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Eigentlich wollte Hilary Craven gerade in Ruhe Selbstmord begehen. Da platzt ein britischer Agent in ihr marokkanisches Hotelzimmer – mit einer gar nicht so abwegigen Alternative: die Teilnahme an einer gefährlichen Mission. Sie soll die Rolle einer gerade bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Frau übernehmen, um deren Mann, einen verschwundenen Kernphysiker, aufzuspüren. Ist er in die Sowjetunion übergelaufen? Inmitten ihrer Reisegruppe, die mit unbekanntem Ziel unterwegs ist, erwacht Hilarys Neugier wieder zum Leben.
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Seitenzahl: 319
Agatha Christie
Der unheimliche Weg
Kriminalroman
Roman
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Atlantik
Für ANTHONY,
der genauso gern ins Ausland reist wie ich
Der Mann hinter dem Schreibtisch verrückte einen wuchtigen gläsernen Briefbeschwerer um vier Zoll nach rechts. Seine Miene war nicht so sehr nachdenklich oder geistesabwesend als vielmehr ausdruckslos. Er besaß die bleiche Haut eines Menschen, der den größten Teil des Tages unter künstlichem Licht verbringt. Dieser Mann, ahnte man, war ein Stubenhocker. Ein Schreibtischmensch, ein Aktenmensch. Die Tatsache, dass man, um sein Büro zu erreichen, lange, gewundene unterirdische Korridore entlanggehen musste, schien auf eine seltsame Weise passend. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er sah weder alt noch jung aus. Sein Gesicht war glatt und faltenlos, aber in seinen Augen lag eine große Müdigkeit.
Der andere Mann im Raum war sichtlich älter. Er war brünett und trug einen kleinen militärischen Schnurrbart. Er strahlte eine hellwache nervöse Energie aus. In diesem Augenblick marschierte er, unfähig, still zu sitzen, auf und ab und gab von Zeit zu Zeit abrupte Bemerkungen von sich.
»Berichte!«, platzte es jetzt aus ihm heraus. »Berichte, Berichte und noch mehr Berichte, und nicht einer davon ist zu irgendwas nütze!«
Der Mann am Schreibtisch richtete den Blick auf die Papiere, die er vor sich liegen hatte. Zuoberst prangte eine amtlich aussehende Karteikarte mit der Aufschrift »Betterton, Thomas Charles«. Hinter dem Namen stand ein Fragezeichen. Der Mann am Schreibtisch nickte nachdenklich. Dann sagte er:
»Sie haben diese Berichte studiert, und keiner davon taugt etwas?«
Der andere zuckte mit den Schultern.
»Wie soll man das wissen?«, fragte er.
Der Mann hinter dem Schreibtisch stieß einen Seufzer aus.
»Ja«, sagte er, »das ist der Knackpunkt. Man kann es eigentlich nicht wissen.«
Der ältere Mann fuhr in seiner abgehackten, maschinengewehrartigen Sprechweise fort:
»Berichte aus Rom; Berichte aus der Touraine; an der Riviera gesichtet; in Antwerpen erkannt; in Oslo eindeutig identifiziert; in Biarritz mit Sicherheit gesehen; in Straßburg bei verdächtigem Tun beobachtet; am Strand von Ostende mit glamouröser Blondine gesichtet; auf den Straßen von Brüssel mit einem Windhund ausgemacht! Im Zoo beim Umarmen eines Zebras hat man ihn bislang noch nicht gesehen, aber ich schätze, das kommt noch!«
»Sie selbst haben keinen speziellen Favoriten, Wharton? Persönlich hatte ich gewisse Hoffnungen auf die Spur aus Antwerpen gesetzt, aber sie ist im Sande verlaufen. Natürlich ist mittlerweile …« Der jüngere Mann verstummte und schien ins Koma zu fallen. Schon bald darauf kam er wieder zu Bewusstsein und äußerte kryptisch: »Ja, wahrscheinlich … andererseits – hm.«
Colonel Wharton setzte sich abrupt auf die Armlehne eines Sessels.
»Aber wir müssen uns Klarheit verschaffen!«, sagte er hartnäckig. »Wir müssen diese ganzen Wies und Weshalbs und Wohins endlich knacken! Es geht nicht an, dass uns alle ein, zwei Monate ein unbescholtener Wissenschaftler abhandenkommt und wir keine Ahnung haben, wie sie verschwinden oder weshalb sie verschwinden oder wohin! Dorthin, wo wir glauben – oder nicht? Wir haben es immer wie selbstverständlich vorausgesetzt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Haben Sie das Neuste über diesen Amerikaner, Betterton, gelesen?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch nickte.
»Die üblichen linksromantischen Phantasien, als jeder welche hatte. Soweit man feststellen konnte, nichts Ernstzunehmendes oder Dauerhaftes. Hat vor dem Krieg solide Arbeit geleistet, aber nichts Aufsehenerregendes. Als Mannheim aus Deutschland floh, wurde Betterton ihm als Assistent zugewiesen, was darauf hinauslief, dass er Mannheims Tochter heiratete. Nach Mannheims Tod machte er auf eigene Faust weiter und lieferte brillante Resultate. Die verblüffende Entdeckung der ZE-Spaltung machte ihn schlagartig berühmt. Die ZE-Spaltung war eine geniale und absolut revolutionäre Entdeckung. Sie katapultierte Betterton in die oberste Liga. Alles sprach dafür, dass ihm drüben eine glänzende Karriere bevorstand, aber dann war seine Frau schon kurz nach der Hochzeit gestorben, und das hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er kam nach England. Vor achtzehn Monaten nahm er seine Tätigkeit am Kernforschungszentrum Harwell auf. Erst vor einem halben Jahr hat er wieder geheiratet.«
»Von der Seite her etwas?«, fragte Wharton scharf.
Der andere schüttelte den Kopf.
»Wir haben jedenfalls nichts gefunden. Sie ist die Tochter eines Anwalts. Hat vor der Heirat in einer Versicherungsagentur gearbeitet. Keine radikalen politischen Neigungen, soweit wir feststellen konnten.«
»ZE-Spaltung«, sagte Colonel Wharton mit hörbarem Widerwillen. »Weiß der Geier, was das alles heißen soll! Ich bin ein altmodischer Mensch. Selbst ein Molekül habe ich mir nie so recht vorstellen können, aber heutzutage zerkrümeln sie ja gleich das ganze Universum! Atombomben, Kernspaltung, ZE-Spaltung und was weiß ich noch alles. Und Betterton war einer der Oberspalter vom Dienst! Was erzählen sie in Harwell über ihn?«
»Offenbar ganz sympathischer Typ. Was seine Arbeit angeht, nichts Weltbewegendes. Lediglich Variationen zum Thema praktische Anwendung der ZEs.«
Die zwei Männer verstummten. Es war ohnehin nur ein halbherziges, fast mechanisch geführtes Gespräch gewesen. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Geheimdienstberichte, und die Geheimdienstberichte hatten nichts von Bedeutung ergeben.
