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Jenn Lyons eröffnet mit »Der Untergang der Könige« ein großes Epos um einen Jungen, der mitten hinein gerät in die Konflikte zwischen Adelshäusern, Zauberern und Dämonen. Hängt von ihm das Schicksal des ganzen Reiches ab? »Erzähl mir eine Geschichte.« Das Ungeheuer machte es sich vor den eisernen Gitterstäben von Kihrins Kerkerzelle bequem. Und der Junge aus den Elendsvierteln von Quur beginnt zu erzählen. Von seinem Leben als Dieb, von seinem Vater, der Harfe spielte, und ihn mit den Geschichten verschollener Prinzen und ihrer Abenteuer großzog. Davon, wie sein Unglück begann, als ihn ein Prinz für seinen verloren geglaubten Sohn hielt und er von nun an Macht und Intrigen einer Adelsfamilie ausgeliefert war. Was hat es aber mit Khirin auf sich, dass er später auf dem Sklavenmarkt zu einem unvorstellbar hohen Preis versteigert wurde? Und wie kam es dazu, dass er in der düsteren Gefängniszelle, bewacht von einem zum Plaudern aufgelegten Ungeheuer, landete? Vielleicht gehört Kihrin ja gar nicht zu den Helden, von denen die alten Sagen und Lieder erzählen. Vielleicht ist er auch nicht dazu bestimmt, die Welt zu retten – sondern sie zu vernichten. »Genau so muss epische Fantasy sein: opulent, prachtvoll, brillant, spannend, grausam, in einem Wort: rundherum überzeugend.« Lev Grossmann, Autor von »Fillory – Die Zauberer« »Lyons schreibt so gewaltig und schicksalhaft wie Patrick Rothfuss, choreografiert die Spannung so kunstvoll wie Brandon Sanderson. Damit gelingt ihr die Punktlandung in der Oberliga der High-Fantasy-Literatur.« Booklist
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Seitenzahl: 1081
Veröffentlichungsjahr: 2019
Jenn Lyons
Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter und Michael Pfingstl
Klett-Cotta
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Ruin of Kings. A Chorus of Dragons 1« im Verlag Tor Books, New York
© 2019 by Jenn Lyons
Für die deutsche Ausgabe
© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Illustration: © Lars Grant-West
Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96341-0
E-Book: ISBN 978-3-608-19175-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Teil
1
Ein Zwiegespräch zwischen einer Kerkermeisterin und ihrem Gefangenen
1
Die Sklavenauktion
(Kihrins Geschichte)
2
Das Haus Kazivar
(Klaues Geschichte)
3
Die Schwarze Bruderschaft
(Kihrins Geschichte)
4
Butterbauch
(Klaues Geschichte)
5
Aufbruch von Kishna-Farriga
(Kihrins Geschichte)
6
Der Vater der Krähe
(Klaues Geschichte)
7
Die
Kummer
(Kihrins Geschichte)
8
Ein Geschäft mit einem Engel
(Klaues Geschichte)
9
Seelen und Steine
(Kihrins Geschichte)
10
Ein Dämon aufder Straße
(Klaues Geschichte)
11
Ein Sturm zieht auf
(Kihrins Geschichte)
12
Hinter dem Schleier
(Klaues Geschichte)
13
Der entschlossene Zauberer
(Kihrins Geschichte)
14
Gutenachtgeschichten
(Klaues Geschichte)
15
Der zheriasische Schlund
(Kihrins Geschichte)
16
Die Belohnung des Generals
(Klaues Geschichte)
17
Der Alte Mann wird geweckt
(Kihrins Geschichte)
18
Was Jarith entdeckte
(Klaues Geschichte)
19
Ein Traum von einer Göttin
(Kihrins Geschichte)
20
Valathea
(Klaues Geschichte)
21
Die Insel Ynisthana
(Kihrins Geschichte)
22
Ein goldener Falke
(Klaues Geschichte)
23
Morgenmesse
(Kihrins Geschichte)
24
Die Klaue des Falken
(Klaues Geschichte)
25
Tiefer in den Dschungel
(Kihrins Geschichte)
26
Ein Unglückliches Wiedersehen
(Klaues Geschichte)
27
Schwester Kalindra
(Kihrins Geschichte)
28
Die besten Heiler
(Klaues Geschichte)
29
Teraeths Rückkehr
(Kihrins Geschichte)
30
Familienzusammenführung
(Klaues Geschichte)
31
Tyentso am Strand
(Kihrins Geschichte)
32
Lady Miya
(Klaues Geschichte)
33
Was dem Drachen gehört
(Kihrins Geschichte)
34
Versprechen
(Klaues Geschichte)
35
Alarmsignale
(Kihrins Geschichte)
36
Das Schloss hält
(Klaues Geschichte)
37
Der neue Lehrer
(Kihrins Geschichte)
38
Der Hohe Lord
(Klaues Geschichte)
39
Auf der Suche nach Musik
(Kihrins Geschichte)
40
Zwischenspiel in einem Schlachthaus
(Klaues Geschichte)
41
Weigerung
(Kihrins Geschichte)
42
Der jüngere Sohn
(Klaues Geschichte)
43
Der Handel mit dem Drachen
(Kihrins Geschichte)
44
Fechtstunde
(Klaues Geschichte)
45
Riscoria-Tee
(Kihrins Geschichte)
46
Die Gruft
(Klaues Geschichte)
47
Die Mutter aller Bäume
(Kihrins Geschichte)
48
Familienessen
(Klaues Geschichte)
49
Wichtige Lektionen
(Kihrins Geschichte)
50
Die Frau des Erblords
(Klaues Geschichte)
51
Der Felsengarten
(Kihrins Geschichte)
52
Dunkle Seiten
(Klaues Geschichte)
53
SchnellTraining
(Kihrins Geschichte)
54
Die Kutschfahrt
(Klaues Geschichte)
55
Der Richterspruch Bleichen Dame
(Kihrins Geschichte)
56
Das Oktagon
(Klaues Geschichte)
57
Geisterspaziergang
(Kihrins Geschichte)
58
Der Preis der Freiheit
(Klaues Geschichte)
59
Kharas Gulgoth
(Kihrins Geschichte)
60
Die Einladung
(Klaues Geschichte)
61
Die Wächter des Käfigs
(Kihrins Geschichte)
62
Der Greif-Ring
(Klaues Geschichte)
63
Eine Unterhaltung mit dem Tod
(Kihrins Geschichte)
64
Das Fest der D’Lorus
(Klaues Geschichte)
65
Katermittel
(Kihrins Geschichte)
66
Das Spiel
(Klaues Geschichte)
67
Die Zerstörung von Ynisthana
(Kihrins Geschichte)
68
In der Höhle des Löwen
(Klaues Geschichte)
69
Der missratene Sohn
(Kihrins Geschichte)
70
Die Rückkehr des Raben
(Klaues Geschichte)
71
Heimreise
(Kihrins Geschichte)
72
Der Neujahrsball
(Klaues Geschichte)
73
Rückkehr zum Haus des Roten Schwerts
(Kihrins Geschichte)
74
Diebstahl und Mord
(Klaues Geschichte)
75
Konfrontationen
(Kihrins Geschichte)
76
Verrat
(Klaues Geschichte)
77
Gadrith
(Kihrins Geschichte)
78
Der Leuchtturm von Shadrag Gor
(Klaues Geschichte)
Teil
2
Die Entzweiung
(Thurvishar – eine Bemerkung am Rande)
79
Die Anfänge der Dämonenforschung
80
Der Blaue Palast
81
Die Grenzlande
82
Magiertreffen
83
Xaltoraths Tochter
84
Das Duell der D’Lorus
85
Todesfront
86
Wiederkehr
87
Eidbruch
88
Miyas Geschenk
89
Abschied
90
Schlussbemerkung
Anhang I
Glossar
Anhang II
Die Adelshäuser
Anhang III
Hinweise zur Aussprache
Anhang IV
Die Herrscherhäuser der Vané
Für David, von dem der erste Same stammte, und für Mike, der mir half, daraus eine ganze Welt wachsen zu lassen. Außerdem für Kihrins drei Väter: Steve, Katt und Patrick. Ohne euch wäre er nicht derselbe.
Euer Majestät,
im Folgenden findet Ihr eine vollständige Schilderung der Ereignisse, die dazu führten, dass die Hauptstadt niederbrannte. Vieles im ersten Teil basiert auf einer nachträglich niedergeschriebenen Unterhaltung zwischen zwei Personen, die an den Vorgängen maßgeblich beteiligt waren. Spätere Passagen beruhen auf meiner eigenen Rekonstruktion. Wo immer möglich habe ich Augenzeugenberichte einfließen lassen, und wenn ich mich zu Abschweifungen genötigt sah, habe ich mich stets bemüht, die Ereignisse in ihrem Kern streng wahrheitsgetreu darzustellen. Ergänzend ist der Bericht mit meinen Anmerkungen und Schlussfolgerungen versehen, die Euch hoffentlich hilfreich sind.
Ich bitte um Nachsicht, sollte ich Euch über Dinge belehren, in denen Ihr Euch weitaus besser auskennt als ich. Nach reiflicher Überlegung erschien mir das jedoch ratsamer, als davon auszugehen, all dies sei bekannt.
Ich hoffe, ein möglichst umfassendes Bild aller Begebenheiten wird Euch dazu bewegen, dem Erblord gegenüber Milde walten zu lassen. Diejenigen Ratsmitglieder, die für eine Anklage wegen Hochverrats und die Todesstrafe plädieren, kennen gewiss nicht die ganze Geschichte.
