Der Traum von Meer und Wind - Carla Federico - E-Book

Der Traum von Meer und Wind E-Book

Carla Federico

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Beschreibung

Cuxhafen 1891: Die junge Mina Ahlhusen geht mit ihrem Vater Wilhelm an Bord des Luxusdampfers Augusta Victoria, der zu seiner ersten "Lustreise" aufbricht. Sie ist überwältigt von der Pracht des Schiffes und voller Vorfreude auf abenteuerliche Landausflüge mit ihrer besten Freundin Bethy, die mit ihren Eltern ebenfalls an der Reise teilnimmt. Doch zwischen den beiden Familien, die einander einst freundschaftlich verbunden waren, ist es nach einem tragischen Vorfall zum Zerwürfnis gekommen. Dadurch droht nicht nur die Freundschaft der Mädchen zu zerbrechen, Mina könnte auch alles verlieren. Kann sie aus eigener Kraft die Reederei Ahlhusen retten?

Eine Familiensaga über eine Reeder-Familie und die Anfänge der Kreuzfahrt - mitreißend und spannend erzählt von Bestseller-Autorin Carla Federico.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

Reiseroute der ersten Lustfahrt der AUGUSTA VICTORIA im Jahr 1891

Prolog

ERSTES BUCH

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

ZWEITES BUCH

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

I8. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

DRITTES BUCH

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Epilog

Historische Anmerkung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Cuxhafen 1891: Die junge Mina Ahlhusen geht mit ihrem Vater Wilhelm an Bord des Luxusdampfers Augusta Victoria, der zu seiner ersten „Lustreise“ aufbricht. Sie ist überwältigt von der Pracht des Schiffes und voller Vorfreude auf abenteuerliche Landausflüge mit ihrer besten Freundin Bethy, die mit ihren Eltern ebenfalls an der Reise teilnimmt. Doch zwischen den beiden Familien, die einander einst freundschaftlich verbunden waren, ist es nach einem tragischen Vorfall zum Zerwürfnis gekommen. Dadurch droht nicht nur die Freundschaft der Mädchen zu zerbrechen, Mina könnte auch alles verlieren. Kann sie aus eigener Kraft die Reederei Ahlhusen retten?

Eine Familiensaga über eine Reeder-Familie und die Anfänge der Kreuzfahrt – mitreißend und spannend erzählt von Bestseller-Autorin Carla Federico.

Julia Kröhn schreibt als

Carla Federico

Der Traum von Meer und Wind

»Selten hat noch eine Partie von Touristen in so kurzer Zeit so vieles und so Herrliches gesehen wie wir, und so hübsch, so bequem, so mit Fürsorge und Luxus umgeben, hat sie es überhaupt noch nicht.«

Aus einem Reisebericht von der ersten Lustfahrt

Reiseroute der ersten Lustfahrtder AUGUSTA VICTORIA im Jahr 1891

22. Januar,Abfahrt von Cuxhaven

23.–24. Januar,Southampton

28.–29. Januar,Gibraltar

31. Januar,Genua

4.–9. Februar,Alexandria, Weiterreise nach Kairo

10.–14. Februar,Jaffa (Tel Aviv), Weiterreise nach Jerusalem

15.–19. Februar,Beirut, Weiterreise nach Damaskus

22.–26. Februar,Konstantinopel (Istanbul)

27. Februar–1. März,Athen

3. März,Malta

4.–5. März,Palermo

6.–10. März,Neapel, Weiterreise nach Capri

14. März,Lissabon

17.–19. März,Southampton, Weiterreise auf die Isle of Wight

21. März,Cuxhaven / Hamburg

Prolog

Cuxhaven, 23. Januar 1891

Wir kommen bestimmt zu spät.«

Immer wieder blickte Mina Ahlhusen auf ihre Uhr. Der Zeiger bewegte sich gar so schnell – viel schneller zumindest als die Räder der Kutsche, die so oft im knöcheltiefen Schnee stecken blieben. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. »Das Schiff legt doch gleich ab. Nie und nimmer erreichen wir es rechtzeitig.«

Während sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschte, lehnte sich Hedwig Ahlhusen, ihre Großmutter, an die Kopfstütze. Weder Minas Ungeduld noch die schmerzhaften Stöße bei jeder Radumdrehung schienen ihr zuzusetzen. Nach einer Weile bemerkte sie lediglich auf die ihr eigene schnodderige Art: »Die Uhr geht nicht langsamer voran, nur weil du ständig daraufstarrst.«

Seufzend versuchte Mina, das Ticken zu ignorieren, und blickte aus dem Fenster des Gefährts. Dass sie sich bereits dem Hafen näherten und in der Ferne die drei riesigen gelben Schornsteine der Augusta Victoria sichtbar wurden, war ihr kein Trost. Der Schnee war hier zwar geschmolzen – jedoch unter den Schritten unzähliger Schaulustiger, die den Weg zum Kai namens »Alte Liebe« ebenso verstellten wie die vielen kleinen Droschken, mit denen die weiblichen Passagiere vom Bahnhof hierher gebracht worden waren.

Warum hatte sie nicht auch auf die Eisenbahn bestanden, sondern auf den Vater gehört, der das Automobil vorzog? Dieses hatte – anspruchsvoller und launenhafter als jedes noch so nervöse Pferd – auf dem letzten Stück der Strecke seinen Geist aufgegeben und ihnen keine andere Wahl gelassen, als in die Kutsche umzusteigen. Die zwei Gäule wiederum, die vor dieser gespannt waren, waren zwar weder launenhaft noch nervös, jedoch so alt, dass ein Fußmarsch kaum länger gedauert hätte.

»Das Schiff ...«, sagte Mina verzweifelt. »Es wird bestimmt nicht auf uns warten. Schließlich hätte die Reise schon gestern beginnen sollen.«

Grund für die Verzögerung war die zugefrorene Elbe, die zunächst kein Durchkommen erlaubte, als die Augusta Victoria von ihrem Winteraufenthalt in Hamburg nach Cuxhaven überführt wurde. Am Ende hatte sie das Eis jedoch durchbrochen, und die vielen Schollen, die jetzt wie Diamanten in der Mittagssonne funkelten, waren zu klein, um ein echtes Hindernis darzustellen.

»Na ja«, knurrte Hedwig Ahlhusen und machte weiterhin keine Anstalten, auch aus dem Fenster so blicken, »so ein großes Versäumnis wäre es auch wieder nicht, wenn wir nicht rechtzeitig an Bord gingen. Ich meine, eine Reise allein zum Vergnügen, wer hat so etwas schon gehört! Von einem Ort zum anderen zu kommen – zu diesem Zweck hat Gott die Schiffe vorgesehen. Aber nicht, dass Menschen ihren Spaß daran haben.«

»Aber, aber«, schaltete sich Wilhelm Ahlhusen, Minas Vater, ein, der den Wortwechsel bis jetzt mit belustigter Miene, aber schweigend verfolgt hatte. »Es ist nicht Gott, der Schiffe baut, sondern es sind die Menschen ... und diese wiederum hat er mit einem erfindungsreichen Geist ausgestattet. So eine Lustfahrt zu unternehmen ist ein kühnes, noch nie da gewesenes Unternehmen, folglich eine hervorragende Geschäftsidee.«

»Das wird sich noch zeigen.«

»Aber prachtvoll anzusehen ist das Schiff auf jeden Fall!«, rief Mina.

Mittlerweile erblickte sie in der Ferne nicht nur die Schornsteine und die Masten, die in die winterliche Luft ragten, sondern den schwarzen Rumpf, vor dessen Hintergrund die Eisschollen einem Heer von Schwänen glichen. Winzig klein erschienen die vielen anderen Schiffe und Kähne, die im Hafen eingefroren waren und keinen anderen Sinn hatten, als die Größe und Pracht des Luxusdampfers hervorzuheben. Kein Wunder, dass man diesem gerne den Beinamen »die schöne Hamburgerin« gab – Mina fand, dass sie ihn völlig zu Recht trug. Festliche Flaggen knatterten im Winterwind, viele der Schaulustigen hatten Tücher hervorgezogen, um zu winken, alles drängte Richtung Schiff, um es so genau wie möglich in Augenschein zu nehmen – nur ihre Kutsche blieb endgültig stehen.

»Wir sollten aussteigen und zu Fuß weitergehen«, schlug Mina vor.

»Zu Fuß? Ich dachte, diese Reise dient ausschließlich dem Vergnügen«, knurrte Hedwig.

»Noch haben wir sie ja nicht angetreten, und auch auf den Landausflügen werden wir manche Wanderung unternehmen.«

»Wenn wir denn das Schiff überhaupt erreichen ...«

Trotz ihrer skeptischen Worte erhob sich Hedwig, nachdem Wilhelm aufgestanden war, die Tür geöffnet und ihr die Hand angeboten hatte, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Mina hatte ihre Großmutter oft über schmerzende Glieder klagen gehört, doch man sah ihr diese nicht an. Ihr Rücken war kerzengerade und der Kopf so hoheitsvoll gereckt, als würde sie darauf ein paar Bücher balancieren. In ihrer Jugend, so erzählte sie oft, hätte sie wie jede Frau acht Unterröcke übereinander getragen, weil die Mode dies so vorschrieb, und obwohl sie mittlerweile auf die Hälfte verzichtete, glich ihr Reisekostüm – ebenso schwarz wie all die Kleidung, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor dreißig Jahren trug – einem Panzer. Selbst die Schneeflocken, die vereinzelt in der Luft tanzten, schienen diesen zu scheuen, während Minas Hände und Wangen bald nass davon wurden.