»Natürlich wurde er bei seiner Ankunft in England gründlich durchleuchtet«, sagte Wharton dann.
»Ja, es gab nicht die geringsten Beanstandungen.«
»Vor achtzehn Monaten«, sagte Wharton nachdenklich. »Das macht einen ohne Frage fertig. Strenge Sicherheitsvorkehrungen. Das Gefühl, ständig wie auf dem Objektträger zu sitzen, ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit. Das zehrt an den Nerven, schlägt aufs Gemüt. Das habe ich oft genug erlebt. Die Typen fangen an, von einer perfekten Welt zu träumen. Freiheit und Brüderlichkeit, keine Geheimnisse mehr voreinander und alle vereint zum Wohle der Menschheit! Das ist genau der Punkt, wo jemand, der mehr oder weniger der Abschaum der Menschheit ist, seine Chance erkennt und sie ergreift!« Er rieb sich die Nase. »Keiner ist so leicht zu übertölpeln wie ein Wissenschaftler«, erklärte er. »Das wird Ihnen jedes spiritistische Medium bestätigen. Fragen Sie mich nicht, warum das so ist.«
Der andere lächelte – ein äußerst müdes Lächeln.
»O doch«, sagte er, »das leuchtet absolut ein. Wissenschaftler glauben, den totalen Durchblick zu haben. Das ist immer gefährlich. Unsereins ist da schlichter gestrickt. Wir sind bescheiden. Wir erwarten nicht, die Welt zu retten, sondern begnügen uns damit, ein, zwei Scherben aufzulesen und vielleicht einen Schraubenschlüssel herauszuziehen, der ins Getriebe geraten ist.« Nachdenklich klopfte er mit dem Finger auf den Schreibtisch. »Wenn ich nur ein bisschen mehr über Betterton wüsste!«, sagte er. »Ich meine nicht seinen Lebenslauf und seine Leistungen, sondern die weit aufschlussreicheren alltäglichen Kleinigkeiten. Über welche Sorte Witze er lachte. Was ihn zum Fluchen brachte. Wen er bewunderte und wer ihn wütend machte.«
Wharton sah ihn neugierig an.
»Was ist mit der Ehefrau – haben Sie es bei der schon versucht?«
»Mehrmals.«
»Kann sie nichts Sachdienliches beitragen?«
Der andere zuckte die Achseln.
»Hat’s jedenfalls bislang noch nicht getan.«
»Sie glauben, sie weiß etwas?«
»Sie gibt es natürlich nicht zu. Zeigt sämtliche zu erwartenden Reaktionen: Sorge, Kummer, verzweifelte Unruhe, ›hätte so etwas im Traum nicht erwartet!‹. Ehemann hatte ein vollkommen normales Leben geführt, ohne Stress irgendwelcher Art und so weiter und so weiter. Ihre eigene Theorie lautet, dass er entführt worden ist.«
»Und Sie glauben ihr nicht?«
»Ist so eine Berufskrankheit von mir«, sagte der Mann hinterm Schreibtisch bitter. »Ich glaube niemandem ein Wort.«
»Na ja«, sagte Wharton langsam, »Unvoreingenommenheit ist vermutlich kein Fehler. Wie ist sie denn so?«
»Eine ganz durchschnittliche Frau, wie man sie jederzeit beim Bridge kennenlernen könnte.«
Wharton nickte verständnisinnig.
»Das macht die Sache schwieriger«, sagte er.
»Sie wartet draußen. Wir werden alles noch einmal von vorne durchkauen.«
»Ist die einzige Möglichkeit«, sagte Wharton. »Ich brächte es allerdings nicht fertig. Dazu fehlt mir die Geduld.« Er stand auf. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Viel mehr haben wir schließlich nicht, oder?«
»Leider nein. Sie könnten diesen Bericht aus Oslo einmal gründlich unter die Lupe nehmen. Geographisch würde es ja passen.«
Wharton nickte und verließ das Zimmer. Der andere Mann griff zum Hörer des Telefons, das griffbereit neben ihm stand, und sagte:
»Ich lasse jetzt bitten. Schicken Sie Mrs Betterton rein.«
Er starrte ins Leere, bis es an der Tür klopfte und Mrs Betterton hereingeführt wurde. Sie war eine hochgewachsene Frau von vielleicht siebenundzwanzig Jahren. Das Auffälligste an ihr war ihre kupferfarbene Haarpracht. Unter dieser Herrlichkeit verblasste ihr Gesicht fast zur Unscheinbarkeit. Sie hatte die blaugrünen Augen und die hellen Wimpern, die man bei Rothaarigen so häufig antrifft. Er bemerkte, dass sie ungeschminkt war. Während er sie begrüßte und sie bat, es sich in dem Besuchersessel bequem zu machen, erwog er die mögliche Bedeutung dieses Umstands. Er tendierte zu der Schlussfolgerung, dass Mrs Betterton mehr wusste, als sie bislang zugegeben hatte.