Euer Diener
Thurvishar D’Lorus
Teil 1
»Erzähl mir eine Geschichte.« Das Ungeheuer machte es sich vor den eisernen Gitterstäben von Kihrins Kerkerzelle bequem. Sie legte einen unscheinbaren kleinen Stein vor sich auf den Boden und stieß ihn in seine Richtung.
Klaue sah nicht wie ein Ungeheuer aus, sondern wie eine hübsche junge Frau um die zwanzig. Ihre Haut hatte den goldenen Ton von Weizen, und ihre glatten Haare waren braun. Die meisten Männer hätten sonst was dafür gegeben, einen Abend in der Gesellschaft einer solchen Schönheit verbringen zu dürfen. Allerdings wussten die meisten Männer auch nicht, dass sie ihren Körper in die schlimmsten Schreckensgestalten verwandeln konnte. Sie verhöhnte ihre Opfer, indem sie das Aussehen ihrer getöteten Liebsten annahm, bevor auch sie ihr zum Opfer fielen. Dass sie Kihrin in diesem Kerker bewachte, war in etwa so, als hätte man einem Hai die Aufsicht über ein Aquarium gegeben.
»Du machst wohl Witze.« Kihrin hob den Kopf und sah sie durchdringend an.
Klaue kratzte mit einem gefährlich aussehenden schwarzen Fingernagel am Mörtel der Wand hinter ihr herum. »Ich langweile mich.«
»Dann strick doch.« Der junge Mann erhob sich und ging zu den Gitterstäben. »Oder du machst dich nützlich und verhilfst mir zur Flucht.«
Klaue beugte sich vor. »Ach, mein Lieber, du weißt doch, dass ich das nicht kann. Jetzt komm, wir haben uns schon ewig nicht mehr unterhalten. Es gibt so viel zu erzählen, und es wird noch eine ganze Weile dauern, bis sie so weit sind. Erzähl mir alles, was du erlebt hast. Das wäre ein guter Zeitvertreib … bis dein Bruder zurückkommt und dich umbringt.«
»Nein.« Er sah sich nach etwas um, an dem sich sein Blick festhalten konnte, aber die fensterlosen Wände waren vollkommen kahl und boten keinerlei Ablenkung. Das einzige Licht im Raum stammte von einer magischen Lampe außerhalb der Zelle. Kihrin konnte kein Feuer mit ihr entfachen, dabei hätte er so gerne seine Strohmatratze angezündet – wenn er nur eine gehabt hätte.
»Langweilst du dich nicht auch?«, fragte Klaue.
Kihrin unterbrach die Suche nach einem geheimen Fluchttunnel. »Wenn sie zurückkommen, werden sie mich einem Dämon opfern. Nein, ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich langweile.« Er sah sich erneut im Raum um.
Mit Magie könnte er entkommen. Indem er das Tenyé der Stäbe veränderte und das Eisen aufweichte oder die Mauersteine so spröde machte wie vertrocknetes Laub – wenn Klaue nicht jede seiner Bewegungen beobachten würde. Noch schlimmer war allerdings, dass sie jeden Fluchtgedanken lesen konnte, sobald er ihm in den Sinn kam.
Und sie schlief nie.
»Aber ich esse«, kommentierte sie seine Überlegungen mit funkelndem Blick, »vor allem, wenn ich mich langweile.«
Er verdrehte die Augen. »Du wirst mich nicht töten. Diese Ehre gebührt jemand anderem.«
»Ich hielte es nicht für Mord, sondern für deine Rettung. Deine Persönlichkeit würde für alle Zeiten in mir fortbestehen, zusammen mit …«
»Hör auf.«
Klaue verzog das Gesicht und inspizierte betont beiläufig ihre spitzen Fingernägel.
»Und da du meine Gedanken sowieso lesen kannst, muss ich dir gar nicht erzählen, was passiert ist. Bediene dich einfach bei meinen Erinnerungen – so wie du mir auch alles andere genommen hast.«
Sie erhob sich. »Langweilig. Außerdem habe ich dir nicht alles genommen. Ich habe mir nicht alle deine Freunde geholt. Und auch nicht deine Eltern.« Klaue schwieg einen Moment. »Na ja, zumindest nicht deine richtigen.«
Kihrin starrte sie an.
Sie lachte und lehnte sich zurück. »Soll ich wirklich gehen? Wenn du mir keine Geschichte erzählst, besuche ich deine Eltern. Mit denen hätte ich bestimmt meinen Spaß. Allerdings würde ihnen unsere Begegnung wohl weniger Freude bereiten.«
»Das wagst du nicht.«
»Wer sollte mich davon abhalten? Deine Eltern sind ihnen egal. Denen geht es nur um ihren kleinen Plan, und für den brauchen sie weder deine Mutter noch deinen Vater.«
»Das bringst du nicht …«
»O doch!«, fauchte Klaue mit unmenschlich schriller Stimme. »Spiel nach meinen Regeln, Blauauge. Sonst trage ich bei meiner Rückkehr ein Kleid aus der Haut deiner Mutter, mit den Gedärmen deines Vaters als Gürtel. Und dann spiele ich dir wieder und wieder vor, wie sie gestorben sind, bis dein Bruder zurückkommt.«
Kihrin kehrte ihr schaudernd den Rücken zu und lief in seiner Zelle auf und ab. Er musterte den leeren Eimer und die dünne Zudecke, die in einer Ecke lag. Er suchte die Wände, die Zellendecke und den Boden ab. Er inspizierte die eisernen Gitterstäbe und das Schloss. Sogar sich selbst klopfte er ab, für den Fall, dass seinen Häschern etwas entgangen war, als sie ihm seine Waffen, die Dietriche, den Intaglio-Ring und seine Talismane abgenommen hatten. Einzig die Halskette hatten sie ihm gelassen. Die interessierte sie nicht, obwohl sie ein Vermögen wert war.
»Also gut, wenn du es so siehst …«, sagte Kihrin schließlich. »Wie könnte ich mich da weigern?«
Klaue hob die Hände vors Gesicht und klatschte begeistert. »Wunderbar.« Sie nahm den Stein und warf ihn Kihrin zu.
Er fing ihn auf. »Was ist das?«
»Ein Stein.«
»Klaue …«
»Ein magischer Stein«, sagte sie. »Erzähl mir nicht, dass ein Mann in deiner Lage nicht an magische Steine glaubt.«
Kihrin sah sich den Stein genauer an und runzelte die Stirn. »Jemand hat sein Tenyé verändert.«
»Ein magischer Stein eben.«
»Und was kann er noch mal?«
»Er hört zu. Da du die Geschichte erzählst, hältst du ihn fest. So sind die Regeln.« Sie grinste. »Erzähl von Anfang an.«
1
(Kihrins Geschichte)
Als sie mich auf das Versteigerungspodest führten und ich den Blick über die Menge schweifen ließ, dachte ich: Hätte ich ein Messer, würde ich euch alle töten.
Und wenn ich nicht nackt wäre, fügte ich hinzu.
Außerdem war ich in Ketten. Ich hatte mich noch nie so hilflos gefühlt, und …
Wie, du glaubst mir nicht, dass das der Anfang ist, Klaue?1
Was meinst du überhaupt mit »Anfang«? Wessen Anfang? Meiner? So gut erinnere ich mich nicht daran. Deiner? Du bist Tausende von Jahren alt und hast dir die Erinnerungen ebenso vieler Opfer einverleibt. Du bist doch diejenige, die diese Geschichte hören will. Und das wirst du auch, aber zu meinen Bedingungen und nicht deinen.
Also noch mal von vorn.
Die Stimme des Auktionators dröhnte durch das Amphitheater: »Los Nummer sechs an diesem Morgen ist ein schönes Exemplar. Was für ein Gebot höre ich für diesen menschlichen Doltarimann?2 Er ist ein ausgebildeter Musiker mit einer ausgezeichneten Singstimme und erst sechzehn Jahre alt. Seht euch seine goldenen Haare an, diese blauen Augen und das hübsche Gesicht. Möglicherweise fließt sogar Vané-Blut in seinen Adern! Er ist eine willkommene Bereicherung für jeden Haushalt, aber wohlgemerkt nicht kastriert, meine Damen und Herren, also macht ihn besser nicht zum Aufseher über euren Harem!« Der Auktionator drohte anzüglich grinsend mit dem Finger, wofür er ein paar halbherzige Lacher erntete. »Das Eröffnungsgebot liegt bei zehntausend Ords.«
Mehrere seiner Zuhörer schnaubten amüsiert über den Preis.
Er war zu hoch.
An dem Tag sah ich völlig wertlos aus. Die Sklavenmeister von Kishna-Farriga hatten mich zwar gebadet, aber die Waschbürste hatte die offenen Peitschenstriemen auf meinem Rücken hellrot anlaufen lassen. Und nachdem ich monatelang in Ketten gelegen hatte, konnten meine kupfernen Armbänder die Abschürfungen an den Handgelenken kaum verbergen. Die dicken Blasen an meinem linken Fußknöchel waren entzündet und eitrig. Ich war von den typischen Quetschungen und Beulen übersät, die einen aufsässigen Sklaven kennzeichnen, und ich zitterte vor Hunger, aber auch wegen des steigenden Fiebers. Zehntausend Ords war ich auf keinen Fall wert. Nicht mal hundert.
Um ehrlich zu sein, ich hätte mich selbst nicht gekauft.
»Ach, seid doch nicht so, meine lieben Leute! Ich weiß, wie er aussieht, aber ich verspreche euch, er ist ein Rohdiamant, den man nur noch schleifen muss, damit er erstrahlt. Außerdem wird er euch keine Schwierigkeiten bereiten, denn seht her, ich halte sein Gaesch in der Hand! Will niemand hier zehntausend Ords für das Gaesch dieses hübschen jungen Sklaven ausgeben?« Mit diesen Worten streckte der Auktionator den Arm aus und präsentierte eine angelaufene Silberkette. Etwas Glänzendes baumelte von ihr herab, das im Sonnenlicht funkelte.
