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Im Land der Feuerblume E-Book

Carla Federico

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Beschreibung

Hamburg 1852: Im Hamburger Hafen begegnen sich die junge abenteuerlustige Elisa und der nachdenkliche Cornelius zum ersten Mal. Ihre Familien wollen das Wagnis eingehen, sich ein neues Leben in Chile aufzubauen. Dabei erhofft sich jeder etwas anderes von dem Land seiner Träume. Bereits auf dem Schiff, das sie in die ferne neue Heimat bringen soll, verlieben die beiden Auswanderer sich. Doch stets scheint dem Glück des jungen Paares etwas im Wege zu stehen: die unerbittliche Natur, die sie vor immer neue Herausforderungen stellt, aber auch Neid und Eifersucht ...

Diese Auswanderer-Geschichte vereint große Gefühle, mitreißende Schicksale und atemberaubende Landschaftsbeschreibungen: »Im Land der Feuerblume« ist der fesselnde Auftakt der Chile-Sage. Der Roman wurde mit dem CORINE-Publikumspreis ausgezeichnet, ins Spanische übersetzt und stand auch in Chile auf der Bestsellerliste.

Alle drei Bände der Chile-Saga von Carla Federico (Julia Kröhn):

Im Land der Feuerblume
Jenseits von Feuerland
Im Schatten des Feuerbaums

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

PROLOG

ERSTES BUCH

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

ZWEITES BUCH

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

DRITTES BUCH

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

VIERTES BUCH

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Epilog

Personenverzeichnis

Historische Anmerkung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Hamburg 1852: Im Hamburger Hafen begegnen sich die junge abenteuerlustige Elisa und der nachdenkliche Cornelius zum ersten Mal. Ihre Familien wollen das Wagnis eingehen, sich ein neues Leben in Chile aufzubauen. Dabei erhofft sich jeder etwas anderes von dem Land seiner Träume. Bereits auf dem Schiff, das sie in die ferne neue Heimat bringen soll, verlieben die beiden Auswanderer sich. Doch stets scheint dem Glück des jungen Paares etwas im Wege zu stehen: die unerbittliche Natur, die sie vor immer neue Herausforderungen stellt, aber auch Neid und Eifersucht ...

»Im Land der Feuerblume« wurde mit dem CORINE-Publikumspreis ausgezeichnet, ins Spanische übersetzt und landete in Chile selbst ein paar Wochen auf der Bestsellerliste.

   Julia Kröhn schreibt als

   Carla Federico

PROLOG

Chile, 1880

Du hast dich also entschieden, Elisa. Du liebst Cornelius.«

Nur zögerlich kamen Poldi die Worte über die Lippen. Sie waren ein paar Schritte gegangen und hatten eine kleine Anhöhe erreicht, von der aus man den ganzen Llanquihue-See überblicken konnte.

Elisa sagte nichts, sondern strich sich schweigend das Haar aus dem Gesicht. Es war nicht mehr glänzend rotbraun, sondern spröde und von grauen Strähnen durchzogen, tanzte aber immer noch so ungebärdig im Wind wie in lang vergangenen Jugendtagen.

Sie fühlte, dass Poldi sie von der Seite betrachtete, aber sie erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte hinaus auf den See.

Wie ein riesiges Fünfeck lag er vor ihnen: inmitten saftig grüner Wiesen und Gärten, goldgelber Ackerstreifen und dunkler Wälder, an deren sumpfigen Rändern die roten Copihue-Blumen erblühten. Der von den Anden abfallende Wind kräuselte die Oberfläche des Wassers, und dort, wo die verglühende Abendsonne die Wellen am Ufer traf, leuchtete es golden auf. An manchen Stellen reichten bizarre Landzungen tief in den See; an anderen spiegelte er die Felswände, die schroff und steil aus den Fluten aufzusteigen schienen; an wieder anderen schloss das grüne Kleid des Ufers nahtlos an das kräftige Blau des Wassers an.

In der Ferne erhoben sich die Berge: So klar war die Luft, dass man nicht nur die Vulkane Calbuco und Casa Blanca sehen konnte, sondern auch die vielgliedrige Andenkette, aus der der Cerro Tronador einsam gen Himmel ragte.

Der höchste der Feuerberge war jedoch der Osorno, zu dem Elisa in den letzten Jahrzehnten oft sehnsüchtig, ehrfürchtig oder ratsuchend hochgeblickt hatte. Manchmal schien er ihr zu grollen und versteckte sich hinter dichten Nebelwolken; dann wiederum zeigte er sich ihr in all seiner Pracht und stolzen Größe, unverwüstlich und unverrückbar wie ihr Wille, sich das Land zu eigen zu machen – und stets erhaben über Verzagtheit, Kummer und Furcht, die das Leben der deutschen Siedler nicht selten verdüstert hatten.

Nichts davon fühlte sie nun – nur diesen tiefen Respekt vor der Schönheit und Wildheit des Landes und Stolz auf das, was sie geschaffen hatten.

Ihr Blick glitt zu den Häusern der Siedlung. Anders als die flachen chilenischen Patios besaßen diese mit Alerce-Schindeln bedeckte Giebeldächer und Balkone. Die Wände waren, wie auch die der Scheunen und Ställe, der Vorratskammern und der Arbeitsschuppen, aus dem Holz der Araukarie errichtet – jener mächtigen Baumriesen, die bis heute den See säumten und deren Harz einen durchdringenden Duft verströmte. Elisa sog ihn ein und glaubte, die harte Rinde unter ihren längst verhornten Händen zu fühlen – wie einst in den mühevollen Tagen, in denen sie die Bäume gefällt und dem dampfend feuchten Urwald fruchtbares Land abgerungen hatten.

Langsam drehte sie sich zu Poldi um.

»Wir haben so viel erreicht«, sagte Elisa leise. »Wir haben einen so langen Weg zurückgelegt.«

»Weißt du noch ... damals im Hamburger Hafen, als wir beide ...« Poldi brachte den Satz nicht zu Ende, sondern kicherte los. Auch in seinem Gesicht hatte die Zeit Spuren hinterlassen, doch der Klang seiner Stimme erinnerte Elisa an den frechen Knaben von einst.

Er ist dabei gewesen, ging ihr durch den Kopf, von Anfang an, auch damals, als ich Cornelius zum ersten Mal traf ...

Aus dem Jugendfreund, der sie vor vielen Jahren auf der langen Reise nach Chile aufgemuntert und belustigt hatte, war später ihr Schwager geworden. Oft hatten sie Seite an Seite zusammen gearbeitet, um das urwüchsige Land zu bezähmen, aber es hatte auch Jahre gegeben, da die eigenen Nöte und Sorgen derart von ihr Besitz ergriffen hatten, dass sie zu wenig nach seinen gefragt hatte.

Jetzt war sie dankbar, dass sie mit ihm, der ihr oft wie ein kleiner Bruder gewesen war, hier stehen und Abschied nehmen konnte.

Poldi kicherte wieder. »Beinahe hätten wir das Schiff verpasst!«

Sie nickte, stimmte kurz in sein Lachen ein, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Wir haben viel zu selten innegehalten, zurückgesehen, der Vergangenheit gedacht.«

Bilder stiegen vor ihr auf, Bilder eines harten Lebens und eines reichen, voller Mühsal, aber auch Willensstärke, voller Entbehrungen, aber auch vieler kleiner Errungenschaften.

Nicht immer hatte sie das bekommen, was sie sich gewünscht hatte, und doch war ihr Leben erfüllt gewesen: von reichlich Arbeit, reichlich Sorgen, reichlich Triumph. Und was an Glück gefehlt hatte, würde sie eben jetzt einfordern und festhalten und nicht mehr hergeben – spät zwar, aber nicht zu spät.

Sie seufzte wehmütig.

Zarte Schleier des Seenebels stiegen auf, umhüllten den Fuß des Osorno, nicht jedoch seinen Gipfel. Dieser ragte aus dem Dunst hervor, als würde er über der Welt schweben. Immer tiefer fielen die Sonnenstrahlen; dunkel und abgründig färbte sich das eben noch türkis schimmernde Wasser des Sees, grau seine eben noch glitzernde Gischt. Nur der Gipfel des Osorno badete satt im Licht und strahlte rötlich auf, als blute er.

»Du hast dich tatsächlich entschieden«, sagte Poldi wieder, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn es in meinem Leben so viel Klarheit geben würde wie in deinem – wie dankbar und froh wäre ich darüber! Du liebst Cornelius, nicht wahr? Du hast ihn immer geliebt.«

»Ja«, erwiderte Elisa leise. »Ja, ich liebe ihn. Und ich weiß jetzt endlich, was ich tun muss.«

ERSTES BUCH

Die Reise1852

1. Kapitel

Haltet den Dieb!«

Elisa öffnete träge die Augen. Ihre Lider waren schwer, die Stirn glänzte schweißnass. Die wenigen Schattenplätze im Hamburger Hafen waren vorhin heiß umkämpft gewesen, und sie hatte mit großer Mühe einen davon ergattert, doch mittlerweile brannte die Sonne senkrecht vom Himmel, so dass nirgendwo mehr Schutz vor ihrem gleißenden Licht zu finden war. Das Wasser schickte keine kühle Brise, sondern stand gräulich grün wie eine dicke, fischige Brühe.