Nach seiner Erfahrung pflegten Frauen, die unter großem Kummer und tiefer Sorge litten, ihr Äußeres nicht zu vernachlässigen. Sie waren sich der verheerenden Auswirkungen, die das Leid auf ihr Gesicht hatte, durchaus bewusst und taten ihr Bestes, um diese Spuren zu kaschieren. Er fragte sich, ob Mrs Betterton nicht aus Berechnung auf Make-up verzichtet hatte – um die Rolle der verzweifelten Ehefrau nur desto glaubwürdiger spielen zu können. Jetzt sagte sie ziemlich atemlos:
»Ach, Mr Jessop, ich hoffe so sehr – gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
Er schüttelte den Kopf und sagte sanft:
»Es ist mir äußerst unangenehm, Sie in dieser Verfassung hierherbitten zu müssen, Mrs Betterton. Leider haben wir nichts Neues, was wir Ihnen mitteilen könnten.«
Olive Betterton sagte rasch:
»Ich weiß. Das schrieben Sie ja in Ihrem Brief. Aber ich hatte die vage Hoffnung, dass vielleicht – in der Zwischenzeit – ach! Ich war nur zu froh, nach London zu kommen. Zu Hause herumzusitzen und zu rätseln und zu grübeln, das ist das Schlimmste überhaupt. Man fühlt sich so ohnmächtig!«
Der Mann namens Jessop sagte begütigend:
»Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, Mrs Betterton, wenn ich alles wieder von vorne durchkaue, Ihnen immer wieder die gleichen Fragen stelle, die gleichen Punkte hervorhebe. Verstehen Sie, es besteht immer die Möglichkeit, dass sich etwas Neues, irgendeine Kleinigkeit herauskristallisiert. Etwas, woran Sie bis dahin nicht gedacht oder was Sie vielleicht als nicht der Erwähnung wert betrachtet hatten.«
»Ja. Ja, ich verstehe. Nur zu, fragen Sie mich alles noch einmal von vorn.«
»Zum letzten Mal sahen Sie Ihren Mann am 23. August?«
»Ja.«
»Das war, als er England verließ, um in Paris an einer Konferenz teilzunehmen.«
»So ist es.«
»An den ersten zwei Tagen«, fuhr Jessop fort, »wurde er auf der Konferenz gesehen. Am dritten tauchte er nicht wieder auf. Anscheinend hatte er einem Kollegen gegenüber erwähnt, er beabsichtige an dem Tag stattdessen eine Rundfahrt mit einem bateau-mouche zu unternehmen.«
»Einem bateau-mouche? Was ist denn ein bateau-mouche?«
Jessop lächelte.
»Einer dieser kleinen Dampfer, die auf der Seine fahren.« Er sah sie scharf an. »Finden Sie das überraschend, so wie Sie Ihren Mann kennen?«
Sie sagte unschlüssig:
»Ja, ziemlich. Ich hätte eigentlich gedacht, dass die Konferenz ihn brennend interessieren würde.«
»Möglicherweise. Andererseits schlug das Diskussionsthema dieses bestimmten Tages nicht entfernt in sein Fach, also könnte er da ohne weiteres blaugemacht haben. Sie finden aber trotzdem, dass es nicht zu Ihrem Mann passen würde?«
Sie nickte emphatisch.
»An dem Abend kehrte er in sein Hotel nicht zurück«, fuhr Jessop fort. »Soweit man feststellen konnte, hat er keine Staatsgrenze passiert, jedenfalls nicht mit seinem eigenen Reisepass. Halten Sie es für möglich, dass er einen zweiten Pass besaß – vielleicht auf einen anderen Namen ausgestellt?«
»O nein, wozu auch?«
Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Er hat Ihres Wissens nie etwas dergleichen besessen?«
Sie schüttelte mit Nachdruck den Kopf.
»Nein, und das glaube ich auch nicht. Ich glaube keinen Augenblick lang daran. Ich glaube nicht, dass er sich freiwillig fortgestohlen hat, wie Sie mir alle einzureden versuchen. Es ist ihm etwas zugestoßen – oder vielleicht hat er das Gedächtnis verloren.«
»Gesundheitlich war mit ihm alles in Ordnung?«
»Ja. Er arbeitete zwar ziemlich hart, und manchmal fühlte er sich ein bisschen abgespannt, aber das war auch schon alles.«
»Er hatte in letzter Zeit nicht – wegen was auch immer –besorgt oder deprimiert gewirkt?«
»Er war wegen gar nichts besorgt oder deprimiert!« Mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Handtasche und holte ihr Taschentuch heraus. »Es ist alles so furchtbar …« Ihre Stimme bebte. »Ich kann es nicht glauben. Er hätte mich nie so ohne ein Wort verlassen. Ihm ist etwas zugestoßen! Er ist entführt oder vielleicht überfallen worden. Ich versuche, nicht daran zu denken, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es einfach keine andere Erklärung geben kann. Er muss tot sein!«
»Also bitte, Mrs Betterton, bitte – noch besteht keine Veranlassung zu dieser Annahme. Wenn er tot wäre, hätte man mittlerweile seinen Leichnam gefunden.«
»Das ist nicht gesagt. Es passieren schlimme Dinge. Er könnte ertränkt oder in die Kanalisation geworfen worden sein. In Paris könnte bestimmt alles passieren.«
»Ich kann Ihnen versichern, Mrs Betterton, dass Paris eine zivilisierte Stadt ist, in der durchaus Recht und Ordnung herrschen.«
Sie nahm das Taschentuch von ihren Augen und maß ihn mit einem bitterbösen Blick.
»Ich weiß, was Sie denken, aber es ist nicht so! Tom würde keine Geheimnisse verkaufen oder verraten. Er war kein Kommunist. Sein Leben ist wie ein offenes Buch.«
»Was waren denn seine politischen Überzeugungen, Mrs Betterton?«
»In Amerika war er meines Wissens Demokrat. Hier wählte er Labour. Politik interessierte ihn nicht. Er war in erster Linie Wissenschaftler.« Sie fügte trotzig hinzu: »Er war ein brillanter Wissenschaftler!«
»Ja«, sagte Jessop, »er war ein brillanter Wissenschaftler. Und genau das ist auch der springende Punkt. Man könnte ihm nämlich sehr verführerische Anreize geboten haben, dieses Land zu verlassen und woandershin zu gehen.«
»Das ist aber nicht passiert!« Wieder flammte ihr Zorn auf. »Das ist das, was die Zeitungen unterstellen. Es ist das, was Sie alle glauben, wenn Sie und Ihresgleichen daherkommen und mich ausfragen. Aber es ist nicht wahr! Er würde sich nie einfach so absetzen, ohne mir auch nur einen kleinen Hinweis zu geben.«
»Und er hat Ihnen – nichts gesagt?«
Wieder musterte er sie aufmerksam.