Die Menge konnte keine Einzelheiten erkennen, aber ich wusste, was er da hochhielt: einen von der salzhaltigen Luft schwarz verfärbten Silberfalken. Ein Teil meiner Seele war in dem Metall gefangen – das war mein Gaesch.
Er hatte recht, ich würde niemandem mehr Probleme machen. Nie wieder. Einen Sklaven mit einem Gaesch zu kontrollieren, ist ebenso wirkungsvoll wie grausam. Eine Hexe hatte einen Dämon beschworen, der mir ein Stück meiner Seele entrissen und auf dieses billige Souvenir übertragen hatte, das der Auktionator nun vor sich hielt. Jeder, der diesen verdammten Gaesch-Anhänger trug, konnte mich zu allem zwingen, wonach ihm der Sinn stand. Ganz gleich, was es war. Sollte ich einen Befehl verweigern, blühte mir ein qualvoller Tod. Also würde ich ausnahmslos alles tun, was der Besitzer meines Gaesch von mir verlangte, egal, wie sehr es mir widerstrebte oder wie abstoßend ich es fand.
Ich stand vor der Wahl, entweder zu gehorchen oder zu sterben.
Mein Körper mochte nicht viel wert sein, aber der gängige Preis für die Seele eines Menschen beträgt in Kishna-Farriga zehntausend Ords.
Die Menge wurde unruhig und betrachtete mich mit anderen Augen. Ein widerspenstiger Halbwüchsiger war das eine. Ein Halbwüchsiger, den man heilen, parfümieren und dazu bringen konnte, sich jeder Laune seines Eigentümers zu unterwerfen, dagegen etwas ganz anderes. Ich zitterte, aber nicht wegen der warmen Brise, die über meine nackten Arme strich.
Wenn man etwas für Sklavenversteigerungen übrighatte, war heute ein herrlicher Tag dafür. Die Sonne schien, es war heiß, und vom Hafen wehte der Gestank der ausgenommenen Fische herüber. Die möglichen Käufer hatten es sich auf gepolsterten Stühlen bequem gemacht, geschützt von Papierschirmen und Sonnensegeln.
Kishna-Farriga gehört zu den Freien Staaten3, die keinem ihrer Nachbarn Gefolgschaft schulden und ihre Unabhängigkeit den ständig wechselnden politischen Spannungen jenseits ihrer Grenzen verdanken. Länder, die keine direkten Handelsbeziehungen miteinander unterhalten wollen, nutzen Kishna-Farriga als Umschlagplatz für ihre Waren – darunter auch für Sklaven wie mich.
Ich selbst kannte nur die Sklavenmärkte des quurischen Oktagon, mit seiner unübersichtlichen Vielzahl von Privatgemächern und Auktionssälen. Die Sklavengruben in Kishna-Farriga hingegen sind längst nicht so raffiniert konstruiert und in einem einzigen Freiluft-Amphitheater untergebracht, das direkt neben dem berühmten Hafen aufragt. Auf den ansteigenden Steinstufen finden höchstens dreitausend Besucher Platz. Es passiert nicht selten, dass ein Sklave, der auf einem Schiff ankommt, nach kurzem Aufenthalt in den Zellen unter dem Amphitheater noch am selben Tag den Besitzer wechselt und wieder von dort aufbricht – während er die ganze Zeit den Geruch von totem Fisch in der Nase hat.
Ein bezaubernder Ort.
»Höre ich zehntausend?«, meldete sich der Auktionator wieder zu Wort.
Da sie nun sicher sein konnte, dass ich zahm war, hob eine in Samt gekleidete und offensichtlich »professionelle« Dame die Hand. Ich verzog das Gesicht. Auf keinen Fall wollte ich in ein Bordell zurück, aber ich befürchtete, dass es genau darauf hinauslief. Schließlich war ich alles andere als hässlich, und die meisten, die sich einen gegaeschten Sklaven leisten konnten, wollten die Anschaffungskosten auch wieder hereinholen.
»Zehntausend. Sehr gut. Höre ich fünfzehntausend?«
Ein fetter Kaufmann in der zweiten Reihe sah mich lüstern an und hob ein kleines rotes Fähnchen, um sein Interesse zu bekunden. Ich betrachtete die Farbe als Warnsignal. Als Meister wäre er nicht besser für mich als die Puffmutter, und vielleicht sogar noch schlimmer – egal, wie viel ich wert war.
»Fünfzehntausend! Höre ich zwanzigtausend?«
Ein Mann in der ersten Reihe hob die Hand.
»Zwanzigtausend. Sehr gut, Lord Var.«4
Lord Var? Wo hatte ich diesen Namen schon mal gehört?
Mein Blick blieb an ihm hängen. Er war ein ganz gewöhnlicher, mittelgroßer Mann, weder zu dünn noch zu dick und auf sympathische Weise unscheinbar. Seine Kleidung wirkte modisch, aber nicht extravagant. Er hatte schwarze Haare und olivbraune Haut wie die Quurer westlich der Drachenspitzen, doch seine Stiefel waren hoch und besaßen feste Schäfte, wie sie in den Ostlanden üblich sind. Vielleicht war er ein Jorat oder ein Yor. Sein Hemd allerdings erinnerte eher an die typische marakorische Kleidung als an eine Mischa oder den Usigi-Umhang der Eamithonen.
Kein Schwert und auch keine anderen sichtbaren Waffen.
Das einzig Bemerkenswerte an ihm waren seine selbstbewusste Haltung und die Tatsache, dass der Auktionator ihn kannte. Lord Var widmete dem Mann seine gesamte Aufmerksamkeit, während er mich kaum eines Blickes würdigte. Genauso gut hätte er auf ein paar Blechteller bieten können.
Ich betrachtete ihn genauer. Er trug keinen Schutz, weder offen noch verborgen, nicht einmal einen Dolch hatte er in einem seiner staubigen Stiefel stecken. Dennoch saß er ganz vorn, und keiner der zahlreichen Taschendiebe, die ich in der Menge entdeckt hatte, traute sich an ihn heran.
Ich war zwar noch nie in Kishna-Farriga gewesen, man musste jedoch kein Einheimischer sein, um zu wissen, dass nur ein Narr ohne Leibwächter zu einer solchen Auktion ging.
Ich schüttelte den Kopf und konnte mich kaum noch konzentrieren. Die Welt schien bloß aus Lärm, Licht und Kältewellen zu bestehen, die vermutlich von meinem Fieber herrührten. Eine meiner Wunden hatte sich entzündet. Wenn sich nicht bald ein Heiler darum kümmerte, würde irgendein bemitleidenswerter Trottel mit mir den teuersten Briefbeschwerer aller Zeiten erwerben.
Reiß dich zusammen. Ich blendete alles aus, die Menge, die Signale der Bieter und die Lage, in der ich mich befand, und ließ den Ersten Schleier von meinen Augen gleiten. Dann sah ich mir Var noch einmal an.
Ich hatte schon immer die Gabe besessen, hinter den Ersten Schleier blicken zu können. Eine Zeit lang hatte ich sogar gedacht, dass sie mich eines Tages aus den Elendsvierteln der Hauptstadt retten würde. Damals war ich noch so naiv zu glauben, es gäbe kein schlimmeres Schicksal als ein Leben in Armut.
Es existieren drei Welten, die einander überlappen, und jede davon wird von einer der Schwestern regiert: die Welt der Lebenden, die Welt der Magie und die Welt der Toten.5 Wie alle Sterblichen leben wir in Tajas Reich, doch schon als Kind erkannte ich, dass die Gabe, hinter den Ersten Schleier in Tyas magischen Herrschaftsbereich blicken zu können, einen immensen Vorteil bedeutet. Hinter den Zweiten Schleier können allein die Götter sehen, aber ich gehe davon aus, dass uns allen dieser Blick vergönnt sein wird, sobald wir die letzte Reise in das antreten, was dahinter liegt, in Thaenas Totenreich.
Jeder Zauberer trägt Talismane. Sie prägen diesem an sich wertlosen Nippes ihre eigenen Auren auf, um sich gegen die magischen Angriffe anderer Zauberer zu schützen. Talismane können sehr unterschiedlich aussehen, und ein kluger Magier verbirgt sie, indem er sie als Schmuckstücke tarnt oder in den Saum seiner Kleidung einnäht. Zauberer sind nicht leicht zu erkennen … es sei denn, man kann hinter den Ersten Schleier blicken und die mit Talismanen verstärkte Aura wahrnehmen, die einen echten Magier verrät.
So wie ich bei Relos Var. Zwar konnte ich keinen Talisman an ihm entdecken, aber seine Aura war furchterregend. Eine derart intensive und deutlich zu bemerkende Prägung hatte ich noch nie zuvor gesehen.6
Weder beim Toten Mann, noch bei Tyentso …
Und nein, meine bezaubernde Klaue, nicht einmal bei dir.
Mir wollte zwar nicht einfallen, woher ich seinen Namen kannte, aber ich konnte den Mann mit einem Wort beschreiben: gefährlich. Doch wenn ich Glück hatte …
Aber wem sollte ich jetzt noch etwas vormachen? Meine Glückssträhne war längst gerissen. Ich hatte meine Göttin, die sowohl die guten als auch die üblen Geschicke lenkt, erzürnt und ihre Gunst verloren. Ich wagte nicht einmal zu hoffen, dass Lord Var mich besser behandeln würde als die anderen. Es war egal, wer mich kaufte, ich würde so oder so bis ans Ende meiner Tage versklavt sein. Einem normalen Sklaven bleibt wenigstens noch die leise Hoffnung auf Flucht oder darauf, dass er sich eines Tages freikaufen kann. Gegaeschte Sklaven dagegen können nicht weglaufen, und es würde sie auch niemand befreien. Dafür sind sie einfach zu teuer.
