Der (Un-)Vergessene Widerstand - Christa Muths - E-Book

Der (Un-)Vergessene Widerstand E-Book

Christa Muths

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Beschreibung

Das Kleine ist das Große. Dieses Buch macht den vergessenen Widerstand des 3. Reiches wieder lebendig und damit unvergessen. Es beschreibt die Herausforderungen des Alltags und die ungewöhnlichen Lösungen der Lebenswege derjenigen, die im Widerstand tätig waren. Die unbekannten Heldentaten des "kleinen" Mannes werden aus dem geschichtlichen Dunkel ins Licht geholt, weg vom Fokus des Widerstands des Adels. Der Alltag der Widerständler wird im sozialen Kontext des Zeitgeschehens beschrieben, getragen von den persönlichen Geschichten. Das Buch ist ein Zeitzeugen-Bericht, das zeigt, wie kleine Gesten und ziviler Mut, innere Integrität und Freiheit trotz der täglichen Gefahren, im Angesicht von Verrat, Verfolgung, Konzentrationslager und Tod, Menschen von damals wie heute Lebensmut gibt und sie rettet. Es sind berührende Geschichten von ganz normalen Menschen, die den Sturm der Zeit von 1900 - 1945 trotzten. Leser beschreiben es als Buch der Anthropologie, der Menschenkunde.

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Impressum:

© 2014 by Christa Muths

Titelbild: © Maria Gandolfo; https://www.fiverr.com/renflowergrapx Bildbearbeitung: Maria Gandolfo / Angelika Fleckenstein Umschlaggestaltung und Satz: Angelika Fleckenstein, spotsrock.de

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:      

978-3-7323-1839-1 (Paperback) 978-3-7232-1840-7 (Hardcover) 978-3-7232-1917-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Christa Muths

Der (Un-)Vergessene Widerstand

Die Helden des Alltags

Das Kleine ist das Große

Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand

Das Buch ist meinem langjährigen Freund und Genossen

Peter Kalle

gewidmet.

Ohne seine beharrliche und wegweisende Unterstützung wären mir viele Türen verschlossen geblieben.

Peter verstarb am 4.11.2013 in Lüdenscheid.

Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Brigitte Hardt in England, die trotz großer zeitlicher Belastung mir immer wieder Fragen stellte, zu deren Beantwortung ich oft viel Zeit und Nachforschungen benötigte, die aber die Klarheit des Inhaltes deutlich erhöhte.

Ein Dankeschön auch an Ingrid und Matthias Abel aus Hanau deren konstruktive Kritik mir in vielen Punkten weiter half.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung in die Zeitgeschichte

TEIL EINS

Das Kaiserreich 1871 – 1918

Exkurs: Der Erste Weltkrieg

Weimarer Republik 1918 – 1933

Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise

Das 3. Reich 1933 – 1945

Zum Widerstand im 3. Reich

TEIL ZWEI

Die Rettungshelfer, die Alltagshelden, die stillen Helden, die Widerstandskämpfer des Buches

Prägende Einflüsse der Kindheit und Jugend

Nelly Van de Rest - 1891 in Rotterdam geboren

Martha Holtz - geb. 1886 in Osterode/Ost-Preußen

Heinrich Thormann - geb. 1885 in Osterode in Ost-Preußen

Charlotte Dévai - geb. 1900 in Landsberg an der Warthe

1909 - Das Alltagsleben der Industriearbeiter

Walter Ferdinand Franz - geb. 1909 in Düsseldorf

Walter Wilhelm Franz - geb. 1909 in Gautzsch bei Leipzig

Pit Mitterle - geb. 1909 in Frankfurt/Main

Maria Emma Pütz - geb. 1917 in Hilden

Heinz Weiß - geb. 1920 in Halle an der Saale

TEIL DREI

Die Wende 1933

Was ist der Alltag?

Gesellschaftliche Ungleichzeitigkeiten im Alltag

Die Etablierung der NS-Herrschaft

Wer war eigentlich Hitler?

Die Psyche der Nazis: die Ideologie der Herrenrasse

Nelly - Die schöne und stolze Christin, jüdischer Herkunft

Martha - Die radikale Aktivistin und clevere Geschäftsfrau

Heinrich - Marthas hochintelligenter Hochstapler-Bruder,

Charlotte - Angst und Warten, das war mein Leben

Pit - Der rote Frankfurter aus der Kohle „Da gingen viele Sozialisten zum Barras“

Exkurs: Die Kohle und die Rohstoffkriege

Wilhelm - Der Münchener KPD Funktionär im April 1933 im KZ Dachau

Walters erneute „Quadrator vom Krees“ - Die Quadratur des Kreises

Deserteure: Feige Hochverräter und Vaterlandschänder oder Soldaten des Pazifismus?

Mia, die wilde Hummel

Heinz, der Träumer, Erfinder und Visionär

TEIL VIER

Die deutsche Kapitulation: das Kriegsende

Die ersten Nachkriegsjahre

1. Besetzung und Besatzung, Reparationen

2. Zerstörung

3. Flüchtling und Vertriebene

4. Widerstand gegen die Alliierten Wehrwölfe

5. Entnazifizierung Verurteilung der Nazis

6. Die Zukunft: eine andere Gesellschaft

Das Leben der Alltagshelden im Wiederaufbau

Nelly

Heinrich und Martha

Charlotte wartet auf Karoly

Wilhelm, Walter, Pit

Pit in Frankfurt

Walter im Landkreis Düsseldorf

Mia geht wieder zur AWO, SPD

Heinz kommt aus russischer Gefangenschaft

Ausklang - Nachklang

1. Die Aufarbeitung

2. Die späten Folgen des Nationalsozialismus

3. Die Lehren für heute: Wehret den Anfängen!

Kleiner Exkurs zur Aktualität von Nathan dem Weisen

Anhang:

Exkurs zur Energie Außenpolitik der heutigen Bundesregierung

Zu diesem Buch:

Das Buch sollte eigentlich für den spanisch sprechenden Markt geschrieben werden. In Spanien und Süd-Amerika hat es viele Bürgerkriege gegeben, und da über den deutschen Widerstand im Ausland zu gut wie nichts bekannt ist, initiierte ein argentinischer Verleger, das Thema aufzugreifen. Die Autorin Christa Muths wuchs in einem antifaschistischen Umfeld auf und kannte aus dem Familien- und Freundeskreis viele Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus persönlich. Der Argentinier sah großes Interesse in Süd-Amerika an einem Buch über den unbekannten deutschen Widerstand.

Beim Schreiben des Buches sowie den extensiven Nachforschungen, die ihr erzählten Lebensgeschichten der Widerständler zu belegen, wurde schnell klar, dass dieses Thema auch in Deutschland völlig unterbelichtet bzw. auch verfälscht dargestellt wird. In Deutschland besteht immer noch im Zusammenhang mit den Nationalsozialismus auf vielen Gebieten ein großer geschichtlicher Aufarbeitungsbedarf. Das Anliegen des Buches ist es dazu beizutragen. Aus diesem Grunde wird es zunächst in Deutschland veröffentlicht.

Das Buch schildert im großen Rahmen die historischen Zusammenhänge in denen die beschriebenen Widerständler aufwuchsen und von denen sie geprägt wurden. In ihre Lebensläufe eingebettet sind die geschichtlichen sowie gesellschaftlichen Zusammenhänge der Organisationen etc. bei denen sie Mitglied waren. Das macht das Buch einzigartig, denn es ist ein Geschichtsbuch, ein kulturgeschichtliches Dossier sowie ein biographisches Lesebuch aus dem Alltagsgeschehen der Widerständler. Darüber hinaus stellt es Verbindungen her zwischen historischen Begebenheiten die zwar fachspezifisch von einzelnen Autoren aufgegriffen wurden, die bisher aber im Zusammenhang gesehen im Dunkeln lagen und jetzt im Zusammenhang beleuchtet werden. Es macht vor allen Dingen aber auch die Menschlichkeit der Personen deutlich, die den Mut hatten, sich dem totalen Regime des Nationalsozialismus entgegenzusetzen, bzw. zu entziehen.

Da jeder der hier beschriebenen Akteure in seinen spezifischen sozialen Zusammenhänge lebte und die damaligen sozialen Gruppen und Organisationen uns heutzutage wenig sagen, wurden die historischen Erklärungen zu diesen Gruppen in hellgrau unterlegt. Der Leser kann diese überspringen, um die Biografie weiterzuverfolgen, er kann aber immer wieder zum geschichtlichen Teil innerhalb der Biografien zurückkehren, wenn diese von Interesse werden.

Christa Muths lebt seit 2007 in den Bergen von Valencia. Sie ist gelernte Köchin, Verwaltungsinspektorin und studierte Sozialarbeit an der Fachhochschule Düsseldorf sowie Politik- und Sozialwissenschaften an den Universitäten Berlin, Bochum, Frankfurt, London School of Economics und Standford University. Sie war von 1973 – 1980 Dozentin an der Fachhochschule in Darmstadt bevor sie zunächst nach England, Mexiko und später nach Spanien auswanderte.

Ihre Interessengebiete umfassen außer Politik und Sozialwissenschaften, Quantum Physik, Wissenschaftsanalyse sowie die Wissenschaft des Bewusstseins, Musik, Kunst und Literatur.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“

Wilhelm von Humboldt

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen.“

George Santayana

Vorwort

Der argentinischen Verleger und Finanzanalyst, der dieses Buch anregte, hatte beobachtet, wie schwer es für die Menschen in der heutigen Zeit, einer Zeit großer finanzieller Unruhen und Unsicherheiten, ist, sich gegen Banken zu behaupten. Wie schnell, wenn gegen die Machenschaften der Banken demonstriert wird, die Demonstranten als Systemgegner und sogar als Terroristen eingestuft werden. Nachdenklich schlussfolgerte er über die Schwierigkeiten eines Widerstandes zu Zeiten des 3. Reiches. Denn außerhalb Deutschlands ist über den Widerstand im 3. Reich und wie diese Menschen damals gelebt haben, nur wenig bekannt, da sich alle auf die Gräueltaten der Nazis konzentrieren. Aus diesen Überlegungen heraus regte er dieses Buch an, da er wusste, die Autorin war in einem sozialen Umkreis von Antifaschisten und Widerstandskämpfern aufgewachsen.