Sie selbst trug nicht so viele Unterröcke, jedoch wie stets ein enges Mieder, und als sie sich durch die Masse hindurchkämpfte, atmete sie zunehmend schwerer. Dass sie mit den halbhohen, geschwungenen Absätzen ihrer Stiefeletten mehrmals im matschigen Schnee stecken blieb, machte das Fortkommen kaum leichter, und unter dem dicken, pelzverbrämten Cape aus olivgrünem Wolldamast fing sie zu schwitzen an. Gottlob, dass sie wenigstens nur das Handgepäck zu tragen hatten, während der Rest schon auf dem Schiff wartete.

»Aus dem Weg, aus dem Weg!«, rief sie keuchend.

Niemand hörte auf sie, und obwohl die Stimme ihres Vaters – eine große, stattliche Erscheinung, der man den vielen Branntweinkonsum der letzten Wochen erst auf den zweiten Blick ansah – ungleich dunkler und dröhnender klang, erreichte er mit seinem »Weg da!« kaum mehr. Lauter noch als ihre Bitten und Befehle waren die vielen Jubelrufe, und selbst als Mina ihre Ellbogen einsetzte, zog sie damit nur irritierte Blicke auf sich, während keiner ihr Platz machte – schlichtweg, weil es keinen mehr gab, sondern sich die Schaulustigen gegenseitig auf die Füße traten. Längst sah sie nichts mehr von den gelben Schornsteinen, nur schwarze Hüte und Mäntel, Muffe und Stiefel und den eigenen weißen Atem, der vor ihrem Mund aufstieg. Doch als sie schon aufgeben, gar zur Kutsche zurückkehren wollte, verstummte die Menschenmasse jäh. Das Einzige, was nun zu hören war, waren die Klänge der Bordkapelle, die auf dem Deck des Schiffes spielte.

»Jetzt legt das Schiff wirklich ab«, sagte Mina traurig.

Doch niemand erteilte den Befehl »Leinen los!«, und anstatt sich noch dichter an das Schiff heranzuwagen, wichen die Schaulustigen plötzlich zurück. Diesmal wurde Wilhelms Befehl, Platz zu machen, sofort befolgt, und durch die schmale Gasse, die sich auftat, gelangten sie ganz ohne Drängen zur Landungsbrücke. Die letzten Schritte bis zum Kai starrte Mina konzentriert auf den Weg. Das fehlte noch, auszurutschen und damit das so nahe Ziel zu verfehlen! Erst als sie es erreicht hatte, sah sie sich wieder um und erblickte nicht weit von sich einen Mann mit spitzem Bart und grüner Uniform, glänzenden Goldepauletten und funkelnden Knöpfen. Eben trat er auf das Schiff zu, von wo aus ihm ein zweiter entgegenkam, dieser in Zivil gekleidet und etwas kleiner, was nicht nur an der unterschiedlichen Körpergröße, sondern auch an seiner dienernden Kopfbewegung lag.

Diesen Mann kannte Mina: Es war Albert Ballin, der Passageleiter der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktiengesellschaft – was ein so monströser Name war, wie ihr Vater oft spottete, dass man sie entweder die Hamburg-Amerika-Linie oder HAPAG nannte. Letzteres fand wiederum ihre Großmutter monströs, weil es in ihren Augen an einen missglückten Hundenamen erinnerte.

So oder so: Während Mina Herrn Ballin schon öfter begegnet war, kam ihr der andere Mann nur vage bekannt vor, und ihrem Vater schien es ähnlich zu gehen.

»Na also«, sagte Wilhelm, »das Schiff wartet auf sämtliche Passagiere.«

»Das ist doch kein Passagier«, schalt Hedwig streng. »Das ist unser Kaiser Wilhelm II. Offenbar ist er gekommen, um das Schiff persönlich zu inspizieren und zu verabschieden.«

Mina nickte aufgeregt. »Es ist ja auch nach seiner Gattin benannt.«

»Von wegen!« Hedwig rümpfte die Nase. »Unsere Kaiserin heißt Auguste Victoria. Welch eine Schande, dass man ihren Namen nicht richtig geschrieben hat, als man das Schiff taufte.«

Wilhelm Ahlhusen schien nicht sonderlich von seinem kaiserlichen Namensvetter beeindruckt. »Ob nun Augusta oder Auguste. Zumindest haben wir Zeit gewonnen, um ganz gemütlich an Bord zu gehen.«

Mina unterdrückte ein Grinsen, während die umstehenden Menschen nicht ganz so humorvoll waren und ihnen ob des Getuschels strenge Blicke zuwarfen. Obwohl Mina den Kaiser, dem Albert Ballin eben etwas erklärte, gerne länger beobachtet hätte, huschte sie über die Laufbrücke an Bord. Wieder achtete sie bei jedem Schritt darauf, nicht auszurutschen, aber das enge Mieder machte ihr nicht länger zu schaffen. Immer befreiter atmete sie, als ihr aufging, dass sie es geschafft hatte: Sie war an Bord der Augusta Victoria, und sie würde bei jener denkwürdigen »Lustfahrt« dabei sein, über die seit Wochen sämtliche Zeitungen und Journale berichteten!

Minas Hoffnung, das Gedränge hinter sich zu lassen, sobald sie das Schiff betrat, erfüllte sich nicht. In den vielen Gängen, die zu den Kabinen führten – ein regelrechtes Labyrinth einander vollkommen ähnlicher Räumlichkeiten – war es noch enger als auf der »Alten Liebe«. Nicht nur, dass alle Reisenden von den Stewards zu ihrer Unterkunft der nächsten Wochen geführt wurden – anstatt dort zu bleiben und auszupacken, schienen alle gleichzeitig das Schiff in Augenschein nehmen zu wollen. Etliche reklamierten, dass ein Gepäckstück fehlte, andere drängte es nach oben, um das Promenadendeck, die Damen- und Rauchsalons oder das Musikzimmer zu inspizieren; weitere trafen auf Freunde und Bekannte und begrüßten sie überschwänglich.

»Hätte man sie nicht alle fürs Erste einsperren können?«, murrte Hedwig.

Ihre schlechte Laune teilte niemand. Trotz der Hektik und Enge blickte Mina nur in aufgeregte Gesichter und vernahm etliche Begeisterungsrufe, ob von dem Berliner im Havelock – einer ärmellosen Jacke – und mit buschig umrahmten Lippen, dem Bayern, der zur grauen Sommerjoppe einen türkischen Fez trug und in breitem Dialekt die Einrichtung seiner Kabine lobte, oder dem Sachsen mit fliegenden Bartkoteletten, der bei jedem Mitreisenden, dem er begegnete, seinen Hut lüftete, was dazu führte, dass er ihn kaum länger als einen Atemzug aufgesetzt behielt.

Anders als sie, die irgendwann nicht mehr mitzählte, wie viele Ellbogen sich in ihre Rippen gerammt hatten, blieb Hedwig dank ihres wagenradförmigen Huts vor schmerzhaften Stößen bewahrt, doch als ein Steward in adretter Uniform und mit weißen Handschuhen ihre Kabinentür öffnete, sank ihre Laune endgültig auf einen Tiefpunkt.

»Was für ein Glück, dass wir rechtzeitig an Bord gekommen sind«, höhnte sie, während sie sich umsah.

Der Vater grinste verstohlen und war erleichtert, in der Nachbarkabine vom Genörgel seiner Mutter verschont zu bleiben. Mina hingegen entschied, es gar nicht an sich herankommen zu lassen, und sah sich neugierig um, ehe sie sich auf die untere der beiden Kojen, die sich übereinander an der Längswand befanden, sinken ließ.

Hedwig war deutlich vorsichtiger. Bevor auch sie sich neben ihr niederließ, prüfte sie misstrauisch die Matratze. An dieser war ausnahmsweise nichts auszusetzen, aber ein anderer Umstand schürte ihren Ärger umso mehr.

»Ein Stockbett, also wirklich! War im Reisekatalog nicht von behaglichen Schlafkammern mit luxuriösen Toiletten und großen Betten die Rede?«

»Keine Angst, Großmama, ich schlafe natürlich oben. Und sieh nur, man kann einen Vorhang vor die Koje ziehen!«

»So klein, wie alles ist, kann man sich ja kaum umdrehen.«

Mina sprang auf und testete die beiden Waschbecken an der Stirnwand der Kabine.

»Es funktioniert! Und es gibt kaltes und warmes Wasser!«

»Und wie will man hier ein Bad nehmen?«, fragte Hedwig.