»Zwanzigtausend sind geboten. Höre ich fünfundzwanzigtausend?«, rief der Auktionator, doch er war nicht mehr richtig bei der Sache, da er die Versteigerung schon für beendet hielt. Er konnte mit sich zufrieden sein. Zwanzigtausend Ords waren mehr, als er erwartet hatte.
»Zwanzigtausend zum Ersten, zum Zweiten. Und …«
»Fünfzigtausend«, ertönte eine klare Stimme von einer der oberen Sitzreihen.
Ein Raunen ging durch die Menge. Ich reckte den Hals, um zu sehen, wer das Gebot abgegeben hatte. In dem großen Rund blieb meine Suche zunächst erfolglos, doch dann sah ich, wie sich immer mehr Köpfe in Richtung dreier Gestalten mit schwarzen Kapuzenumhängen drehten.
Der Auktionator verpasste vor Verblüffung fast seinen Einsatz. »Die Schwarze Bruderschaft bietet fünfzigtausend. Höre ich fünfundfünfzigtausend?«
Der Mann, den er Lord Var genannt hatte, nickte dem Auktionator verärgert zu.
»Fünfundfünfzigtausend. Höre ich sechzigtausend?« Jetzt, da ein Bieterwettstreit entbrannt war, wirkte der Auktionator plötzlich wieder hellwach.
Eine der drei schwarz gekleideten Gestalten hob ein rotes Fähnchen.
»Sechzigtausend.« Der Auktionator nickte in ihre Richtung.
Ein Großteil der Leute blickte von Lord Var zu seinen verhüllten Kontrahenten. Die Auktion hatte sich zu einem heiß umkämpften Wettbewerb entwickelt.
»Höre ich fünfundsiebzigtausend?«
Var nickte erneut.
»Ich habe fünfundsiebzig. Höre ich hundert?« Der Auktionator sah das rote Fähnchen der schwarzen Gestalten aufsteigen. »Ich habe einhundert von der Bruderschaft. Höre ich hundertfünfzig?«
Var nickte.
»Hundertfünfzig. Höre ich zweihundert?« Das rote Fähnchen hob sich. »Ich habe zweihundert. Höre ich zweihundertfünfzig?« Var runzelte die Stirn, dann hob er kaum merklich die Finger. »Ich habe zweihundertfünfzig von Lord Var. Bietet die Schwarze Bruderschaft fünfhundert?«
Sie tat es.
Plötzlich musste ich einen starken Würgereiz unterdrücken, der nichts mit meiner Infektion zu tun hatte. War je ein Sklave so teuer verkauft worden? Es gab keinen Verwendungszweck, der einen derart hohen Preis rechtfertigte. Weder als Musiker noch als Lustknabe. Außer …
Ich kniff die Augen zusammen.
Ob sie wider alle Wahrscheinlichkeit wussten, wer ich war? Und was ich trug? Fast hätte ich an meine Halskette gegriffen. Der Schellenstein daran war diesen Preis wert und noch viel mehr, aber ich hatte ihn verborgen – mit dem einzigen Zauberspruch, den ich kannte.
Ich mochte gegaescht sein, man konnte mir jedoch nicht befehlen, etwas herauszugeben, von dem niemand wusste, dass ich es besaß.
»Die Schwarze Bruderschaft bietet eine halbe Million. Höre ich siebenhundertfünfzigtausend?« Die Stimme des Auktionators zitterte. Sogar er wirkte überrascht von der Zahl, die er gerade ausgesprochen hatte.
Lord Var zögerte.
»Lord Var?«, fragte der Auktionator.
Var verzog das Gesicht und warf den drei Gestalten einen bösen Blick zu. »Ja«, sagte er schließlich.
»Ich habe siebenhundertfünfzigtausend von Lord Var. Höre ich eine Million?«
Die schwarzen Gestalten zögerten keine Sekunde.
Lord Var stieß einen lauten Fluch aus.
»Eine Million Ords zum Ersten, zum Zweiten und …«, der Auktionator zögerte angemessen lange, »… zum Dritten. Verkauft an die Schwarze Bruderschaft für eine Million Ords. Meine Damen und Herren, damit haben wir einen neuen Rekord!« Das Ende seines Stabes krachte auf den Boden.
Ich musste mich sehr beherrschen, nicht dasselbe zu tun.
2
(Klaues Geschichte)
… ihn mir zurück.
Natürlich habe ich dir den Stein weggenommen. Nun werde nämlich ich deine Geschichte weitererzählen.
Was heißt hier wieso? Ich bin jetzt dran. Und warum auch nicht? Es macht mir Spaß, und du kannst nicht das Geringste dagegen tun. Du willst ja nicht von Anfang an erzählen, also werde ich das übernehmen. Es hat keinen Sinn, Teile deiner Geschichte vor mir zu verheimlichen. Damit beschützt du niemandes Erinnerungen, nicht einmal deine eigenen. Ich werde dir jetzt deine Geschichte erzählen, damit du weißt, wie sie abgelaufen ist, und zwar aus der Sicht eines anderen. Genau genommen aus der Sicht vieler anderer. Denn das ist es, was ich bin: viele Augen. Daran kann keiner etwas ändern. Nicht einmal du, mein Lieber.
Hör auf, dich zu wehren. Diese Gitterstäbe sind dicker als dein Schädel.
Die Geschichte handelt von einem Jungen namens Krähe.
Ah. Dachte ich mir doch, dass dich das interessiert.
Eigentlich hieß er Kihrin7, aber er nannte sich gerne Krähe, weil der Name ihn anspornte und außerdem zu seinem Beruf passte: Krähe war ein Dieb, und zwar ein ganz besonderer – ein sogenannter Schlüssel. Er saß gerne auf den höchsten Simsen, wo er allein mit den Vögeln seinen Gedanken nachhing und Gaunereien plante. Er träumte vom Fliegen, von Freiheit und einer Welt, in der niemand ihn in Ketten legen konnte.
Was ziemlich ironisch ist, wenn man darüber nachdenkt.
Aber leider bekommen wir so gut wie nie, was wir uns erträumen, richtig?
Er war fünfzehn. In Quur galt er damit noch nicht als volljährig, doch er war zu alt, als dass man ihn noch als Kind hätte bezeichnen können. Wie alle, die zwischen zwei Welten gefangen sind, hasste er beide und sehnte sich gleichzeitig nach ihnen. Er selbst betrachtete sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr als Kind. Damals war seine Lehrerin gestorben, und er hatte sich zum ersten Mal als Schlüssel der Schattentänzer verdingt.8
Vielleicht hatte Krähe ja recht, denn in den Elendsvierteln des Unteren Zirkels bleibt niemand lange ein Kind. Und die armen obdachlosen Gören, die sich Banden wie den Schattentänzern anschlossen, wurden noch schneller erwachsen.
Als Dieb hatte Krähe nur eine einzige Schwäche, die ihm schließlich zum Verhängnis werden sollte.
Er war neugierig.
Krähe hatte den Einbruch in das Haus eines wohlhabenden Händlers9 im Kupferviertel fast eine ganze Woche lang geplant. Der Mann war zur Hochzeit seiner Tochter gereist und würde erst in zwei Wochen zurückkehren. Damit blieb Krähe mehr als genug Zeit, das leere Haus auszukundschaften.
Als er jedoch dort ankam, merkte er, dass bereits jemand da war, allerdings aus ganz anderen Beweggründen als er.
Wenn du mich heute fragen würdest, ob es einen Zeitpunkt gab, der alles verändert hat, würde ich dir diesen einen Tag nennen – als du in das Haus Kazivar eingebrochen und aus reiner Neugier geblieben bist, obwohl es klüger gewesen wäre abzuhauen.
Aber du bist nicht weggelaufen, und deshalb ist das für mich der Anfang.
Der junge Mann geriet auf dem Fenstersims kurz ins Taumeln und stieß einen leisen Fluch aus. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, spähte er in das schwach beleuchtete Zimmer. Abgesehen von den Schreien, die aus dem Inneren des Hauses drangen, herrschte absolute Stille. Erst jetzt merkte er, dass er den Atmen angehalten hatte. Das eigenartige Kribbeln in seinen Fingerspitzen tat er als Angst ab und ließ sich vom Sims ins Innere der Villa gleiten.
Drinnen schob er den Schlüsselring mit den Plättchen zurück unter seinen Gürtel. Die meisten Plättchen waren aus Holz – Bambus, Mahagoni, Zypresse und auch aus ein paar exotischen Sorten wie Kiefer und Eiche. Daneben hingen welche aus Glas, außerdem Keramikplättchen, die aus einheimischem Lehm gefertigt waren. Mit diesen Hilfsmitteln konnte er herausfinden, ob ein Haus verzaubert war oder ob jemand zum Beispiel Wachmänner angeheuert hatte, die Fenster und Türen mit Magie gegen Eindringlinge versiegelten. Schlüssel wie er beherrschen zwar selbst keine Magie, können jedoch hinter den Ersten Schleier blicken und feststellen, ob eine Tür, ein Schloss oder eine Kiste mehr sind, als sie zu sein scheinen. Für einen Dieb wie ihn bedeutete diese Fähigkeit den Unterschied zwischen Erfolg und einem jähen, blutigen Ende seiner kriminellen Laufbahn.