»Haltet den Dieb!«

Die Stimme war trotz der Hitze erstaunlich lebhaft und riss Elisa aus ihrem Dösen. Bis vor kurzem hatte sie das Treiben im Hafen mit aufgerissenen Augen bestaunt, hatte ihren Blick nicht von den prächtigen Dreimastern, den ungeduldigen Auswanderern, den emsigen Hafenarbeitern lassen können. Doch die glühende Sonne hatte den Lärm zum Erliegen gebracht und sie schließlich schläfrig gestimmt.

Geschäftig waren im Augenblick nur die Makler, Befrachter und Reeder aus dem Hause Godefroy & Sohn, die die Seetüchtigkeit der Hermann III. überprüften und die Beladung vorbereiteten – jenes Schiffs, das sie selbst bald besteigen würde. An einer Gruppe dieser Männer, die eifrig gestikulierend aufeinander einredeten, sah Elisa einen kleinen Jungen vorbeiflitzen.

»Verflucht, so haltet ihn doch endlich fest!«

Nun erblickte sie auch den Mann, der ihm nachhetzte. Er trug trotz des heißen Tages einen fleckigen Frack – so wie die meisten Auswanderer ihr bestes Kleidungsstück gewählt hatten, wussten sie doch nicht, wann sie es wieder würden wechseln können. Wahrscheinlich zählte der Verfolger des Knaben zu diesen.

Fast hatte er ihn erreicht, wollte schon mit der Hand nach ihm greifen, da duckte sich der Junge wendig, schlug einen Haken und flüchtete sich in eine Menschentraube.

Elisa, die sich aufgerichtet hatte, um die Verfolgungsjagd besser beobachten zu können, musste grinsen. Sie wusste nicht, was geschehen war, aber das strenge, verbissene Gesicht des Mannes, der auch jetzt die Jagd nicht aufgab und rücksichtslos seine Ellbogen nutzte, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, führte dazu, dass sie unwillkürlich für den Kleinen Partei ergriff.

»Hast du das gesehen?«

Sie wandte sich zu ihrem Vater, doch Richard von Graberg hatte weder die zornigen Rufe gehört noch auf den Jungen geachtet, der nun flink an der Mole entlanglief, sondern sich stattdessen in den dicken Packen Dokumente vertieft, den er mit sich herumtrug.

Elisa seufzte, wie sie ihn da so sitzen sah. Er musste den Inhalt all der Unterlagen, die für ihre Auswanderung nach Chile vonnöten waren, längst auswendig kennen – dennoch überprüfte er sie immer wieder, als verhießen diese Blätter Papier das letzte bisschen Sicherheit, das es auf dieser unsteten Welt noch gab. Der Überfahrtsvertrag, den sie mit dem Auswanderungsagenten geschlossen hatten, befand sich darunter, die Liste über sämtliche anfallende Preise sowie die geplante Abfahrtszeit, außerdem eine Zeichnung mit der genauen Route, die das Schiff nehmen würde, und schließlich ihre Aufenthaltskarte für Hamburg, die für vierzehn Tage ausgestellt worden war.

»Vater ... gleich geht es aufs Schiff – und dann brauchen wir die Aufenthaltskarte nicht mehr«, sagte Elisa leise.

Richard von Graberg blickte unschlüssig hoch und kniff die Augen zusammen, als würden sie ihm Schmerzen bereiten. Elisa ahnte, dass er Schwierigkeiten beim Lesen hatte, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte.

»Was heißt ›gleich‹? Das verspricht man uns nun schon den ganzen Tag! Aber wer weiß, wie lange wir noch warten müssen.«

Sein Blick fiel auf die junge Frau, kaum älter als Elisa, die schwerfällig und mit gebeugtem Rücken auf einer der Kisten mit ihrem Gepäck hockte. Auch sie hatte dem flüchtenden Jungen keine Beachtung geschenkt und erwiderte nun auch Richards Blick nicht.

Wie eine welke Blume, ging es Elisa durch den Kopf.

»Vielleicht ... vielleicht kannst du Annelie etwas Wasser bringen?«, schlug der Vater zögernd vor.

Elisa unterdrückte mit großer Mühe einen empörten Aufschrei. Warum musste der Vater sie ständig an diese ungeliebte Begleitung erinnern?

Annelie.

Geborene Drechsler. Seit kurzem Annelie von Graberg, Richards zweite Ehefrau, die er drei Monate vor ihrer Abreise aus Niederwalzen, einem kleinen Dorf zwischen Frankfurt und Kassel, geheiratet hatte – sehr überstürzt, wie alle, vor allem seine Tochter, fanden. Er hatte nicht einmal das Trauerjahr eingehalten.

Elisa kniff die Lippen zusammen.

Nicht sie sollte hier sein. Nicht Annelie.

Nicht mit ihr hatte sie sämtlichen Besitz zusammenpacken und alles verschenken wollen, was sie auf der Reise nicht mitnehmen konnten – eine Reise, die lange, kräftezehrend und gefährlich sein würde –, darunter die vielen Spitzendecken, die ihre Großmutter geklöppelt hatte und die zu Lebzeiten deren ganzer Stolz gewesen waren. Nicht mit ihr hatte sie schließlich eines frühen Morgens aufbrechen wollen, als das Gras noch taunass und der Frühlingshimmel noch diesig gewesen war. Den ersten Teil der Wegstrecke hatten sie auf einem Stellwagen zurückgelegt; dann war es mit der Dampfeisenbahn weitergegangen, ein grollendes, spuckendes, zischendes Ungeheuer, das Elisa ebenso Angst machte, wie es sie faszinierte.

Es war ein spannendes Abenteuer – wenn es nicht Annelie gewesen wäre, mit der sie schließlich spätabends Hamburg erreichten. Von Mücken umsurrte Laternen beleuchteten den Weg vom Berliner Bahnhof am Deichtor zu ihrer Unterkunft in der Admiralitätsstraße. Zuvor hatten Polizisten sie in Empfang genommen, die den Bahnhof überwachten und dafür Sorge zu tragen hatten, dass die Auswanderer nicht in die Hände jener Betrüger fielen, die manch einem von ihnen mit leeren Versprechungen den ganzen Besitz abschwatzten. Die Polizisten waren es auch, die die Aufenthaltsgenehmigung und die Einschiffungserlaubnis ausstellten. Stundenlang hatten sie sich anstellen müssen, ehe sie spät in der Nacht in ihrem Logierhaus angelangt waren. Es bestand aus unverputzten Bretterwänden und knirschenden Holzdecken und versprach die Stabilität eines Kartenhauses. Obendrein hatten sie kein freies Bett mehr bekommen, sondern mit durchgelegenen Matratzen vorliebnehmen müssen. Ein riesiger Laib Schinken, den einer der anderen Gäste an seinem Bettende aufgehängt hatte, war dicht über ihrem Kopf gebaumelt. Der salzige Geruch hatte den Hunger in Elisas leerem Magen verstärkt – und war doch deutlich angenehmer als der nach schweißigen Füßen und ungewaschener Kleidung.

Lange war sie wach gelegen und hatte sich vorgestellt, wie anders der Beginn ihrer langen Reise verlaufen wäre, wenn nur ihre Mutter sie dabei begleitet hätte. Wäre diese auch immer sofort erschöpft gewesen wie Annelie? Hätte sie auch ständig geseufzt, anstatt die vielen fremden Eindrücke begierig aufzusaugen, wie Elisa es tat?

Gewiss nicht!, dachte Elisa entschieden. Ihre Mutter war eine forsche, willensstarke Frau gewesen, kein bleiches Geschöpf wie Annelie, das schwer und reglos wie ein Mehlsack dahockte.

Ja, ihre Mutter hätte hier sein sollen. Nicht Annelie.

Immerhin, dachte Elisa widerstrebend, klagte sie bis auf ihr Seufzen meist nicht, so auch jetzt nicht.

»Es ist nicht nötig, dass Elisa Wasser bringt«, erklärte sie rasch auf Richards Aufforderung hin. »Ich ... ich halte es aus ...«

»Aber sie können uns hier doch nicht verdursten lassen!«, jammerte ihr Vater.

»Also gut«, murmelte Elisa widerwillig und erhob sich – allerdings nicht, um Annelie einen Gefallen zu tun. Vielmehr war ihr eigener Mund auch trocken. »Also gut ... ich schaue, was sich machen lässt.«

»Hab Dank«, murmelte Annelie, aber Elisa erwiderte nichts, sondern warf lediglich einen letzten mürrischen Blick auf die junge Stiefmutter zurück.

Warum nur hat Mutter nicht so lange leben dürfen?, fuhr es ihr durch den Kopf.

Mit dieser hatte sie in den letzten Jahren all die »Intelligenzblätter« gelesen – nützliche Informationsbroschüren für Auswanderer. In einem dieser Blätter waren sie auf den Namen von Bernhard und Rudolph Philippi gestoßen – ein deutsches Brüderpaar, das den weitgehend menschenleeren Süden Chiles erforscht und die dortige Regierung überzeugt hatte, man könne sich dieses wilde Land leichter untertan machen, wenn man deutsche Siedler zu sich holte, die für ihren Fleiß und ihre Genügsamkeit, ihr handwerkliches Können und ihre Erfahrung in der Landwirtschaft bekannt waren. Bernhard Philippi war schließlich zum Kolonisationsagenten in Deutschland ernannt worden.