»Vorhin habe ich gehört, dass sich auf jedem Gang ein Badezimmer befindet. Der Badesteward stellt den Zeitplan auf, wer es wann benutzen darf. Man muss sich bei ihm oder dem Kammersteward anmelden.«

Hedwig runzelte missbilligend die Stirn. »Und das nennt man Lustreise?«, fragte sie einmal mehr. »Wenn man nicht einmal baden darf, wann man will?«

»Aber stell dir vor, es gibt eine eigene Barbierstube, und der Bordfriseur verfügt über einen elektrisch geheizten Warmwasserbehälter.«

Hedwig schnaubte. »Die Haare wasche ich mir wieder daheim – mit einem halben Dutzend Eidotter und Cognac. Viel lieber wäre mir ein bequemes Bett.«

Mina betätigte den Lichtschalter. »Schau, wir haben elektrisches Licht! Und zwar mindestens fünfundzwanzig Kerzen stark.«

»Pah, das ist nichts Außergewöhnliches. Das hat heutzutage doch fast jedes Schiff. Wobei ich mich frage, warum hier noch Öllampen stehen, wenn wir doch elektrisches Licht haben.«

»Du weißt doch, die elektrischen Anlagen sind störanfällig.«

Hedwig nickte nahezu befriedigt, ehe sie nach dem nächsten Makel Ausschau hielt. Sie deutete auf die Decke. »Und diese Windhutzen werden sicher nichts gegen tropische Temperaturen ausrichten. Ich sehe uns schon verschmachten!«

Mina musste lächeln. »Im Winter wird es doch nicht so heiß, Großmama. Noch nicht einmal an der Levante-Küste.«

»Dann hätte man statt der Windhutzen ja ruhig Schränke einbauen können. Oder wo sollen wir das Gepäck verstauen?«

»Es stimmt«, gab Mina zu, »Schränke gibt es nur in der ersten Klasse. Aber wir können das Gepäck unter den Kojen verstauen. Oder hier oben in den Gepäcknetzen.« Hedwig schnaubte missbilligend. »Ja, sind wir denn etwa in einem Bahnabteil gelandet?«

Mina sah ein, dass sie ihre Großmutter nicht mehr von den Annehmlichkeiten der Augusta Victoria würde überzeugen können.

»Kommst du mit, um dir mit mir die Salons anzusehen?« Hedwig schüttelte den Kopf. »Ich will lieber ausprobieren, ob das Bett so unbequem ist, wie es aussieht.«

Mina hatte mittlerweile ihr Cape und ihren Hut abgelegt. »Vielleicht begleitet mich Vater. Ich werde mal nachsehen, ob er über die Kabine genauso unglücklich ist wie du.«

»Dein Vater ist wahrscheinlich längst im Rauchsalon und genießt ein Glas Cognac oder Brandy ... Ein paar kräftige Schlucke und er ist mit allem versöhnt, selbst wenn er auf einer Nussschale durch den stürmischen Ozean triebe.«

Mina wollte einwenden, dass ihr Vater gewiss lieber vom Promenadendeck aus zusehen wollte, wie das Schiff ablegte, doch wenn sie ehrlich war, war sie sich dessen nicht so sicher. Sie selbst wollte sich auf jeden Fall nicht das Vergnügen nehmen lassen, den Hafen von Cuxhaven langsam entschwinden zu sehen.

Als sie nach draußen lugte, hatte sich der Gang etwas gelichtet; es waren vornehmlich Stewards, die aufgeregt umherschossen, um Kaffee und Tee zu servieren, zusätzliche Decken zu bringen oder beim Auspacken zu helfen. An einer Stelle kam sie dennoch nicht weiter: Eben hatte eine überaus elegante Dame das Schiff betreten, auf deren Arm tatsächlich ein Papagei hockte. Vermutete Mina zunächst noch, dass das Tier aus Stoff sei, fing es plötzlich zu krächzen an. Es waren Beleidigungen, jedoch nicht für jeden zu verstehen, weil auf Englisch.

»Sie reist außerdem noch mit zwei Hunden«, ertönte eine Stimme hinter ihr, »allein für ihre Tiere hat sie sich eine zusätzliche Kabine gemietet.«

Mina fuhr herum. »Bethy!«, rief sie begeistert.

Das gleichaltrige Mädchen stolperte fast über ein Gepäckstück, als es die letzte Distanz überwinden wollte, doch da hatte Mina die Freundin schon erreicht und umarmte sie.

Wäre es notwendig gewesen, hätte Mina diese Reise auch ganz allein unternommen: Nichts und niemand hätte sie dazu gebracht, diese denkwürdige »Orient-Expedition« zu verpassen. Doch ihre Vorfreude darauf war noch gewachsen, seit sie wusste, dass Bethy zu den Passagieren zählte.

»Hast du den Speisesaal schon gesehen?«, rief Bethy. »Die Tische sind mit schwarzen Rahmen umfasst, damit das Geschirr nicht verrutscht, und die Drehsessel sind angeschraubt. Und der Musiksalon erst! Die Möbel sind mit weiß-golden gestreiftem Seidenstoff überzogen und sehen so edel aus, dass man nicht einmal zu niesen wagt.« »Ich bin doch gerade erst angekommen, und als Erstes will ich aufs Promenadendeck.«

Bethy nickte und wollte ihr schon folgen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Die skurrile Dame war samt Papagei in ihrer Kabine verschwunden, ebenso wie der Diener und die Kammerjungfer, die sie begleiteten, doch stattdessen traten nun Bethys Eltern, Werner und Alba Borgmann, aus ihrer Kabine – zur gleichen Zeit, da sich auch Wilhelm Ahlhusen aufmachte, das Schiff zu erforschen.

Er schenkte seiner Tochter ein freundliches Lächeln, aber seine Miene gefror, als er des Ehepaars Borgmann ansichtig wurde. Auch diese waren zunächst frohgemut und aufgeregt, doch deutliche Missbilligung trat in ihre Züge, als sie Wilhelm erkannten. Bei Werner konnte man zwar nie so deutlich sagen, was er fühlte, aber Albas Nasenspitze wurde weiß, wenn sie sich ärgerte.

Keiner der drei machte Anstalten, sich zu grüßen, keiner wollte aber auch weitergehen. Stocksteif standen sie da und starrten sich an, mit einer Kälte, als würden zwischen ihnen die gleichen Eisschollen treiben wie draußen im wintertrüben Wasser.

»Alba ... Werner ...«, stammelte Mina etwas hilflos.

Auch Bethy fiel nichts ein, um die angespannte Stimmung zu lösen. Jahrelang waren die Familien Borgmann und Ahlhusen einander eng verbunden gewesen – ein Grund, warum sich auch Mina und Bethy angefreundet hatten –, aber seit einem bitterbösen Streit vor einigen Monaten waren sie entzweit.

Nicht, dass Mina deswegen darauf verzichten wollte, an Deck zu gehen und zuzusehen, wie der stählerne Scheitel der Augusta Victoria das Eisfeld durchbrach. Doch als sie an ihrem Vater und dem Ehepaar Borgmann vorbeiging, war sie einmal mehr traurig und ratlos. Seit Wochen rätselten sie und Bethy vergeblich, warum ihre Eltern und ihr Vater kein Wort mehr miteinander sprachen. Anlass mochte besagter Streit gewesen sein, aber dessen eigentliche Ursache, davon war Mina plötzlich überzeugt, reichte viele Jahre zurück ...

ERSTES BUCH

Eine ingeniöse Geschäftsidee1885 – 1891

1. Kapitel

Ein nackter Po war das Erste, was Wilhelm Ahlhusen sah, als er die Augen aufschlug und sich schläfrig streckte. Es war ein prachtvoller Po, genau so, wie er sich ihn wünschte, rund und weiß und mit einem Grübchen auf jeder Backe, anziehender noch, als je eines auf Wangen sein konnte. Die Grübchen verführten ihn dazu, sich darüberzubeugen, einen Kuss darauf zu hauchen und mit seinem spitzen Schnurrbart die empfindliche Haut zu kitzeln, doch ehe er genießerisch schmatzen konnte, ertönte ein lautes Klopfen. Ein stechender Schmerz fuhr in seine Schläfen, gefolgt von der Einsicht, dass dieses Klopfen nicht zum ersten Mal erklang, sondern ihn gerade geweckt hatte.

Auch die Frau, der der Po gehörte, fuhr nun auf, wälzte sich zu seinem Bedauern auf den Rücken und zog rasch eines dieser dunkelroten, schwülstigen Bettlaken, wie es sie nur in Etablissements wie diesem gab, über ihren Körper. Der Busen war weit weniger entzückend – groß, aber schlaff –, und in dem Gesicht gab es erst recht nichts zu finden, was Wilhelm gerne betrachtete. Die harten Züge und die spitze Nase ließen ihn an einen Raubvogel denken; anstelle von lieblichen Grübchen furchten zwei Kerben die Wangen, und die blassblauen, eben entsetzt geweiteten Augen ließen sie ein wenig dümmlich wirken.

»Lieber Himmel, das wird doch nicht Otto sein!«, stieß sie aus.

Schlaf und Kopfschmerzen benebelten Wilhelms Sinne. Er brauchte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, dass die Frau keine der Huren war, mit denen er sich üblicherweise hier vergnügte, sondern die ehrenwerte Ilse Graff. Otto wiederum war ihr Mann und ein hochnäsiger Bankier, der ihm sein Leben schwer machte und dem er die vielen Schikanen heimgezahlt hatte, indem er seine Frau verführte – ein Gedanke, der ihm einen noch größeren Genuss bereitete als der Anblick des nackten Hinterteils. Dem neuerlichen Klopfen folgte eine Stimme: »Herr Ahlhusen, Herr Ahlhusen! Sie müssen sofort nach Hause kommen.«

Ilse war sichtlich erleichtert, dass es nicht Otto war, der ihren Schlaf gestört hatte, legte sich aber nicht wieder hin, sondern kämpfte damit, sich ihr Mieder umzulegen. Wilhelm hingegen hätte sich am liebsten unter dem roten Seidenlaken versteckt.