Der Fensterrahmen bestand aus geschnitztem Teakholz, die Scheiben waren aus trübem Glas. So weit war alles ganz normal. Keine Fallen und keine Zauberei.
Aber die Schreie. Diese Schreie aus dem Inneren des Hauses waren nicht normal. Da drin litt jemand schlimmere Schmerzen, als selbst ein Straßenkind wie Krähe es in seinen fünfzehn Lebensjahren je erlebt hatte.
Der junge Dieb schloss das Fenster hinter sich und ließ seinen Augen Zeit, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Er fragte sich, wer hier misshandelt wurde. War es der Eigentümer des Hauses (wie hieß dieser Händler noch mal?), der gerade geschlagen wurde? Oder war er derjenige, der eine schreckliche Bestrafung vornahm? Vielleicht war die Reise in den Norden ja nur vorgetäuscht und in Wirklichkeit befriedigte er gerade seine perverse Vorliebe für Folterungen oder Schlimmeres.
Das Schlafzimmer, in dem sich Krähe befand, war einschüchternd groß und vollgestopft mit den protzigen Filigranarbeiten und Fliesen, für die man die kaiserlichen Handwerker überall rühmte. Das riesige Bett war mit Baumwollsatin bezogen, an den Wänden und über den Diwans hing Tapisserieware, und auf allen Abstellflächen standen elegante Statuetten aus schwerer Bronze oder Jade.
Vor der nördlichen Wand erstreckte sich ein geräumiger Balkon, der den überdachten Innenhof der Villa überblickte. Die Schreie kamen aus dem Hofgarten im Erdgeschoss.
Erleichtert stellte Krähe fest, dass er vom Hof aus nicht bemerkt werden konnte. Das war wichtig, weil an diesem Abend jeder außer seinem blinden Vater perfekte Sicht hatte: Alle drei Monde waren aufgegangen und strahlten mit der violett-rot-grünen Aurora von Tyas Schleier um die Wette. Es war eine Nacht für Zauberer, in der man Magie wirken oder sie umgehen konnte. Denn wenn Tyas Schleier am Himmel erscheint, ist es leichter, hinter den Ersten Schleier und in ihr Reich zu »sehen«.10
Das Schlafgemach war noch vor Kurzem benutzt worden. In der Luft hing Parfümgeruch, genau wie in den Laken, die zurückgeschlagen und zerknüllt auf der Matratze lagen. Die verstreuten Kleidungsstücke deuteten auf ein Rendezvous hin, das etwas aus dem Ruder gelaufen war.
Aber das ging ihn nichts an.
Mit geübtem Blick fand er rasch das Geld und den Schmuck, die auf einen Beistelltisch geworfen worden waren. Während er lauschte, verstaute er alles in seiner Gürteltasche.
Worte drangen zu ihm herauf.
»Es ist doch ganz simpel«, erklärte eine samtige Männerstimme. »Sag uns einfach, wo der Schellenstein ist, und wir bereiten deinen Schmerzen ein Ende.«
Die Antwort wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen. »Ich … O Göttin! … Ich habe es euch doch gesagt … Ich weiß nicht, wo er ist!«
Krähe fragte sich, ob die Stimme einer Frau gehörte. Er verengte die Augen zu Schlitzen. Wenn sie eine Frau schlugen … Er riss sich zusammen. Was kümmerte es ihn, wen sie schlugen? Er sagte sich, dass er jetzt kein Idiot sein durfte.
»Der Stein wurde zuletzt bei Königin Khaeriel gesehen, als sie starb«, sagte eine andere, kältere Stimme. »Er wurde nie wiedergefunden. Ihre Dienstmagd ist mit ihm durchgebrannt, aber sie hat ihn nicht mehr. Hat sie den Stein zum neuen König geschmuggelt?«
König?, dachte Krähe. Königin? In Quur gab es jede Menge Prinzen und Prinzessinnen, aber weder König noch Königin. Quur war das prächtigste, größte und einflussreichste Kaiserreich, das es je gegeben hatte – und je geben würde. Quur wurde von einem Kaiser regiert, der so unsterblich und mächtig war wie ein Gott. Er duldete keine »Könige«.
»Ich weiß es nicht! Seit Jahren hat niemand mehr Miyathreall gesehen. Woher soll ich wissen, wo sie ist, falls sie überhaupt noch lebt?«
Krähe war sich nun sicher, dass das Opfer ein Mann war, der aber mit sehr hoher Stimme sprach. Am liebsten hätte er einen kurzen Blick riskiert, doch er hielt sich zurück. Sich einzumischen wäre Wahnsinn. Er hatte keine Ahnung, wer diese Männer waren, sie klangen jedoch, als ob man ihnen besser nicht in die Quere kam.
»Hältst du uns für Idioten?«, knurrte die erste Stimme. Sie wirkte nun sehr wütend. »Wir wissen, für wen du arbeitest. Wir hätten dir mehr Macht und Geld gegeben, als du dir in deinen wildesten Träumen vorstellen kannst, aber du hast unser großzügiges Angebot ausgeschlagen. Du wirst uns dennoch alles sagen, und wenn es die ganze Nacht dauert …«
Krähe hörte ein eigenartiges Gurgeln, dann fingen die Schreie wieder an. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, doch er schüttelte den Kopf und machte sich erneut an die Arbeit. Nichts von alldem ging ihn etwas an. Er war nicht als Wohltäter hier.
Er blickte ein weiteres Mal hinter den Ersten Schleier. Seine Sicht vermischte sich mit Regenbogenfarben und hell funkelnden Lichtern. Es war, als hätte er Tyas Aurora vom Himmel herabgezogen. Zwar konnte er nicht wie ein Zauberer hinter diesen Schleier greifen und eine Veränderung erzwingen, aber oft genügte es, einfach nur zu schauen.
Hinter dem Ersten Schleier konnte er die verschiedensten Stoffe präzise voneinander unterscheiden, und das sogar im Dunkeln. Gold hatte eine bestimmte Aura, Silber eine andere und Diamanten wiederum eine noch andere. Edelsteine leuchteten sogar nachts, als reflektierten sie Licht. Ein Schlüssel wie er konnte ein Zimmer betreten und zielsicher die eine Goldmünze finden, die irgendwo unter einem Kissen versteckt war. Das war der andere Grund, warum gewöhnliche Diebe die Schlüssel so sehr beneideten. Doch auch sie können über einen Teppich stolpern und sich den Hals brechen. Dagegen hilft nur Aufpassen.
In einer dunklen Ecke entdeckte Krähe den Regenbogenglanz wertvoller Steine. Dort waren ein paar Schätze abgelegt und offenbar vergessen worden: ein Dolch aus Drussian, ein Beutel mit Kräutern und ein gravierter Rubinring.
Außerdem entdeckte Krähe einen großen, ungeschliffenen grünen Stein an einer Silberkette. Um das Rohjuwel war so etwas wie Silberdraht gewickelt, doch sein Blick verriet ihm, dass es sich nicht um Silber handelte, und der Stein war eindeutig kein Smaragd. Der Dieb betrachtete den Stein mit gerunzelter Stirn und blickte dann über die Schulter in die Richtung, wo sich die drei Männer »unterhielten«. Die Kräuter ließ er liegen, schnappte sich aber die Halskette und den Ring, bevor er den Dolch unter den Gürtel schob.
Und da war sie wieder: Krähes Neugier. Er hatte schon oft Schmuck gestohlen, in all den Jahren war ihm jedoch noch nie eine solche Halskette untergekommen. Bis auf einmal …
Er zog ihr Gegenstück unter dem Hemd hervor. Der Stein, den er um den Hals trug, war indigoblau und sah aus wie ein Saphir, war aber keiner. Um ihn war ein gelber Draht gewickelt, augenscheinlich Gold, aber auch das war eine Täuschung. Sowohl der falsche Saphir als auch der falsche Smaragd waren ungeschliffen, mit scharfen Kristallkanten und glatten Facetten. Die beiden Halsketten besaßen zwar verschiedene Farben, doch in ihrer Art und Gestaltung waren sie identisch.
Er konnte seine Neugier nicht länger im Zaum halten.
Krähe legte sich auf den Bauch und robbte Zentimeter für Zentimeter an die Balkonbalustrade heran, bis er schließlich in den Innenhof sehen konnte. Er ließ den Ersten Schleier wieder an seinen Platz zurückgleiten und wartete ab, bis sich seine Augen an die Veränderung gewöhnt hatten.
Zwei Männer standen dort unten, der dritte war an einen Stuhl gefesselt. Im ersten Moment glaubte Krähe, er hätte sich getäuscht und das Opfer wäre gar kein Mann. Auf jeden Fall war es kein Mensch. Die dichten Ringellocken der sitzenden Gestalt waren unnatürlich pastellblau und sahen aus wie flauschige Zuckerwatte oder Wolkenränder bei Sonnenuntergang. Das Gesicht war breit und fein geschnitten, im Moment zwar schmerzverzerrt und blutverschmiert, aber dennoch herzzerreißend schön.
Krähe hätte beinahe laut aufgeschrien, als er erkannte, dass der Gefangene ein Vané war. Er hatte noch nie einen gesehen.