»Nein, nichts. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich glaube, dass er entführt wurde oder, wie gesagt, tot ist. Aber wenn er tot ist, muss ich Gewissheit haben. Und zwar möglichst bald. Ich halte es nicht länger aus, so zu warten und mir das Hirn zu zermartern. Ich kann nicht mehr essen noch schlafen. Ich bin krank vor Sorge. Können Sie mir nicht helfen? Können Sie mir wirklich überhaupt nicht helfen?«
Da stand er auf und ging um den Schreibtisch herum. Er murmelte:
»Es tut mir schrecklich leid, Mrs Betterton, wirklich schrecklich leid. Ich möchte Ihnen versichern, dass wir unser Bestmögliches tun, um herauszufinden, was mit Ihrem Mann passiert ist. Wir erhalten täglich Berichte von verschiedenen Orten.«
»Woher kommen diese Berichte?«, fragte sie in scharfem Ton. »Und was sagen sie?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie müssen erst alle überprüft, analysiert und ausgewertet werden. Aber alles in allem, muss ich Ihnen leider sagen, sind sie extrem vage.«
»Ich brauche Gewissheit«, wiederholte sie mit brüchiger Stimme. »So halte ich es nicht länger aus …«
»Bedeutet Ihr Mann Ihnen sehr viel, Mrs Betterton?«
»Natürlich bedeutet er mir viel! Wir sind doch erst sechs Monate verheiratet. Erst sechs Monate …«
»Ja, ich weiß. Hat es – bitte entschuldigen Sie die Frage – jemals Streit zwischen Ihnen gegeben?«
»O nein!«
»Keine Probleme wegen einer anderen Frau?«
»Natürlich nicht. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Wir haben erst letzten April geheiratet.«
»Bitte glauben Sie mir, dass ich keineswegs versuche, etwas Derartiges als wahrscheinlich hinzustellen, aber wir müssen einfach jede Möglichkeit in Betracht ziehen, die sein rätselhaftes Verschwinden erklären könnte. Noch einmal: Er war in letzter Zeit weder beunruhigt noch besorgt, noch gereizt – in keiner Weise angespannt?«
»Nein, nein, nein!«
»Es zehrt nämlich wirklich an den Nerven, Mrs Betterton, ein solches Leben zu führen wie Ihr Mann. Unter so strengen Sicherheitsvorkehrungen arbeiten zu müssen. Tatsächlich«, er lächelte, »ist es da fast normal, überreizt zu sein.«
Sie erwiderte das Lächeln nicht.
»Er war genauso wie immer«, sagte sie starrsinnig.
»Glücklich mit seiner Arbeit? Sprach er mit Ihnen gelegentlich darüber?«
»Nein, das war mir alles zu technisch.«
»Sie glauben nicht, dass er irgendwelche Bedenken im Zusammenhang mit seiner Entdeckung hatte – sagen wir, wegen ihrer potenziell zerstörerischen Anwendungsmöglichkeiten? Zuweilen kann das für Forscher tatsächlich ein Problem darstellen.«
»Er hat nie etwas in der Richtung geäußert.«
»Verstehen Sie, Mrs Betterton«, er setzte sich wieder, beugte sich über den Schreibtisch vor und zeigte jetzt etwas mehr Mitgefühl, »ich versuche lediglich, mir ein Bild von Ihrem Mann zu machen. Eine Vorstellung davon, was für ein Mensch er war. Und irgendwie scheinen Sie mir nicht helfen zu wollen.«
»Aber was kann ich denn sonst noch sagen oder tun? Ich habe doch alle Ihre Fragen beantwortet!«
»Ja, Sie haben meine Fragen beantwortet, und zwar größtenteils mit einem Nein, also negativ. Ich brauche etwas Positives, etwas Konstruktives. Begreifen Sie, was ich meine? Es ist viel leichter, nach einem Mann zu suchen, wenn man weiß, was für ein Mensch er ist.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ich verstehe. Zumindest glaube ich zu verstehen. Also, Tom war fröhlich und ausgeglichen. Und natürlich gescheit.«
Jessop lächelte. »Das ist eine Aufzählung von Eigenschaften. Versuchen wir doch mal, etwas persönlicher zu werden. Las er viel?«
»Ja, eine ganze Menge.«
»Was für Bücher?«
»Ach, Biographien. Buchklubempfehlungen und, wenn er müde war, Krimis.«
»Also ein ziemlich konventioneller Geschmack. Keine besonderen Vorlieben? Spielte er vielleicht Schach?«
»Er spielte Bridge. Wir spielten ein-, zweimal die Woche mit Dr Evans und seiner Frau.«
»Hatte Ihr Mann viele Freunde?«
»O ja, er war ein sehr geselliger Typ.«
»Ich meinte etwas mehr als das. Ich meine, war er ein Mann, der – dem seine Freunde viel bedeuteten?«
»Er spielte mit ein, zwei unserer Nachbarn Golf.«
»Eigene Freunde oder Kumpel hatte er keine?«
»Nein. Er hatte ja so lange in den USA gelebt, und geboren war er in Kanada. Hier drüben kannte er nicht viele Leute.«
Jessop warf einen Blick auf einen Zettel, der auf seinem Schreibtisch lag.
»Meines Wissens haben ihn in letzter Zeit drei Personen aus den Staaten besucht. Ich habe hier ihre Namen. Soweit wir feststellen konnten, waren das die einzigen, wenn ich so sagen darf, Außenkontakte, die Ihr Mann in jüngerer Zeit hatte. Deswegen haben wir ihnen besondere Beachtung geschenkt. Also, erstens Walter Griffiths. Er besuchte Sie und Ihren Mann in Harwell.«
»Ja, er war aus privaten Gründen in England und wollte bei der Gelegenheit bei Tom vorbeischauen.«
»Und wie war die Reaktion Ihres Mannes?«
»Tom war überrascht, ihn zu sehen, hat sich aber sehr gefreut. In den Staaten waren sie ziemlich gute Freunde gewesen.«
»Was für einen Eindruck machte dieser Griffiths auf Sie? Beschreiben Sie ihn einfach mit Ihren eigenen Worten.«
»Aber Sie wissen doch bestimmt schon alles über ihn!«
»Ja, wir wissen alles über ihn. Aber ich würde gern erfahren, was Sie von ihm hielten.«
Sie dachte kurz nach.
