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»Lyons schreibt so gewaltig und schicksalhaft wie Patrick Rothfuss.« Booklist »Lyons jongliert souverän mit den Kernmotiven der Fantasy und stellt sie zuweilen sogar auf den Kopf. Und gleichzeitig verleiht sie ihren vielschichtigen Figuren eine enorme Tiefe und lässt sie episch-große Schlachten mit zahllosen Opfern schlagen.« Booklist Während die Dämonen durch das Empire wüten, treten die finsteren Pläne des Zauberers Relos Var immer offener zu Tage. So rückt die Erfüllung der alten Prophezeiung – und damit das Ende der Welt – näher denn je zuvor. Um Zeit zu gewinnen, versucht Kihrin den König der Manol Vané zu überzeugen, ein uraltes Ritual durchzuführen. Es betrifft die Unsterblichkeit dieses ganzen Volkes der Elben. Und Kihrin muss verzweifelt wahrhaben, dass er immer tiefer in die Verbindung zu dem Dämonenkönig Vol Karoth verstrickt ist. Wie kann er die Menschheit retten, wenn vielleicht von ihm selbst die größte Gefahr ausgeht? Diese Frage steht im Mittelpunkt dieses dritten Bandes der Drachengesänge.
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Seitenzahl: 1182
Veröffentlichungsjahr: 2021
Jenn Lyons
Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter und Michael Pfingstl
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Memory of Souls. A Chorus of Dragons 3« im Verlag Tor Books, New York
© 2020 by Jenn Lyons
Für die deutsche Ausgabe
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Illustration: © Lars Grant-West
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-96343-4
E-Book ISBN 978-3-608-11689-2
Erstes Vorwort
Zweites Vorwort
Teil I
Rituale der Nacht
1
Eine Unterbrechung
2
Der geschundene Himmel
3
Hexenjagd
4
Die Korthaenische Öde
5
Ein Magier, eine Herzogin und ein Soldat
6
Dornen und Knochen
7
Gehen drei Frauen in eine Schenke
8
Der unterirdische Weg
9
Die Hände eines Mörders
10
Vol Karoths Schatten
11
Keine Liebesgeschichte
12
Vier Abzweigungen
13
Der größte Anspruch
14
Die Sandtöchter
15
Ein Fundament aus Lügen
16
Eine beschwerliche Reise
17
Treueschwüre
18
Schlechte Träume
19
Die Stadt, die im Weg ist
20
Sie jagen in Rudeln
21
Die Seele in der Harfe
22
Unter einem grünen Himmel
23
Im Wald verirrt
24
Ein Gespräch zwischen Weidenruten
25
Keulfeld
26
Die Spiralquelle
27
Dunkle Sonne
28
Die älteste Vané
29
Das Badehaus
30
Geschichtszyklen
31
Der Versuch, ein Reich zu regieren
32
Der Steinbruch
33
Das Wesen der Macht
34
Im Dunkeln
35
Verlorene Lieben
36
Der Ausweg, mit dem keiner rechnet
37
Der Sternenhof
38
Tochter der Hölle
39
Ein nachgemachtes Königtum
40
Flachreliefs
41
Alte Loyalitäten
42
Regenbogendrache
43
Die Kutschfahrt
44
Den Drachen wecken
45
Das Haus am See
46
Stadt der Schlangen
47
Das Wesen der Seelen
48
Leere Glasflaschen
49
Ein Bankett der Rache
50
Eine Petition an die Vané
51
Drei kleine Worte
52
Der König der kirpischen Vané
53
Die Erinnerung der Seelen
54
Die Jagd nach Valathea
55
Ein Ausblick auf vergangene Leben
56
Die Königin der Manoler
57
Das schiefgegangene Ritual
58
Schlangen hüten
59
Heimliche Liebe
60
Die Wiederauferstehung der Götter
61
Der Klang von Knochen
62
Zurück aus der Dunkelheit
63
Abschied
Teil II
Dunkle Rituale
64
Schnee in Kishna-Farriga
65
Das Blumenparlament
66
Die Stimme des Himmels
67
Die Drohung des Königs
68
Der Tempel der Vilfar
69
Die Gelegenheit beim Schopf packen
70
Der Gott der Kleinen Häuser
71
Die Seidenfarm
72
Die Namen ihrer Väter
73
Bahl-Nimian
74
Wer sie einst waren
75
Der Tempel der Vilfar
76
Die Bedeutung von »reden«
77
Zufällige Begegnungen
78
Tödliche Improvisationen
79
Die erste Frage
80
Königsmörder
81
Auf der Suche nach Drachen
82
Ein nachgemachtes Königtum II
83
Das Kloster von Sherna-Veng
84
Königsfalle
85
Ein Rätsel für Baelosh
86
Suless’ Tod
87
Die Baumtunnel
88
Jedes Bordell der Welt
89
Die schreckliche Wahrheit
90
Ein nichtsnutziger Zauberer
91
Schwesternschaft
92
Rückkehr in Khorsals Palast
93
Unerwarteter Besuch
94
Vermeintliche Loyalitäten
95
Die Hyänenkönigin
96
Die Wunde in der Welt
97
Das Gesetz des Daynos
98
Traue keinem Zauberer
99
Spielregeln
100
Die Dämonenkönigin
101
Der schwarze König
102
Sinnlose Verschwendung
103
Lang lebe der König
Teil III
Todesrituale
104
Die andere Seite
105
Ungebetene Gäste
106
Wenn einen das Glück verlässt
107
Tanz auf dem Schlachtfeld
108
Der Feind unseres Feindes
109
Bücher und Münzen
110
Logische Fehlschlüsse
111
Rettung
112
Schulden
113
Der letzte Tanz
114
Epilog
Anhang I
Glossar
Anhang II
Stammbäume
Anhang III
Zeittafel
Karte: Die bekannte Welt
Danksagung
Für meine Mutter, Alexandra. Ich vermisse dich.