Seine Folterer hingegen waren eindeutig Menschen. Im Vergleich zu dem Vané sahen sie schmutzig und hässlich aus. Einer der beiden bewegte sich mit der Grazie eines Tänzers und schien unter seinen wässrig blauen Seidengewändern ausschließlich aus Muskeln zu bestehen. Der andere trug einen dicken schwarzen Umhang, der scharf von seiner eigenartig hellen Haut abstach. Sie war nicht braun wie die eines gewöhnlichen Quurers, sondern blass und unansehnlich wie abgeschabtes Pergament. Die beiden gaben ein merkwürdiges Paar ab. Von den Stickereien auf seinem Hemd über die Kniehose bis hin zu dem juwelenbesetzten Degen an seiner Hüfte war der Erste durch und durch ein Anhänger weltlicher Genüsse, der andere wirkte wie das Musterbild eines Asketen.11
Krähe stellten sich die Nackenhaare auf, als er den bleichen Mann musterte. Irgendetwas an ihm war falsch, verdorben, ungesund. Es lag nicht an seinen kohlrabenschwarzen Augen und Haaren, die nicht weiter ungewöhnlich wirkten, sondern an etwas schwer Greifbarem. Irgendwie hatte Krähe das Gefühl, einen Toten zu betrachten, der unter den Lebenden wandelte. Wie das Spiegelbild eines Leichnams, das zwar lebendig wirkte, es aber nicht war.
Krähe gab ihnen die Namen Schönling und Toter Mann12 und hoffte, keinem der beiden je von Angesicht zu Angesicht begegnen zu müssen.
Er fürchtete sich davor, was ihm sein Blick offenbaren würde, doch nach kurzem Zögern sah er erneut hinter den Ersten Schleier – und zuckte zusammen. Es war noch schlimmer, als er geargwöhnt hatte. Der Schönling trug jede Menge Schmuckstücke – von denen jedes ein Talisman sein konnte.
Beide Männer waren Zauberer. Sie hatten die scharfen Auren, die laut Maus das Kennzeichen der Magi waren, denen man um jeden Preis aus dem Weg gehen musste.
Die Aura des Toten Mannes entsprach seiner restlichen Erscheinung: Sie war ein Loch im Licht um ihn herum.
Krähe bekam eine Gänsehaut und wäre am liebsten davongerannt.
Der Schönling nahm ein Stilett und rammte es dem Vané in den Bauch. Der Gefangene bäumte sich auf, riss an seinen Fesseln und stieß einen so schmerzerfüllten Schrei aus, dass Krähe vor Mitgefühl laut aufkeuchte.
»Warte«, sagte der Tote Mann. Er schob den Schönling zur Seite und zog das Stilett aus dem Bauch des Vané, der mit verzweifeltem Gurgeln in sich zusammensackte.
Der Tote Mann neigte den Kopf zur Seite und lauschte.
Krähe begann in Gedanken, ein Mantra aufzusagen, das ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte: Ich bin nicht hier. Ohne Leib, unsichtbar, unhörbar, nicht anwesend. Ich bin nicht hier …
»Ich höre nichts«, sagte der Schönling.
»Ich schon«, entgegnete der Tote Mann. »Bist du sicher, dass niemand im Haus ist?«
Der junge Dieb versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen und seine Atmung zu beruhigen, sie ganz einzustellen, sodass er weder zu sehen noch zu vernehmen war. Wie hatte der Tote Mann ihn trotz des Schreis hören können? Ich bin nicht hier. Ohne Leib, unsichtbar, unhörbar, nicht anwesend …
»Ja, ich bin mir sicher. Der Eigentümer verheiratet gerade seine Tochter an irgendeinen närrischen Ritter in Kazivar. Er wird erst in zwei Wochen wiederkommen.«
Diese Antwort schien den Toten Mann zufriedenzustellen, der seine Aufmerksamkeit wieder dem Vané zuwandte. »Ich glaube, er hat uns alles erzählt, was er weiß. Es wird Zeit für unseren Notfallplan.«
Der Schönling seufzte. »Ist das wirklich nötig?«
»Ja.«
»Ich hatte gehofft, wir könnten uns unseren neuen Freund für einen anderen Tag aufheben und ich müsste nicht schon wieder das Blutritual durchführen. Klaue kann nicht überall sein – und nicht alle gleichzeitig imitieren. Die Leute werden anfangen, Fragen zu stellen, wenn zu viele meiner Familienmitglieder unter ungeklärten Umständen verschwinden.«
»Dann kannst du von Glück reden, dass deine Familie so groß ist.« Der Tote Mann drehte sich um und blickte in die Schatten in einer Ecke des Innenhofs. »Hast du genügend Informationen, um ihn zu finden?«
Albtraumhaftes Gelächter hallte durch Krähes Verstand.
~O JA. ICH HABE IHN IN SEINEM GEIST13GESEHEN.~
Krähe unterdrückte einen überraschten Ausruf und biss sich auf die Lippe. Die Stimme war nicht zu hören gewesen, sie hatte sich ungebeten in seine Gedanken gedrängt.
Diese Stimme …
Der Tote Mann streckte eine Hand nach dem Vané aus. Seine Miene blieb vollkommen ungerührt, doch auf gewisse Weise wirkte diese Geste bedrohlicher als die Folter des Schönlings. Ein dünner Energiestrom floss aus den Augen des Vané, seiner Stirn und der Brust und sammelte sich in der Hand des Toten Mannes zu einer Kugel aus blassviolettem Feuer.
Während ihm der letzte Rest seiner Seele aus dem Körper gesaugt wurde, weiteten sich die Pupillen des Vané, dann wurde sein Blick leer.
Der Tote Mann stopfte etwas Festes, amethystblau Funkelndes in die Tasche seines Umhangs.
»Was ist mit der Leiche?«, fragte der Schönling.
Der Tote Mann seufzte und vollführte eine letzte Geste. Ein Knistern und Krachen ertönte, als erneut Energie floss, diesmal jedoch aus den Fingern des Toten Mannes und auf sein Opfer zu.
Krähe drehte sich der Magen um, als er sah, wie das Fleisch des Vané wie Schnee von seinem Körper schmolz, bis nur noch seine blutige Kleidung und ein merkwürdig sauberes Gerippe übrig waren.
Ein paar endlos scheinende Sekunden lang wirbelte die blutige Masse einem roten Gifthauch gleich um die Knochen herum. Dann schwebte sie auf die Schatten zu, wo sich in diesem Moment ein Dämon aus der Dunkelheit schälte, sein gigantisches Maul aufriss und alles verschluckte.
»Scheiße!«, presste Krähe zwischen den Zähnen hervor und wusste sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte – wahrscheinlich einen tödlichen.
Der Tote Mann schaute zum Balkon hinauf. »Da oben ist jemand.«
»Er wird ihn sich schnappen«, sagte der Schönling. »Du. Fass.«
Krähe gab allen Anschein von Tarnung auf und rannte zum Fenster.
3
(Kihrins Geschichte)
Ich bin wieder dran? Wie großzügig von dir, Klaue. Woher willst du eigentlich wissen, was ich in dieser Nacht gedacht habe? Nein … vergiss es.14
Wo war ich? Ach ja.
Aufgrund meines Fiebers und der Verletzungen trafen meine neuen Besitzer nach der Auktion noch vor mir im Verkaufsraum ein. Wie die Totenrichter im Land des Friedens warteten sie dort auf mich, drei stumme Schatten mit so tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, dass sie eigentlich so gut wie blind sein mussten.
Die rechte Gestalt war eine Frau und ziemlich groß, falls sie aus dem Westen von Quur stammte, aber nicht größer als die meisten Doltari oder Quurer aus dem Osten. Die linke war geradezu riesig. Er oder sie überragte den Zweitgrößten im Raum (in dem Fall mich) um einen halben Fuß. Die mittlere Gestalt wirkte alt und gebeugt. Sie humpelte auf meinen Begleiter zu, einen kastrierten Sklavenmeister aus Kishna-Farriga namens Dethic. Dabei streckte sie die Hand aus, die in einem schwarzen Seidenhandschuh steckte.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort.
»Das Gaesch«, verlangte die kleine Gestalt schließlich.
Ich erschrak vor ihrer Stimme, die so verzerrt war, dass sie unwirklich erschien. Sie klang wie Gletschereis, das eine Bergflanke sprengt, oder Brandungswellen, die an scharfkantige Felsen schlagen. Angesichts meiner Lage erschien mir diese Stimme wie ein schlechtes Omen.
Dethic schluckte. »Ja, natürlich. Aber … es gibt Vorschriften. Ihr versteht sicher, dass vor Aushändigung der Ware zunächst der vollständige Kaufpreis …«
»Das würde ich auch gerne sehen«, sagte Relos Var, der soeben eingetreten war. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie so viel dabeihaben.«
Die linke Gestalt (die große) griff in ihren Umhang und zog einen schwarzen Samtbeutel hervor. Darin befand sich eine goldene Halskette, die sie nun herauszog und für alle sichtbar vor sich hielt. Der Wert der Goldkette verblasste allerdings im Vergleich zu den zwölf Diamanten, die daran befestigt waren, jeder von ihnen so groß wie ein Fingernagel, birnenförmig und mitternachtsblau, mit einem funkelnden weißen Stern im Inneren.
Mir wurde noch schwindeliger. Eine Halskette mit Sternentränen. Zwölf Stück. Alle in Größe und Farbe identisch. Wie viele dieser Juwelen gab es überhaupt?
Dethic war verblüfft. »Sternentränen! Bei den Göttern. Die sind unbezahlbar.«15
»Genau wie der Junge«, gab die rauhe Stimme zurück.
»Ihr habt den Versteigerungsrekord gebrochen.« Dethic, der vermutlich an seine Provision dachte, schien ganz aus dem Häuschen.
»Wenn das mal keine Fälschung ist«, sagte Lord Var. »Lasst mal sehen.«
Die Gestalt mit der Kette fuhr zu ihm herum, hob die Hände und streifte die Kapuze zurück. Ich hätte es bereits an der Körpergröße erkennen müssen: Er war ein Vané.