»Na ja, er war irgendwie – feierlich und ziemlich umständlich. Mir gegenüber sehr höflich, und er schien Tom sehr zu mögen und begierig zu sein, ihm alles zu erzählen, was so passiert war, seit Tom die Staaten verlassen hatte. Alles ›Dorfklatsch‹ sozusagen. Mich hat das nicht sonderlich interessiert, weil nur von Leuten die Rede war, die ich nicht kannte. Außerdem stand ich sowieso die meiste Zeit am Herd, während die beiden in Erinnerungen schwelgten.«
»Über Politik wurde nicht gesprochen?«
»Sie versuchen mir einzureden, dass er Kommunist war!« Olive Bettertons Gesicht rötete sich. »Ich bin sicher, dass er nichts dergleichen war! Er arbeitete irgendwie im öffentlichen Dienst – im Büro des Bezirksstaatsanwalts, glaube ich. Und überhaupt, als Tom darüber scherzte, in Amerika würden zurzeit ja richtige Hexenjagden veranstaltet werden, sagte er ganz feierlich, wir hier drüben würden das nicht verstehen. Das sei alles notwendig. Das beweist doch wohl, dass er kein Kommunist war!«
»Bitte, bitte, Mrs Betterton, jetzt regen Sie sich nicht wieder auf!«
»Tom war kein Kommunist! Ich sage es Ihnen immer wieder, und Sie glauben mir nicht!«
»Doch, ich glaube Ihnen, aber man kann die Frage nicht einfach ausklammern. Jetzt zum zweiten Auslandskontakt, Dr Mark Lucas. Sie sind ihm in London im Dorset Hotel begegnet.«
»Ja. Wir waren wegen einer Theatervorstellung in die Stadt gekommen und aßen anschließend im Dorset zu Abend. Plötzlich kam dieser Mann, Luke oder Lucas, an unseren Tisch und grüßte Tom. Er war Chemiker, und zuletzt gesehen hatte er Tom in den Staaten. Er war ein deutscher Flüchtling, der die amerikanische Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Aber bestimmt wissen Sie …«
»Aber bestimmt weiß ich das alles schon? Ja, Mrs Betterton, so ist es. War Ihr Mann überrascht, ihn zu sehen?«
»Ja, sehr.«
»Erfreut?«
»Ja, schon – glaube ich.«
»Aber sicher sind Sie nicht?«, insistierte er.
»Na ja, er war ein Mann, den Tom, wie er mir später sagte, nicht übermäßig sympathisch fand, das ist alles.«
»Es blieb bei dieser Zufallsbegegnung? Es wurde kein Treffen für einen späteren Zeitpunkt vereinbart?«
»Nein, es blieb bei der einen zufälligen Begegnung.«
»Ich verstehe. Der dritte auswärtige Kontakt war eine Frau, Mrs Carol Speeder, ebenfalls aus den Vereinigten Staaten. Wie kam es zu diesem Zusammentreffen?«
»Sie hatte, glaube ich, irgendetwas mit der UNO zu tun. Sie kannte Tom von Amerika her, und sie rief ihn aus London an, um zu sagen, dass sie im Lande war, und fragte, ob wir uns nicht bei Gelegenheit zum Lunch in der Stadt treffen sollten.«
»Und, kam es dazu?«
»Nein.«
»Sie fuhren nicht nach London, aber Ihr Mann schon!«
»Was?« Sie riss die Augen auf.
»Er erzählte Ihnen nichts davon?«
»Nein.«
Olive Betterton sah verwirrt und verlegen aus. Sie tat Jessop ein bisschen leid, aber er ließ nicht locker. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er möglicherweise vorankam.
»Das begreife ich nicht«, sagte sie unsicher. »Ich finde es reichlich seltsam, dass er mir nichts davon erzählt haben soll.«
»Sie lunchten zusammen im Dorset, wo Mrs Speeder abgestiegen war, am Mittwoch, den 12. August.«
»Am 12. August?«
»Ja.«
»Ja, ungefähr um die Zeit fuhr er tatsächlich nach London … Er hat nie was gesagt …« Wieder verstummte sie, um dann mit der Frage herauszuplatzen: »Wie ist sie denn so?«
Er antwortete sofort in beruhigendem Ton:
»Alles andere als der verführerische Typ, Mrs Betterton. Eine tüchtige junge Karrierefrau von Mitte dreißig, nicht sonderlich attraktiv. Es deutet absolut nichts darauf hin, dass sie jemals ein intimes Verhältnis mit Ihrem Mann gehabt hat. Das ist ja gerade der Grund, warum es merkwürdig erscheint, dass er Ihnen nichts von diesem Treffen erzählt hat.«
»Ja, ja, ich verstehe.«
»Jetzt versuchen Sie sich bitte zu erinnern, Mrs Betterton. Fiel Ihnen etwa um diese Zeit eine Veränderung bei Ihrem Mann auf? Sagen wir, so gegen Mitte August? Das wäre etwa eine Woche vor der Konferenz gewesen.«
»Nein – nein, mir fiel nichts auf. Es gab nichts, was mir hätte auffallen können!«
Jessop seufzte.
Der Apparat auf seinem Schreibtisch summte diskret. Jessop nahm den Hörer ab.
»Ja«, sagte er.
Die Stimme am anderen Ende sagte:
»Hier ist ein Mann, der jemanden sprechen möchte, der für den Fall Betterton zuständig ist, Sir.«
»Wie heißt er?«
Die Stimme am anderen Ende hüstelte verlegen.
»Tja, ich weiß nicht genau, wie er sich ausspricht, Mr Jessop. Vielleicht sollte ich ihn besser buchstabieren.«
»In Ordnung. Schießen Sie los.«
Er kritzelte in seinen Notizblock die Buchstaben, die ihm durchgegeben wurden.
»Pole?«, sagte er, als er damit fertig war.
»Das hat er nicht gesagt, Sir. Er spricht praktisch fehlerfrei Englisch, aber mit einem ziemlichen Akzent.«
»Bitten Sie ihn zu warten.«
»Sehr wohl, Sir.«
Jessop legte den Hörer wieder auf. Dann richtete er den Blick auf Olive Betterton. Wie sie so still dasaß, strahlte sie eine entwaffnende, hoffnungslose Friedfertigkeit aus. Er riss das Blatt ab, auf das er gerade den Namen geschrieben hatte, und schob es ihr zu.
»Kennen Sie jemanden, der so heißt?«, fragte er.
Als sie den Namen las, weiteten sich ihre Augen. Einen Moment lang fand er, dass sie erschrocken aussah.