Elisa kniff ärgerlich die Lippen zusammen, als sie sah, wie ihr Vater Annelie seine Jacke reichte, damit sie sie zusammenfalten und darauf bequemer sitzen konnte. Früher hatte seine Fürsorge ausschließlich ihrer Mutter gegolten, vor allem als ihr Husten immer schlimmer geworden war, sie begonnen hatte, Blut zu spucken, und sie schließlich am Sterbebett Mann und Tochter das Versprechen abgerungen hatte, an den Reiseplänen festzuhalten.

Vor unterdrückter Wut rammte sie ihre Fersen in den Boden. Derart ins Grübeln vertieft, sah sie die Gestalt nicht kommen, mit der sie plötzlich unsanft zusammenstieß. Irgendetwas Spitzes, Hartes rammte sich in ihre Brust. Die Luft blieb ihr weg; das Blechgeschirr, das sie wie jeder Auswanderer an ihrem Gürtel trug – ein Trinkbecher, eine Butterdose, eine Ess- und eine Waschschüssel sowie Besteck gehörten dazu –, klapperte.

»He!«, rief sie empört.

Als sie hochblickte, sah sie in das mürrische Gesicht des Mannes, der vorhin dem flüchtenden Knaben nachgejagt war. Dass er sie fast über den Haufen gerannt hatte, schien ihn nicht weiter zu stören. Anstatt stehen zu bleiben, sich zu entschuldigen und sich zu vergewissern, dass es dem Mädchen nach dem Zusammenstoß auch wohl erging, lief er weiter – und jetzt erkannte Elisa auch, warum sein eben noch grimmiges Gesicht einen solch entschlossenen Ausdruck angenommen hatte.

Dort vorne war er wieder, der zerzauste Junge, dem es eben noch gelungen war, wendig durch die Menschenmenge zu flitzen, der dann aber mehr oder weniger im Kreis gelaufen war und sich jetzt von einer Reihe von Kisten aufgehalten sah, die auf die Verladung warteten.

Hektisch spähte er nach rechts oder links, um einen Fluchtweg zu entdecken, doch es war zu spät. Der finstere Mann hatte ihn eingeholt, packte ihn am Ohr und zerrte ihn so heftig zurück, dass der Knabe schrill aufkreischte.

»Hab ich dich endlich!«, knurrte der Mann.

Sein Griff wurde fester, der Junge kreischte wieder. Ganz gleich, was er sich hatte zuschulden kommen lassen – Elisa fand, dass er eine derart rüde Behandlung nicht verdiente.

»Ich bin kein Dieb!«, klagte der Junge. »Ich habe Ihnen nichts gestohlen. Bitte ... Sie müssen mir glauben.«

Sein Gesicht war vor Schmerz und Empörung rot angelaufen.

Elisa konnte gar nicht anders, als zu den beiden zu eilen. »Er ist doch noch ein Kind!«, rutschte es ihr heraus.

Der Mann, der trotz seines nunmehr breiten Grinsens weiterhin mürrisch blickte, hörte nicht auf sie. Er nahm auch die dünne Frau nicht wahr, die nun vorsichtig an ihn herantrat.

»Lambert, nun lass ihn doch ... Er hat wirklich nicht ...«

»He, Sie da!«, schrie er. Er richtete sich an einen Hafenarbeiter, der eben eine der Kisten anhob, die dem Knaben den Fluchtweg versperrt hatten, sie nun aber wieder sinken ließ und müde hochblickte.

»Ja, Sie meine ich!«, brüllte der Mann, den die verhuschte Frau – offenbar seine Gattin – Lambert genannt hatte. »Ich habe diesen Streuner hier erwischt! War ganz allein unterwegs, der Bengel, und hat seinen Blick gar nicht von meiner Geldbörse nehmen können.«

»Aber ich habe sie nur angesehen, nicht gestohlen!«, jammerte der Junge.

»Weil ich rechtzeitig achtgegeben habe, ja! Möchte aber nicht wissen, wie viele ehrliche Reisende du schon um ihren hart verdienten Besitz erleichtert hast.«

»Keinen einzigen! Ich schwöre es! Ich wollte nur ...«

Die dünne Frau schaltete sich wieder ein, ihre Stimme war jedoch kaum lauter als ein Flüstern. »Lambert, vielleicht solltest du ...«

»Halt den Mund!«, schrie Lambert rüde. Elisa war sich nicht sicher, wem er da zu schweigen befahl, dem Knaben oder seiner Frau. Unhöflich fand sie es in jedem Fall, und es störte sie nicht minder als die Selbstgerechtigkeit, mit der er den Knaben anklagte – allein seiner Vermutung folgend, keinen konkreten Beweisen.

Der Mann, den er zu sich gerufen hatte, blickte unschlüssig in die Runde und zerknetete zwischen den Händen die Kappe, die er sich vom Kopf gezogen hatte.

»Bin nur ein Gehilfe des Hafenmeisters«, nuschelte er, ohne den Mund ordentlich zu öffnen.

»Aber das muss untersucht werden! Mein Name ist Lambert Mielhahn, und ich verlange das. Ich habe den Knaben schon eine Weile beobachtet, wie er durch den Hafen schlenderte und nach Diebesgut Ausschau hielt. Hätte ich nicht sorgsam darauf geachtet, so wäre ich jetzt meine Geldbörse los.«

Der Gehilfe des Hafenmeisters verzog abschätzend die Stirn. Das Unbehagen, in diese Sache zu geraten, war ihm deutlich anzusehen. Zugleich wagte er es nicht, sich der forschen Stimme von Lambert Mielhahn zu widersetzen.

»Was ist denn genau geschehen?«, fragte er. Zumindest glaubte Elisa, diese Frage aus seinem Mund zu hören – sicher war sie sich nicht, da er jede zweite Silbe verschluckte.

Lambert antwortete nicht, ließ nun zwar das Ohr des Knaben los, zog ihm aber ruckartig das Bündel weg, das er über den Schultern trug. Anstatt zu prüfen, ob sich darin womöglich zerbrechliche Gegenstände befanden, schüttelte er den Inhalt einfach in den staubigen Boden – und stieß einen Triumphschrei aus.

»Was habe ich gesagt! Ein Dieb ist er!«

Elisa trat näher. In dem Bündel hatte sich eine angeknabberte Wurst befunden, ein Schnupftuch – und eine silbrig glänzende Uhr.

Der Junge bückte sich schnell und versuchte hektisch, alles wieder an sich zu bringen.

»Nichts davon ist gestohlen!«, verteidigte er sich.

»Und woher hast du dann die Uhr?« Lambert Mielhahn klang nun nicht mehr nur vorwurfsvoll, sondern, wie es Elisa schien, nahezu höhnisch. Welch ein widerwärtiger Mann!, ging es ihr durch den Kopf. Seine schüchterne Frau wagte indessen kein Wort mehr zu sagen. Erst jetzt nahm Elisa die beiden Kinder wahr, die sie rechts und links an der Hand führte und die mit aufgerissenen Augen die Szene begafften.

»Die Uhr gehört meinem Großvater!«, rief der Knabe. »Ein Familienerbstück ist es! Und weil uns auf der Reise nach Hamburg das Geld ausgegangen ist, sollte ich sie hier verkaufen!«

»Ach, deinem Großvater?« So verächtlich, wie Lambert klang, glaubte er ihm kein Wort.

»Ich lüge nicht!«, beharrte der Knabe.

Schweigend hatte sich der Gehilfe des Hafenmeisters den Wortwechsel angehört. Obwohl ihm immer noch deutlicher Widerwille anzusehen war, fühlte er sich bemüßigt einzugreifen. »Und wo ist dein Großvater ... deine Familie jetzt?«, fragte er gedehnt.

Der Junge blickte sich unsicher suchend um. Spitz traten seine Knochen unter den grauen Lumpen hervor. So schlaksig und mager, wie er war, erinnerte er Elisa an die ausgehungerten Kinder ihres Dorfes. Am schlimmsten war es im Jahr der Kartoffelfäule gewesen, als manche der Kleinen am Hunger sogar gestorben waren. Auch wenn das nunmehr ganze fünf Jahre zurücklag, waren die folgenden Winter weiterhin hart gewesen.

Mitleid überkam sie.

»Nun lasst ihn doch gehen!«, sagte sie plötzlich laut und trat noch dichter hinzu. »Lasst ihn gehen«, wiederholte sie. »Er ist ...«

»Er ist doch nur ein Kind«, hatte sie sagen wollen. Aber dann dachte sie, dass das womöglich kein Gewicht hatte und er trotzdem für etwas bestraft werden würde, was er nicht begangen hatte.

»Er ist mein Bruder«, sagte sie – und ahnte noch im gleichen Augenblick, dass sie damit einen schweren Fehler begangen hatte.

Lambert Mielhahn schnaufte empört. Der Gehilfe des Hafenmeisters hingegen runzelte nachdenklich die Stirn. »Soso, dein Bruder.«

Er brachte beim Reden seine Zähne noch weniger auseinander als vorher, schien die Worte zu zermalmen, anstatt sie auszusprechen.

Der Junge stand steif da. Als Elisa seinen Blick suchte, wich er ihr aus, aber zumindest machte er keine Anstalten, ihr zu widersprechen.

»Und wie heißt er nun – dein Bruder?«, nuschelte der Mann.

»Äh ...«, setzte Elisa hilflos an.

»Leopold«, sagte der Kleine schnell. »Ich heiße Leopold.«

»Genau«, bekräftigte sie rasch. »Und ich bin Elisa.« Sie hielt es für ratsamer, den Familiennamen vorerst zu verschweigen. »Und wo sind eure Eltern?«, murmelte der Gehilfe des Hafenmeisters.