Vor ihm hatte ich nur sehr wenige gesehen – ausnahmslos farbenfrohe kirpische Vané. Dieser hier wirkte anders, eher wie jemand, der zu oft im Feuer gespielt hatte. Seine Haut schimmerte wie Kohle, seine langen Haare fielen ihm mattschwarz über die Schultern, und die Augen sahen aus wie dunkle Smaragde. Er war zwar so hübsch wie alle Vané, aber mit scharfen Gesichtszügen und kantigem Körperbau. Seine Schönheit erinnerte an eine Klinge, nicht an Blumen.
Ich hatte keine Ahnung, wie alt er sein mochte. Nach allem, was ich wusste, hatte er vielleicht sogar die Gründung des Kaiserreichs Quur miterlebt. Er sah zwar nur ein paar Jahre älter aus als ich, aber das hatte nichts zu bedeuten. Die Vané sind ein ewig junges Volk.
Allein das war für meine Vorfahren wahrscheinlich Grund genug gewesen, sie zu hassen und die kirpischen Vané aus dem Land zu vertreiben, das sie als ihr Eigentum betrachteten. Kaiser Kandors Invasionsarmee rückte an, und die Vané unterlagen. Sie flohen aus ihren Waldbehausungen und sahen entsetzt zu, wie Quur sich Kirpis einverleibte.
Aber dieser hier war kein kirpischer Vané.
Im Süden von Quur liegt das andere Königreich der Vané: Manol. Die manolischen Vané nehmen sich im Vergleich zu den kirpischen Blumen wie dunkle Edelsteine aus und lassen sich nicht so einfach überrennen. Dort fand die unaufhaltsame Ausweitung des quurischen Reichs ein jähes und unerwartetes Ende, als Kaiser Kandor fiel, erschlagen von einem manolischen Vané. Sein sagenumwobenes Schwert Urthaenriel – besser bekannt als »Göttertöter« – ging irgendwo im Dschungel verloren, zusammen mit einer ganzen Generation quurischer Männer. Kandors Nachfolger sollten zwar noch zwei weitere neue Herrschaftsgebiete erobern, aber nach seinem Tod hatte die quurische Expansion beträchtlich an Schwung verloren. Von diesem Zeitpunkt an sahen die manolischen Vané keine Bedrohung mehr in Quur und ignorierten uns einfach.
Der Vané hob eine Augenbraue. »Die Sternentränen sind echt, Relos Var. Aber glaubt Ihr wirklich, ich wäre so dumm, sie Euch in die Hand zu geben?«
Der Zauberer verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
»Du. Untersuche du sie.« Der Vané reichte mir die Halskette mitsamt dem Beutel.
Dethic sah verwirrt aus. »Aber, Herr …«
»Schon gut«, flüsterte ich, ohne den dunkelhäutigen Vané aus den Augen zu lassen. »Ich bin geübt darin, den Wert von Edelsteinen zu beurteilen.«
Ich hatte vor zu lügen. Schließlich war ich ein Quurer und er ein manolischer Vané. Ich wusste zwar nicht, was er mit mir vorhatte, aber es war bestimmt nichts Gutes. Dass er für mich eine Goldkette mit Sternentränen eintauschen wollte, war nicht nur maßlos übertrieben, sondern vor allem auch unheimlich. Mein ganzes Leben lang hatte ich von dieser Halskette gehört. In meinen Augen war ihre Geschichte genauso anrüchig wie die des Schwerts Urthaenriel oder der Krone und des Zepters von Quur.
Und mit einem Mal wusste ich, auf wessen Seite ich mich schlagen musste: Dieser Relos Var schien mir ganz klar das geringere Übel. Mit zitternden Fingern hielt ich die Diamantenkette in die Höhe und bewegte die Steine so, dass sich das Licht in ihnen fing.
»Du kennst dich mit Edelsteinen aus? Hervorragend.« Dethics Miene wurde nachdenklich. »Aber lüg mich nicht an. Sag die Wahrheit. Sind das Sternentränen?«
Ich unterdrückte einen Seufzer. An dieser Stelle hätte alles enden können. Wenn ich gelogen und ihm weisgemacht hätte, die Steine wären gefälscht, hätte ich mein Glück mit Relos Var versuchen können. Doch Dethic hatte mein Gaesch und hielt mit diesem Metallamulett einen Teil meiner Seele in der Hand. Daher musste ich seinen direkten Befehlen gehorchen. Wie für praktisch alle gegaeschten Sklaven galt für mich noch ein ganzer Haufen weiterer Regeln, an die ich permanent gebunden war: Es war mir verboten zu fliehen, meinen Meister zu töten oder seine Befehle zu ignorieren (obwohl mir diese letzte Regel unnötig redundant erschien). Andererseits war ich nicht dazu verpflichtet, die Bedürfnisse meines Meisters vorauszuahnen oder stets in seinem besten Interesse zu handeln. Diese Schlupflöcher konnte ich nutzen.
Die ganze elende Geschichte hätte also genau in diesem Moment enden können, wenn er mir nicht befohlen hätte, die Wahrheit zu sagen.
Ich nahm die Diamanten erneut in Augenschein. Sie waren makellos. Begnadete Hände hatten sie vor Urzeiten so geschliffen, dass man glaubte, in den Edelsteinen wären echte Sterne eingeschlossen.
Ich öffnete den Samtbeutel, und alle konnten hören, wie die Halskette klirrend hineinglitt. Allerdings bemerkte niemand, dass ich meine Kupferarmbänder nicht mehr trug.
Ich bin sehr gut darin, Dinge zu verstecken.
»Sie sind echt.« Ich gab Dethic den Beutel und kratzte mich, soweit es meine Fesseln zuließen, im Nacken. Dabei hakte ich die gestohlene Halskette bei meiner eigenen ein und verbarg beide unter meinen langen Haaren.
Das war’s. Sofern Dethic meinen Betrug nicht bemerkte, war ich soeben für den Preis zweier Kupferarmbänder an die Schwarze Bruderschaft verkauft worden.
Es ist nicht so, dass ich fand, meine Seele wäre nicht mehr wert, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich bei meinem Verkauf nicht auch ein wenig mitverdiente.
Lord Var wandte sich an meine neuen Meister. »Mitglieder der Bruderschaft, wir standen immer auf gutem Fuß miteinander. Wollt Ihr unsere Freundschaft wirklich wegen eines einzelnen Sklaven riskieren?«
»Ihr habt nichts, was uns interessieren würde«, entgegnete der Vané ungerührt, ehe er sich zu Dethic umwandte. »Du bist bezahlt worden. Jetzt gib mir das Gaesch.«
»Gib es ihm nicht«, befahl Relos Var.
Dethic zögerte.
»Ihr habt in dieser Angelegenheit nichts mehr mitzureden«, sagte der Vané.
»Ich will diesen jungen Mann«, knurrte Relos Var.
Der Vané grinste höhnisch. »Vielleicht solltet Ihr ihm erst ein paar Geschenke schicken, bevor Ihr anfangt, ihn zu umwerben.«
Die Luft im Raum war mittlerweile zum Schneiden dick, und ich fragte mich, ob die Schwarze Bruderschaft mich vielleicht nur gekauft hatte, damit Relos Var mich nicht bekam. Im Grunde hielt ich das sogar für die wahrscheinlichste Erklärung. Außer sie wussten, wer ich wirklich war und dass ich den Schellenstein um den Hals trug.
Außer … Dieses »außer« erschien mir leider allzu plausibel. Mein Magen krampfte sich zusammen. Auf keinen Fall wollte ich zum Spielball in einem politischen Machtkampf werden. Bei den Göttern, noch mehr Intrigen! Wie sehr ich diese politischen Winkelzüge verabscheute. Hätte ich doch bloß verschwinden können. Aber ich wagte es ja nicht einmal, auch nur an das Wort »Flucht« zu denken, da mich das Gaesch sofort auseinanderreißen würde, wenn ich es tat.
»Ist Euch eigentlich klar, mit wem Ihr Euch anlegt?«, fragte Var.
Der Vané lächelte. »Ich habe Euch mit Eurem Namen angesprochen, schon vergessen?«
»Dann gibt es keine Entschuldigung für Eure Unverschämtheit.«
Der Vané zuckte mit den Schultern. »Ihr bekommt ihn nicht, weder jetzt noch in Zukunft. Warum haltet Ihr Euch nicht weiter an yorische Jünglinge? Irgendwo in den Bergen muss es doch noch einen flinken Achtjährigen geben, der der Aufmerksamkeit Eurer Lakaien bislang entgangen ist.«
Aus dem Kapuzenumhang der kleinsten Gestalt drang ein Geräusch, das wie zwei aneinanderschabende Granitblöcke klang: Er, sie oder es lachte.
Zögernd streckte Dethic die Hand mit dem Silberfalken aus. Die beiden Männer starrten den Anhänger an, als würden sie ihn jeden Moment an sich reißen, ganz gleich, ob sie den Zuschlag erhalten hatten oder nicht.
»Ihr macht einen großen Fehler, junger Vané«, sagte Relos Var. »Ich werde Euch in Erinnerung behalten.«
Der Vané grinste wie ein Raubtier. »Bitte nennt mich nicht ›junger Vané‹. Todfeinde sollten einander immer beim Namen nennen.«
»Dafür haltet Ihr Euch? Für meinen Todfeind? Hat das Saugen an Thaenas Zitzen Euch gierig nach einem schnellen, grausamen Tod gemacht?« Relos Var schien diesen Gedanken amüsant zu finden. »Wie lautet also Euer Name?«
»Teraeth.« Die Augen des Vané leuchteten16, und ein höhnischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. Ich wusste zwar nicht, woher sein starker Hass auf den Mann kam, aber er war ihm deutlich anzumerken. Instinktiv wich ich mehrere Schritte zurück – nicht weil ich fliehen wollte, sondern um nicht mit Blut bespritzt zu werden.