Euer Majestät,
hiermit übermittle ich Euch meine Chronik der jüngsten Vorfälle sowie Seneras Beschreibung aller Ereignisse, die zur Zerstörung von Atrine geführt haben.
Und ich bitte Euch, keines von beidem zu lesen.
Mir ist bewusst, dass das ein merkwürdiges Ansinnen ist, aber Zeit … ach, Zeit … ist ein Luxus, über den wir im Moment nicht verfügen. Daher ersuche ich Euch stattdessen, Euch die beigefügte Zusammenfassung von Seneras Buch zu Gemüte zu führen und dann umgehend zum Turm auf der Insel in der Mitte des Regenbogensees zu kommen. Die Krone und das Zepter kennen den Weg.
Ich kann nicht so lange auf Eure Hilfe warten, wie Ihr für die Lektüre der beiden Bücher brauchen würdet. Erst wenn Ihr hier seid, werden wir Euch die dafür nötige Zeit verschaffen können.
Und wenn wir sie stehlen müssen.
Ihr sollt wissen, dass ich Senera eine Abschrift dieser Chronik überlassen habe. Sie ihr vorzuenthalten hätte wenig Sinn, da sie ihren Inhalt ohnehin weissagen könnte. Doch ich hoffe, dass meine »freundliche« Geste sie davon abhalten wird, eine eigene Abschrift anzufertigen. Die Version, die sie besitzt, ist unvollständig, und ich möchte, dass das auch so bleibt.
Das Schicksal der ganzen Welt hängt davon ab.
Euer stets gehorsamer Diener
Thurvishar
Wie es dazu kam:
Zwei Tage nach dem Höllenmarsch in der Hauptstadt und Eurer Thronbesteigung beschloss Kihrin, der gerade das Schwert Urthaenriel an sich gebracht hatte, nach Jorat zu reisen, um den Schwarzen Ritter zu suchen. Der Plan war nicht ganz ausgereift. Ich glaube, er beschränkte sich auf: »Jemand, den Herzog Kaen und Relos Var so sehr hassen, muss mir sympathisch sein«.
Kihrin traf in einer Schenke auf Janel Theranon, den früheren joratischen Grafen von Tolamer. Sie hatte einen Torwächter des Hauses D’Aramarin bestochen, damit sie und Kihrin sich auch ganz sicher über den Weg liefen. Da Kihrin Urthaenriel besaß, wollte Janel ihn dazu bringen, damit den Drachen Morios zu töten, der ihrer Meinung nach kurz davor stand, Atrine, die zweitgrößte Stadt von Quur, anzugreifen. Wieso sie das glaubte? Dazu komme ich gleich noch.
Janel kannte Kihrin, weil sie ihm geholfen hatte, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Er erinnerte sich jedoch nicht an sie, hielt sie für eine Betrügerin und wollte gehen. Doch das war nicht möglich, da mittlerweile die Drachin Aeyan’arric, die Sturmherrin, eingetroffen war und niemanden aus dem Gebäude herausließ. Also gestattete er Janel (und ihrem Vertrauten, dem Vishai-Priester Bruder Qaun) zumindest, ihm zu erklären, was zu der derzeitigen Krise geführt hatte und weshalb sie auf seine Hilfe angewiesen war.
Offenbar war Janel ein paar Jahre zuvor Relos Var begegnet, als der in der Jorat-Region Unruhe stiftete, indem er verkleidete Yorer ins Herzogtum einschleuste, die mit fadenscheinigen Hexenjagden die örtlichen Machtstrukturen untergruben und gleichzeitig echte Dämonen einfingen und eliminierten, die er beschwor. Seine wichtigste Aufrührerin war eine doltarische Zauberin namens Senera, die er mit einem Eckstein ausgestattet hatte. Er heißt der Name aller Dinge und befähigt sie dazu, jede beliebige Frage zu beantworten.