Suchend drehte sich Elisa um und deutete in Richtung ihres Vaters. Zum ersten Mal war sie erleichtert, dass er sich um Annelie kümmerte, anstatt nach der Tochter Ausschau zu halten und sich zu fragen, was sie mit einem fremden Rotzbengel zu schaffen hatte.

Der Hafenarbeiter runzelte seine Stirn noch mehr. Kurz schien es Elisa, dass sich seine Mundwinkel zu einem gutmütigen Lächeln verziehen wollten, doch ehe er sich entschied, den beiden Kindern Glauben zu schenken, schaltete sich der grimmige Lambert Mielhahn wieder ein: »Glauben Sie ihnen kein Wort! Um eine Ausrede ist das Diebespack doch nie verlegen.«

»Aber ich habe nicht ...«, setzte Leopold an.

»Lambert, es ist doch nicht so wichtig«, stammelte die schüchterne Frau an seiner Seite. Nun, da sie sie aus der Nähe sah, nahm Elisa den müden Zug um ihre Augen wahr, die dunklen Wülste darunter, die herabhängenden Schultern. Alt war sie noch nicht, aber eine Jugend, in der sie gelacht und getanzt und sich des Lebens erfreut hatte, schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Die beiden Kinder schmiegten sich noch enger an sie. Es waren ein Knabe mit dunklen Augen, die feucht glänzten, als wäre er den Tränen nahe, und ein Mädchen, das so zart war, dass man meinen konnte, ein einziger Windstoß würde genügen, um es umzufegen. Es hatte dünnes Haar, so blond, dass es fast weiß glänzte.

Lambert Mielhahn achtete weder auf seine Frau noch auf Leopold, sondern wandte sich nun an Elisa. Er musterte sie so verächtlich, als wäre es ein schweres Verbrechen, die Schwester eines Jungen zu sein, den er für einen Dieb hielt. Dass sie seinem Blick standhielt und nicht das geringste Anzeichen von Furcht erkennen ließ, schien ihm nicht zu imponieren, sondern noch griesgrämiger zu stimmen. Das ermutigte sie nur, umso stolzer den Rücken zu straffen und umso entschiedener den Nacken zu recken.

»Ha!«, stieß er plötzlich aus und deutete auf die Kette, die Elisa um den Hals trug. »Woher hat sie solch edlen Schmuck? Der kann nicht ihr gehören! Gewiss ist sie eine Diebin wie ihr Bruder und hat ihn gestohlen!«

Elisas Hand fuhr an das Schmuckstück.

Die Kette ihrer Mutter.

Seit Generationen war diese ein Familienerbstück, das die Frauen der von Grabergs ihren Töchtern vermachten.

»Die wirst du nicht behalten können«, hatte die alte Zilly gespottet, ehe sie abgereist waren. Zilly war eine ihrer Mägde gewesen, die sich hingebungsvoll um die Kühe gekümmert hatte. Stets hatte Zilly nach Milch und Stall gerochen, auch wenn sie gerade nicht dort schuftete. Doch eines Tages hatten alle Tiere die schreckliche Klauenseuche bekommen, waren eins nach dem anderen verreckt, und der Vater hatte laut geklagt, warum Gott sie so erbarmungslos geißelte. Bis dahin hatte er immer die Fassung bewahrt. Zilly hatte auch geklagt, ja, hatte geweint wie ein Kind. Verloren war sie im Kuhstall auf und ab gewandert und hatte nicht verstanden, warum ihre vertraute Welt innerhalb weniger Tage eine andere geworden war. Doch auch wenn sie Richard von Grabergs Verzweiflung teilte, hatte sie nicht verstanden, warum er schließlich die Auswanderung beschlossen hatte. Mit üblen Geschichten lag sie Elisa in den Ohren – über jemanden, der den gleichen Plan gehegt hatte, dann aber wochenlang am Hafen auf die Einschiffung habe warten und schließlich seinen ganzen Besitz habe verkaufen müssen, um sich durchzubringen. »Und so wird es euch auch ergehen«, hatte sie gemahnt. »Am Ende gibst du die Kette deiner Mutter für ein Stück Brot her!«

Niemals!, hatte Elisa gedacht, und auch jetzt reagierte sie wütend. »Was fällt Ihnen ein!«, herrschte sie Lambert Mielhahn an.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Leopold nicht länger trotzig blickte, sondern grinste. Der Gehilfe des Hafenmeisters blieb hingegen ernst – und ratlos. Mehrmals huschte sein Blick zwischen Elisa und Lambert hin und her.

»Kannst du mir erklären, warum du etwas so Teures besitzt?«, fragte er schließlich unbehaglich.

»Und warum sollte ich?«, fuhr Elisa auf. »Ich habe nichts Unrechtes getan, ich habe nur ...«

Ihr Satz endete in einem empörten Aufschrei. Unbemerkt war Lambert Mielhahns Hand vorgeschnellt, hatte den schimmernden Anhänger ihrer Kette umfasst und sie mit der Absicht, das Schmuckstück genauer anzuschauen, von ihrem Hals gerissen. Elisa fühlte einen stechenden Schmerz in ihrem Nacken – vor allem aber blinde Wut, als sie ihren kostbarsten Besitz in dieser klobigen Hand sah. Prüfend hielt Lambert Mielhahn die Kette gegen das Sonnenlicht und schnalzte mit der Zunge, nachdem er zum Schluss gekommen war, dass sie aus echtem Gold bestand.

»Wie können Sie es wagen ...«

Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Sie versuchte, nach der Kette zu greifen, und als ihr das nicht gelang, weil Lambert um vieles größer war als sie und sie einfach wegzog, schnellte ihr Kopf nach vorne, und sie biss ihn in seinen dicht behaarten Unterarm. Sie hörte seinen Schmerzensschrei erst, als sie schon Blut schmeckte. Die Kette fiel auf den dreckigen Boden; rasch bückte sie sich danach und umschloss sie mit ihrer Faust.

Ungläubig starrte Lambert Mielhahn auf seinen Arm, in dem ihre Zähne einen tiefen Abdruck hinterlassen hatten. »Glauben Sie mir jetzt, dass das gemeines Diebespack ist?«, schrie er.

Seine Frau und seine Kinder duckten sich. Nur Leopold grinste weiterhin.

»Mädchen, Mädchen«, stammelte der Gehilfe des Hafenmeisters hilflos.

»Wir sind keine Diebe!«, beharrte Elisa. »Wir gehören zu den Auswanderern nach Chile.«

»Und wo sind dann eure Eltern?«, zischte Lambert, um triumphierend hinzuzufügen: »Minderjährige dürfen ohne Erlaubnis ihrer Vormünder nicht auswandern.«

Elisa drehte sich wieder zögernd nach ihrem Vater und Annelie um. Zwar wusste sie nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass sie sich als Leopolds Schwester ausgegeben und einen Fremden gebissen hatte – dennoch hoffte sie inständig, er würde bemerkt haben, in welche Notlage sie geraten war, und eingreifen. Doch an dem Platz, wo sie bisher auf einer der Kisten gehockt hatten, war nichts von ihnen zu sehen.

»Wo ist denn euer Erlaubnisschein?«, fragte währenddessen der Gehilfe des Hafenmeisters.

Elisas Hand glitt zu dem Lederbeutel, den sie bei sich trug, doch noch ehe sie ihn durchkramte, wusste sie, dass es zwecklos war. Der Erlaubnisschein, den jeder Auswanderer vor der Einschiffung vorweisen musste, lag bei den übrigen Reisedokumenten – und diese wiederum trug Richard von Graberg bei sich, um sie stets aufs Neue zu kontrollieren.

In diesem Augenblick machte Leopold einen Satz nach hinten. Dass beide Männer misstrauisch auf Elisa starrten, wollte er offenbar zur Flucht nutzen, doch er kam nur ganze fünf Schritte weit.

Dann war Lambert, der eben noch vorwurfsvoll die Wunde an seinem Arm betastet hatte, schon hinter ihm her und packte ihn am Schlafittchen.

»Lassen Sie mich los!«, brüllte Leopold empört und trat mit den Füßen um sich.

»Ist noch ein weiteres Schuldeingeständnis nötig?«, fragte Lambert Mielhahn.

Der Gehilfe des Hafenmeisters seufzte ergeben.

»Also gut«, gab er nach. »Die Commerz-Deputation soll entscheiden, was mit den beiden geschieht.«

Elisa erblasste. Die Commerz-Deputation schickte vor jeder Einschiffung Sachverständige in den Hafen, die überprüften, ob es an Bord genügend Lebensmittel und Trinkwasser für die Überfahrt gab.

»Aber Sie wollen doch nicht ...«, setzte sie an.

Wieder blickte sie sich nach ihrem Vater um, aber ehe sie unter den vielen Menschen, die am Hafen warteten, auf ein vertrautes Gesicht stoßen konnte, wurde nun auch sie am Kragen gepackt. Ihre Proteste verklangen ungehört. Der Gehilfe zerrte sie und Poldi in eine der länglichen Lagerhallen, um sie fürs Erste einzusperren.

2. Kapitel

Die Tür des kleinen Lochs, in das der Mann sie brachte, quietschte, als er sie hinter sich zuwarf. Der untere Teil war aus schwerem, dunklem Eichenholz gezimmert, in das Würmer kleine Löcher gefressen hatten; oben konnte man durch rostige Gitterstäbe in den Gang starren, in dem sich ähnliche Lagerräume aneinanderreihten.