Ich war erst sehr zögerlich, denn hatte ich genug Material, fragte ich mich. Ich lebte ja zu Zeiten des 3. Reiches nicht, sondern kannte das Leben von damals nur aus Erzählungen meiner Eltern, deren Freunde, sowie meine eigenen Freunden, die ich nach meiner Kindheit als junge Frau später kennenlernte. Inzwischen waren aber diese alle verstorben, deshalb schickte ich Anfragen an die jeweils zuständigen Behörden und Archive im Rheinland, in Berlin, Bayern, Sachsen, in Holland, Dänemark sowie an die Gedächtnisstätten der Konzentrationslager, durchsuchte das Internet sowie Antiquariate und kontaktierte noch lebende Verwandte meiner Familie sowie der Betroffenen. Außerdem sprach ich mit noch lebenden Personen, die das 3. Reich noch bewusst miterlebt hatten.

Aktuell sprach ich dann mit vielen Menschen über das Projekt und ich wurde von allen ermutigt, dieses Buch zu schreiben. Sie steuerten mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen während des Naziregimes sowie der Aufbauzeit nach 1945 bei. Immer wieder hörte ich, dass man sich nach dem Krieg vom neuen Staat nicht gewürdigt fühlte.

Ich erinnere mich an das zerstörte Düsseldorf und auch Köln, an die vielen Kriegsverletzen, Gespräche über die allgemeine Not nach dem Kriege, das Schicksal von Flüchtlingskindern, die Zeiten des Kalten Krieges, die Rückkehr der Kriegsgefangenen und deren Erlebnisse, aber auch an viele, viele Diskussionen im Elternhaus sowie mit Freunden meiner Eltern. In der Schule hingegen wurde das Thema Nazizeit weitgehendst tot geschwiegen. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre fuhren wir mit dem ersten Auto der Familie, einem DKW 1000, den Vater von einem Naturfreunde Kollegen gekauft hatte, nach Bayern, um in einem Naturfreunde Haus Urlaub zu machen. Auf dem Weg dorthin fuhren wir nach Dachau. Vater wusste, dass sein Vetter Wilhelm und vermutlich auch andere Familienmitglieder dort umgebracht worden waren. Sie waren als Kommunisten zur Nazizeit politisch tätig und wurden somit von den Nationalsozialisten verfolgt. Vater fand damals seinen Cousin Willi, der in Dachau umgekommen war, sowie andere Familienangehörige.

Im Rahmen der Nachforschungen zu diesem Buch übersandte mir die Gedenkstätte Dachau die dortigen Unterlagen zur Ermordung meines Onkels. Meine Eltern hatten uns zu Zeiten des Kalten Krieges darauf vorbereitet, mit Informationen über die politische Tätigkeiten von Verwandten und Freunden während der Hitlerzeit in der Schule sehr vorsichtig umzugehen und möglich nichts zu erzählen.

In den siebziger Jahren studierte ich am Otto-Suhr-Institut in Berlin Politik und hatte bei Martha ein Zimmer gemietet. Martha war eine über 80jährige, anerkannte Widerstandskämpferin, Schülerin von Rosa Luxemburg. Wir wurden gute Freunde, sie sah mich als ihre Ziehtochter an, da sie selbst aufgrund der Folterungen im KZ keine Kinder bekommen konnte. Sie starb 1971 in meinen Armen.

Als meine Eltern Martha kennenlernten, saßen sie Stunden um Stunden zusammen und tauschten ihre Erfahrungen während des Nationalsozialismus aus. Das war zurzeit der Baader-Meinhof Ära. Martha ging in ihrem hohen Alter immer zu den Demonstrationen der „Gorillas“ ging (sie meinte natürlich Guerillas). Meine Eltern mahnten aber ausdrücklich zur Vorsicht und darauf zu achten, dass man immer mit den Füßen auf dem Boden blieb und sich von den politischen Ereignissen nicht überrollen lassen dürfe.

Benno Ohnesorg wurde 1967 erschossen, Rudi Dutschke 1968 angeschossen und durch drei Kopfschüsse schwer verletzt. Er stirbt 1979 an den Folgen der Kopfschüsse.1 Der Spiegel thematisiert noch heutzutage, im Jahre 2013, die damalige Hetze des Springerverlages gegen die Studenten und wie wenig Aufklärung bislang geleistet wurde. Rudi kannte ich persönlich, und sein Schicksal und das seiner Familie machte uns alle sehr betroffen. Ich war selbstverständlich bei den Ostermärschen, die in den fünfziger Jahren von britischen Atomwaffengegnern ins Leben gerufen wurden, dabei.2 Wir, die Mehrzahl der Studentenbewegten in den sechziger Jahren, fühlten uns als Gegner bestimmter politischer Entscheidungen, aber nicht als Gegner unseres Landes! Die Generation vor uns, die sich während des Dritten Bereiches den Gesetzen unter eigener Lebensgefahr widersetzten, fühlten sich zwar als Deutsche, waren aber gegen die gesamte nationalsozialistische politische und kulturelle Organisation.

1980 verließ ich mit Mann und Sohn Deutschland und ging nach England. In der englischen Schule wurde mein Sohn von den Klassenkameraden regelmäßig als „Hitlers Sohn“ beschimpft und auch verprügelt. Er wurde zunehmend ängstlicher, völlig verunsichert, denn er wusste nun nicht mehr, wer sein Vater sei. Lange rückte er nicht mit der Sprache heraus. Endlich fragte er mich, wer denn Hitler sei und ob dieser sein wirklicher Vater wäre. Wir hatten große Mühe ihn davon zu überzeugen, dass Hitler NICHT sein Vater war und dieser schon seit 40 Jahren tot war.

Der Schulrektor meines Sohnes weigerte sich beharrlich, sich in irgendeiner Weise mit dem Thema zu beschäftigen! Das Kind, damals 7 Jahre, müsse eben lernen, sich selber durchzusetzen, war seine Parole. Die anderen Eltern, auch nicht die Eltern von seinen Freunden wollten etwas mit diesem Thema zu tun haben. Sie hielten sich aus dem Konflikt heraus, so hatte mein Sohn keinerlei Verbündete.

Erst zu diesem Zeitpunkt wurden mir viele Zusammenhänge glasklar:

1.  Meine anti-faschistische Herkunft und wie stark dieses Umfeld meine Kindheit sowie mein Erwachsenenbewusstsein geprägt hatte.

2.  Zum Zweiten: hier fand so etwas wie eine historische Wiederholung statt. Mein Sohn wurde ohne sein Zutun, nur aufgrund seiner Herkunft zum Außenseiter gestempelt und sogar deswegen geschlagen. Er wurde als Nazi beschimpft, obwohl gerade er aus einer antifaschistischen Familie kamt. Dasselbe passierte übrigens meinem Enkelkind 25 Jahre später, in den Jahren 2009 bis heute im Jahre 2014, in einem anderen Landstrich Englands. Auch er wird heute noch als Hitlers Sohn bezeichnet, als den Mitschülern klar wurde, dass sein Vater Deutscher ist!

Aufgrund der ständigen Vorfälle in seiner englischen Schule wurde mein Sohn in den 80ziger Jahren gründlich über unsere Familiengeschichte aufgeklärt und erst zu diesem Zeitpunkt prägte sich der Begriff Widerstand in meinem Kopfe. Meine Mutter lebte damals noch und darauf angesprochen, ob ich wirklich mit Berechtigung sagen könne, dass meine Eltern sowie viele ihrer Freunde im Widerstand gearbeitet hätten, wiegte sie den Kopf und meinte: „Wir haben geholfen, wo wir konnten. Dazu fühlten wir uns menschlich verpflichtet, man muss ja schließlich mit sich selbst leben können. Sonst hat ja das ganze Leben keinen Sinn. Es war immer sehr risikoreich was wir taten, aber andere riskierten noch mehr. Aber was heißt das schon mehr riskieren? Bei jedem sind die Bedingungen anders sowie auch die Grenzen. Viele unsere Freunde und Verwandten wurden umgebracht. Vielleicht waren wir auch etwas vorsichtiger oder haben vorher mehr nachgedacht oder mehr nach Lücken gesucht oder wir haben einfach nur mehr Glück gehabt. Wer weiß das schon? War das Widerstand? Aber selbstverständlich!! Es war ja immer lebensgefährlich. Waren wir deshalb Widerstandskämpfer?? Wir waren ja keine politischen Mitläufer und hatten natürlich noch unsere alten Freunde und Kontakte aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus. In diesem Rahmen bewegten wir uns auch während des 3. Reiches. Manche unserer Freunde sowie Bekannten wurden Nationalsozialisten aus Überzeugung oder aus Opportunismus, andere wurden zwar Mitglieder der NSDAP, aber nur der Form halber und wieder andere, so wie wir, änderten ihre Fahne nicht. Aber wir mussten sehr vorsichtig sein und das nicht nur während des Nationalsozialismus, sondern auch noch lange nach dem Krieg. Vieles konnte auch nach 1945 nicht offen angesprochen bzw. ausgesprochen werden.“

Von daher erhielten die Nachforschungen zu diesem Buch auch eine ganz besondere Bedeutung. Denn es ging ja nicht nur um den Wahrheitsgehalt der Aussagen meiner Eltern sowie den Menschen mit denen ich mein Leben geteilt habe, sondern um die Erfahrungen und Lebensbedingungen einer ganzen Generation.

Die Recherchen waren aus unterschiedlichen Gründen sehr aufwendig sowie ebenso fesselnd und bewegend. Es ließe sich alleine ein Buch über das Auffinden der Unterlagen über diese Menschen schreiben. Viele Dokumente, Briefe sowie Aufzeichnungen aus dieser Zeit waren vernichtet, entweder durch Bombeneinschläge und Brände oder sie wurden von direkt den Nazis verbrannt. Aber auch Gruppen, die im Widerstand tätig waren, beseitigten die Unterlagen ihrer Mitglieder, denn es war viel zu gefährlich, diese Informationen verfügbar zu haben. Da alle die hier beschrieben Menschen sich ja an Handlungen des Widerstands direkt beteiligt hatten, mussten sie höllisch aufpassen, nicht erwischt zu werden, denn in der Regel hätte das den sicheren Tod bedeutet. Darüber hinaus weist das öffentliche Geschichtsbewusstsein in Deutschland auch heute noch auffallende Lücken auf! So waren z.B. Informationen zum Widerstand der Arbeiterklasse deutlich schwieriger zu finden als zu den oberen bzw. Mittelschichten.