Ferdinand, sein Leibdiener, hatte ihm gerade noch gefehlt! Zwar erwies sich der meist als hilfreich, wenn Wilhelm so viel getrunken hatte, dass er nicht allein nach Hause fand, um nicht in ein Fleet oder ins Hafenbecken zu fallen, vielleicht sogar in der Mitte der Straße liegen zu bleiben drohte, doch für gewöhnlich war Ferdinand so diskret, dass er erst einschritt, wenn Not am Mann war. So weit, ein Schäferstündchen zu stören, war er bislang nie gegangen. Wobei dieses, genau betrachtet, vorbei war und es wohl eine einmalige Sache blieb. Ilse Graff war keine Frau, der man gern öfter als einmal das Mieder vom Leib riss, und Otto Graff war mit einer Nacht genug gedemütigt.

»Herr Ahlhusen! Bitte, nun kommen Sie!«

Wilhelm rieb sich die Schläfen. »Aber ja doch.«

Ilse hatte es zwar endlich geschafft, sich das Mieder zuzuschnüren, hatte ihr Kleid in der Hektik jedoch verkehrt herum angezogen. Eigentlich sollte sich der Rock übers Hinterteil bauschen, stand stattdessen aber von der Taille ab, als wäre sie guter Hoffnung. Obwohl sie den Fehler bemerkte, hielt nichts und niemand sie noch länger in diesem Etablissement, wo sich anständige Ehefrauen nicht blicken ließen, ja von deren Existenz sie eigentlich gar nichts wissen durften.

»Leb wohl«, hauchte sie, wagte Wilhelm nicht in die Augen zu schauen und stürmte mit hochrotem Gesicht nach draußen.

Wie eine Tomate vor dem Platzen, dachte Wilhelm.

Ferdinand ignorierte Ilse, als er in den Raum stürzte.

»Herr Ahlhusen ...«

»Ja, ja, ich hab's verstanden, ich soll nach Hause kommen. Machen Sie nicht so einen Lärm.«

Als er sich erhob, seufzte Ferdinand, was wohl weniger – wie Wilhelm mit einem Anflug von Schadenfreude dachte – seiner schamlos zur Schau gestellten Nacktheit geschuldet war, sondern der Tatsache, dass es eine Weile dauern würde, bis er wieder in seiner Kleidung steckte und sie sich auf den Heimweg machen konnten.

Während Wilhelm sich genüsslich streckte, bückte sich Ferdinand und reichte ihm die Unterwäsche, das weiße Hemd und die gestreiften grauen Hosen. Mit der restlichen Kleidung – einem schwarzen Gehrock und einem pelzgefütterten Tuchmantel – ging er nach draußen, sodass Wilhelm genötigt war, sich beides erst im Treppenhaus anzuziehen. Ein paar Huren – wie Wilhelm sie nannte – oder Animierdamen – wie sie sich selbst bezeichneten – lehnten mit tief ausgeschnittenen Flitterkleidchen am Treppengeländer oder lungerten auf Diwanen herum. Keine von ihnen sparte an einem koketten Lächeln, galt Wilhelm doch als großzügig und freundlich. Er erwiderte es breit, labte sich kurz an der Vorstellung, mit einer, vielleicht auch zwei oder sogar drei der Mädchen in die schwülstigen Laken zu sinken, wurde alsbald aber von noch heftigeren Kopfschmerzen gepeinigt, als Ferdinand ihn durch die Eingangstür nach draußen trieb, ihm das Licht in die Augen schnitt und die kalte Morgenluft ihn frösteln ließ.

Was für ein ungemütlicher Tag!

»Schneller!«

Am liebsten hätte er Ferdinand um Erbarmen angefleht, aber der zerrte ihn im Stechschritt eines Soldaten auf die bereits wartende elegante Equipage. Ein livrierter Diener saß auf dem Bock, der verächtlich auf die dreckige Straße von Sanct Pauli starrte und das Pferd antrieb, kaum dass Wilhelm das Gefährt bestiegen hatte. Der Ruck führte dazu, dass er mit dem Kopf voran auf den Sitz fiel, doch Ferdinand wartete nicht, bis er sich wieder aufgerappelt hatte, sondern band ihm ein buntes Halstuch um – ein hoffnungslos altmodisches Accessoire, da andere Herren längst der einfarbigen Krawatte den Vorzug gaben. Danach reichte er ihm einen Kamm, mit dem Wilhelm sich erst durch das schüttere Haupthaar fuhr, später durch den Schnurrbart, der wild nach allen Seiten abstand. Nicht, dass sein Bart damit auch nur annähernd dem sogenannten Kaiserbart glich. Dieser Schnurrbart, dessen Enden im rechten Winkel vom Mund abstanden und in zwei Spitzen mündeten, ließ sich nur erreichen, wenn man nachts eine Bartbinde trug und zuvor eine Pomade mit dem vielsagenden Namen »Es ist erreicht« auf das Barthaar schmierte. Pah, Bartbinden, das fehlte ihm noch! Damit konnte er keine Frauen küssen! Wobei er sich an keine süßen Küsse erinnerte, wenn er an die zurückliegende Nacht dachte. Wilhelm hätte am liebsten ausgespuckt, um den säuerlichen Geschmack in seinem Mund loszuwerden, aber er wagte es nicht, Ferdinand derart vor den Kopf zu stoßen. Dessen Uniform war noch prächtiger als die des Kutschers, gestreift nämlich und mit Goldknöpfen, und während jeder andere darin wie ein eitler Gockel ausgesehen hätte, trug er sie mit der Würde eines Königs.

»So«, meinte Wilhelm und gab ihm den Kamm zurück, »jetzt sagen Sie mir, was passiert ist.«

Ferdinands Lippen wurden schmal. Nicht, dass Wilhelm eine Antwort erwartet hatte. Wenn er sich recht besann, waren es immer dieselben Sätze, die er aus Ferdinands Mund hörte – Kommen Sie! Beeilen Sie sich! Warten Sie, ich helfe Ihnen! Alles andere – ob Missbilligung, Tadel oder Ratschläge – ersparte er sich ebenso wie jetzt eine Auskunft.

Wilhelm bedrängte ihn nicht weiter, sondern sah nach draußen. Obwohl der Tag noch jung war, begann sich die Straße zu füllen: Ihr Weg kreuzte sich mit dem der zweistöckigen Pferdeeisenbahn, etlichen Kutschen und Fuhrwerken, außerdem ein paar Lastenträgern, Fischhändlern und einer Frau mit einem Milchwagen, auf dem zwei schwere Kannen standen.

Milch, wie ekelhaft, dachte Wilhelm, was gäbe ich jetzt für einen Schluck Cognac!

Nicht lange, dann hatten sie den Zollkanal hinter sich gelassen, waren an der Katharinenkirche vorbeigekommen und erreichten das schmale, giebelgekrönte Haus der Ahlhusens im Nikolaifleet – aus rotem Backstein errichtet, von dem sich der weiße Stuckrahmen um die Fenster deutlich abhob. Eine Linde und eine Kastanie warfen ihre Schatten auf das Eingangstor, und Girlanden aus Sandstein gaben der eigentlich streng anmutenden Fassade etwas Verspieltes.

Obwohl Ferdinand so steif in der Kutsche gethront hatte, als hätte er einen Spazierstock verschluckt, sprang er nun flink aus der Equipage und reichte Wilhelm vorsorglich die Hand. Den überkam tatsächlich kurz Schwindel, als er sich erhob, und ohne Ferdinands Hilfe wäre er kopfüber aufs Straßenpflaster geplumpst. Auf seinen Arm gestützt, hielt er sich jedoch aufrecht und erreichte mit halbwegs geraden Schritten die Eingangstür. Ehe er den Türklopfer in der Form eines Löwenkopfs ergreifen konnte, wurde ihm schon von Magda, einem der Hausmädchen, geöffnet.

Magda war auch ein hübsches Mädchen. Ihr Po hatte wahrscheinlich nicht die Form einer Birne wie der von Ilse Graff, sondern die eines Apfels, aber das verspräche eine nette Abwechslung, zumal sie wohl weder so skrupellos wie eine Ehefrau noch so verdorben wie seine Huren war ...

Wilhelm ließ Ferdinands Arm los, stolperte über die Türschwelle und wollte ihr schon ein Kompliment machen, um ein sachtes Rot auf die Wangen zu zaubern, als ein Räuspern ertönte. Er blinzelte und sah, dass nicht nur Magda seine Ankunft erwartete, sondern sich die gesamte Dienerschaft in der Diele versammelt hatte: zwei Diener, ein Hausknecht und die Hausmädchen, die Jungfer seiner Mutter und sogar die Köchin, Frau Käthe. Zwei der Mägde mit schwarzen Händen, hatten sie doch schon vor Tagesanbruch Kohle zum Schlafzimmer der Herrin hochgeschleppt. Niemand sah ihn an, alle starrten hartnäckig auf den schwarz-weiß gefliesten Boden.

»Warum schaut ihr denn so ernst?«

Er strich Magda vertraulich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch anstatt zu erröten, wich sie nur verlegen zurück und brachte kein Wort hervor. Die Stimme einer anderen klang umso schmerzhafter in Wilhelms Ohren.

»Wo bist du gewesen?«, ertönte sie vom oberen Ende der breiten weiß lackierten Dielentreppe her.

Hedwig Ahlhusen, Wilhelms Mutter, betrachtete ihn mit dem üblichen hoheitsvollen und verdrossenen Gesichtsausdruck, und als er ihr die Antwort schuldig blieb, schritt sie langsam nach unten – im gleichen Augenblick, als die große Uhr im Salon zu schlagen begann. Das Klackern von Hedwigs halbhohen Absätzen wurde von dem Dröhnen übertönt, und doch wurde Wilhelm das Gefühl nicht los, dass sie nicht einfach auf die Stufen trat, sondern auf seinem Kopf herumtrampelte.