Wieder quietschte es, als der Mann den schweren Schlüssel im Schloss umdrehte. Kurz hoffte Elisa, er würde ihn dort belassen; so könnte sie später versuchen, durch die rostigen Stangen zu greifen und ihn irgendwie zu erhaschen. Doch der gleiche Gedanke kam – mehrere schnaufende Atemzüge später – auch dem Mann. Wortlos steckte er den Schlüssel ein und trabte von dannen.

»Sie sprechen möglichst schnell mit jemandem von der Commerz-Deputation, ja? Wir sind unschuldig!«, rief Elisa ihm nach. Ihre Stimme war durchdringend, er konnte sie nicht überhört haben, aber er antwortete lediglich mit einem gleichgültigen Schulterzucken und schien erleichtert, dass die leidige Angelegenheit vorerst ausgestanden war.

Elisa sackte gegen eine der Wände, die kalt, feucht und von hauchdünnen Spinnennetzen übersät waren, und kämpfte gegen die Mutlosigkeit an, die über ihre Seele schwappte wie der muffige Geruch ihres Gefängnisses.

Leopold hatte sich gebückt und hob einen klammen und dreckigen Fetzen Stoff auf – vielleicht der kümmerliche Rest eines einstigen Kühlsegels, vielleicht eine der Segeltuchkappen.

»Gib acht!«, rief sie, als sie die Nägel entdeckte, die darunter verstreut lagen und die genauso rostig waren wie das Gitter.

Er trat zurück, schnupperte angewidert. Noch ein anderer Geruch lag in dem Lagerraum, durchdringender als der faulig-salzige Gestank von Meeresbracke.

»Riechst du das auch?«, fragte er. »Was ist das?«

Elisa blickte sich um. Nach den vielen Stunden in der grellen Sonne hatte sie zunächst nicht sonderlich mehr erkannt als Konturen. Nun gewöhnten sich ihre Augen an das trübe Licht.

In der hinteren Ecke standen mehrere Fässer nebeneinander. Eines war umgefallen, und eine dunkle Flüssigkeit troff daraus. Auf dem Boden hatte sich eine klebrige Pfütze gebildet. »Ich glaube, das ist Eisenvitriol. Oder Karbolsäure. Man nutzt es zur Reinigung der Schiffe, vor allem von der Notdurft.«

»Dann wird bald jemand hier auftauchen und das Zeugs holen!«, rief der Junge eifrig. »Bevor das Schiff ablegt, meine ich!«

Elisa nickte; sie wollte den Zweifel nicht eingestehen, der sich in ihr ausbreitete. Nicht nur, dass die Fässer hier leer schienen – das »Zeugs«, wie Leopold es nannte, war also gewiss auch zur Genüge in anderen Lagerhallen vorrätig, weswegen niemand gezwungen sein würde, es von hier zu holen. Obendrein hatte der Gehilfe des Hafenmeisters keinerlei Eile an den Tag gelegt.

Elisa spähte in Richtung der Gitterstäbe; die schlurfenden Schritte des Mannes waren das Letzte gewesen, was sie von dort gehört hatte. Die Geräusche, die vom Hafen kamen – die Stimmen, die kreischenden Möwen, die plätschernden Wellen –, klangen nur gedämpft durch die Holzwände und ließen sich kaum voneinander unterscheiden.

»Heißt du wirklich Leopold?«, fragte sie, um sich abzulenken.

Er zog die Stirn kraus. »Glaubst du, ich lüge?« Er klang gekränkt.

»Dann hätte ich dir wohl kaum geholfen«, beschwichtigte sie ihn hastig.

»Von Helfen kann wohl keine Rede sein, sonst wären wir nicht hier«, meinte er seufzend. »Du hast dich lediglich als meine Schwester ausgegeben – und das war eine Lüge.« Damit hatte er zweifelsohne recht, doch darüber, was diese Lüge ihr eingebracht hatte, wollte sie lieber nicht nachdenken.

»Also ... Leopold ...«, setzte sie an.

»Meine Geschwister nennen mich Poldi.«

»Also ... Poldi ...«

Nachdem er das Tuch wieder hatte fallen lassen, war er steif im Raum stehen geblieben, sichtlich darum bemüht, nichts anzufassen. Nun trat er forsch zur Tür und rüttelte an den rostigen Stäben – vergebens. Als er die Hände wieder zurückzog, waren sie mit roten Streifen übersät.

»Das Schiff legt bald ab«, stellte Poldi fest. Seine Stimme kämpfte mit Panik – und ebendiese stieg auch in ihr hoch, legte sich wie ein Kragen um ihren Hals, der immer enger zu werden drohte und ihr die Luft abschnürte.

Ruhig versuchte sie dagegen anzuatmen.

»Wollt ihr auch nach ... Chile?«, fragte sie.

Sie hatte den Namen des Landes bis jetzt nur sehr selten ausgesprochen, als wäre er zu kostbar, um ihn leichtfertig in den Mund zu nehmen, ja, als verlangten die ungeheuerliche Ferne und die ungeheuerliche Fremde ähnliche Ehrfurcht wie ein Gebet.

Poldi nickte knapp. »Eigentlich haben wir uns für Neu-York entschieden. Der Eider-Hans aus unserem Dorf ist dorthin gegangen. Er hat sogleich Arbeit gefunden, schrieb er in einem Brief. Für die Eisenbahn würde er jetzt arbeiten. Und er verdient so viel, dass er kein hartes Schwarzbrot mehr essen muss. Pasteten kann er sich jetzt leisten, und zwar aus feinstem Weizenmehl.« Er schmatzte genießerisch mit den Lippen, ehe er fortfuhr. »Die Fahrt dorthin dauert auch nur fünfzig Tage, nicht so lange wie nach Chile. Aber mein Großvater reist mit uns. Und er ist weit über sechzig.«

Elisa wusste, was er meinte. In einem der Amtsblätter, die sie und ihre Mutter über Monate sorgfältig durchforstet hatten, war zu lesen gewesen, dass in Nordamerika keine Menschen willkommen waren, die mehr als sechzig Jahre zählten. Doch obwohl in ihrer eigenen kleinen Familie alle im passenden Alter gewesen wären, hatten auch sie sich für Chile entschieden und nicht für Neu-York. Die meisten würden dorthin gehen, hatte ihre Mutter gesagt, und längst seien die Fremden dort nicht mehr so erwünscht wie einst. Die Lobeshymnen auf die neue Heimat, die in den Briefen stünden, müsste man mit Vorsicht genießen. Gar manche Auswanderer hätten von einem Schlaraffenland geschwärmt – und wären nach wenigen Monaten nach Deutschland zurückgekehrt, mit nichts anderem als dem, was sie auf dem Leibe trugen, und nur um eine äußerst missliche Erfahrung reicher.

»Und wer außer deinem Großvater reist sonst noch mit dir?«, fragte Elisa.

Unruhig begann Poldi, in dem engen Raum auf und ab zu gehen.

»Fritz und Lukas, das sind meine Brüder. Die Christl, das Katherl und das Lenerl, das sind meine Schwestern.« Insgesamt drei Söhne!, ging es Elisa durch den Kopf. Wie würde ihr Vater diese Familie beneiden!

Sämtliche Brüder, die ihre Mutter geboren hatte, waren nicht älter als ein Jahr geworden. Jeden Sonntag nach der Messe hatten sie ihr Grab besucht, und jedes Mal beklagte Richard von Graberg, dass er keinen gesunden Stammhalter hatte. Elisa wusste, dass er stolz auf sie war, dass er sie liebte, aber sie hatte immer den Eindruck, dies geschehe, obwohl und nicht weil sie ein Mädchen war und dass er sich insgeheim fragte, warum gerade diese einzige Tochter unter seinen Kindern groß geworden, die Knaben jedoch alle gestorben waren.

Ob er Annelie womöglich auch deswegen so bald nach dem Tod der Mutter geheiratet hatte?

Vor dem Aufbruch nach Chile hatte er wieder laut bedauert, keine Söhne zu haben: Die Regierung des fernen Landes, so hieß es in den Amtsblättern, versprach jedem einwandernden Familienvater Land in der Größe von acht »Cuadras«, wie es hier genannt wurde, das war ungefähr ein Hektar, und obendrein vier weitere für jeden Sohn. Auch die Rationen all dessen, was sie für die Kultivierung des Bodens brauchen würden – Sämereien, Gerätschaften und Ochsen –, fielen reicher aus, wenn Söhne vorzuweisen waren.

Nun, wenigstens alle anderen Rechte und Pflichten waren dieselben: Sechs Jahre würden sie steuerfrei bleiben und vom ersten Tag an als chilenische Bürger behandelt werden, vorausgesetzt sie leisteten den Eid auf die chilenische Verfassung.

Poldi hatte nicht bemerkt, wie sehr die Erwähnung seiner Brüder sie beeindruckt hatte.

»Nach Neu-York hätten wir auch aus einem anderen Grund nicht gehen können«, berichtete er eben. »Weil man nämlich schon vorher das Geld für die Überfahrt hätte aufbringen müssen. Für Chile hingegen gibt’s ein Darlehen von der Regierung. Die wollen uns wirklich gern in ihrem Land haben, nicht wahr?«

Elisa nickte.

»Trotzdem schade!«, rief Poldi. »Ich hätte gerne Pasteten mit Weizenmehl probiert. Was es wohl in Chile zu essen gibt?«

Elisa zuckte mit den Schultern. Ihre Neugierde auf das, was Poldi zu erzählen hatte, nahm merklich ab, nun, da Minute um Minute verrann und es im Gang totenstill blieb. Erneut spähte sie nach draußen.