Es existierte natürlich auch nie ein einheitliches öffentliches Geschichtsbewusstsein in Deutschland. Deshalb bestand eine weitere Schwierigkeit der Nachforschungen darin, die unterschiedlichen Ebenen geschichtlicher Realität und die damit verbundene persönliche Wahrnehmung und Erfahrung der beteiligten Menschen in einem geschichtlich abstrahierten Kontext zu erfassen. Die allgemeine öffentliche Berichterstattung orientiert sich an den Normen und Werten der jeweiligen Zeit, sie wird erst später durch die Personen, die diese Informationen aufschreiben, zur Geschichte. Dem entgegenstehen auf der anderen Seite der Medaille die Ereignisse, die der Öffentlichkeit nicht bekannt gegeben werden, wie z.B. ganz aktuell die Internet-Überwachung der Geheimdienste. Diese Verheimlichung geschieht in allen gesellschaftlichen Bereichen wie der Politik, Wirtschaft, Religion, Finanzwirtschaft, Film und Kunst sowie in den geheim gehaltenen Absprachen zwischen all diesen gesellschaftlichen Bereichen. Auf dieser Ebene können Nationen zum Entstehen gebracht werden, Kriege angezettelt, Präsidenten in Position gesetzt oder, falls sie nicht funktionieren, eliminiert werden. Die Öffentlichkeit ist über die Ebene durchweg nicht informiert und „whistleblowers“ werden verfolgt und in der Regel als staatsgefährlich bezeichnet.

Dann gibt es geschichtlich gesehen auch die Ebene des Alltags, darüber wurde jedoch bis vor einigen Jahrzehnten sehr wenig geschrieben und noch weniger erforscht.

So orientieren wir uns in der Regel an das, was uns geschrieben, bzw. in den Medien vorgelegt wird. Und damit fällt für uns das unbekannte bzw. geheim gehaltene, aber trotzdem wahre Geschehen nur zu oft aus unserem Geschichtsverständnis heraus.

Die neun Helden dieses Buches waren zwischen 1880 und 1930 geboren, das umfasst eine Zeitspanne von einem halben Jahrhundert. Ihr Leben spielte sich in sehr turbulenten ökonomischen sowie politischen Jahren ab. Zudem lebten sie in unterschiedlichen Landstrichen Deutschlands mit sehr verschiedenen Mentalitäten und auch in voneinander abweichenden sozialen Schichten: in Berlin, in Düsseldorf, in Leipzig, Halle an der Saale sowie in München. Heinz und Nelly, die holländische jüdische Christin, stammten aus sehr gut gestellten Mittelschichten. Charlotte kommt aus einer unpolitischen Beamten-Familie aus Ost-Preußen. Martha und Heinrich kamen aus einer durch den Tod des Vaters verarmten Beamtenfamilie. Pit, Walter sowie sein Cousin Wilhelm wurden in politisch organisierte, aktive Arbeiterfamilien geboren.

Pit war der älteste Sohn des verarmten, 100%ig kriegsgeschädigten kommunistischen Arbeiter in Frankfurt, der seine drei Söhne alleine durchbringen musste, da ihm die Frau mit einem jüngeren gesunden Mann durchgebrannt war. Pit war Rotfrontkämpfer, wurde in den Krieg eingezogen und kam schwer verletzt frühzeitig nach Frankfurt zurück. Mehrere seiner Familienmitglieder waren während der Nazizeit im KZ. Charlotte, die sehr geschützt aufgewachsene Bürokraft in Landsberg an der Warthe, hatte einen ungarischen jüdischen Musiker geheiratet. Dieser wurde von den Nazis ausgewiesen und in Ungarn im KZ inhaftiert. Charlotte brachte ihre Tochter, das Kind eines Juden, alleine im Dritten Reich durch und half verfolgten Menschen wo sie konnte.

Martha war in Ostpreußen im Waisenhaus groß geworden. Sie lebte als junge Frau in Berlin und auch in Brüssel und wurde von den Nazis als Kommunistin ins KZ Nordenstadt eingewiesen. Dort musste sie unterirdisch Raketen bauen. Bei einem Bombenangriff floh sie und kam nur deshalb mit dem Leben davon kam. Heinrich, ihr älterer Bruder, wuchs in einem anderen Waisenhaus auf und war als junger Mann Bürgermeister einer Kleinstadt im heutigen Polen. In Berlin wurde er als Kommunist verhaftet und überlebte seine KZ-Aufenthalte nur dadurch, dass er aufgrund seines Verhaltens ins Irrenhaus überwiesen wurde. Dort verdiente er sich seine „Unterkunft“ durch harte Arbeit und wurde 1945 befreit.

Wilhelm aus Leipzig, der in München KPD Funktionär war, wurde schon 1933 im KZ brutal Dachau ermordet. Sein Cousin Walter aus Düsseldorf, Freidenker und Mitglied der sozialistischen Arbeiterjugend sowie der Naturfreunde ging in der Weltwirtschaftskrise 1929 notgedrungen zur Polizei, denn er hoffte in der Liberalität der Weimarer Republik eine volksverbundene Polizei mit aufbauen zu können. Ihm wurde 1946 insbesondere von der KPD der Stadt bescheinigt, das er sich während der Nazizeit immer aufrichtig und menschenwürdig verhalten hatte.

Nelly aus Rotterdam war vor der Besetzung Hollands 1940 in keiner Weise an ihrer jüdischen Herkunft interessiert. Sie war Christin geworden und versteckte als Mitglied einer christlichen Tarnorganisation während der deutschen Besetzung im Krieg 35 Juden auf ihrem Gelände. Auch sie kam ins KZ und schaffte es, von dort entlassen zu werden und ging hoch erhobenen Hauptes mit zwei Koffern gestohlener Offizierwäsche durch das KZ Tor in die »Freiheit«.

Heinz, der Sonderling aus Halle, wurde Funker an der Ostfront. Er half seinen Kameraden durch seine innere Stärke und wurde so etwas wie ihr spiritueller Führer. Aber das Grauen des Krieges zerfraß auch seine Stärke, so verletzte er sich selbst, kam ins Lazarett.

Keiner der hier genannten Personen hat sich innerlich korrumpieren lassen, sie haben aber Kompromisse gemacht, um Überleben zu können. Sie sind sich selbst und ihren jeweiligen Überzeugungen treu geblieben. Jeder der 9 Personen hat seinen/ihren Weg gefunden, sich im großen Ganzen im Einklang mit den eigenen Wertvorstellungen zu verhalten. Alle haben sich über die Normen und Regeln ihrer Gesellschaft hinweggesetzt und mussten täglich damit rechnen zumindest verhaftet zu werden bzw. ihre Taten mit dem Leben zu bezahlen.

Ein Film aus den 1930er Jahren der USA zeichnet ein völlig realistisches Bild darüber was passiert, wenn sich Menschen abweichend von gesellschaftlichen Regeln verhalten. »To kill a mockingbird« ist eine Verfilmung der Novelle von Harper Lee über die amerikanische gesellschaftliche Realität dieser Zeit. Das Buch erhielt den Pulitzer Preis und der Film von 1963 gewann einen Oskar.3 Buch und Film gehören zu den Klassikern der amerikanischen Literatur sowie Filmindustrie. Tom Robinson, ein junger schwarzer Mann, setzte sich über die gesellschaftlichen Realitäten hinweg. Tom empfand Mitleid mit einer armen weißen Frau und half ihr ohne Bezahlung. Schon alleine durch seine Menschlichkeit und Empathie für ein anderes menschliches Wesen, brach er „the Code of Society“ und bezahlte das mit einer falschen Anschuldigung der Vergewaltigung sowie einer harten Verurteilung. Den Menschen, die im 3. Reich im Widerstand arbeiteten, unabhängig von der Art des Widerstandes mussten immer um ihr Leben fürchten.

Bei meinen 3-jährigen Nachforschungen 2012 und 2014 zu diesem Buch erhielt ich, wenn ich von den Lebensberichten der Betroffenen erzählte, oftmals die Rückmeldung: das klingt alles sehr unwahrscheinlich, das kann doch gar nicht wahr sein, das sind Ammenmärchen, Kriegslatein. Als ich mich dann auf die Suche machte herauszufinden, ob die mir erzählten Biografien aus der NS-Zeit stimmen könnten oder eben doch nicht, fanden sich immer wieder ganz ähnliche oder fast identische Lebensgeschichten anderer Menschen, obwohl diese oft in ganz anderen Teilen des Landes gelebt hatten. Mit jeder ähnlichen Geschichte erhöhte sich die empirische Wahrscheinlichkeit, dass die Geschichte, die die Menschen mir selbst erzählt hatten, doch der Realität entsprach.

Z.B. wanderte einer unserer Helden während des Krieges 6 Monate von Dänemark zurück nach Hause ins Rheinland. Fast überall wurde mir von kompetenten Stellen gesagt: das kann nicht stimmen, das ist Kriegslatein. Doch im Laufe der Nachforschungen stellte sich heraus, dass viele Menschen damals, entweder aus dem KZ flohen, aus der Wehrmacht desertierten, aus dem Gefängnis ausbrachen und sich während des Krieges zu Fuß auf dem Wege nach Hause machten. Ein sogenanntes „Massenhaftes falsches Erinnerungssyndrom“? Nein, die offizielle Geschichtsschreibung hat solche Schicksale kaum erfasst, da sie zum einen zu unwahrscheinlich erschienen und zum anderen vor allem ja auch nicht nachgewiesen werden konnten. Deserteure galten als Schwerverbrecher im Rahmen des bestehenden Gesetzes. Niemand hing das an die große Glocke, auch nicht nach dem Krieg, denn Deserteure galten und gelten auch heute noch als Fahnenflüchtige, Vaterlandsverräter, Feiglinge.4 Auch die KZ Flüchtlinge waren in akuter Lebensgefahr und mussten sich versteckt halten. Sogar nach dem Kriege wurde vielen nicht geglaubt, denn die Unterlagen waren ebenfalls vernichtet, entweder durch Bombenangriffe oder von den Nazis verbrannt, damit ihnen die Gräueltaten nicht nachgewiesen werden konnten.