Am liebsten hätte er es den Dienstboten gleichgetan und auf den Boden gestarrt, doch als die Uhr wieder verklang, nunmehr nur das Rauschen ihres Taftunterrocks zu hören war und ihr Blick immer stechender wurde, wich seine Verlegenheit Ärger.

Natürlich, Hedwig hatte sein Vergnügen gestört, wer sonst! Seine Frau Irmgard hatte sich schließlich längst daran gewöhnt, dass er die Nächte lieber anderswo verbrachte. Insgeheim, das vermutete er schon seit Langem, war ihr das sogar recht.

»Wo ich gewesen bin?«, fragte er trotzig. »Oh, ich glaube, das willst du gar nicht wissen, liebe Mutter. Mich wundert, dass du so frühmorgens schon wach bist.«

Selbstverständlich wusste er, dass Hedwig jeden Tag um spätestens halb sechs ihr Bett verließ, aber er hoffte, sie ein wenig aus der Reserve locken zu können.

Die hellblauen, im Morgenlicht fast farblos anmutenden Augen blieben jedoch kalt und starr, als sie ihn musterte. Obwohl Ferdinand ganze Arbeit geleistet hatte und er adrett angekleidet war, hatte der Diener weder etwas gegen die Bartstoppeln auf den Wangen, die geschwollenen Augenlider oder den Branntweingeruch, der Wilhelm wie eine dichte Wolke umgab, ausrichten können.

»Ich war die ganze Nacht wach«, erklärte Hedwig.

Ich auch, dachte Wilhelm, und soll ich dir erzählen, was genau ich getrieben habe?

Doch da fuhr Hedwig schon mit messerscharfer Stimme fort: »Irmgard ist schwer erkrankt, sie hatte einen ihrer Fieberschübe ...«

Wilhelm musste an sich halten, um die Augen nicht zu verdrehen. Deshalb diese Hektik am frühen Morgen!

»Irmgard ist doch ständig krank, das ist nichts Außergewöhnliches, und erst recht kein Grund, um ...«

Bis jetzt war Hedwig auf der untersten Stufe stehen geblieben, nun trat sie zu ihm. Obwohl sie deutlich kleiner war, hatte er das Gefühl, zu ihr aufschauen zu müssen.

Diese verfluchten Kopfschmerzen!

Er kniff die Augen zusammen und las deswegen nicht in ihrer Miene, als sie unvermittelt verkündete: »Irmgard ist vor einer halben Stunde gestorben.«

Wilhelm vermeinte erneut das Dröhnen der Uhr zu spüren, obwohl dieses längst verstummt war. Seine Lippen wurden taub, als alles Blut aus seinem Gesicht schwand, sein Kopf schien zu wachsen, desgleichen seine Zunge, die überdies so trocken wurde, dass er nicht schlucken konnte, geschweige denn einen Ton hervorbringen.

»Aber ...«, setzte er schließlich doch heiser an.

Noch viele andere Worte lagen auf seinen Lippen: dass Irmgard so oft krank war, dass ein Großteil ihrer Leiden auf Einbildung beruhte, dass jemand wie sie doch nicht einfach so starb, nachdem man es jahrelang umsonst erwartet hatte. Aber ihm fehlte nicht nur die Stimme – keines seiner Worte hätte so viel Gewicht, um die von Hedwig zu entkräften.

Tot ... Irmgard ist tot ...

Schwer stützte er sich aufs Geländer. In den Gesichtern der Dienerschaft nahm er Gleichgültigkeit, Mitleid oder Trauer wahr, doch ehe er entscheiden konnte, was er selbst fühlte, kämpfte er sich die Treppe hoch. Erstaunlich, dass er erst bei der letzten Stufe stolperte.

»Soll ich Ihnen heißen Kaffee bringen?«, hörte er Magda rufen.

»Er ist doch jetzt wach«, sagte Hedwig streng. »Bringen Sie den Kaffee lieber mir. Ich kann ihn gut gebrauchen.«

Wilhelm ächzte, bis er endlich Irmgards Schlafzimmer im zweiten Stock erreicht hatte. Die Tür aus dunklem Eichenholz war geschlossen, und vage Erinnerungen an seine Kindheit stiegen in ihm auf, als dies noch das Zimmer seiner Mutter und er zu klein gewesen war, um die schwere Tür selbst zu öffnen. Jetzt versuchte er es gar nicht, sondern blieb mehrere Schritte davor stehen.

Irmgard ... tot ... tot ... tot ...

Er wartete – wartete auf Entsetzen ob der schockierenden Nachricht, auf Schuldgefühle, weil er lieber herumgehurt und getrunken hatte, anstatt ihr beizustehen, wartete auf Empörung, weil sie doch viel zu jung war, um zu sterben – die vielen Krankheiten hin oder her –, wartete auf die Sehnsucht, sie noch einmal zu sehen, über das wahrscheinlich wächserne Gesicht und die dunklen Locken zu streicheln, die ihm damals, als sie einander vorgestellt wurden, durchaus gefallen hatten. Aber in ihm war ... nichts, und dieses Nichts war fast noch entsetzlicher als der Tod.

Ich bin ja auch tot.

So viele ehrenwerte Ehefrauen konnte er gar nicht verführen, so viele Feste in Sanct Pauli – oder in Sanct Liederlich, wie es im Volksmund hieß – nicht feiern, um wieder lebendig zu werden. Selbst das Herz seiner Mutter, obgleich unter dem Mieder sowie mehreren Schichten Stoff verborgen und wahrscheinlich aus Eisen oder Stein, schlug schneller als seins.

Wie aus weiter Ferne vernahm er das Schlagen der Uhr, nach einer Weile noch einmal, was bedeutete, dass er nun mindestens eine halbe Stunde vor dem Schlafzimmer seiner toten Frau stand, und doch konnte er es nicht betreten, gleich so, als wäre ein unsichtbarer Bannkreis davor gezogen.

Wenigstens eine Träne war er ihr doch schuldig, schließlich war sie ihm immer eine gute Frau gewesen ... vorausgesetzt, wenn man gut mit klaglos und schlicht gleichsetzte. Aber anstatt zu weinen, wuchs bloß der Drang, sich zu übergeben.

Erst als er sich nach etwas umblickte, in das er spucken könnte, sah er sie. Sie stand in der Ecke des Gangs hinter einem kleinen Tischchen, nur mit einem dünnen Seidennachthemd bekleidet und mit nackten Füßen. Ihr Gesicht war fast gänzlich von den schwarzen Locken bedeckt, die auf ihrem Kopf dichter wuchsen als auf Irmgards.

»Mina, was machst du hier?«

Obwohl seine Tochter schon dreizehn Jahre alt war, erschien sie ihm wie ein kleines, verstörtes Kind. Doch dann hob sie ihren Blick, und der war nüchtern und ... alt.

»Ich glaube, sie hatte Leukämie«, sagte Mina leise, »das ist Blutkrebs. Darum war sie immer so geschwächt und müde, und das erklärt auch das Fieber, ihre Ausschläge und dass sie nachts so stark geschwitzt hat. Ich habe gelesen, dass man jahrelang damit leben, dass es aber auch sehr schnell zu Ende gehen kann.«

Sie sprach mit der rauen Stimme, die ihr eigen war und so gar nicht zu der Verzweiflung und dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit passte, die in ihren veilchenblauen Augen standen.

Wilhelm wusste, er sollte zu Mina gehen, sie umarmen, seine Jacke ausziehen und sie ihr umhängen, sie vielleicht sogar hochheben, um gemeinsam mit ihr Irmgards Schlafzimmer zu betreten und sich von der Ehefrau und Mutter zu verabschieden. Doch er konnte sich nicht rühren, konnte nur hilflos stammeln: »Du ... du solltest dich nicht mit solchen Dingen beschäftigen.«

Mina zuckte die Schultern. Obwohl sie sich ihre Haare aus der Stirn strich, wirkte ihr Gesicht winzig.

Nun tu es schon, umarme sie, tröste sie, sie ist dein einziges Kind, der einzige Mensch, der dich liebt!

Aber Wilhelm fühlte sich wie gelähmt. »Es tut mir leid«, flüsterte er, ehe er sie stehen ließ und wieder nach unten stürmte.

Hedwig stand immer noch am Fuß der Treppe, als wäre sie dort festgewachsen. Wenngleich sie nicht wissen konnte, dass er Irmgard nicht zu sehen gewagt hatte, las er Verachtung in ihrer Miene.

»Ich will nicht, dass sie hier im Haus aufgebahrt wird«, stieß Wilhelm aus. »Ich ... ich ertrage das nicht. Schafft sie ... schafft sie in die Kirche.«

Er musste sich am Treppengeländer festhalten, um nicht zu fallen. Seine Hände waren schweißnass, der Würgereiz wurde noch stärker.

»Was bist du für ein Feigling«, zischte Hedwig.

Er machte sich auf weiteren Tadel gefasst, doch als Hedwig gewahr wurde, dass auch Ferdinand ihre Worte gehört hatte, machte sie ein ausdrucksloses Gesicht. »Veranlassen Sie, was immer mein Sohn will, er ist schließlich der Herr des Hauses«, befahl sie.