»Ja«, sagte sie. »Ja, ich kenne ihn. Ich habe einen Brief von ihm erhalten.«
»Wann?«
»Gestern. Er ist ein Cousin von Toms erster Frau. Er ist gerade erst in England eingetroffen. Er mache sich, wie er schrieb, große Sorgen wegen Toms Verschwinden. Er fragte, ob ich irgendetwas Neues erfahren hätte, und – und er sprach mir sein tiefstes Mitgefühl aus.«
»Sie hatten bis dahin noch nie von ihm gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ihr Mann hat ihn niemals erwähnt?«
»Nein.«
»Es wäre also durchaus möglich, dass er gar nicht der angeheiratete Cousin Ihres Mannes ist?«
»Also, wenn Sie mich so fragen – ja, Sie haben recht. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen.« Sie sah ihn verblüfft an. »Aber Toms erste Frau war Ausländerin. Sie war Prof. Mannheims Tochter. Und dieser Mann schien über sie und Tom genaustens informiert zu sein. Er schrieb sehr korrekt und förmlich und – irgendwie ausländisch, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Ganze wirkte völlig echt. Und überhaupt, was wäre der tiefere Sinn der Aktion – wenn er nicht der echte Cousin wäre, meine ich?«
»Ah, das ist die Frage, die man sich in solchen Fällen immer stellt.« Jessop lächelte blass. »Wir stellen sie uns hier so häufig, dass wir allmählich in der kleinsten Mücke einen Elefanten wittern.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Sie erschauderte unvermittelt. »Es ist so wie Ihr Zimmer hier, inmitten eines Labyrinths von Korridoren, genau wie in einem dieser Träume, in denen man das Gefühl hat, dass man da nie wieder rausfindet …«
»Ja, ja, ich kann schon nachvollziehen, dass das leicht zu Beklemmungen führen kann«, sagte Jessop freundlich.
Mit einer abrupten Geste strich sich Olive Betterton das Haar aus der Stirn.
»Lange halte ich das wirklich nicht mehr aus«, sagte sie. »Untätig herumzusitzen und zu warten. Ich würde gern zur Abwechslung verreisen. Am liebsten ins Ausland. Irgendwohin, wo mich nicht andauernd Reporter anrufen und wo mich auf der Straße keiner anstarrt. Ich treffe ständig Bekannte. Und jedes Mal fragen sie mich, ob ich irgendetwas Neues erfahren habe.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Ich glaube – ich glaube, ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich habe versucht, tapfer zu sein, aber allmählich geht es über meine Kräfte. Das sagt mein Arzt auch. Er meint, ich sollte für drei, vier Wochen verreisen, und zwar je eher, desto besser. Er hat mir einen Brief geschrieben. Ich kann ihn Ihnen zeigen.«
Sie kramte in ihrer Handtasche, förderte ein Kuvert zutage und schob es Jessop zu.
»Sehen Sie selbst, was er schreibt.«
Jessop holte den Brief aus dem Umschlag und las ihn.
»Ja«, sagte er. »Ja, ich verstehe.«
Er steckte den Brief in den Umschlag zurück.
»Dann – dann wäre es in Ordnung, wenn ich wegfahre?« Sie musterte ihn nervös.
»Aber natürlich, Mrs Betterton«, erwiderte er. Er hob verblüfft die Augenbrauen. »Warum denn nicht?«
»Ich dachte, Sie würden vielleicht Einwände erheben.«
»Einwände – warum? Es ist ganz allein Ihre Sache. Sie werden Vorkehrungen treffen, damit ich Sie, sollten sich in Ihrer Abwesenheit neue Hinweise ergeben, trotzdem erreichen kann?«
»Oh, natürlich.«
»Was hatten Sie sich vorgestellt, wo Sie hinfahren könnten?«
»Irgendwohin, wo die Sonne scheint und die Engländer sich in Grenzen halten. Spanien oder Marokko.«
»Ausgezeichnet. Wird Ihnen bestimmt sehr guttun.«
»Oh, danke. Vielen herzlichen Dank.«
Sie stand auf, erfreut, aufgeregt – und noch immer sichtlich nervös.
Jessop stand ebenfalls auf, gab ihr die Hand und klingelte nach einem Büroboten, damit er sie hinausbegleitete. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und nahm wieder Platz. Ein paar Augenblicke lang blieb seine Miene so ausdruckslos wie zuvor, dann deutete sich in ihr langsam ein Lächeln an. Er griff zum Telefon.
»Ich bitte jetzt Major Glydr zu mir«, sagte er.
Major Glydr?« Der Name kam Jessop etwas holprig über die Lippen.
»Ja, er ist schwierig.« Der Besucher sprach in einem verständnisvoll belustigten Ton. »Im Krieg nannten mich Ihre Landsleute Glider – Sie verstehen? ›Segelflieger‹. Und jetzt, in den Staaten, will ich meinen Namen in ›Glyn‹ ändern, was für alle einfacher ist.«
»Sie kommen aus den Staaten?«
»Ja, ich bin vor einer Woche eingetroffen. Sie sind – Sie entschuldigen – Mr Jessop?«
»Ich bin Jessop.«
Der andere betrachtete ihn mit sichtlichem Interesse.
»Soso«, sagte er. »Ich habe von Ihnen gehört.«
»Tatsächlich? Von wem?«
Der andere lächelte.
»Einen Schritt nach dem anderen. Bevor Sie mir vielleicht gestatten, Ihnen ein paar Fragen zu stellen, lege ich Ihnen diesen Brief von der US-Botschaft vor.«
Er überreichte das Schreiben mit einer Verbeugung. Jessop nahm es entgegen, las die wenigen Zeilen, die Major Glydr höflich einführten, und legte es wieder hin. Er musterte seinen Besucher. Ein großgewachsener Mann mit einer militärisch steifen Haltung, schätzungsweise um die dreißig. Das blonde Haar trug er nach kontinentaler Mode kurz geschnitten. Gesprochen hatte der Fremde langsam und sorgfältig, mit einer recht ausgeprägten ausländischen Intonation, aber grammatikalisch weitgehend korrekt. Er wirkte, wie Jessop zur Kenntnis nahm, nicht die Spur nervös oder unsicher. Das war schon für sich genommen ungewöhnlich. Die meisten Leute, die dieses Büro betraten, waren nervös, aufgeregt oder ängstlich. Mitunter waren sie verschlagen, manchmal gewalttätig.