Diese Problemkreise werden im dritten Teil des Buches ausführlich besprochen werden.

Weitere Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung und Wiedergabe der einzelnen Lebensschicksale lagen auf unterschiedlichen Ebenen:

  Zum einen diese sehr unterschiedlichen und auch dramatischen Lebensbedingungen in ihrem jeweiligen sozialen Rahmen, seiner Vielfalt sowie Komplexität darzustellen.

  Zum anderen sind, wie schon beschrieben, die meisten Dokumente insbesondere aus dieser Zeit einerseits bewusst vernichtet worden, anderseits durch Kriegseinflüsse, wie Bombeneinschläge etc. und zum Dritten konnten und durften diese Menschen keine Dokumentation über ihre Handlungen hinterlassen, um sich nicht selbst in Lebensgefahr zu bringen.

  Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit stellen Nachforschungen über Alltagssituationen, Alltagsleben insgesamt dar. Innerhalb der Sozialforschung wird erst in den letzten Jahrzehnten über den Alltag geforscht, alle frühere Geschichte beruht hauptsächlich auf Beschreibungen von größeren Ereignissen und Erlebnissen der oberen Schichten einer jeder Gesellschaft. Einer der großen Vorreiter gesellschaftlicher Studien zum Alltag ist der deutsche Philosoph und Politökonom Jürgen Kuczynski5 mit seinen 40 Bänden zur Geschichte der Lage der Arbeiter im Kapitalismus.

  Der Frage der Handlungsspielräume nehmen einen großen Raum bei den Nachforschungen ein und waren sehr zeitaufwendig. Welche Handlungsspielräume hatten die einzelnen in ihrem Umfeld? Welche Handlungsspielräume konnten sie sich schaffen? Welchen Werten fühlten sie sich mehr verpflichtet als dem äußeren Druck der Gesellschaft? Welche Freiheiten konnten sie bzw. nahmen sie sich im Alltag, damit sie entsprechend ihrer inneren Überzeugung leben und konnten? Zu diesen Themen gibt es sehr wenig Literatur6 und deshalb sind die Aufzeichnungen dieses Buch so interessant und historisch wichtig.

  Der deutsche Philosoph Ernst Bloch prägte den Begriff von der „Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit“.7 Damit ist der Zusammenhang von technischem Fortschritt, Rationalität und gleichzeitiger mentaler Modernitätsverweigerung gemeint, wie dieser sich, so Bloch, vor allem im Nationalsozialismus „vom kleinbürgerlichen Pack“ getragen, deutlich darstellte. Nach Bloch sind die ungleichzeitigen Widersprüche zwischen Kapitaleigentümern und Lohnarbeitern die Grundlage für die Attraktivität des Nationalsozialismus. Er beschreibt eine Verflechtung bestimmter gesellschaftlicher Schichten (Kleinproduzenten, Kleinhändler sowie bestimmte Angestelltengruppen und Beamte) mit dem Kapital und somit mit systemerhaltenden Interessen, denen die Lohnarbeiter gegenüber stehen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern und vor allem das Kapital entmachten wollen. Obwohl sich die Helden dieses Buch auf unterschiedlichen Seiten dieses gesellschaftlichen Spannungsfeldes standen, waren sie doch in der Lage zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit zu unterscheiden und dementsprechend zu handeln.

  Doch gerade diese Ungleichzeitigkeiten, die ja die Basis jeglicher gesellschaftlichen Konflikte sind, bieten auch Handlungsspielräume, immer dann, wenn man sie erkennen und somit auch nutzen kann. Ungleichzeitigkeiten werden in den Leben aller der hier beschriebenen Kämpfer für eine alltägliche Freiheit und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus deutlich und von ihnen genutzt, unabhängig davon aus welchen Schichten sie kommen.

  Und last, but not least: die blinden Flecken in der deutschen Geschichtsschreibung, die sich mir bei meinen Nachforschungen so nach und nach auftaten. Bestimmte Themen sind immer noch tabuisiert, werden verleugnet, werden entweder schöngeschrieben oder verschwiegen bzw. falsch dargestellt. Dazu gehören vor allem die antifaschistischen Widerstandskämpfer der linken Gruppen, wie der Kommunisten, Linkssozialisten, Anarchisten etc.; aber auch die Euthanasie-Opfer und vor allem auch einzelne Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens versuchten, ihre Schützlinge zu retten, wie auch die Deserteure sowie andere Gruppen.

Diese Themen werden im 3. Teil des Buches beleuchtet. Einige (wenige!) Autoren greifen das kollektive Vergessen, Verdrängen, Verneinen der Aktionen dieser Menschen in der deutschen Vergangenheit auf.8

Z.B. spricht Sigmar Gabriel, der SPD Vorsitzende, in einer TV Diskussion am 20.2.2013 im Ersten Deutschen Fernsehen im Gespräch mit Rita Süssmuth, der Bundestagspräsidentin a.D., dem Historiker Heinrich August Winkler und Sara Wagenknecht, Fraktionschefin Der Linken davon, dass die KPD ja mit der NSDAP zusammengearbeitet hätte. Niemand widerspricht ihm, obwohl das historisch nicht haltbar ist. Gibt man Google „Nationalsozialismus NSDAP“ ein, bietet Google automatisch als ersten Eintrag „Zusammenarbeit NSDAP und KPD“ an!! Der Spiegel widmet 2008 dem Thema einen ganzen Artikel: „Nazis und Kozis“, indem ein BVG Streik vom Historiker August Winkler als Paradebeispiel für die Zusammenarbeit von Nazis und Kommunisten bezeichnet wird.9 Ich habe mich daraufhin an englische und spanische Historiker gewandt und um deren Meinung gefragt. Diese waren völlig bestürzt, dass von deutschen Politikern und Wissenschaftlern solche historisch falsche Positionen vertreten werden. Es gab Demonstrationen und auch Kundgebungen, bei denen beide Gruppen anwesend waren, aber dieses undifferenziert als eine Zusammenarbeit der beiden Gruppen zu bezeichnen, ist, so die Engländer und Spanier klar politisch motiviert, die Kommunisten wieder zu diskreditieren.

Z.B führt Hans Coppi in seinem Buch: „Der vergessene Widerstand“ viele Beispiele zu diesem Themenkreis an. Ein Beispiel sei hier an dieser Stelle erwähnt: In der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin 2010/2011 „Hitler und die Deutschen“ sind lediglich Portraits von Georg Elser, Rudolf-Christoph Freiherr von Gerstdorff, Claus Graf Schenk von Stauffenberg sowie Henning von Treschkow zu sehen. Auch auf der Webseite DHM (Deutschen Historischen Museums), so beschreibt Coppi: „Unter „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ ist dort von den Attentatsversuchen, dem Widerstand aus der Wehrmacht, der Kreisauer Kreis, der Weißen Rose, von Jugendopposition, Roter Kapelle und Bekennender Kirche zu lesen. Den Arbeiterwiderstand sucht man vergeblich“10

  Auch die Autoren Wolfgang Benz und Walter H. Pehle weisen in ihrem herausragendem Buch „Lexikon des deutschen Widerstandes“ auf Widersprüche in der Erforschung der Materie hin: „Dass im Lexikon ein weiter Widerstandsbegriff zugrunde liegt, der jede Form von Verweigerung und Opposition, von stiller Obstruktion bis zum versuchten Tyrannen-Mord einschließen muss, ist selbstverständlich. Bestreben der Herausgeber und Autoren war es, allen Kräften gerecht zu werden, die sich nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaft entgegenstellten. Wenn das Nachschlagewerk darüber hinaus zur Überwindung von Geschichtsbildern beitragen könnte, die konträren politischen Intentionen verpflichtet sind, und damit integrierend wirkte, dann wäre eine weitere Absicht erfüllt.“11

Es ist sehr interessant, dass es ca. ein ganzes Jahr intensivster Nachforschungen gedauert hat, bis ich auf das vom Dietz Verlag in Köln veröffentlichte Buch von Coppi und Stefan über den vergessenen Widerstand der Arbeiter gestoßen bin. Immer dann, wenn ich bei den Gedenkstätten des Opfers des Faschismus weiter über diese Widersprüche nachfragte, wurde mir nicht mehr geantwortet. Nun ist es natürlich nicht die Aufgabe der Gedenkstätten historische Widersprüche aufzuklären, aber darum hatte ich ja auch nie gebeten, sondern nur um vorhandenes Material bzw. Diskussionen zu diesen Themen.

Um ein, wenn auch nur sehr begrenztes Bild, von der Zeitspanne in der unsere Akteure lebten, zu zeichnen, findet sich im ersten Teil des Buches eine kleine historische Abhandlung zu den jeweiligen Epochen: Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik sowie Nationalsozialismus. Es werden hier in jeweils ca. 5 - 10 Seiten zu jeder Epoche 130 Jahre deutscher Geschichte mit den internationalen Wechselbeziehungen zusammengefasst. Damit soll, vor allem den internationalen Lesern, sowie denjenigen, die nach dem Nationalsozialismus geboren wurden, einen geschichtlichen Rahmen gegeben werden, auf den sie auch während des Lesens des Buches, immer wieder zurückgreifen können.

Über den Faschismus selber gibt es inzwischen ganze Bücherwände voller Literatur und Analysen, deren Inhalte ein breites Spektrum unterschiedlicher Meinungen umfasst. Im Rahmen dieses Buches werden die Thesen zum Faschismus nicht besprochen, das würde den Rahmen sprengen.

Im zweiten Teil finden sich die Lebensschicksale der Betroffenen. Jeder Akteur erhält ein Kapitel, welches drei Ebenen umfasst:

  zum einen die persönlichen Erlebnisse der einzelnen Menschen und ihre Handlungsweisen, natürlich abhängig von ihrem jeweiligen sozialen Umfeld;

  zum anderen spezifische Informationen zur Zeit, zum Sozial- sowie kulturellem Geschehen, damit die Erfahrungen des einzelnen in deren Lebensrahmen eingebettet werden können;

  zum dritten die Erinnerungen von Karoline, der Tochter von Walter und Mia zu den Lebenssituationen dieser Personen. Diese Erinnerungen zeigen vor allem, wie die Beteiligten ihre Erfahrungen in der Nachkriegszeit verarbeitet haben und auch, wie sie am Aufbau der neuen Gesellschaft mitarbeiteten.