Wilhelm sah noch, wie Ferdinand dienstbeflissen nickte, dann stürzte er nach draußen. Diesmal war die Morgenluft nicht schmerzhaft, sondern belebend, aber sehr weit kam er trotzdem nicht. Keuchend lehnte er sich an die Hausmauer und würgte, ohne sich übergeben zu können.

»Kann ich etwas für Sie tun?« Magdas Spitzenhäubchen wehte im Wind, als sie ihm nachgelaufen kam. In Hamburgs Straßen hing wie immer der Gestank der unzureichenden Kanalisation, aber Magda duftete nach Rosen.

Wilhelm rang sich ein Lächeln ab. »Das ist lieb, aber ...« Aber süße Küsse waren ihm jetzt zu wenig. Um diesen vagen Schmerz in seiner Brust zu betäuben, brauchte er etwas Stärkeres. Branntwein, viel mehr Branntwein, als er letzte Nacht getrunken hatte.

Er streichelte ihre Hand und lächelte noch breiter. »Geh wieder ins Haus hinein«, sagte er. »Aber wenn ich zurückkomme, würde ich mich über deine Gesellschaft sehr freuen und ...«

Er brach ab.

»Irmgards Leichnam ist noch nicht einmal kalt«, hörte er Hedwig schimpfen, die ihm wie Magda gefolgt war. Sein Lächeln schwand, und ohne sie noch einmal anzusehen, floh Wilhelm die Straße hinauf.

2. Kapitel

Bethy glühte vor Fieber. Jedes Mal, wenn Werner Borgmann ihre Stirn berührte, vermeinte er, dass sie noch heißer war. Vorhin, als das Schiff am Jonashafen angelegt hatte, hatte sich seine Tochter noch aufrecht halten können, und der Blick ihrer haselnussbraunen Augen war klar gewesen. Mittlerweile mussten Alba und er sie mit vereinten Kräften stützen, und sie fing zu fantasieren an.

»Licht ... so viel Licht ... haltet die Kerze nicht so dicht an mein Gesicht heran ... Orangenschalen ... ausgelöst ... mit Öl gefüllt ... ein Docht steckt darin ... das Öl darf nicht ausgeschüttet werden, es ist doch so heiß ... Nicht! Passt auf das Öl auf!«

Werner tauschte einen besorgten Blick mit seiner Frau. »Wir sind doch nicht mehr in Brasilien, Liebes«, sagte Alba. »Wir ... wir sind in die Heimat deines Vaters zurückgekehrt. Hier gibt es keine Kerzen, die in Orangenschalen stecken.«

Hier ist es grau und kalt ...

Nur mit Mühe gelang es Werner, die Fassung zu wahren und seine Verzweiflung nicht zu zeigen. Wenn er Bethy nicht hätte stützen müssen, hätten seine Beine vielleicht schon nachgegeben, und er wäre auf den Boden gesunken.

Während der schrecklichen Fahrt, die sie zusammengepfercht mit anderen Passagieren im Zwischendeck zugebracht hatten, hatte er all seine Hoffnungen auf das Ende der Reise gerichtet. Wenn sie erst wohlbehalten Hamburg erreichten, genügend Licht und Luft bekommen würden, außerdem frisches Wasser und etwas anderes zu essen als keimende Kartoffeln, würde alles gut werden. Doch nun, da die Stadt unter einem Nebelschleier verborgen lag, selbst die nahe Eisenbahnbrücke, die die Norder- und Süderelbe verband, von grauen Schwaden verschluckt wurde und das einzig Warme der glühende Körper seiner geschwächten Tochter war, glaubte er, im untersten Bereich der Hölle gelandet zu sein.

Und es ist meine Schuld, dachte er. Ich habe meine Familie nicht ausreichend ernährt, musste meiner Frau vielmehr zumuten, ihre Heimat zu verlassen und alles Vertraute zurückzulassen, und jetzt kann ich meiner Tochter weder Hunger noch dieses Fieber ersparen.

»Nicht!« Alba legte ihre Hand auf seine. »Mach dir keine Vorwürfe! Irgendwie ... irgendwie schaffen wir es ...«

Werner nickte schwach.

»Wir müssen sie zu einem Arzt bringen«, fuhr Alba fort.

»Wenn erst einmal das Fieber sinkt ...«

Wieder nickte Werner. Nicht, dass er wusste, wie er einen Arzt bezahlen sollte. Und schon gar nicht, wo er einen finden könnte. Er hatte Hamburg vor fast zwanzig Jahren zum letzten Mal betreten, und schon damals war ihm die Stadt nicht nur fremd, sondern aufgrund ihrer Größe regelrecht unheimlich gewesen, war er doch fern von ihr in der Lüneburger Heide aufgewachsen.

Er sah sich um. Hölzerne Segelschiffe lagen an den Duckdalben im Strom, dazwischen ragten die Schornsteine etlicher Dampfer in den kalten Himmel. Kommis und Makler, Flaneure und Seeleute gingen ihrer Wege. Am auffälligsten waren drei griechische Matrosen mit türkischem Fez.

»Dort hinten!« Er deutete in die Nebelschwaden. »Dort muss die Sanct-Pauli-Landungsbrücke sein, und von dort geht es in die Hafenstraße.«

Seine Stimme klang wenig überzeugend, und Bethy verlor sich wieder in ihren Fieberfantasien.

»Pedro!«, rief sie. »Pedro will mit mir zur Zuckermühle ... aber dorthin dürfen wir doch nicht ... Jetzt spielt er etwas auf der Viola ... Sag ihm, er soll zu spielen aufhören! Es tut in den Ohren weh!«

Alba verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Pedro war ihr kleiner Sohn, der vor drei Jahren gestorben war – ein Verlust, der Werner rückblickend nicht nur als ein schwerer Schicksalsschlag, sondern als böses Omen für die Zukunft erschien, hatte danach doch der Niedergang begonnen.

»Pedro«, stöhnte Bethy wieder.

»Pst«, machte Alba, und ihre Miene wurde wieder ausdruckslos. »Du hast recht, wir müssen Richtung Stadt gehen, irgendwo werden wir schon Hilfe finden.«

Sie kamen genau zehn Schritte weit, ehe sie wieder stehen bleiben mussten – nicht wegen der Last von Bethys glühendem Körper, sondern einem Mann, der sich ihnen breitbeinig in den Weg stellte. Wegen der Kälte hatte er den Kragen seiner Uniform hochgeschlagen, sodass seine Stimme kaum vernehmbar war. Doch die drohend erhobenen Fäuste und der finstere Blick ließen keinen Zweifel an seiner schlechten Laune.

»Werner Borgmann. Mitkommen! Sofort!«

Nicht, dass Werner nicht genau das befürchtet hatte, dennoch war er fassungslos, dass der andere blind für seine Nöte war.

»Meine Tochter Elisabeth ist krank, Sie sehen doch ...«

»Das geht mich nichts an«, knurrte der Mann. »Sie haben ein Versprechen geleistet. Jetzt sorge ich dafür, dass Sie es auch einhalten!«

»Aber das will ich doch auch. Ganz bestimmt, ich schwöre es Ihnen. Aber erst muss ich einen Arzt für meine Tochter finden und dafür sorgen, dass sie ein Dach über den Kopf und ...«

»Das geht mich alles nichts an«, fiel ihm der Mann erneut scharf ins Wort.

Wegen einer abrupten Kopfbewegung rutschte ihm seine Mütze ins Gesicht, doch auch wenn Werner nun nicht länger dem kalten Blick ausgeliefert war, wusste er, dass er vergebens auf Mitleid hoffte.

Der Mann war Hermann Brack, Kapitän der Schleswig, mit der sie von New York hierhergefahren waren und somit den letzten Teil ihrer Odyssee hinter sich gebracht hatten. Zuvor hatten sie sich achtzig Meilen mit Lastkarren und Pferd vom Landesinneren an die Küste durchschlagen müssen und von Angra dos Reis ein Segelschiff nach Rio de Janeiro genommen, um dort allerdings zu erfahren, dass so bald kein Schiff nach Deutschland ablegen würde, lediglich eines nach Nordamerika. Die Passage dorthin hatte fast ihre gesamten Ersparnisse verschlungen, und für die drei Tickets von New York nach Hamburg war kein Geld mehr übrig geblieben, sodass sich Werner aufs Flehen und Bitten hatte verlegen müssen.

Hermann Brack hatte sich breitschlagen lassen, sie mitzunehmen – allerdings unter der Voraussetzung, dass Werner nach der Ankunft in der Werft arbeitete, die zur Reederei der Schleswig gehörte, und was ihn in New York zutiefst erleichtert hatte, stellte sich nun als Katastrophe heraus.

»Ich kann jetzt wirklich nicht ...«

»Sie werden wie vereinbart Ihre Schulden in der Werft abarbeiten. Sofort!«, grollte der Kapitän.

»Aber ich bitte Sie! Meine Tochter ...«

»Werner!«, fiel ihm Alba ins Wort. Sie atmete tief durch, suchte einmal mehr seinen Blick und nickte ihm beschwörend zu. »Geh mit!«, rief sie eindringlich. »Es ist sein gutes Recht, deine Arbeitsleistung einzufordern. Es war unsere einzige Möglichkeit, nach Deutschland zu gelangen. Ich ... ich sorge schon für Bethy. Mir fällt gewiss etwas ein.«

Die wenigen Schritte, die es bedurfte, um bis zu einer Lagerhalle zu gelangen und Bethy auf die vielen leeren Kisten zu legen, die sich davor stapelten, wurden für Werner zur Qual.