Der hier dagegen war ein Mann, der sich völlig unter Kontrolle hatte, ein Mann mit steinerner Miene, der genau wusste, was er tat und warum er es tat, und den man nicht leicht überlisten oder sonst wie würde dazu bringen können, mehr zu sagen, als er beabsichtigte. Jessop fragte liebenswürdig:
»Und was können wir für Sie tun?«
»Ich möchte mich erkundigen, ob Sie irgendwelche Neuigkeiten über Thomas Betterton haben, der kürzlich auf ziemlich sensationelle Weise verschwunden ist. Da ich weiß, dass man nicht alles glauben kann, was man in der Presse liest, habe ich gefragt, wo ich zuverlässige Informationen erhalten kann. Man antwortet mir – bei Ihnen.«
»Leider wissen wir über Betterton auch nichts Genaues.«
»Ich dachte, dass er vielleicht ins Ausland geschickt wurde, auf irgendeine Mission.« Er hielt kurz inne und fügte dann, etwas salopp, hinzu: »Sie wissen schon – klammheimlich.«
»Mein lieber Major«, Jessop machte ein gequältes Gesicht, »Betterton war Physiker, kein Diplomat oder Geheimagent.«
»Ich bitte um Vergebung. Jedoch, Etiketten sind nicht immer zutreffend. Sie werden sich vielleicht fragen, was der Grund meines Interesses ist. Thomas Betterton war ein Verwandter von mir – durch Heirat.«
»Ja. Sie sind, wenn ich nicht irre, der Neffe des verstorbenen Prof. Mannheim.«
»Ah, Sie wussten es also bereits. Sie sind hier gut informiert.«
»Leute kommen vorbei und erzählen uns allerlei«, wiegelte Jessop ab. »Bettertons Frau war hier. Sie hat es mir erzählt. Sie hatten ihr einen Brief geschrieben.«
»Ja, um meine Anteilnahme auszudrücken und um zu fragen, ob sie etwas Neues erfahren habe.«
»Das war sehr korrekt von Ihnen.«
»Meine Mutter war Prof. Mannheims einzige Schwester. Sie standen sich sehr nahe. In Warschau, als Kind, war ich viel im Haus meines Onkels, und seine Tochter, Elsa, war für mich wie eine Schwester. Als meine Eltern starben, fand ich bei meinem Onkel und meiner Cousine ein neues Zuhause. Das war eine glückliche Zeit. Dann kam der Krieg, die Tragödien, die Gräuel … Aber über das alles wollen wir nicht sprechen. Mein Onkel und Elsa flohen nach Amerika. Ich selbst blieb und ging in den Untergrund, zum Widerstand, und nach Ende des Krieges führte ich gewisse Aufträge aus. Meinen Onkel und meine Cousine besuchte ich einmal. Das war alles. Aber dann ist die Zeit gekommen, wo meine Verpflichtungen in Europa beendet waren. Ich beschließe, mich auf Dauer in den Staaten niederzulassen. Dort werde ich, wie ich hoffe, meinem Onkel und meiner Cousine nahe sein. Doch, ach«, er breitete die Hände aus, »ich treffe dort ein, und mein Onkel ist tot, meine Cousine ebenfalls, und ihr Mann, er ist in Ihr Land gekommen und hat wieder geheiratet. So habe ich ein zweites Mal meine Familie verloren. Und dann lese ich vom Verschwinden des bekannten Physikers Thomas Betterton, und ich komme zurück, um zu sehen, was man da tun kann.« Er verstummte und sah Jessop fragend an.
Jessop erwiderte den Blick mit ausdrucksloser Miene.
»Warum ist er verschwunden, Mr Jessop?«
»Genau das«, sagte Jessop, »wüssten wir auch gern.«
»Vielleicht wissen Sie es aber doch?«
Jessop konstatierte mit einigem Interesse, wie leicht sich ihre Rollen verkehren könnten. In diesem Büro stellte gewöhnlich er die Fragen. Mittlerweile führte dieser Fremde das Verhör.
Mit unverändert liebenswürdigem Lächeln entgegnete Jessop:
»Ich versichere Ihnen, wir wissen es nicht.«
»Aber Sie haben einen Verdacht?«
»Es ist nicht auszuschließen«, sagte Jessop vorsichtig, »dass die Sache einem gewissen Muster entspricht … Es hat bereits ähnliche Vorkommnisse gegeben.«
»Ich weiß.« Der Besucher rasselte ein halbes Dutzend Fälle herunter. »Alles Wissenschaftler«, sagte er bedeutungsvoll.
»Ja.«
»Sind sie hinter den Eisernen Vorhang gegangen?«
»Das ist eine Möglichkeit, aber mit Bestimmtheit wissen wir es nicht.«
»Aber sie sind aus freien Stücken gegangen?«
»Selbst das«, entgegnete Jessop, »ist schwer zu sagen.«
»Sie meinen, es geht mich nichts an?«
»Ich bitte Sie!«
»Aber Sie haben recht. Wenn es mich interessiert, dann nur wegen Betterton.«
»Sie werden sicher verzeihen«, wandte Jessop ein, »wenn ich Ihr Interesse nicht ganz nachvollziehen kann. Schließlich ist Betterton für Sie doch nur ein angeheirateter Verwandter. Sie kennen ihn nicht einmal persönlich.«
»Das ist wahr. Aber für uns Polen ist die Familie sehr wichtig. Es gibt Verpflichtungen.« Er stand auf und verbeugte sich steif. »Ich bedaure es, Ihre Zeit über Gebühr in Anspruch genommen zu haben, und danke Ihnen für Ihre Zuvorkommenheit.«
Jessop stand ebenfalls auf.
»Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht behilflich sein können«, sagte er, »aber ich versichere Ihnen, dass wir vollkommen im Dunkeln tappen. Kann ich Sie irgendwie erreichen, wenn ich etwas Neues erfahren sollte?«
»Die US-Botschaft leitet Briefe an mich weiter. Ich danke Ihnen.« Wieder eine förmliche Verbeugung.
Jessop betätigte den Summer. Major Glydr verließ den Raum. Jessop nahm den Hörer ab.
»Bitten Sie Colonel Wharton zu mir.«
Als Wharton das Zimmer betrat, sagte Jessop:
»Endlich kommt die Sache in Bewegung.«
»Inwiefern?«
»Mrs Betterton möchte ins Ausland reisen.«
Wharton stieß einen Pfiff aus.
»Wiedersehen mit dem Göttergatten?«
»Ich mache mir gewisse Hoffnungen. Sie war mit einem zweckdienlichen Schreiben ihres behandelnden Arztes bewaffnet. Völlige Ruhe und ein Ortswechsel dringend angeraten.«
»Klingt gut!«
»Obwohl es natürlich auch wahr sein könnte«, schränkte Jessop ein. »Schlicht eine nach bestem Wissen gestellte Diagnose.«
»Dieser Sichtweise schließen wir uns hier nie an«, sagte Wharton.