Besonderes Augenmerk wird darauf gerichtet, wie Menschen, so wie meine Eltern und viele der alten Freunde, die in der Zeit des National-Sozialismus gegen das System eingestellt waren, dort überleben konnten, wie sie den täglichen Balanceakt zwischen Lebensgefahr und Überleben gemeistert haben.

Für Heinz aus Halle ließen sich weniger Informationen überprüfen als für alle anderen der hier genannten Personen. Deshalb habe ich das über Leben von Heinz hauptsächlich aus der Erinnerung geschrieben. Über Charlotte gab es 1980 einen ausführlichen Artikel in der Zeitschrift „Für Sie“ und es gibt Fotos und Briefe an die Verfasserin. Bei Pit liegen über 40 Seiten Aufzeichnungen eines 1981 durchgeführten Interviews vor. Bei Wilhelm aus Leipzig liegen die Unterlagen aus dem KZ Dachau vor sowie die das eingeleitete Untersuchungsverfahren bezüglich seines Mordes im KZ: die Staatsanwaltschaftsakten aus München. Außerdem wird über ihn in mehreren Büchern berichtet. Bei seinem Vetter Walter aus Düsseldorf liegen neben ausführlichen Gesprächen zu seiner Lebenszeit die Kriegsunterlagen sowie Zeitungsausschnitte aus seiner Arbeit während der Kriegsjahre vor. Bei Martha haben wir den von ihr geschriebenen Lebenslauf, viele Aktenunterlagen verschiedener Ämter, die ihre Erzählungen an Karoline untermauern. Karoline erhielt von Martha in den Siebzigern ein dreibändiges Werk über Heinrich, ihrem Bruder. Geschrieben war die Bände von der Mutter der beiden, Anna Thormann. Leider sind beim letzten Umzug die Bände verloren gegangen. Aber aufwendige Nachforschungen der alten Akten brachten die ganze dramatische Lebensgeschichte von Heinrich und auch von Martha wieder zum Leben.

Um einen möglichst klaren Eindruck über die jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu zeichnen, wurden immer wieder Originalunterlagen als Beleg in das Buch integriert. Heinrichs Aktionen z.B. wurden national und international kommentiert und satirisch renommierten Magazine wie der Simplicissimus berichteten über Heinrichs Leben nahmen dabei die Gesellschaft und ihre Widersprüche aufs Korn.

Das Buch hat nicht nur einen historischen, sondern auch einen noch einen weiteren aktuellen Bezug: denn im Jahre 2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges. Viele neue Analysen kommen 1914 auf den Markt und das Thema wird neue Generationen beschäftigen, die keinen direkten Kontakt mit jemandem hatten, der zu diesen Zeiten gelebt hat. Dieses Buch ist sozusagen noch von Zeitzeugen geschrieben worden und kann die Diskussion bereichern.

Heute kann ich sagen, dass ich das, was die Generation meiner Eltern in ihren Lebenszeiten bewältigt hat, weit über das hinausgeht, was ich mir als Kind und junge Erwachsene vorstellen konnte. Mein Respekt wuchs mit jedem Gespräch, jeder Antwort, jedem Artikel aus dieser Zeit. Alle hier genannten Personen – wie unzählige andere auch – haben es verdient, dass über sie berichtet wird, dass man ihre Leistung posthum anerkennt. Ihre Geschichten zeichnen nicht nur das Alltagsleben in einer Terrorgesellschaft auf, sondern machen vor allem Mut, sich selbst und seinen Überzeugungen treu zu bleiben, Zivilcourage zu haben, Menschlichkeit zu leben, die Sachlage so gut zu verändern, wie man kann.

Jeder der hier genannten Personen hatte Zivilcourage, den Mut und vor allem ein klares Rechtsbewusstsein, sich den äußeren Autoritäten zu widersetzen und sich Freiräume in einer Gewaltherrschaft zu schaffen. Sie hatten, um mit dem Historiker Fritz Stern zu sprechen: einen aktiven Anstand12, eine aktive Menschlichkeit. Es zeigt sich aber auch, dass alle Personen schon vor dem Nationalsozialismus in der Lage waren, sich gewisse Freiräume zu schaffen, die einen mehr, die politisch motivierten und aktiven mehr.

Ich habe bei den Nachforschungen zu diesem Buch viele Dinge erfahren, die mir trotz vorherigen intensiven Studiums der vorhandenen Literatur neu waren. Durch das gesichtete Material, die gezielte Suche, die lebendige Auskunft der Zeitzeugen, meine Kindheitserinnerungen wurden meine Nachforschungen immer lebendiger und ich konnte die Ereignisse dieser Zeit oft in neuem Licht sehen. Ich bin auf Zusammenhänge gestoßen, die so in der einschlägigen Literatur nicht wiedergegeben sind. Das gilt insbesondere für die Aktivitäten der Naturfreunde und der Freidenker gegen das Regime im Dritten Reich sowie über die Diskriminierung von Deserteuren noch 50 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus.

Von daher bietet die Aufarbeitung der persönlichen Geschichte der Menschen dieses Buches mit all ihren Facetten, unterschiedlichen Mentalitäten, Stärken und Schwächen ihrer Persönlichkeiten, ihren Ängsten sowie ihren alltäglichen Hel dentaten gleichzeitig nicht nur eine neue bzw. erweiterte Betrachtung der Geschichte des Widerstandes, sondern sie können vor allem auch als Modell, als Vorbild dienen, in den schwierigsten Zeiten Wege zu finden, sich und seiner Überzeugung treu zu bleiben. Was sagte doch Mia immer wieder: „Wenn man mit sich selbst nicht leben kann, macht das Leben keinen Sinn“.

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1http://einestages.spiegel.de/s/tb/28988/rudi-dutschke-umfassende-ueberwachungdurch-den

2http://de.wikipedia.org/wiki/Ostermarsch

3http://www.imdb.com/title/tt0056592/

4 Nach wie vor umstritten sind Fahnenfluchten aus Streitkräften im Dienste von sogenannten Unrechtsstaaten oder aus Truppenteilen, denen verbrecherische Tatbestände unterstellt werden. http://de.wikipedia.org/wiki/Fahnenflucht.

5 Kuczynski Jürgen: Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus (40 Bände)

6 Der Militärhistoriker Wolfram Wette hat sich auf die Frage spezialisiert, eine rühmliche Ausnahme und zum Thema Handlungsspielräume und Zivilcourage von Helden im Alltag mehrere Bücher geschrieben. (s. Literaturliste)

7 Bloch Ernst: Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda (1974). In Ernst Bloch: Gesamtausgabe, Ergänzungsband: Tendenz-Latenz-Utopie, Frankfurt 1978

8 Wette, Wolfgang: Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt 2008 Wette, Wolfgang: Zivilcourage. Empörte, Helfer, Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Frankfurt 2003 Wette Wolfram (Hrsg): Der Krieg des kleinen Mannes. Militärgeschichte von unten. München 1992 Coppi Hans, Heinz Stefan: Der vergessene Widerstand der Arbeiter, Berlin 2012 Lustiger Arno: Rettungswiderstand, Göttingen 2011 Lichte Michael: www.shoahproject.org/widerstand/widerstand.htm Tuchel Johannes: Der vergessene Widerstand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur Göttingen 2005,

9http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecialgeschichte/d-55573688.html

10 Coppi, ebenda, S. 8, Einführung

11 Benz Wolfgang und Pehle Walter: Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt 2008, S. 11

12 „Eine Frage des Anstands“ Interview Die Zeit: http://www.zeit.de/2013/36/gespraech-historiker-fritz-stern-elisabeth-sifton

Einführung in die Zeitgeschichte

Das Leben der hier beschrieben stillen Helden umfasst eine Zeitspanne von ca. 130 Jahren. Martha, die Kommunistin, die im 3. Reich ins KZ kam, wurde 1886 zu Kaisers Zeiten, in Osterode Ost-Preußen geboren. Die Wahl-Berlinerin Charlotte, die einen jüdischen Musiker aus Budapest heiratete, wurde 1900 in Landsberg an der Warthe geboren. Walter aus Düsseldorf, sein Cousin Wilhelm aus Leipzig und Philipp Pit aus Frankfurt wurden 1909 im Kaiserreich geboren. Walter, Wilhelm, Heinrich sowie seine Schwester Martha in Berlin waren Freidenker, Walter war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend sowie der Naturfreunde, Wilhelm KPD Funktionär und Pit Rotfrontkämpfer, Martha und Heinrich waren Mitglieder der KPD. Nelly in Holland war Mitglied einer streng gläubigen christlichen Kirche. Heinz gehörte keiner politischen Organisation an. Walters spätere Frau Maria (die wilde Hummel, wie sie liebevoll von ihrer Familie genannt wurde) wurde 1917 im Ersten Weltkrieg geboren. Sie ist die jüngste der hier genannten Helden.

Es gab, wie schon ausgeführt, viele widersprüchliche Nachforschungsergebnisse und es stellte sich schnell heraus, dass die Widersprüche in der Politik der jeweiligen Zeiten sich auch in den geschichtlichen Unterlagen sowie Analysen ausdrücken und die historischen Analysen demzufolge abhängig von der Wahrnehmung des jeweiligen Historikers ist.

Das ist natürlich wissenschaftlich gesehen nichts Neues, aber es war trotzdem überraschend zu sehen, dass Bücher, Analysen und Material allgemeiner Art, im Internet leicht auffindbar zur Verfügung stehen, während z.B. das Material zur Geschichte der doch sehr starken deutschen Arbeiterbewegung und vor allem des „linken Widerstandes“ im 3. Reich sehr viel schwieriger zu finden war.