Eine große Familie habe ich Alba versprochen, haderte er, doch nicht nur, dass sie Pedros Tod und die vielen Fehlgeburten verwinden musste – jetzt wird sie auch noch Bethy verlieren.

Und er war überzeugt, dass an diesem nasskalten Tag nur der Tod auf seine Tochter wartete.

»Alba ...«, setzte er an.

»Wird's bald?«, zürnte Hermann Brack.

»Nun geh schon!«

Oh, seine schöne, starke Alba, die noch in der Stunde der größten Not nicht an sich dachte, sondern an ihn und ihn mit einem hoffnungsvollen Lächeln aufzumuntern versuchte, anstatt Verzweiflung zu zeigen! Dieses Lächeln machte es fast noch schwerer, von ihr zu gehen. Zwar ließ er sich vom Kapitän mitziehen, aber er drehte sich immer wieder nach seinen Liebsten um. Alba hatte sich auf eine der Kisten neben Bethy sinken lassen, den Oberkörper der Tochter auf ihren Schoß gebettet und sang ihr nun eines der Lieder vor, die sie von ihren paraguayischen Eltern gelernt hatte. Auch diese hatten einst ihre Heimat verloren, waren sie doch während eines blutigen Krieges ins Nachbarland Brasilien geflohen, aber wenigstens hatten sie dort nicht auf die feuchte Wärme, die farbenprächtigen Blüten der Palmen und Myrtensträucher, Jakarandas und Bigonien und die exotischen Vögel wie Tukane, Papageien und Kolibris verzichten müssen.

Während Werner sich immer weiter entfernte, begleitete ihn Albas Lied über diese bunten Vögel und Blumen Paraguays, die dem Land seinen Namen – »Farbenpracht« – gegeben hatten. Doch als er ihre Stimme nicht mehr hören konnte, war er sich sicher, nach diesem schrecklichen Tag nie wieder ein leuchtendes Rot, Blau oder Gelb wahrnehmen zu können.

Die Werft lag am Grasbrookhafen am südlichen Elbufer und war nur mit einer Schute zu erreichen, die von einem wortkargen Mann mit langen Peekhaken angetrieben und manövriert wurde. Die Fahrt dauerte nicht lange, führte waghalsig knapp an Großseglern und Dampfern, Frachtern, Barkassen und Kähnen vorbei. Schon von Weitem waren die Docks, der Kai und die Reparaturanlagen zu sehen, und bald standen sie vor dem Werfttor, wo der Kapitän Werner zu warten befahl, um selbst mit einem der Vormänner zu sprechen.

»Du rührst dich nicht von der Stelle«, forderte er schroff. »Wenn du glaubst, dass du mich betrügen und einfach abhauen kannst, dann werde ich dir die Hölle heißmachen.«

Die Hölle ist doch kalt, dachte Werner, aber er nickte.

Während er wartete, blickte er sich um. Auf einem Schild über dem Eingang war dasselbe Wappen zu sehen wie auf der Reedereiflagge, die die Schleswig am Großmast führte: Kunstvoll verschlungen waren die Initialen W. A. & S. zu lesen, die Abkürzung für Wilhelm Ahlhusen & Sohn, wie Werner während der Reise herausgefunden hatte. Er lugte durch das Eingangstor, sah eine große Schiffsbauhalle, diverse Werkstätten und einen riesigen Helling. Ohrenbetäubender Lärm dröhnte von allen Seiten, das Brausen und Stampfen der Räder und Stoßwerke, das Schwirren und Pfeifen der Riemen, der dumpfe Trommelschlag der Niethämmer und das durchdringende Pfeifen des Eisens, wenn die bissige Feile darüber hinwegging. Trotz des Getöses vermutete Werner, dass hier nicht mehr als zwei, drei Dutzend Menschen arbeiteten, war das Werftgelände insgesamt doch überschaubar.

Wenig später kam ein fremder Mann mit etwas steifem Gang und pockennarbigem Gesicht auf ihn zu. Seine Augen waren nicht so kalt wie die von Hermann Brack, sondern einfach nur gleichgültig. »Mitkommen!«, herrschte er ihn an.

Nachdem Werner eben noch in der eisigen Kälte gefröstelt hatte, wartete glühende Hitze auf ihn, sobald er – an der Schmiede, etlichen Laufkränen und der Maschinenhalle vorbei – zum Kesselhaus gebracht wurde. In dem heißen, dunstigen Raum wurde jene Dampfanlage beheizt, die die ganze Werft betrieb – vorausgesetzt, man nährte sie ausreichend mit Kohle. Die weit geöffnete Feuertür des Kessels glich einem roten, gierigen Rachen, der stets nach Nachschub verlangte, und Werner brach prompt der Schweiß aus. Verspätet nahm er die Schaufel wahr, die ihm der andere Mann in die Hand drückte.

»Du wirkst nicht so, als würdest du das hier lange aushalten«, sagte der verdrossen.

»Ich tue alles, was man von mir verlangt, wirklich, wenn ich nur meine Tochter ...«

»Mich interessiert nur, ob du genügend Kohle schaufeln kannst, ohne zusammenzubrechen.«

»Ich breche nicht zusammen, ich bin harte Arbeit gewohnt. In Brasilien habe ich Baumwolle angebaut.«

Noch lauter als das Zischen des Feuers war das Gelächter, das ihm antwortete.

»Kohle ist aber schwerer als Baumwolle.«

Mit diesen Worten ließ ihn der Vormann stehen, während es einem anderen Mann oblag, ihn in die Arbeit einzuführen.

»Das Feuer darf nie ausgehen, die Zeiger des Manometers müssen immer oben stehen. Wenn zu lange Pause gemacht wird, muss man die Glut neu entfachen, indem man Abfallholz und Späne in den Kessel wirft und die Zugschieber weit hinaufschiebt. Aber solange ich über das Feuer wache, passiert das nicht.«

Zuerst dachte Werner, dass der Mann ein schwarzes Hemd trug, erkannte dann aber, dass sein Oberkörper nackt, jedoch – wie auch Gesicht und Hände – über und über mit Kohlenstaub überzogen war. Weiß blitzten nur seine Zähne hervor, wenn er lächelte – und dieses Lächeln war unerwartet freundlich, als er sich als Gustav vorstellte.

»Am besten, du ziehst deine Jacke aus, du schwitzt dich sonst zu Tode.«

Trotz der Gluthitze hatte Werner nicht das Gefühl, als könnte sich jemals wieder Wärme in seinem Herzen ausbreiten, aber er tat wie geheißen, genauso, wie er strikt den Arbeitsanweisungen folgte und Schaufelladung um Schaufelladung Kohle in den Ofen schippte.

Stunde um Stunde verging. Er achtete nicht darauf, dass sich jeder Atemzug anfühlte, als würde er noch glühende Asche einatmen, dass alsbald eine klebrige Schicht aus Kohlenstaub und Schweiß sein Gesicht verklebte und dass seine Hände ebenso zu schmerzen begannen wie Schultern und Rücken.

Arbeiten ... arbeiten ... die Schulden abbezahlen ... Ich muss es schaffen ... Ich muss zurück zu Alba und Bethy ... Hoffentlich geht es ihnen gut ...

Die unerträgliche Hitze war ihm fast willkommen. Wenn er sie wacker ertrug, würde vielleicht Bethys Fieber sinken. Nicht, dass er an einen gerechten Gott glaubte, der ein solches Opfer lohnte, dazu hatte er zu viel Schreckliches gesehen, und dennoch ...

»He, genug jetzt! Hast du die Dampfpfeife nicht gehört? Nu wüllt wi mol Fofftein moken.«

Werner blickte erst hoch, als Gustav ihm mit seiner Pranke auf die Schultern schlug. Verständnislos starrte er ihn an.

»Wir machen Pause!«, sagte Gustav. »Wilhelm Ahlhusen ist ein gerechter Mann. Er achtet immer darauf, dass die Arbeitszeiten eingehalten werden.«

»Aber ich muss meine Schulden abarbeiten. Dann kann ich umso früher ...«

»Wenn du so weitermachst, können wir bald dich anstelle der Kohlen verheizen. Ruh dich kurz aus, danach geht es mit neuer Kraft weiter.«

Werner sah ein, dass der andere recht hatte, zumal er unerträglichen Durst verspürte. Er folgte Gustav erst in den Hof hinaus, dann in einen hölzernen Anbau neben der Maschinenhalle, der sich als Aufenthaltsraum für die Arbeiter entpuppte. Nicht nur Kaffee und Bier wurden hier ausgeschenkt – ein altes Weiblein verkaufte zudem aus ihren Körben Bücklinge und Salzheringe, Knack- und billige Blutwurst, ebenso Pfannkuchen, dessen Puderzucker sich rasch schwarz färbte, sobald ihn einer der Arbeiter entgegennahm. Zwar waren sie nicht alle rußgeschwärzt wie Werner und Gustav, doch ölige Hände, schmierige blaue Hemden und blanke lederne Hosen hatten sie alle. Ihre Mützen – schwarz und aus Wachstuch, von manchen ins Gesicht, anderen in den Nacken geschoben – waren so fettig, dass sie wohl an der Decke kleben geblieben wären, wenn man sie dagegen geworfen hätte.

Gustav packte sein Frühstück aus – vier kräftige Schwarzbrotschnitten mit Speck –, und als Werner der salzige Geruch in die Nase stieg, knurrte ihm der Magen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte.

»Hast wohl nichts zu essen mit?«, fragte ein Arbeiter gleichgültig und spuckte eine Ladung Kautabak auf den Boden.