»Teraeth?«, wiederholte Relos Var. »Du hast nicht die Farbe dieses Stammbaums, außer …« Er schaute den Vané triumphierend an. »Du bist nicht nur arrogant, sondern auch ein Narr. Dein Vater Terindel ist nicht hier, um dich zu retten, kleiner Vané, und jemandem wie mir hast du nichts entgegenzusetzen.«
»Ganz recht, Terindel ist nicht hier«, sagte die Gestalt mit der schrecklichen Stimme. »Aber ich bin es. Und ich werde meinen Sohn beschützen, Zauberer.«
Der Magier fuhr mit wütend gerunzelter Stirn herum, doch dann schien ihm plötzlich klar zu werden, wer sich unter der Kapuze verbarg. »Khaemezra. Schlau. Sehr schlau.«
»Es ist schon eine Weile her, Relos.« Die Worte hätten eine freundliche Begrüßungsfloskel sein können, wäre da nicht diese eisige Kälte in der Stimme gewesen.
»Wir könnten uns gegenseitig helfen, Hohepriesterin. Unsere Ziele sind gar nicht so verschieden.«
»Glaubst du das wirklich, mein armes Kind? Dumm. Aber du hast den Tod ja schon immer mit Vernichtung verwechselt.«
Var verengte die Augen und sah aus, als würde er jeden Moment anfangen zu knurren. »Von allen Lebewesen solltet Ihr die Unausweichlichkeit am besten verstehen.«
»Das wahre Problem könnte sein, dass ich sie besser begreife als du.«
Relos Var konnte unmöglich Blickkontakt mit der alten Frau herstellen, die immer noch ihre Kapuze trug, aber ich bildete mir ein, dass sie einander anstarrten. Der Zauberer schien unbedingt seinen Willen mit ihrem messen zu wollen und behielt sie fest im Blick.
Doch dann erschauderte er und drehte sich weg.
Unter der Kapuze der Priesterin drang ein abfälliges Geräusch hervor, gefolgt von einem trockenen Kichern.
Var wandte sich wieder Teraeth zu. »Wir sind noch nicht fertig miteinander.«
»Das hoffe ich doch sehr«, erwiderte der Vané. In seinem wölfischen Grinsen lag kein Hauch von Furcht.
Relos Var sah mich an.
Sein Gesicht verriet keine der Regungen, die ich erwartet hätte: keine Verärgerung, kein Mitleid, nicht einmal Lust oder Resignation. Stattdessen tobte Hass in seinen dunklen Augen, eine abgrundtiefe Bosheit, sengend wie Feuer. Dieser Blick versprach weder Rettung noch Erlösung. Ich wusste zwar nicht, wieso er mich hatte kaufen wollen, aber ganz offensichtlich waren seine Absichten im Kern verdorben.
Dieser Mann war nicht mein Freund.
»Jetzt habe ich dich gefunden und die Farbe deiner Seele gesehen«, flüsterte er mir zu.
Ein Dutzend scharfzüngiger Erwiderungen lag mir auf der Zunge, doch unter dem unheilvollen Blick des Zauberers waren meine Lippen wie zugenäht.
Schließlich machte Var auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Sogar die Mitglieder der Schwarzen Bruderschaft entspannten sich sichtlich, als er verschwunden war. Es war, als käme hinter dunklen Wolken plötzlich die Sonne zum Vorschein.
Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort.
Teraeth fing sich als Erster wieder und riss Dethic den Silberfalken aus den zitternden Fingern. »Nimm ihm diese Dinger ab.«
»Ich … wie bitte? Welche Dinger?« Dethic schaute noch immer blinzelnd in Richtung Tür. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Grauens – eine schreckliche Faszination, mit der ein Schaulustiger die Schneise der Verwüstung betrachten würde, die ein Amok laufender Dämon hinterlassen hatte.
Teraeth zwickte den Eunuchen in die Schulter. »Die Fesseln, Dethic. Ein gegaeschter Sklave muss nicht in Eisen geschlagen werden.«
Dethic schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was? Ach ja, entschuldigt bitte. Wird sofort erledigt.« Er fummelte die Schlüssel aus seiner Gürteltasche und befreite mich von den Ketten.
Ich zuckte zusammen, als sie zu Boden fielen. Ich hatte sie schon so lange getragen, dass ihr plötzliches Verschwinden mir nun eine andere Art von Schmerz verursachte.
»Auf dich ist Relos Var nicht wütend, Dethic«, fuhr Teraeth fort. »Geh ihm eine Weile aus dem Weg, dann wird er dich schon bald wieder vergessen haben. Vielleicht geben dir deine Meister ja ein paar Tage frei.«
»Gut, gut.« Dethic wirkte immer noch benommen. »Ich hole Eure Kutsche.« Damit rannte er stolpernd nach draußen.
Die drei Mitglieder der Bruderschaft wandten sich zu mir um.
»Wer seid ihr?«, fragte ich.
Teraeth lachte leise. »Hast du nicht aufgepasst?«
»Ich habe Namen gehört und ›Schwarze Bruderschaft‹. Aber das sagt mir nichts.«
Nun ergriff die dritte Gestalt das Wort, ihre Stimme klang weich und weiblich. »In Quur ist es nicht weiter schwierig, irgendwen anzuheuern, der etwas für dich stiehlt oder Leute zusammenschlägt. Aber wenn du möchtest, dass jemand ohne großes Aufsehen stirbt und auch tot bleibt …« Sie ließ das Ende des Satzes unausgesprochen.
Ich war durcheinander und am Ende meiner Kräfte, aber das konnte ich nicht so stehen lassen. »Die Priester von Thaena entscheiden, wer tot bleibt und wer nicht.«
Die alte Frau griff unter ihre Kapuze und zog ein Amulett hervor. Es war ein von roten Rosen und Elfenbein umrahmter rechteckiger schwarzer Stein – das Erkennungszeichen von Thaenas Jüngern.
Mir wurde kalt. Manche halten den Zweiten Schleier nicht für eine transparente Hülle, sondern für einen unergründlichen Zugang zu Thaenas Reich. Das letzte Portal, durch das keiner hereinkommt und alle nur hinausgehen, um zumeist als greinender Säugling in die Welt zurückzukehren und noch einmal ganz von vorne anzufangen. Die Kirche von Thaena hat zwar von allen die wenigsten Anhänger, aber jeder respektiert sie und versucht entweder, ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, oder fleht ihre Göttin um einen Gefallen an. Bring mir mein Kind zurück. Gib mir meine Familie wieder. Lass meine Liebsten wiederauferstehen.
Derlei Gebete verhallen ungehört, denn Thaena ist eine kaltherzige Göttin.
Und Relos Var hatte Khaemezra als ihre »Hohepriesterin« bezeichnet.
»Thaenas Priester – und Priesterinnen – haben Einfluss darauf, wer tot bleibt«, erklärte Teraeth, »aber aus irgendeinem Grund lässt die Bleiche Herrin nur selten jemanden zurückkehren, den wir geholt haben.«
»Aber Thaenas Priester tragen Weiß, nicht Schwarz …«
Ich gebe es ja zu: Ich hatte schon mal bessere Argumente vorgebracht.
Statt zu antworten, stieß Teraeth nur ein rauhes Lachen aus.
Khaemezra drehte sich wortlos weg von mir und hob die Arme. Lichtstrahlen schossen aus ihren seitlich weggestreckten Fingerspitzen und flossen zu einem großen runden Portal zusammen, das aus verworrenen Strängen glühender Magie bestand. Die Lichtstrahlen flackerten und schrumpften zusammen. Durch die Öffnung sah ich ein unwirtliches Land, aus Löchern in der gelben Erde stiegen Dampffontänen auf, darüber hing galliger Nebel.
Ich wartete, doch Khaemezra trat nicht hindurch. Teraeth ging auf das Portal zu, blieb jedoch stehen, als die alte Frau eine Hand hob. Sie zählte an den Fingern mehrere Sekunden ab, dann griff sie in die Luft, als wollte sie einen Vorhang schließen, und das Portal fiel wieder in sich zusammen.
Teraeth schaute sie fragend an. »Warum haben wir das Tor nicht benutzt?«
»Weil Relos Var nur darauf wartet.« Khaemezra wandte sich an das dritte Mitglied der Bruderschaft. »Kalindra, sobald wir fort sind, nimmst du die Kutsche und lockst ihn auf eine falsche Fährte. Nur für den Fall, dass er noch einmal Einwände gegen den Ausgang der Versteigerung erheben möchte. Später stößt du wieder zu uns.«
»Wie du wünschst, Mutter.« Die Frau verbeugte sich, drehte sich um und ging.
Der manolische Vané, Teraeth, der immer noch mein Gaesch hielt, musterte mich von Kopf bis Fuß. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. »Unauffällig bist du ja nicht gerade.«
»Ach ja? Und wann hast du zum letzten Mal in den Spiegel geschaut?«
Er warf mir einen finsteren Blick zu und streifte seinen Umhang ab. Darunter trug er eine schwarze Hose und eine über Kreuz geschnürte Tunika aus dünner Seide, die fast – aber nicht ganz – wie eine quurische Mischa aussah.
Teraeth reichte mir seinen Umhang. »Kannst du mit deinem verletzten Knöchel gehen?«
»Wenn ich muss.« Doch noch während ich das sagte, geriet ich plötzlich ins Wanken.
Der Vané warf seiner Mutter einen gereizten Blick zu, worauf die kleine Gestalt prompt zu mir herüberhumpelte und eine Hand auf mein verletztes Bein legte. Schmerz und Fieber ließen augenblicklich nach.