Im Laufe meiner Nachforschungen stieß ich dann auf einen Streit zwischen den deutschen Historikern, der sich zum einen auf den Begriff des Widerstandes bezieht und zum anderen auf die gesellschaftlichen Gruppen. Es wird unterschieden zwischen Widerstand, der sich aus demokratischen Gruppen herausgebildet hatte und den „Widerstand“ von nicht-demokratischen Gruppen (wie z.B der KPD, Anarchisten und Jugendgruppen wie die Edelweißpiraten). Die antifaschistische Aktionen dieser Gruppen wird von der überwältigen Mehrheit der deutschen Historiker nicht als Widerstand klassifiziert, da diese Gruppen nicht als demokratisch eingestuft werden.13 Damit werden unzählige Opfer des Nationalsozialismus nicht nur als Zeitzeugen, sondern vor allem aufgrund ihrer Menschlichkeit, ihrer humanen Verantwortlichkeit, die Basis ihrer Bereitschaft ihr Leben für die Rettung anderer zu opfern, von der historischen Realität vieler Geschichtsschreiber sowie deren Nachforschungen ausgeschlossen. Der Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette, erweiterte mit seinen Untersuchungen über den Widerstand in der Polizei des Nationalsozialismus, diesen eng gesetzten Rahmen.14

Auch Johannes Tuchler und andere Gedenkstätten des Widerstandes widmen sich den Lebensgeschichten der Ermordeten sogenannter „Nicht“ Demokraten, nun als stille oder vergessene Helden bezeichnet.15

Arno Lustiger, polnischer Jude deutscher Nation, selber Überlebender verschiedener Konzentrationslager wie Auschwitz und Buchenwald, sprach am 27.1.2005 im Alter von über 80 Jahren zusammen mit Wolf Biermann vor dem Bundestag, um deutlich auf die fehlende historische Aufarbeitung bestimmter sozialer Gruppen des Widerstandes hinzuweisen. Unter anderem verwies er auch auf die Todesmärsche von KZ-Häftlingen, von denen mehrere Hunderttausende auf den Straßen des Deutschen Reiches umgekommen waren.16 In seiner Rede bedankt er sich ausdrücklich bei seinem Freund Wolfram Wette für die Öffnung der Diskussion um die Widerstandskämpfer. Er gedenkt in seiner Rede, die er am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hielt, der vom Nationalsozialismus umgebrachten 6 Millionen Juden, betont aber auch, dass es Mahnmale geben muss für die im Nationalsozialismus umgebrachten Homosexuellen, Sinti und Romas sowie aller anderen Opfer des Nationalsozialismus unabhängig von ihrer Herkunft und den Gründen der Verfolgung. Dann stellt er seinen besten Freund Wolf Biermann als nächsten Redner vor, dessen Vater als Kommunist in Auschwitz hingerichtet wurde. Der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse betont in seiner Eingangsrede zu dieser Gedenkfeier: „Jedes Opfer hat das gleiche Recht auf Anerkennung!“

Der Jude Arno Lustiger startete 2006 einen Aufruf für die Gerechtigkeit in Palästina, ein Konfliktbereich der gerade jetzt wieder hoch aktuell ist.17

Welche sozialen Umwälzungen hatten die Menschen damals in ihr Leben zu integrieren? Deutschland erlebte während dieses Zeitraumes von 130 Jahren vier sehr unterschiedliche Staats- und Regierungsformen, geprägt von Unterdrückung, Aufstand, Diktatur mit den größten Grausamkeiten der Vernichtung von Millionen von Menschen, zwei Weltkriegen und dann nach dem Zweiten Weltkrieg die heutigen Demokratie.

Aber es waren nicht nur sehr wechselhafte und stürmische politische Entwicklungen, sondern auch herausragende technische sowie wissenschaftliche Errungenschaften wie z.B. die Eisenbahn, das Auto, Flugzeuge, die ersten Vorstufen zur Entwicklung des Roboters.

1817 wurde das Laufrad erfunden, 1870 das Hochrad. 1864 gründeten Nicolaus August Otto zusammen mit Eugen Lange, der Erfinder der Wuppertaler Schwebebahn, die weltweit erste Motorenfabrik N. A. Otto & Cie. in Köln, aus der 1872 die Fabrik Deutz hervorging. Gottlieb Daimler wurde als technischer Leiter der Motorenkonstruktion engagierte. Otto entwickelte bis 1876 im Anschluss an einen 1860 patentierte 2-Takt-Motor einen Viertaktmotor. Im Januar 1886 meldete Carl Benz in Deutschland das erste Auto mit Verbrennungsmotor an. Damit war die Entwicklung des Automobils nicht mehr aufzuhalten.

Der Kaiser wollte aus Deutschland das weltweit führende Land für technische Innovationen machen und so weihte er die Wuppertaler Schwebebahn persönlich als Welterneuerung ein.18 Vor allem wurden Firmen, die an Erfindungen arbeiteten, steuerlich begünstigt.

Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem die notwendigen Gesetzmäßigkeiten bekannt waren, setzte eine breite Anwendung der Elektrizität, also der Elektrotechnik ein. 1844 gibt es die erste Telegraphenlinie in Amerika und im gleichen Jahr wird in Paris erstmalig ein öffentlicher Platz beleuchtet: Place de la Concorde. 1866 von entwickelt Werner von Siemens die erste elektrische Maschine. 1882 gelang die erste Fernübertragung von elektrischer Energie über 57 km im Raume München und 1970 entwickelte Nikola Tesla die heute gebräuchlichste elektrische Energieübertragung mittels Wechselstrom. 1891 gelang der erste Einsatz des heute üblichen Dreiphasenwechselstromes über 176 km im Raume Frankfurt. Der WDR vergleicht die elektrische Revolution um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert mit der Revolution durch das Internet Ende des 21. Jahrhunderts.19

1835 gab es die erste Dampf-Eisenbahn in Deutschland. Nach der Deutschen Einigung von 1871 entstand in den einzelnen Bundesstaaten eine Reihe von staatlichen Länderbahnen. Die zahlreichen in dieser Zeit gebauten Privatbahnen dienten in der Regel für den Regional- und Nahverkehr. Die Entwicklung der Straßenbahnen begann mit den ersten Pferdebahnen 1823 in New York. Die erste elektrische Straßenbahn der Weltgeschichte nahm am 16.Mai 1881 in Lichterfelde bei Berlin den Probebetrieb auf. Die Wagen waren von Werner von Siemens gebaut mit einer Geschwindigkeit von maximal 20km/h. Ihr Einsatz verbreitete sich bis um 1920 im ganzen deutschen Reich und veränderte im Zusammenhang mit den Eisenbahnen die Mobilität innerhalb des deutschen Reiches grundlegend.

Gab es in den Jahren zwischen 1815 und 1849 auch in Deutschland noch große Aufstände der Maschinenstürmer gegen die Technisierung der industriellen Revolution vor allem im Textilbereich, wurden die grundlegenden Umwälzungen dieser neuen technischen Entwicklung eher akzeptiert, vor allem, da sie neue Arbeitsplätze schufen.

Auch die Entwicklung der Roboter oder ferngesteuerter Maschine, aus der heutigen Industrie- und Wirtschaft nicht mehr wegzudenken, begann in dieser Zeit. 1870 gab es die ersten ferngesteuerten Torpedos, 1898 stellte Nikola Tesla, ein kabelloses Radio kontrolliertes Torpedo vor, welches er der US Navy verkaufen wollte.

Otto Lilienthal, der Flugpionier (1848-1896) führte seit 1891 erfolgreiche Gleitflüge nach dem Prinzip „schwerer als Luft” durch und unterschied sich von zahlreichen Vorläufern dadurch, dass er nicht einen einzelnen Flug versuchte, sondern nach ausführlichen theoretischen und praktischen Vorarbeiten deutlich über 1.000 mal gesegelt ist. Ab 1910 wurden die ersten Flugzeuge serienmäßig gebaut. Mit dem Überlandflug Wien – Horn – Wien über rund 140 km am 10. Oktober 1910 errang Karl Illner den großen Preis der Stadt Wien. Die Maschine hatte bis in den Ersten Weltkrieg hinein auch Bedeutung als Militärflugzeug.

Im November 1909 gründete Ferdinand Graf von Zeppelin in Frankfurt am Main die erste Luftfahrtgesellschaft der Welt: die DELAG („Deutsche Luftschifffahrt-Aktiengesellschaft“). Sie transportierte zwischen 1910 und 1913 etwa 34.000 Passagiere. Im Juni startete 1912 der Doppeldecker „Gelber Hund“ als erstes Postflugzeug vom Flughafen Frankfurt-Rebstock zum Flughafen Darmstadt.

Es wurden weitere Fluggesellschaften gegründet und schon 1913 bestand ein Verkehrsnetz zwischen Düsseldorf, BadenOos, Berlin-Johannisthal, Gotha, Frankfurt am Main, Hamburg, Dresden und Leipzig. Der Erste Weltkrieg verhinderte jedoch den geplanten Anschluss an europäische Hauptstädte.

Die deutsche Handelsflotte war 1913 die drittgrößte der Welt.

Auch der wissenschaftlichen Bereich machte enorme Fortschritte: 1897 kam die Entdeckung dass das Atom doch teilbar ist (was dann letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte, das erste Mal von den Amerikanern 1945 in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt).

92.000 Menschen starben sofort. Weitere 130.000 Menschen starben bis Jahresende an den Folgen, unzählige wietere an Folgeschäden in vielen Jahren danach.

Die Bedeutung des Lichtes sowie die Bedeutung des RaumZeit Kontinuums und die Relativitätstheorie (Einstein 1916). Damit zusammen hängt auch die Entdeckung der Schwarzen Löcher. Albert Einstein sagte sie in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie voraus. Philosophiert haben Wissenschaftler allerdings schon Ende des 18. Jahrhunderts über „dunkle Sterne“. Erst in den vergangenen zwanzig Jahren fanden Astronomen dann auch tatsächlich die ersten Hinweise auf sie am Himmel. Heute im Jahre 2012 gehören sie zum Alltagswissen schon von 10-jährigen Kindern.

Auch der Beginn der Quantum Physik fällt in die Zeit unserer Großeltern: 1900 trägt Max Planck seine Theorie der Hohlraumstrahlung vor, es ist das Geburtsjahr der Quantenphysik. Die Dualität des Lichtes gleichzeitig bestehend aus Welle (Energie) und Teilchen (Materie) wird erkannt, dies ist eines der Grundsätze der Quantenphysik. Diese spezifischen Eigenschaften des Lichtes finden im Laufe des folgenden Jahrhunderts eine Umsetzung in vielen technischen Geräten, wie z.B. Radio, Fernsehen und auch Computer. In der chemischen Industrie, der Astronomie und vielen anderen Bereichen gehört die Spektralanalyse seitdem zum Grundwerkzeug, denn Licht ist Träger von Information. Diese wurde 1859 von Bunsen und Kirchhoff entwickelt, basierend auf den Erkenntnissen von Fraunhofer. Anhand des Spektralfeldes des Lichtes können z.B. toxikologische Stoffe in der Lebensmittelanalyse bestimmt werden sie ist auch das wichtigste Handwerkszeug der Astronomen, um Informationen über die chemische Zusammensetzung anderer Himmelskörper zu erfahren.