»Der alte Raik holt sich von den Brückpfählen blaue Pfahlmuscheln, wenn das Wasser niedrig steht, und brät sie auf einer Schaufel über dem Feuer«, fügte ein anderer hinzu.

»Pfui Deubel! Watt'n Swien!«, stieß Gustav aus, reichte Werner eine seiner Schwarzbrotscheiben und außerdem einen Krug Tee. »Hier.«

Auch wenn Werner es am liebsten als Ganzes in sich hineingestopft hätte, wandte er schwach ein: »Aber ich kann doch nicht ...«

»Du bist mir eine größere Hilfe, wenn du ordentlich schuftest, nicht, wenn du zusammenbrichst. Und außerdem bin ich neugierig. Du bist gerade aus Amerika gekommen, nicht wahr? Ich dachte, dort liegt das Geld auf der Straße und man muss sich nur bücken, um es aufzuheben. Was machst du wieder in Hamburg?«

Werner setzte den Humpen Tee an den Lippen. Obwohl er brühend heiß war, konnte er nicht aufhören zu trinken. Hinterher fühlten sich seine Kehle und seine Zunge so an, als stünden sie in Flammen, doch er achtete nicht auf den Schmerz, sondern begann, an dem Brot zu kauen. Er machte nur kleine Bissen, um so lange wie möglich etwas davon zu haben. »So leicht ist es leider nicht.«

Eigentlich hatte er keine Lust, die unschönen Erinnerungen heraufzubeschwören, aber er wollte es Gustav danken, dass er ihm einen Teil seines Essens überlassen hatte, und erzählte bereitwillig von den Hoffnungen, die ihn als jungen Mann bewogen hatten, nach Brasilien aufzubrechen, von dem eigenen Land, das er dort zu einem Spottpreis gekauft und bald bewirtschaftet hatte, von dem eigenen Haus, zu dem ein kleiner Stall für Reitpferde und einige Schuppen mit einer Maniokmühle gehört hatten. Zwar war dieses Haus nicht sonderlich prächtig gewesen. Es war aus unbehauenen Granitblöcken und Lehm gebaut und hatte nur ein Stockwerk. Doch Werner hatte einen weißen Verputz angebracht, mit breiten Holzziegeln das Dach bedeckt und Balken für den altan, eine Art Veranda, geschnitzt. Glasfenster hatten sie keine und Mobiliar auch kaum – sah man von den großen Kisten ab, die als Schränke und Sitzmöglichkeiten zugleich dienten –, aber der Fußboden war mit Matten aus Bambusrohr bedeckt und die Wände und Decken mit lebendigen Farben gebeizt.

Er schmückte nicht nur das Haus in all seinen Einzelheiten aus, sondern auch, wie er seine wunderschöne Frau kennengelernt und dass ihr rauschendes Hochzeitsfest drei Tage gedauert hatte.

Etwas gepresster klang seine Stimme, als er fortfahren musste, von dem schädlichen Nachtreif berichten, der in den kalten Monaten Juni und Juli nicht nur Zuckerrohr und Kaffee, sondern auch die Baumwollpflanzungen hatte erfrieren lassen. Als wären die vielen Missernten nicht schon schlimm genug gewesen, brachten die gefährlichen Winde aus Südwest Hagel und Gewitter – Letztere heftig und ohne Regen. Bisweilen steigerten sie sich zu Orkanen, entwurzelten Bäume und rissen Pflanzungen um, und ein Blitz schlug in dem Schuppen ein, in dem sie die Baumwolle lagerten.

»Und Baumwolle«, schloss Werner, »brennt tagelang. Immer wenn man denkt, man ist Herr über das Feuer geworden, flammt es wieder auf.«

Gustavs Blick ruhte abschätzend auf ihm. Wahrscheinlich überlegte er, ob Werner ein vom Schicksal geprüfter Mann war oder sich seine Schultern einfach als zu schmal erwiesen hatten, als dass er die Herausforderung hätte stemmen können.

Ehe er etwas sagte, wechselte Werner das Thema. »Du hast Wilhelm Ahlhusen erwähnt und dass er ein gerechter Mann ist. Ihm gehört das alles, nicht wahr? Er muss sehr tüchtig sein, wenn er sich das alles aufgebaut hat.«

Gustav erhob sich, da es Zeit war, zum Hochofen zurückzukehren, und gab ihm erst im Gehen Antwort. »Das war doch nicht er, sondern sein Vater und Großvater. Ihre Vorfahren stammen aus einem kleinen Ort namens Ahlhusen, darum ihr Name. Sie haben sich vor über hundertfünfzig Jahren in Hamburg niedergelassen, versucht, sich mit dem Handel von Wein, dann von Perücken über Wasser zu halten. Reich sind sie davon nicht geworden, doch Wilhelms Großvater war ein schlauer Fuchs. Er hat klein angefangen, war Leinenexporteur nach Mittel- und Südamerika und gründete später die Reederei. Sein Vater wiederum hat irgendwann einen Lotsenkutter selbst bauen lassen und vergrößerte die Werft nach und nach. Am Ende seines Lebens hatte er über zehn eigene Schiffe. Zwar kann die Werft mit Blohm & Voss, der Stettiner Vulcan oder der Reiherstiegwerft nicht mithalten, aber sie übernimmt die Reparatur von den Reedereischiffen, und dann und wann wird hier auch ein neuer Dampfer gebaut.«

»Aber doch nicht hier im Hafen?«

»Nein, der größere Teil der Werft befindet sich auf einer Halbinsel in der Norderelbe.«

Werner nickte. »Ich muss unbedingt zu meiner Familie, meine Tochter ist schwer krank. Wenn ich mit Wilhelm Ahlhusen spreche, denkst du, dass er ...«

Gustav schlug ihm so fest auf den Rücken, dass Werner das Gefühl hatte, sämtliche Knochen würde zersplittern. »Die Kräftigen werden auch ohne Arzt gesund, und die Schwachen sind in der jenseitigen Welt besser aufgehoben.«

»Aber ...«

»Wenn du willst, kannst du es natürlich versuchen. Wilhelm Ahlhusen drückt schon mal ein Auge zu.«

Mit dem Kinn deutete er auf ein unscheinbares Gebäude, in dem sich ein Kontor, Bureaus für die Zeichner und Ingenieure sowie die Kabuffs der Betriebsbeamten befanden.

»Steig die gewundene Treppe hinauf und geh zur letzten Tür. Sie ist mit grünem Tuch beschlagen, und dahinter ist Wilhelm Ahlhusens Bureau. Ob du ihn aber dort antriffst, weiß ich nicht. Er verbringt viel Zeit im Kontor seines Stadthauses und genau genommen noch mehr Zeit in den Bordellen von Sanct Pauli, eiah mooken, du verstehst.«

Gustav lachte dröhnend, aber Werner ging nicht darauf ein, sondern bedankte sich knapp.

Wenig später stand er vor besagter grüner Tür, klopfte mehrmals und rief Wilhelm Ahlhusens Namen – erst zögerlich, dann immer lauter. Seine Verzweiflung wuchs, als niemand ihm antwortete, und er wollte sich bereits abwenden, als er plötzlich ein Geräusch vernahm. Es klang nicht menschlich, eher so, als würde etwas Schweres über den holprigen Boden rollen, doch in ihm erwachte die Hoffnung, dass der Raum nicht verwaist war. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter.

Das Erste, was Werner wahrnahm, war der durchdringende Geruch von Branntwein, der noch beißender als der Aschestaub oder der Geruch von Werkzeugöl in dem Raum hing, dann den säuerlichen nach Erbrochenem. Früher wäre Werner zurückgezuckt, jetzt rümpfte er bloß die Nase. Während der Schiffsreise war er im Zwischendeck schlimmerem Gestank ausgesetzt gewesen.

Weitaus schwerer als der Geruch war der Anblick der vielen Bücher und Papiere zu ertragen, die auf dem ganzen Boden verstreut lagen. Werner war schon immer ordnungsliebend gewesen, was den Pfarrer in seinem Heimatdorf zur Prophezeiung veranlasst hätte, er würde irgendwann im Assekuranzgeschäft landen. Damit hatte er sich zwar getäuscht, doch Werner konnte nicht anders, als sich zu bücken, die Papiere und Bücher einzusammeln und dabei einen Blick darauf zu werfen. Er war sofort gefesselt.

Zahlen.

Schnörkellose, nüchterne Zahlen. Zahlen, die nicht stanken und schmerzten. Zahlen, die man nicht für schön oder hässlich, reich oder arm befinden musste, die nicht schmeichelten oder logen oder verletzten. Zahlen, die nichts versprachen, was sie nicht halten konnten.

Kurz ließen ihn diese Zahlen vergessen, dass er in Brasilien gescheitert war, nicht für Frau und Kind sorgen konnte und Bethy fieberte. Er fing an, sie zu addieren, zu dividieren, zu subtrahieren.

Erst ein unterdrücktes Stöhnen ließ ihn zusammenfahren, und die vielen Zettel rutschten ihm vor Schreck fast aus den Händen. Zu spät bemerkte er, dass diese rußgeschwärzt waren und er auf dem weißen Papier dunkle Abdrücke hinterlassen hatte.

»Es ... es tut mir leid.«

Der Mann, der in der Ecke kauerte, starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Er öffnete den Mund, doch über seine Lippen kam keine Frage oder Zurechtweisung, sondern nur ein Stöhnen, gefolgt von einem Rülpsen und der Andeutung eines Lächelns.