin schüttelte den Kopf.

»Mama ist, gleich nachdem Opa in diesem Haus gestorben ist, nach Stockholm abgehauen. Dort setzt sie keinen Fuß hinein.«

»Okay«, sagte er. »Wir werden sehen.«

Er schloss die Autotür und ließ den Motor an, setzte etwas zurück, um zu wenden. Josefin warf ihm durchs offene Fenster eine Kusshand zu.

»Schöne Grüße. Falls du zu Wort kommst.«

»Da besteht wohl kaum Gefahr.«

Harald lachte und blinzelte auf die Art, bei der sie ganz schwach wurde. Dann fuhr er auf dem Kiesweg in Richtung der großen Straße.

Mama in Åkes Haus. Kein gutes Gefühl.

Dieser fürchterliche Abend vor vier Jahren. Bis heute erstarrte Josefin beim Gedanken daran. Mama, die sie bat, auszuziehen, und dann in der Zimmertür stand und ihr dabei zusah, wie sie Kleidung zusammenraffte und in eine Reisetasche stopfte. In erster Linie, um zu demonstrieren, wie unfair sie behandelt worden war, ihre Mutter sollte es sehen und begreifen. Aber auch wenn sie traurig war, was man ihr die gesamte unerträgliche Zeit hatte anmerken können, hatte sie dem Ganzen kein Ende gesetzt. Rücksicht hatte sie nur auf Frank genommen. Und als Josefin letztendlich all ihre Sachen gepackt hatte und ausgezogen war, hatte ihre Mutter nichts gesagt, hatte es einfach geschehen lassen.

Seitdem war viel passiert. Josefin war nach Lund gezogen, um Staatswissenschaften zu studieren, und da, auf einem Fest, war Harald aufgetaucht. Warmherzig, zuverlässig und enthusiastisch. Und von allen Orten in der Welt obendrein in Kivik aufgewachsen. Sie waren gleich alt, hatten einander aber noch nie getroffen, kannten sich nicht einmal vom Sehen. Was vielleicht nicht verwunderlich war. Sie war ein Sommergast aus Stockholm, während seine Familie vor allem mit den Nachbarn im eigenen Ortsteil zu tun hatte.

Harald sprudelte nur so vor neuen Ideen und Gedanken zu globaler Gerechtigkeit, Umweltschutz und Freiheit. Schon am ersten Abend begeisterte er Josefin dafür, ein anderes Studium zu beginnen. An einer Volkshochschule Kurse in Bodenkunde und Tierhaltung zu besuchen, wie er. Und das hatte sie getan.

Nach Abschluss der Kurse hatten beide ein Praktikum auf einem Hof gemacht, und kurz darauf waren Haralds Großeltern mütterlicherseits beide innerhalb weniger Wochen verstorben und hatten ihm ihr Vermögen vermacht. Der Hof wurde bar bezahlt, ohne Kredit. Danach war noch etwas Startkapital übrig gewesen, plus einer kleinen Summe, die Harald und Josefin Monat für Monat ausgeben konnten.

Aber das würde nicht mehr lange reichen.

Ein Mäusebussard segelte mit weit aufgespannten Flügeln am Himmel. Josefin blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Freiheit stand für Harald seit jeher an erster Stelle.

Sein Interesse für Landwirtschaft und alte Häuser war durch seine schönen Kindheitserinnerungen aus der Zeit mit seiner Großmutter und seinem Großvater mütterlicherseits auf deren Hof bei Östra Hoby geweckt worden. Er fühlte sich auf dem Land pudelwohl und hatte Josefin nahegebracht, wie man auch anders leben konnte, als es üblich war. Es gebe nur eine Frage, und zwar, wie viel des alltäglichen Konsums man zu entsagen bereit sei. Sie hatte alles mitgemacht, und nachdem sämtliche Pläne Realität geworden waren, gefiel es ihr besser als in ihren kühnsten Träumen. Nur die Finanzen boten Grund zur Besorgnis.

Josefin schlüpfte in die Arbeitshandschuhe, die auf der Gartenbank lagen und vor Schmutz und Erde strotzten. Es würde Spaß machen, die Frühjahrsvorbereitungen im Gewächshaus zu starten.

Aber erst blickte sie zu der graubraunen Mittsommerwiese hinüber. Ihr Traum war, in ein paar Jahren eine richtig große, schöne Orangerie zu bauen, gerade rechtzeitig zu ihrer Hochzeit. Am liebsten mit alten Sprossenfenstern mit mundgeblasenen Scheiben und antiken Beschlägen. Im Inneren sollte es Schlingpflanzen und üppige Blumen, Feigen und Zitrusbäume geben. Nichts Ausgefallenes, nur eine einfache, schöne Oase, in der sie und Harald ihre Hochzeitsfeier für die engsten Freunde abhalten würden, im Anschluss an die Trauungszeremonie auf der sonnengebräunten, duftenden Heide bei Haväng, mit Aussicht über Meer und Strand. Sie würden beide weiß gekleidet und barfuß sein, und Josefin würde ihre Haare offen tragen.