1895 erschien das Buch von H.G. Wells: „Die Zeitmaschine“, ein für den damaligen Kenntnis- sowie Bewusstseinsstand unglaubliche Vision. Mit der Erfindung des Teleskops 1608 begann die Entwicklung zum Bau von Stern warten. Viele bedeutende Sternwarten in Mittel- und Nordeuropa wurde zwischen 1790 und 1830 gegründet, u.a. jene in Hamburg-Altona, München, Düsseldorf, Gotha, Leipzig, Halle, Königsberg.20

Die Frauen kämpften während dieser Jahre des rasanten Wechsels für ihre Rechte, selbst wenn sich dies als eher langwierig herausstellen sollte. Um mit Zsa Zsa Gabor zu sprechen: „Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können.“ Und so mussten die deutschen Frauen viele Anläufe nehmen, um ihre Forderungen seit der Revolution von 1848 umzusetzen. 1865 gründete Louise Otto Peter den Allgemeinen Deutschen Frauenverein. Clara Zetkin setzte 1911 den ersten internationalen Frauentag durch, der seitdem weltweit am 8.3. eines jeden Jahres gefeiert wird. 1919 konnten die deutschen Frauen endlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. 17 Millionen Frauen waren wahlberechtigt und tatsächlich gaben 82.3% ihre Stimme ab.

1918 hatten weltweit nur 9 Staaten das Frauenwahlrecht eingeführt. Die ersten Frauen weltweit, die wählen durften, waren die Finninnen. Die französischen Frauen erhielten das Wahlrecht 1944, die Italienerinnen 1945 und die Schweizerinnen 1971!

Die Leibeigenschaft im deutschen Reich, die vom Mittelalter bis zur Neuzeit in Europa und so auch in Deutschland vorherrschte, sie war auch eine der wichtigen Ursachen für den Deutschen Bauernkrieg von 1524 – 1526, wurde in Deutschland während der sozialen Veränderungen nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges von 1756 – 1763 aufgehoben. Zu Beginn des 19 Jahrhundert erhielten die Leibeigenen Freilassungsbriefe. Sehr häufig wurde das Verhältnis zum Großgrundbesitzer dann in einen Erbpachtvertrag umgewandelt.

Am längsten und strengsten hielt sich die Leibeigenschaft in Russland, denn dort wurde die Auflösung erst unter Zar Alexander 1861 durchgeführt.

Zu dieser Zeit, ab etwa 1850, war in Staaten wie England und Deutschland die industrielle Revolution in vollem Gange. Erstmals in der Geschichte suchten die „kleinen Leute“ eine Organisation, die ihre Interessen gleichberechtigt vertreten konnte.

So organisierte sich die deutsche Arbeiterbewegung zum ersten Mal 1863 in Leipzig in dem von Ferdinand Lasalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, die erste gesamtdeutsch orientierte Arbeiterpartei. Ausschlaggebend für die Gründung waren die miserablen Existenzbedingungen der Arbeiter sowie ihre wirtschaftliche und politische Perspektivlosigkeit. Die ersten lokalen Sektionen des ADAV befanden sich neben Leipzig in Hamburg, Düsseldorf, Solingen, Köln, Wuppertal, also vorwiegend im Rhein-Ruhr Gebiet. Der ADAV entstand in Abgrenzung zu bereits bestehenden Arbeiterorganisationen, den sogenannten Arbeiter-Bildungsvereinen, die auf liberale politische Vorstellungen des Bürgertums ausgerichtet waren. Die Grundlage des Programms der ADAV hingegen proklamierte gemäß dem „Arbeiterprogramm“ Lassalles den Aufbau von gemeinsam durch die Arbeiter geführten Betrieben. Zu diesen Genossenschaften gehörte laut Lassalle eine selbstständige Organisierung. Das „Arbeiterprogramm“ rief die Arbeiter in Anlehnung an das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx dazu auf, sich in eigenen Organisationen zusammenzuschließen. Doch im Gegensatz zu marxistischen Idee stand der ADAV nicht in fundamentaler Opposition zur bestehenden staatlichen Ordnung und propagierte nicht den gewaltsamen Sturz der Machtverhältnisse. Allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit sollten die Arbeiter in freien Wahlen die Mehrheit der Mandate erreichen und so ihre Forderungen umsetzen. Streiks und gewerkschaftliche Organisierung lehnte Lassalle als ungeeignet für den politischen Kampf ab.

Außerdem strebte der ADAV ein vereintes Deutschland unter der Führung Preußens und unter Ausschluss Österreich an, was sich nicht nur in Geheimverhandlungen Lassalles mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, sondern 1870 auch in der Zustimmung des ADAV zur preußischen Kriegsanleihe ausdrückte. Die auf den existierenden Staat bauende, pro-preußische Position war einer der Kritikpunkte von Karl Marx und Friedrich Engels an Lassalle. Beide forderten stattdessen den offenen, gewerkschaftlich organisierten Kampf zum Sturz der staatlichen Machtverhältnisse. An dieser Position orientierte sich die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP).21

Beide Parteien vereinigten sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sich 1891 in Sozialdemokratische Partei Deutschland (SDP) umbenannte.

Die berufsspezifischen Versorgungssysteme der Zünfte und Gilden des Bergbaus sind die Vorläufer der heutigen Sozialversicherungen. Urkundlich belegt als erste Zunft in Deutschland ist 1149 die der Bettendeckenweber in Köln.22 Im Mittelalter durfte nicht jeder ein Handwerk ausüben. Der Zugang zu den Handwerkberufen war schwierig, da die Handwerker in Zünften zusammengeschlossen hatten, die streng nach außen abgeschlossen waren. Sie lebten in ihren eigenen Vierteln und folgten eisernen Vorschriften, die von den jeweiligen Zünften genau überwacht wurden. Eine Zunft ist also die Berufs vereinigung der Handwerker und zünftig heißt demzufolge: fachmännisch, sachgemäß.

Die Zünfte setzen die Löhne fest, versorgten Notleidende und Hinterbliebene der Zunftmitglieder, sie schränkten die Konkurrenz ein und sicherten dadurch ihren Mitgliedern ein gutes Einkommen. Sie kontrollierten auch die Qualität der Waren. Die Zünfte erzogen ihre Mitglieder (Lehrlinge) zu guten Bürgern, sie behinderten aber auch die freie Entfaltung, gaben jedem aber ein Gefühl der Geborgenheit.23 Die Zünfte begrenzten die Zahl der Lehrlinge, Gesellen und Meister und überwachten die Ausbildung des Nachwuchses. Sie setzten die Mindestpreise fest sowie die Ladenöffnungszeiten, sie regelten die Arbeitszeit und sie erhoben Strafen bei der Übertretung der Gesetze. Die Zünfte hatten ein Monopol ihres Gewerbes in ihren Städten. Sie bauten Gemeinschaftshäuser für ihre Mitglieder, dort wurden alte und kranke Mitglieder versorgt. Sie bewachten die Stadt und versuchten auch bei der Regierung ihrer Städte mitzuwirken. Die Zunftmitglieder feierten zusammen Familienfeste sowie Feste aller Art. Anschaulich und sehr lebendig berichtet Günther Thömmes in seinem Buch „Der Bierzauberer“24 über das Leben und Treiben einschließlich der Intrigen in Klöstern, wo ursprünglich das Bier gebraut wurde und später auch in den Zünften.

Es gab allerdings auch Handwerker außerhalb der Zünfte, die Handwerker des „Freien Gewerbes“, die es jedoch wirtschaftlich sehr viel schwerer hatten und nicht rechtlich geschützt waren. Außerdem wurden von den Handwerkern der Zünfte verachtet. Zeichnete sich jedoch ein Handwerker des Freien Gewerbes durch besonderes Können oder herausragende wirtschaftliche Leistungen aus, konnten sie von der Obrigkeit den Status des Freimeisters erhalten und dadurch stieg ihre gesellschaftliche Achtung.

Auf gesellschaftlicher Basis auch durch das Wirken der Zünfte, der traditionellen Handwerker Organisation, entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert die Wertvorstellungen der neuen Industriearbeiterklasse. So sah sich aufgrund der starken Arbeiterbewegung in Deutschland und des wachsenden Einflusses der Sozialdemokratie Kaiser Wilhelm I. auf Anraten des ja konservativen Reichskanzlers Otto von Bismarck veranlasst, dem Reichstag vorzutragen, Gesetze zur finanziellen Absicherung der Arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter zu beschließen. Er sandte daher zur Eröffnung des deutschen Reichstages im November 1881 eine auf Bismarck zurückgehende kaiserliche Botschaft. So verabschiedete der Reichstag in den folgenden Sitzungsperioden verschiedene Gesetze zur sozialen Sicherung. Das Deutsche Kaiserreich war damit weltweit der Vorreiter beim Aufbau von staatlichen Sozialsystemen. Auch die Kinderarbeit in der Industrie wurde staatlich kontrolliert.

Kinderarbeit war schon vor der industriellen Revolution in der Landwirtschaft üblich. Während der industriellen Revolution nahm sie aber erschreckende Formen an: Kinder ab 4 Jahren (meistens ab 8 Jahren) mussten bis zu 14 Stunden pro Tag arbeiten. In manchen Betrieben mussten die Arbeiter wie die Kinder bis zu 36 Stunden hintereinander arbeiten. Die Kinder mussten in Kohlen- und Eisenbergwerken unter Tag arbeiten. Dort hatten sie oft in Stollen zu kriechen, die für ausgewachsene Personen zu eng waren.

Einsichtige Politiker versuchten bald die Kinderarbeit gesetzlich einzuschränken. 1833 wurden in England trotz starken Widerstandes der Fabrikbesitzer erste Kinderschutzgesetze erlassen. Die Kinder durften in Textilfabriken erst ab dem 9. Lebensjahr arbeiten. In Deutschland durften Kinder zu dieser Zeit ab 12 Jahren täglich 6 Stunden arbeiten.