»Stimmt. Ich muss aber zugeben, dass sie ihre Sache sehr gut gemacht hat. Fällt nicht einen Moment aus der Rolle.«
»Ich vermute, Sie haben nichts weiter aus ihr herausbekommen?«
»Eine schwache Spur. Die Speeder, mit der Betterton im Dorset lunchte.«
»Ja?«
»Er hat seiner Frau nichts von dem Lunch erzählt.«
»Oha.« Wharton dachte nach. »Sie halten das für relevant?«
»Wär möglich. Carol Speeder wurde vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe zitiert. Sie konnte sich entlasten, aber trotzdem … Ja, trotz des Freispruchs stand jetzt fest, oder zumindest stand es für das Komitee fest, wes Geistes Kind sie letztlich ist. Das könnte ein möglicher Kontakt sein. Der einzige, den wir bei Betterton bislang gefunden haben.«
»Wie sieht’s mit Mrs Bettertons Kontakten aus – gab es in letzter Zeit jemanden, der ihr die Idee mit der Auslandsreise in den Kopf gesetzt haben könnte?«
»Jedenfalls kein persönlicher Kontakt. Gestern bekam sie einen Brief von einem Polen. Einem Cousin von Bettertons erster Frau. Er war gerade eben bei mir, hoffte, Näheres zu erfahren, Sie wissen schon.«
»Wie ist er denn so?«
»Nicht koscher«, sagte Jessop. »Sehr ausländisch und korrekt, bestens informiert, als Person aber seltsam … unwirklich.«
»Glauben Sie, er war der Kontakt, der ihr den Tipp gegeben hat?«
»Wär möglich. Ich weiß es nicht. Ich werde aus ihm nicht schlau.«
»Lassen Sie ihn beobachten?«
Jessop lächelte.
»Ja. Ich habe zweimal auf den Summer gedrückt.«
»Sie alter Fuchs – immer mit Ihren Tricks!« Dann wurde Wharton wieder dienstlich. »Na schön, wie sieht der Fahrplan aus?«
»Janet, würde ich sagen, ansonsten das Übliche. Spanien oder Marokko.«
»Nicht die Schweiz?«
»Diesmal nicht.«
»Ich hätte eigentlich gedacht, dass Spanien oder Marokko schwierig für die Leute wäre.«
»Wir dürfen unsere Gegner nicht unterschätzen.«
Wharton schnippte mit dem Fingernagel angewidert gegen die Geheimdienstberichte.
»So ziemlich die einzigen zwei Länder, in denen Betterton bislang nicht gesichtet worden ist«, sagte er verdrießlich. »Na schön, wir werden alles organisieren. Herrgott, wenn wir die Sache diesmal vermasseln …«
Jessop lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Ich hab schon lange keinen Urlaub mehr genommen«, sagte er. »Dieses Büro hängt mir langsam zum Hals raus. Eine kleine Auslandsreise könnte mir guttun …«
Flug 108 nach Paris. Air France. Bitte hier entlang.«
Die Personen, die in der Lounge des Flughafens Heathrow gewartet hatten, standen auf. Hilary Craven ergriff ihren kleinen Reisekoffer aus Eidechsenleder und begab sich hinter den anderen hinaus auf die Rollbahn. Nach der Heizungsluft in der Lounge fühlte sich der scharfe Wind bitterkalt an.
Hilary fröstelte und raffte ihren Pelzmantel etwas enger um sich. Sie folgte den anderen Passagieren zu der wartenden Maschine. Das war’s! Sie war weg, auf der Flucht! Aus dem Grau, aus der Kälte, dem bleiernen, fühllosen Elend. Hin zu Sonne und blauem Himmel und einem neuen Leben. Sie würde diese ganze Schwere hinter sich lassen, diese erdrückende Last von Schmerz und Enttäuschung. Sie kletterte die Gangway ihrer Maschine hinauf, zog beim Einsteigen den Kopf ein und wurde vom Steward zu ihrem Sitz geführt. Zum ersten Mal seit Monaten spürte sie aufatmend, wie ihr Schmerz, der so durchdringend scharf gewesen war, dass er sich fast körperlich anfühlte, ein wenig nachließ. »Ich bin bald weg«, sagte sie hoffnungsvoll zu sich selbst. »Ich bin bald weg!«
Das donnernde Aufheulen der Flugzeugmotoren war mitreißend. Es schien eine elementare Wildheit zu besitzen. Gesitteter Kummer, dachte sie, ist der schlimmste Kummer. Grau und hoffnungslos. Aber jetzt, dachte sie, werde ich allem entfliehen!
Das Flugzeug rollte sanft die Startbahn entlang. Die Flughostess sagte:
»Bitte schnallen Sie sich an.«
Die Maschine vollführte eine halbe Drehung und blieb stehen, um auf die Startfreigabe zu warten. Hilary dachte: Vielleicht explodiert das Flugzeug ja … Vielleicht kommt es gar nicht erst vom Boden weg. Das wird dann das Ende sein, das wird die Lösung für alles sein. Sie schienen Ewigkeiten zu warten, weit draußen auf dem Flugfeld. Während sie auf die Startfreigabe wartete, auf das Zeichen zum Abflug in die Freiheit, dachte Hilary abwegigerweise: Ich werde niemals hier wegkommen, niemals. Man wird mich hier festhalten – in Gefangenschaft …
Ah, endlich!
Ein letztes Aufheulen der Motoren, dann setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Schneller, noch schneller, es raste dahin. Hilary dachte: Es wird nicht abheben. Das kann es nicht … Das ist das Ende. Ah, jetzt hatten sie sich anscheinend vom Boden gelöst. Das Flugzeug stieg nicht so sehr, als dass vielmehr die Erde zurückfiel, hinabstürzte, ihre Probleme und Enttäuschungen und Frustrationen mit sich hinunterriss, fort vom himmelstürmenden Geschöpf, das sich so stolz in die Wolken emporschwang. Immer höher hinauf, jetzt eine Kurve zurück, und unten der Flughafen, der wie ein Kinderspielzeug anzusehen war. Lustige kleine Sträßchen, komische kleine Eisenbahngleise mit Spielzeugzügen darauf. Eine lachhafte kindische Welt, in der Menschen liebten und hassten und einander das Herz brachen. Und nichts davon zählte, weil sie alle so lächerlich und so putzig winzig und ohne Bedeutung waren. Jetzt waren Wolken unter ihnen,