»Diese Abgeordneten der Commerz-Deputation werden doch kommen und uns freilassen?«

»Natürlich werden sie das!«, erklärte Elisa hastig, und bevor er berechtigten Zweifel bekunden konnte, fügte sie hinzu: »Wovon ... wovon habt ihr gelebt, bevor ihr hierher aufgebrochen seid?«

»Mein Vater war ein Waffenschmied mit eigener Schmiede«, berichtete Poldi stolz, aber als er fortfuhr, klang er kleinlauter: »Die Schmiede war allerdings schon alt und baufällig, er hätte neue Gerätschaften benötigt, und die konnte er sich nicht leisten. Irgendwann hat er so wenig Geld verdient, dass er beschlossen hat, in den Steinbrüchen zu arbeiten und später für die Eisenbahn. Doch damit, hat meine Mutter immer gesagt, könne man keine Familie ernähren, sondern gerade mal einen erwachsenen Mann. Und ihr ... warum geht ihr nach Chile?«

Elisa trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Ihr Vater musste sie längst vermissen, würde sicher begonnen haben, nach seiner Tochter zu suchen. Der Gedanke daran beruhigte sie jedoch keineswegs, sondern wühlte sie noch mehr auf. Gewiss würde er nie auf die Idee kommen, ausgerechnet in dieser Lagerhalle nach ihr zu suchen!

»Vor einigen Jahren«, erzählte sie, um nicht daran zu denken, »sind erstmals neun hessische Handwerkerfamilien nach Chile ausgereist. Und eine von ihnen war mit der Base meiner Mutter bekannt. Sie hat uns einen Brief von diesen Auswanderern gezeigt.«

Dieser Brief hatte nicht so begeistert geklungen wie mancher Bericht aus Nordamerika – jedoch viel aufrichtiger als diese. Die Reise habe sehr lange gedauert, aber schließlich seien sie sicher in Corral, dem Hafen Valdivias, eingelaufen. Die Arbeit, die sie erwartet hatte, sei hart, aber es gäbe hier tatsächlich Land für jedermann: Die meisten Gebiete seien von dichtem Urwald bedeckt, doch wenn man diesen erst abgeholzt hätte, könnten fruchtbare Ländereien entstehen.

Der Vater hatte bis zuletzt daran gezweifelt, ob Chile das richtige Ziel für sie sei – so wie er immer zweifelte, ehe er eine Entscheidung traf.

»Mein Vater hat es lange aufgeschoben«, sagte sie zu Poldi, »aber nach dem letzten Hungerwinter ...«

Sie brach ab. Bis jetzt waren die Laute von draußen gedämpft hereingedrungen, Stimmen der Auswanderer und die Befehle derer, die die Schiffe kontrollierten. Nun plötzlich aber schwollen die einzelnen Wortfetzen an, wurden zu tosendem Lärm. Alle schienen gleichzeitig zu reden, alle sich gleichzeitig zu erheben und in eine Richtung zu strömen.

Elisa und Poldi starrten sich entsetzt an, begriffen beide im Bruchteil eines Augenblicks, dass das nur eines bedeuten konnte: Das Schiff war von den Inspektoren nun endlich freigegeben worden und konnte von den Passagieren bestiegen werden.

Im nächsten Augenblick schälte sich schon eine Stimme aus dem Gewirr der vielen und erteilte strikte Befehle, wo man Aufstellung zu nehmen habe, ehe es an die Zuteilung der Beiboote ging.

Elisa stürzte zum Tor, rüttelte daran, obwohl sie längst wusste, dass es zwecklos war. Auch ihre Hände wurden nun schmutzig rot vom Rost.

»Du meine Güte!«, schrie Poldi. »Es geht aufs Schiff. Und uns haben sie vergessen!«

Diesmal widersprach Elisa seiner Befürchtung nicht.

»Zu Hilfe!«, schrie sie laut, obwohl sie gegen den Lärm kaum ankam. »Wir sind hier eingesperrt! Zu Hilfe!«

Pastor Zacharias Suckow blieb unvermittelt stehen. Schon mehrmals hatte er Anstalten gemacht, keinen Schritt weiterzugehen, doch bislang war es Cornelius immer wieder gelungen, ihn mit sich zu zerren. Nun widersetzte er sich endgültig dem fordernden Griff.

»Ich kann mir nicht helfen«, erklärte der Pastor trotzig, »aber ich habe kein gutes Gefühl.«

Cornelius seufzte und suchte, wie so oft in den letzten Tagen, nach dem geeigneten Zuspruch, um den Onkel voranzutreiben. Nicht nur das war in diesem Augenblick eine Herausforderung. Auch galt es, der immer dichter werdenden Menschenmenge bestmöglich auszuweichen. Hafenarbeiter und Schauerleute zerrten Güter- und Gepäckwagen mit sich, Seeleute hantierten fluchend mit Tauen, neugierige Zuschauer kamen aus allen Teilen Hamburgs, um ebenso fasziniert wie mitleidig die Auswanderer zu bestaunen.

Bunt gemischt war dieses Völkchen: Gebrechliche und Schwache befanden sich darunter, rüstige Männer und Frauen, neugierige Jugendliche und kleine Kinder. Die Hitze hatte sie bis eben noch müde gestimmt, doch seit durchgedrungen war, dass es nun an die Einschiffung ging, waren sie allesamt wieder erwacht. Ein Drängen und Schreien hatte begonnen, ein Fluchen und Jauchzen, ein Singen und Klagen, ein Lachen und Weinen. Die einen waren aufgeregt, die anderen verängstigt.

»Achtung!«, ertönte eben ein lauter Ruf hinter ihnen. Gerade noch rechtzeitig konnte Cornelius seinen Onkel zur Seite ziehen und somit vermeiden, dass ihn die Männer mit dem Gerät rammten, das sie hinter sich herzogen. Es war groß und schwer und bestand aus diversen Schläuchen und Wasserbehältern.

»Schau nur!«, rief Cornelius und versuchte, mitreißend zu klingen. »Das ist ein Destillierapparat zur Herstellung von Trinkwasser. Ich nehme an, sie bringen ihn jetzt aufs Schiff.« Der Onkel hörte nicht auf ihn. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe kein gutes Gefühl.«

Was eigentlich nicht verwunderlich war, ging Cornelius durch den Kopf. Pastor Zacharias fühlte sich nur dann wohl, wenn er entweder auf der Kanzel stand und vollmundig predigte, bis ihm der Schweiß aus allen Poren brach, oder wenn er vor einem randvoll gefüllten Glas Portwein saß und eine fette Zigarre in den Händen drehte.

Cornelius musterte ihn von der Seite und unterdrückte nur mühsam ein Seufzen. Der Onkel machte ein so verzweifeltes Gesicht, als würde er gleich losheulen wollen. In seiner Gegenwart kam sich Cornelius – obwohl doch erst dreiundzwanzig Jahre alt – oft würdig, abgebrüht und lebenserfahren vor wie ein Greis, wohingegen Zacharias Suckow, der längst graue Haare und ein dichtes Netz aus Falten bekommen hatte, sich wie ein kleines Kind benahm, das zum ersten Mal in seinem Leben der großen, gefährlichen Welt mit all ihren Tücken ausgeliefert war.

Wenn er sich doch nur ein wenig zusammenreißen würde!, durchfuhr es ihn – ein Gedanke, den er sich sogleich wieder verbat.

Es war nicht immer leicht, an der Seite von Pastor Zacharias Suckow zu leben – aber im Grunde seines Herzens war er ein gutmütiger Mensch, und er, Cornelius, hatte ihm viel zu verdanken, unendlich viel.

»Wie lange haben wir nun nichts mehr zu essen bekommen?«, klagte Zacharias, als hätte ihm der Hunger schon ein Loch in den Leib gerissen, obwohl er diesen rundlich und wohlgenährt wie immer vor sich her schob.

»Jetzt, da es aufs Schiff geht, werden wir unser Abendmahl dort einnehmen«, versuchte Cornelius, ihn aufzumuntern. »Möchte nicht wissen, welchen Fraß sie uns vorsetzen werden«, murrte Pastor Zacharias.

Vor einigen Tagen hatte er Gleiches befürchtet – als sie im Logierhaus eintrafen, wo sie die Tage bis zur Abreise verbringen würden. Steinhartes Brot hatte er prophezeit, sauren Wein und zähes Fleisch, so es denn überhaupt welches geben würde. Cornelius hatte dagegengehalten, dass sie schließlich ordentlich für jeden Tag bezahlten – und recht behalten: Die Suppe, die ihnen serviert worden war, war kräftig und gut gewürzt; der Rinderbraten weich und saftig. Erbsen und Kartoffeln gab es dazu und hinterher ein dickes Stück Schmandkuchen mit Bohnenkaffee, Zucker und Milch. Auch beim Frühstück am nächsten Tag war keine Rede davon, dass man ihnen den bitter schmeckenden Zichorienkaffee der armen Leute vorsetzte, wie Pastor Zacharias zuvor klagend verkündet hatte.

Aber anstatt angenehm überrascht zuzugeben, dass das Leben, das gerade in so unruhigen Bahnen verlief, vielleicht doch nicht schnurstracks ins Verderben führen würde, sofern man denn das erforderliche Geld aufbringen könnte, hatte er nur umso lauter geseufzt. Dass dies seine Henkersmahlzeit sei! Dass er sie gar nicht richtig genießen könne! Dass er sich niemals hätte von seinem Landesbischof überreden lassen dürfen, in die Wildnis zu gehen!