Bismarck als Vertreter des Adels und der Groß-Bourgeoisie hoffte so, durch die ersten Sozialgesetze, sich bei den von ihm anderseits massiv unterdrückten organisierten Arbeitern (Sozialistengesetze) Unterstützung zu schaffen.

Deutschland war also zu Kaisers Zeiten weltweit führend in der Industrialisierung, Forschung und Wissenschaft, Luft- und Flugverkehr, Rechtsstellung der Frau sowie die Sozialgesetzgebung.

Für die Menschen, die in diesem kreativen und höchst innovativen Zeitalter lebten, stellte sich die Welt buchstäblich in einer ungeheuren Geschwindigkeit auf den Kopf. Alle Veränderungen, die auf die Menschen herein prasselten, mussten sowohl vom Einzelnen als auch von der Politik und ihren Gremien und damit der gesamten Kultur und Gesellschaft verarbeitet und umgesetzt werden. Die neuen Industrien verlangten nach neuen Fähigkeiten und schufen neue Berufe. Handwerk hatte zu dieser Zeit tatsächlich goldenen Boden. In 25 Jahren verdoppelte sich die Zahl der Industriearbeiter. Es konnte überall Arbeit gefunden werden. Es wurden Mustersiedlungen gebaut, neue Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Bauern verkauften ihr Land in der Regel für einen Spottpreis, investierten aber oft ihr Geld in städtische Reihenhäuser25 oder auch in Doppelhäuser und vermieteten die andere Hälfte. Oft mussten sich 6 Familien eine Haushälfte von 115qm teilen.26 Ein der Parolen des Kaisers war: „Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser.“ Und so wurde nicht nur die Kriegsmarine ausgebaut, sondern vor allem auch die Binnenschifffahrt erlebte spektakuläre Fortschritte. Kanäle wurden gebaut, die die Flüsse verbinden, wie z.B. der Dortmund-Ems-Kanal. Das Schiffshebewerk Dortmund war ein riesiges Wagnis aber ebenso ein weltweites Ereignis welches ebenfalls den deutschen Weltruf festigen sollte. Die deutschen Firmen gingen auf Weltmessen, um sich zu präsentieren. 1902 war in Düsseldorf eine solche Weltmesse, die nicht nur technische Innovatoren aus aller Welt anzog, sondern vor allem auch 5 Millionen Besucher und den Ruf der Stadt als internationale Messestadt festigte.27 Damals kleine Firmen wie Siemens und AEG wurden in kürzester Zeit zu Großkonzernen.

Der Einzelne musste aber seine eigene Balance in diesen turbulenten Zeiten finden.

Die mit der Mobilität und Veränderung in ausnahmslos allen Bereichen des Lebens zusammenhängende Entwurzelung vieler, die ihr eigenes Gleichgewicht nicht finden konnten, hinterließ trotz aller Fortschritte große soziale Probleme. Es war zwar leichter als zu früheren Zeiten gesellschaftlich aufzusteigen und ein besseres Leben zu führen, der soziale Abstieg konnte aber gleichermaßen rapide von sich gehen, wenn der „Normalfall“ sich nicht aufrecht erhalten ließ, wie durch Krankheit, Unfall etc. Aufgrund der großen Mobilität waren die Familien auseinandergerissen, so das Kranke und damit auch arme Menschen oft alleine und völlig vereinsamt waren. Die neue Freiheit hatte seinen Preis und kam einher mit einer massiven Unterdrückung seitens der Obrigkeit und des Militärs. Somit waren die gesellschaftlichen Widersprüche trotz oder gerade aufgrund des rasanten Wandels enorm. Es wurden somit sehr hohe Ansprüche der Anpassung und der Flexibilität an den einzelnen sowie an die Gesellschaft als Ganzes gestellt.

In den nächsten Kapiteln werden kurz die einzelnen politischen Epochen zusammenfassend mit ihren Widersprüchen vorgestellt, um den LeserInnen einen Rahmen zu geben, so das:

  einmal die Ereignisse im Leben unserer Alltagshelden besser eingeordnet werden können und

  zum anderen ein besseres Verständnis für das Bewusstsein dieser Zeit und der in ihr lebenden Menschen gefördert wird

  dem Leser ein zusammenhängendes Bild über der geschichtlichen Epochen der letzten 130 Jahre vorzustellen.

13 Bald Detlef (Hrsg): ‚Wider die Kriegsmaschinerie‘, Kriegserfahrungen und Motive der „Weißen Rose“, Essen 2005 Tuchel Johannes: Der vergessene Widerstand. Zur Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS Diktatur. Göttingen 2005

14 Wette, Wolfram: Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Frankfurt am Main 2002, Wette Wolfram: Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Frankfurt am Main 2004 Wette Wolfram: Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkrieges. Freiburg/Breisgau 2005

15 Tuchler Johannes: Der vergessene Widerstand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Göttingen 2005 Gedenkstätte Dachau: www.kz-gedenkstaette-dachau.de Gedenkstätte Berlin: www.gdw-berlin.de

16 ”Es weint keiner mehr“ Video der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 27.1.2005, http://www.bundestag.de/Mediathek/index.jsp?action=se-arch&ids=1505542&instance=m187&mask=search&contentArea=details Das Video mit den beiden herausragenden Reden von Lustiger und Biermann kann heruntergeladen werden!

17de.wikipedia.org/wiki/Arno_Lustiger

18 WDR: Vor 100 Jahren, Sendung 19.7.2013

19 WDR: Vor hundert Jahren, Dokumentation 19.7.2013

20http://de.wikipedia.org/wiki/Sternwarte#Neuzeit.

21 Deutsches Museum: http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/innenpolitik/adav/index.html

22http://de.wikipedia.org/wiki/Zunft

23http://www.deutschland-im-mittelalter.de/zuenfte.php

24 Thömmes Günther: Der Bierzauberer, 2008

25 WDR: Vor hundert Jahren, Dokumentation, 19.7.2013

26 Siehe da

27 Die erste internationale Messe fand 1811 in Düsseldorf statt.

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Der Weg zum Faschismus -

eine kleine geschichtliche Einführung

Das Kaiserreich 1871 – 1918

Die Gründung eines deutschen Nationalstaates war ein wesentliches Ziel der bürgerlichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts. Das Deutsche Reich von 1871 – 1918, als Kaiserreich bekannt, war ein Bündnis deutscher Fürsten sowie der freien Reichsstädte. Es wurde 1871 in Versaille als konstitutionelle Monarchie mit der Proklamierung des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser gegründet. Vorangegangen war der Sieg des Norddeutschen Bundes und der mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten im Deutsch-Französischen Krieg. So entstand erstmalig ein deutscher Nationalstaat und unter der Herrschaft der preußischen Hohenzollern.

Der Kaiser und sein Reichskanzler Bismarck hielten gemeinsam den absolutistischen Obrigkeitsstaat, ein Fürstenbund fest in der Hand und kontrollierten Militär, Verwaltung sowie die politische Kultur. Die Fürsten- und Adelsherrschaft in Verbindung mit dem vorherrschenden Militarismus stand dabei in krassem Widerspruch zu der Volksgesellschaft, die, wie wir gesehen haben, sich aufgrund der Industrialisierung rapide wandelte und modernisierte. Innerhalb des neuen Staates standen der Obrigkeit starke Kräfte gegenüber: die starke Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie sowie der Katholizismus. Außerdem stand das Rheinland traditionell den Preußen sehr kritisch gegenüber. Es hatte sich in der Geschichte mehrfach mit den Franzosen gegen die Preußen zusammengeschlossen. Als Napoleon 1801 das linksrheinische Rheinland besetzte, waren die Rheinländer erleichtert die Vorherrschaft der Preußen losgeworden zu sein. Zahlreiche deutsche Fürsten schlossen sich 1806 auf Initiative von Napoleon zum Rheinbund zusammen und akzeptierten so die Vorherrschaft der Franzosen. Daraufhin legte Kaiser Franz in Wien die Reichskrone nieder, denn Fürsten ihm die Gefolgschaft gekündigt und so wurde 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation beendet.

Die Französische Revolution begeisterte viele Deutsche und die dortige Entwicklung wurde in den deutschen Kleinstaaten mit größtem Interesse verfolgt. So brachten die französischen Eroberer frischen Wind von Aufklärung und Aufbruch, von Fortschritt und Modernität in die erstarrten deutschen Verhältnisse. In der napoleonischen Besetzung wurde eine Reihe von notwendigen Reformen in Deutschland durchgeführt. Unterstützt wurden diese Reformen von adeligen Politikern wie Karl vom und zum Stein, Karl August von Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, Gerhardt von Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau. Bei den Preußen bildete sich unter der französischen Besatzung ein starkes Nationalbewusstsein gegen die Franzosen.

Die Rheinländer, die die Franzosen ja unterstützen, wussten aber auch, dass sie keine Franzosen, sondern eben Deutsche waren und ein deutscher Nationalstaat war auch ihnen sehr erstrebenswert. So stimmten sie zähneknirschend der Vorherrschaft der Preußen im neuen deutschen Reich, dem Kaiserreich von 1871, zu. Ein emotionaler Widerstand gegen die Preußen und die typisch preußischen Tugenden ist auch heute noch im Rheinland, aber auch in den süddeutschen Landgebieten, besonders in (Königreich) Bayern, zu spüren.

Durch Bismarcks von „Blut und Eisen“28 geprägte Kriegspolitik erlangte Preußen die unangefochtene Vormachtstellung in Kontinentaleuropa. Bismarck wurde so zum Volkshelden, zum Gründervater und zum ersten Kanzler eines Deutschen Reiches. Sein Name steht für Einigung der Deutschen, Aufbau eines starken Deutschlands sowie für soziale Reformen aber auch für seinen Kampf gegen die Sozialisten und die katholische Kirche.

In der deutschen Geschichte spielt das Kaiserreich insofern eine besondere Rolle, da es lange Zeit als Höhepunkt der deutschen Nationalgeschichte gesehen und somit idealisiert wurde. Der in dieser Zeit vorherrschende Militarismus wurde dabei gerne beiseite geschoben. Erst in den 70ger Jahren des letzten Jahrhunderts begann eine neue Generation von jungen deutschen Historikern nicht nur die Weimarer Republik sondern vor allem auch das Kaiserreich zu hinterfragen und als Vorbereitung zum Nationalsozialismus zu sehen.