So sprach er stets von Chile, als hätte das Land keinen Namen. Genauso wie er die dortigen Menschen nicht als solche betrachtete, sondern als Tiere, die in den Bäumen hausten wie die Affen.

Dabei waren es gute Christenmenschen, wenngleich katholische, und genau darin läge das Problem, wie der Landesbischof ihm erklärt hatte.

Cornelius war dabei gewesen, als sie bei einem Glas Portwein zusammentrafen und der Bischof dem Pastor seine Sorgen darlegte: dass die chilenische Regierung in Deutschland Familien anwerben lasse, die den Süden des Landes erschließen sollten. Und dass diese entweder erfahrene Bauern oder Handwerker sein und obendrein der katholischen Kirche angehören müssten.

Ersteres war leicht zu erfüllen. Letzteres nicht. Mehrere katholische Bischöfe, insbesondere die aus Fulda und Paderborn, Trier und Regensburg, erhoben Einspruch gegen die Auswanderung ihrer Schäfchen – schließlich wollten sie ihre Kirchengemeinden nicht schwinden sehen –, so dass der Kolonisationsagent Philippi schließlich auf diese Bedingung verzichtete und flugs begann, Auswanderer unter den Protestanten zu sammeln.

»Anders als unsere katholischen Amtsbrüder halten wir die Mitglieder unserer Gemeinden nicht in Deutschland fest«, hatte der Bischof Pastor Zacharias erklärt, »aber da Chile ein durch und durch katholisches Land ist, müssen wir unseren Brüdern und Schwestern doch einen Führer in ihrem Glauben mitgeben.«

Pastor Zacharias hatte schweigend zugehört – was ungewöhnlich genug war –, zunehmend größere Schlucke Wein genommen, ein immer verwirrteres Gesicht gemacht und am Ende schließlich ungläubig begriffen, dass das Anliegen ihm galt.

»Bedenken Sie«, meinte der Bischof, »die chilenische Regierung hat sämtlichen einwandernden Priestern, Lehrern und Ärzten ein Gehalt versprochen. Auch wenn Sie nicht der gewünschten Konfession angehören – so einfach werden sie das Versprechen nicht zurücknehmen. Sie müssten nicht nur mit einem Hungerlohn rechnen, wenn Sie sich zu der Reise entschließen könnten.«

»Ich?«, rief Pastor Zacharias, und auf den Schreck hin brauchte er erst einmal eine Prise Schnupftabak, obwohl er für gewöhnlich dicke Zigarren bevorzugte. Schnupftabak, so klagte er, würde unerträglich in der Nase brennen. An diesem Abend allerdings konnte es wohl gar nicht stark genug brennen. »Ich soll in die Wildnis gehen?«, stammelte er schließlich mit krächzender Stimme.

Fortan sprach er ständig von der »Wildnis«. An jenem Abend genauso wie in den Wochen, die folgten und in denen der Bischof hartnäckig sein Anliegen wiederholte. Pastor Zacharias wurde zunehmend wankelmütiger, wenn er versuchte, Gegenargumente vorzubringen. Nicht dass er der Vorstellung von der Wildnis mit der Zeit etwas Gutes abgewinnen konnte, doch er war viel zu gutmütig, zu bequem und zu konfliktscheu, um der Entschiedenheit des anderen mehr entgegenzusetzen als fahrige Ausflüchte, die ihm irgendwann ausgingen.

»Siehst du?«, sagte Cornelius. »Du musst nur noch ein kleines Stückchen gehen. Dort hinten können wir uns endlich anstellen.«

»Endlich?«, rief Pastor Zacharias, sichtlich entrüstet, dass für Cornelius nur lästige Wartezeit war, was er als letzte Galgenfrist betrachtete.

»Ich gehe erst mal nirgendwohin«, erklärte er trotzig. »Seit dem Frühstück habe ich nichts zu essen bekommen. Wenn man mich nicht ohnmächtig aufs Schiff schaffen will, brauche ich eine Stärkung.«

Er machte allerdings keine Anstalten, sich diese selbst zu organisieren, sondern hockte sich auf eine der Kisten. Auch wenn er sich dem Bischof schließlich gebeugt hatte, weil er Streit fürchtete – im Kleinen leistete er immer noch Widerstand. Aus jeder Nichtigkeit, die auf der Reise schieflief, formte er ein Hindernis, das ihm selbige schier unmöglich machte; jede Beschwerlichkeit wurde zur unerträglichen Überforderung.

»Vorhin habe ich gesehen, wie einige Mitarbeiter des Sankt-Raphael-Vereins Suppe an die Auswanderer verteilten«, meinte Cornelius. »Ich ... ich hole dir am besten davon.« Cornelius verkniff sich zu sagen, dass diese Fürsorge den Ärmsten unter den Auswanderern galt – denjenigen, deren letzte Mahlzeit schon viel länger zurücklag als das Frühstück. Ehe sein Onkel etwas entgegnen konnte – schale Suppe mit zähem Fleisch war gewiss nicht nach seinem Geschmack –, eilte er davon, um sich dessen Klagelieder nicht länger anhören zu müssen.

Cornelius schwankte nun schon seit Tagen dazwischen, sich wegen Zacharias Suckows Zustand Sorgen zu machen oder sich darüber zu ärgern. Manchmal fluchte er innerlich über ihn – um sich im nächsten Augenblick vorzuhalten, dass dessen Angst vor der Fremde doch verständlich war. Er selbst schmeckte im Übrigen nichts davon. Über das Ziel ihrer Reise hatte er wenig nachgedacht; die einzige Gewissheit, die in ihm brannte, war, dass er hier in Deutschland nicht bleiben konnte. Pastor Zacharias hing an der Heimat, obwohl er seit langem verwitwet war, kaum Freunde besaß und seine wenigen Laster – nicht nur Portwein und Zigarren gehörten dazu, auch das Glücksspiel und das Bedürfnis, sich von seiner Gemeinde bewundern zu lassen – auch anderswo würde ausleben können. Cornelius hingegen wusste schon lange nicht mehr, was Heimat überhaupt bedeutete; vielleicht hatte er es nie gewusst.

Kurz vor ihrer Abfahrt war er auf den Friedhof geschlichen, um dort ein letztes Mal an den Gräbern jener beiden Menschen zu stehen, die sein Leben am entschiedensten geprägt hatten. Da war die Frau, die er schlimm gekränkt hatte, anstatt ihr zu beteuern, dass er sie liebte, der er die Schuld daran gab, nicht studieren zu können, und die ihm nun, da sie tot war, doch unendlich fehlte.

»Es zählt nicht mehr«, sprach er. »Es zählt nicht mehr in dem fremden Land, in das ich gehe. Dort weiß man nichts von mir ... von dem Makel meiner Geburt.«

Ernst und gefasst hatte er diesen Abschied hinter sich gebracht. Viel mehr weh wurde ihm ums Herz, als er an Matthias’ Grab stand.

»Keine Revolution lohnt es, dafür zu sterben, schon gar nicht eine, die scheitert.«

Jene Worte, die er dem Freund einst gesagt hatte, fielen ihm wieder ein. Damals, als Matthias noch gelebt hatte, hatte er sich als der Klügere gefühlt, der Nüchternere, der Überlegtere. Nun fragte er sich erstmals, ob er nicht einfach nur der größere Zauderer, der größere Feigling gewesen war – und ob Matthias, dem er bei ihrer letzten Begegnung vorgehalten hatte, dass Heldenmut bloß die Kehrseite von Todessehnsucht sei, nicht den einzig richtigen Weg gewählt hatte, um mit dem Ende ihrer Träume zu leben – ganz anders als er. Die Reise in die Ferne war ihm in diesem Augenblick als Flucht erschienen.

Er schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben; derart darin versunken, sah er nicht den großgewachsenen, wenngleich vom Alter etwas gebeugten Mann auf sich zustürzen. Er blickte erst hoch, als dieser unmittelbar vor ihm stand und ihm flehend ins Gesicht starrte.

»Verzeihung ... Verzeihung, dass ich Sie aufhalte. Aber ich bin auf der Suche nach meiner Tochter. Wir haben hier auf die Einschiffung gewartet, doch vor etwa einer Stunde ist sie spurlos verschwunden.«

Cornelius sah sich um. Die Menschenmenge drängte sich zu den Stegen, wo die Beiboote warteten; teilweise vergebens versuchten Matrosen und Hafenarbeiter, sie zu dirigieren. Es war schwer, darin ein einzelnes Gesicht auszumachen.

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich habe niemanden gesehen. Vielleicht ist sie schon aufs Schiff gegangen.«

Der Mann wartete nicht, bis er den Satz vollendete, sondern lief schon auf den nächsten zu, um ihn zu befragen.

Cornelius ging weiter. Sein Onkel Zacharias hätte sich wohl gefreut, wenn sein Neffe verloren gegangen wäre, und hätte darin den erwünschten Aufschub der drohenden Reise gesehen.

Der Gedanke an den Pastor erinnerte Cornelius daran, dass er einen Teller Suppe für ihn hatte auftreiben wollen, doch als er sich umblickte, sah er, dass dies ein ganz und gar nutzloses Unterfangen war. Die Diakonissen und die Abgesandten vom Sankt-Raphael-Verein hatten ihre Arbeit in dem Augenblick ruhen lassen, als der Befehl zur Einschiffung ertönte.

Er wollte schon zurück zu seinem Onkel gehen, als er ein längliches Lagerhaus erblickte. Suppe war dort nicht zu erwarten, vielleicht aber wurden hier Essensvorräte gelagert, von denen er etwas stibitzen konnte. Als er das Gebäude betrat, schwappten ihm allerdings keine wohlduftenden Gerüche entgegen, nur der Gestank nach Tran, Fäulnis und einer undefinierbaren Lauge.

Er wich zurück, wollte das Gebäude augenblicklich wieder verlassen, doch in diesem Augenblick hörte er verzweifelte Rufe.

»Hilfe! Man hat uns hier eingesperrt! Kommt uns zu Hilfe!«

Es waren ein Knabe und eine junge Frau, auf die er stieß, als er den verzweifelten Rufen folgte – die in den kleinsten und ohne Zweifel schmutzigsten Raum dieser Lagerhalle gesperrt waren.

Das Mädchen stürzte auf ihn zu, kaum dass sie seiner ansichtig wurde. »Gott sei Dank!«, rief sie aus. »Jemand hat uns gehört.« Hastig, sich fast an den Worten verschluckend, setzte sie hinzu: »Bitte! Können Sie uns befreien? Wir sind gefangen und ...«

Seine Augen hatten sich dem schlechten Licht angepasst. Ihr Haar war kastanienbraun, nur einige Strähnen glänzten kupferrot; am Morgen hatte sie es wohl zu einem festen Zopf geflochten, doch der hatte sich längst gelöst, und an den Schläfen kräuselten sich einige Locken. Schweißnass war ihr Gesicht, und über die Stirn verlief eine dunkle Schliere.

»Bitte!«, setzte sie hinzu. »Ich bin Elisa von Graberg.«

Eine Adelige?

Sein Blick glitt ungläubig über ihre Gestalt, aber er wurde nicht recht schlau aus ihr. Sie trug keine Handschuhe, und ihre Hände wirkten so rissig und braun, als wären sie harte Arbeit gewohnt. Zugleich waren sie feingliedrig und lang, und für einen Augenblick stellte er sich vor, wie sie gekonnt über die Tasten eines Klaviers huschten. Ihre hochgeschlossene helle Bluse unter einem weinroten Cape und ihr grauer Rock waren faltig und fleckig; Staub und Spinnweben klebten daran, aber ohne Zweifel war es ein feiner, weicher Stoff, und auch der dünne Spitzenrand am Kragen zeugte von mehr Eleganz als Bauernlumpen. Die Haut ihrer Wangen war weiß und glatt; auf der Nase jedoch saßen einige Sommersprossen.

Flehentlich blickte sie ihn an, während der Knabe an ihrer Seite ungeduldig auf den Boden stampfte.

»Nun lassen Sie uns doch frei!«, rief er. Was dann folgte, war eine wirre Geschichte, die Cornelius nicht recht verstand. Von Diebespack war die Rede, das sie aber nicht wären, von einem Lambert Mielhahn, der vielmehr Elisa fast bestohlen hätte. Ja, er hätte ihr einfach die Kette entrissen, und doch wären nun sie hier, nicht Lambert, obwohl er es so viel mehr verdiente, ein so unfreundlicher, widerwärtiger Zeitgenosse, wie er sei.

Cornelius musterte auch den Jungen flüchtig. Anders als Elisa von Graberg trug er graue Lumpen, die schon so oft geflickt worden waren, dass es ein Wunder war, warum sie ihm nicht vom Leibe rutschten. In seinem kurz geschorenen Haar hingen die gleichen Spinnweben wie an Elisas Bluse – nur dass es schon vorher vor Dreck gestarrt haben musste. An manchen Stellen war es nicht blond, sondern grau.

»Bitte warten Sie nicht länger! Es geht doch jetzt aufs Schiff!«, nahm nun wieder die junge Frau das Flehen auf. »Und wir ... wir gehören zu den Auswanderern!«

Cornelius zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich würde wirklich gerne helfen. Doch ich habe nicht den passenden Schlüssel.«

Er deutete auf das Schloss.

Der Knabe stampfte wieder trotzig auf; das Mädchen biss sich auf die Lippen, offenbar um nicht zu zeigen, wie nahe sie den Tränen war.

»Aber ich kann jemanden suchen!«, beteuerte er schnell. »Beschreibt mir doch, wie der Mann aussah, der euch hier eingesperrt hat!«

Als er wenig später wieder ins Freie trat, war er mutlos. Männer, die mal hier oder da zupackten, die die Auswanderer herumscheuchten, die Kisten verluden oder lediglich darüber wachten, gab es zuhauf. Wie sollte er den Betreffenden finden, nachdem obendrein die Beschreibung der beiden sehr ungenau ausgefallen war?

»He, Sie!«, rief er schließlich kurz entschlossen einem Mann zu, der damit beschäftigt war, die Auswanderer in einer langen Reihe zu ordnen.

»He, Sie!«, wiederholte er, als der Mann nicht auf ihn hörte, und legte diesmal mehr Gewicht in seine Stimme. Endlich drehte sich der Mann um, doch seine Stirn war abweisend gerunzelt, als Cornelius sein Anliegen vorbrachte. Ob er selbst die beiden eingesperrt oder zumindest von einem Kollegen davon gehört hatte, ließ sich nicht erkennen.

»Hab damit nichts zu schaffen!«, beschied er Cornelius knapp.

»Aber man kann doch Auswanderer nicht einfach hier festhalten, schon gar keine Kinder! Wenn ihre Eltern ...«

»Nun, Sie schauen mir nicht wie ein Vater aus«, meinte der Mann, und sein Blick glitt abfällig über Cornelius’ Gestalt. Er war groß gewachsen, aber schmächtiger als viele der hart arbeitenden Männer hier.

»Nun hören Sie ...« Cornelius sah den Schlüsselbund, der am Gürtel des Mannes klapperte. »Gerade weil es nicht Ihre Sache ist, können Sie doch einfach aufsperren, und ...«

Er kam nicht weiter. Eine Stimme unterbrach ihn, schnaufend und ungeduldig. »Cornelius!«, rief sein Onkel, so klagend, als hätte er ihn auf dem Sterbebett im Stich gelassen. »Was treibst du denn? Denkst du gar nicht an mich?«

Cornelius fuhr herum. Pastor Zacharias’ Gesicht war noch eine Spur röter und aufgedunsener als vorhin.

»Lässt mich in der Sonne sitzen!«, quengelte er. »An einem Herzschlag hätte ich sterben können!«

Es klang nicht so, als wäre dies seine schlimmste Befürchtung. Lieber tot umfallen, als in die Wildnis gehen, hatte er schon vor Wochen verkündet. Doch sein Leib war zu wohlgenährt, um ihm diesen Gefallen zu tun.

»Du musst mir helfen, Onkel«, sagte Cornelius hastig.

»Du lässt mich einfach allein, und ...«

»Onkel Zacharias!«, unterbrach Cornelius ihn scharf, und weil er nur selten so streng mit ihm sprach, verstummte Pastor Zacharias augenblicklich und starrte ihn mit weit geöffneten Augen an. »Onkel, dadrinnen sind zwei arme Seelen gefangen«, begann Cornelius und deutete auf die Lagerhalle. Erfahrungsgemäß erhielt man mehr Aufmerksamkeit von ihm, wenn man nicht von Menschen, sondern von armen Seelen sprach. Und erfahrungsgemäß wurde er umso hellhöriger, wenn man übertrieb. »Schlimmes Unrecht hat man ihnen angetan. Sie drohen zu verdursten und sind schon ganz schwach. Das junge Fräulein ist noch tapfer, aber ich weiß nicht, wie lange sie noch aushält.«

Cornelius schlug sich pathetisch mit der Faust auf die Brust, um aus einer unangenehmen Lage eine nahezu tragische zu machen. Es wirkte sofort. Entsetzen breitete sich in Zacharias’ Gesicht aus, wenngleich ihm der Verzicht auf Wasser nicht so bitter schien wie der auf Wein. Er schmatzte sehnsüchtig.

»Warten Sie!«, rief Cornelius, als der Hafenarbeiter, den er angesprochen hatte, sich schweigend zum Gehen wandte. »Mein Onkel ist Pastor. Zacharias Suckow ist sein Name. Und er kann bezeugen, dass die beiden Gefangenen treue und rechtschaffene Schäfchen seiner Gemeinde sind.«

Der Mann drehte sich um; er blickte zweifelnd, genauso wie nun auch Zacharias.

»Kann ich das wirklich?«, fragte er unsicher.

Cornelius nickte entschlossen. »Ja, du kannst!«, sagte er so streng wie vorhin.

Prompt glättete sich die gerunzelte Stirn des Pastors. »Natürlich kann ich!«, meinte er.

»Es ist nämlich so«, wandte sich Cornelius eifrig an den Hafenarbeiter, »die beiden gehen jeden Sonntag zum Gottesdienst.«

»Wirklich jeden!«, rief Zacharias.

»Und auch ihre Eltern sind ehrbare, strebsame und bescheidene Christenmenschen!«

»Sehr strebsame!«, sekundierte der Onkel. »Sehr bescheidene!«

»Sie frönen keinem Laster! Nicht der Trunksucht, nicht der Eitelkeit, nicht der Habgier!«

»Nein! Keinem einzigen Laster!«