Janel versuchte, die joratischen Machthaber zu warnen. Außerdem nahm sie sich vor, einen magischen Speer namens Khoreval an sich zu bringen, da sie glaubte, mit ihm Aeyan’arric töten zu können. Leider befand sich diese Waffe im Besitz von Relos Vars »Meister« – Herzog Kaen von Yor.
Also ließ Janel sich absichtlich entführen und nach Yor bringen. Nicht geplant hatte sie jedoch, dass Bruder Qaun ebenfalls gefangen genommen wurde (und gegaescht, um als Geisel ihr gutes Betragen zu garantieren). Janel schaffte es, sowohl Kaen als auch dessen untote Frau Xivan für sich zu gewinnen, und suchte während der folgenden Jahre nach einer Möglichkeit, Khoreval zu stehlen. Dabei fand sie heraus, dass Kaen den Speer aufbewahrte, um mit ihm den Drachen Morios zu töten, sobald dieser unter dem Jorat-See erwachte. (Damit musste Janel zwei Drachen erschlagen.) Außerdem schickte sie geheime Botschaften an Teraeth (ja, unseren Teraeth) und ein paar ihrer Mitstreiter, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Kaens Pläne zu durchkreuzen. (Zu diesem Zweck gaben sie sich als ebenjene joratische Person namens der »Schwarze Ritter« aus, nach der Kihrin suchte.)
In dieser Zeit erfuhr Janel ein paar sehr wichtige Dinge. Erstens, dass Herzog Kaen die Gottkönigin Suless als gegaeschte Sklavin hielt. Zweitens, dass General Milligreest ihr Vater war (eine Tatsache, die sich Herzog Kaen zunutze machen wollte). Und drittens, dass Janel außerdem die Tochter von Tya, der Göttin der Magie, war (etwas, woraus Relos Var bereits Kapital schlug, und was Janel ihrerseits dazu nutzte, Khoreval zu stehlen – woraufhin Mutter und Tochter gemeinsam Aeyan’arric erschlugen).
Während Janel Kihrin all das erzählte, plagte sie ihr Gewissen und sie gestand ihm, dass Relos Var sie und den Speer später wieder in seine Gewalt gebracht hatte. Sie war vor Herzog Kaen geschleift worden, der wutentbrannt befahl, sie für ihren Verrat zu töten. Doch Kihrin zerstörte den Schellenstein, bevor Suless seinen Befehl befolgen konnte. Von ihrem Gaesch befreit, vernichtete die Gottkönigin den Palast und alle, die sich darin befanden. Doch Janel, Qaun und ein paar anderen gelang die Flucht. Als Relos Var zurückkehrte, enthüllte er, dass man mit Khoreval1 allein Morios nicht töten konnte (und ebenso wenig Aeyan’arric, die vom Tod auferstehen würde). Ein Drache bleibt nur tot, wenn man ihn und gleichzeitig den zu ihm gehörigen Eckstein beseitigt. »Zum Glück« wusste Var, wo sich Morios’ Eckstein befand. Das Einzige, was noch fehlte, war Urthaenriel.
An dieser Stelle kam Kihrin ins Spiel.
Wenn Morios nicht dem Jorat-See entstiegen wäre und angefangen hätte, Atrine zu vernichten, hätte Kihrin Relos Var sicher eine klare Absage erteilt. Doch so willigte er ein zu helfen – was er, wie ich weiß, inzwischen bereut. Während sich Janel, Senera und Relos Var um den Drachen kümmerten, begaben sich Kihrin, Qaun und ich selbst (ja, ich habe auch an dieser Sache teilgenommen) unter den Jorat-See in den überfluteten Thronsaal des toten Gottkönigs Khorsal, wo der Eckstein Kriegstreiber wartete.
Wie sich herausstellte, hatte Kihrin von Anfang an recht gehabt: Es war alles ein Schwindel gewesen. Der Drache existierte zwar, und die Bedrohung war ebenfalls real, doch Senera hatte die Signale sabotiert, mit denen wir unsere Angriffe aufeinander abstimmen wollten, sodass Kihrin, im Glauben, Morios wäre tot, das zerstörte, was er für Kriegstreiber hielt. In Wahrheit war es jedoch einer von acht Wachkristallen gewesen, die Vol Karoth gefangen und im Schlafzustand hielten. Seine Zerstörung setzte Vol Karoth nicht frei, doch er erwachte aus seinem Schlummer. Als Kihrin versuchte, Relos Var zur Rede zu stellen, entpuppte Qaun sich als Verräter und griff ihn hinterrücks an.
Da Relos Var und Qaun damit alles erreicht hatten, weswegen sie gekommen waren, nahmen sie Urthaenriel und gingen. (Im Anschluss bewahrte Teraeth Kihrin und mich davor, unter dem Jorat-See zu ertrinken.) Uns, darunter auch Euch, Majestät, blieb nichts anderes übrig, als die Scherben aufzukehren.
Aus Relos Vars Sicht war dieses Ergebnis meiner Meinung nach ein voller Erfolg. Auf jeden Fall ebnete es den Weg für die weiteren Ereignisse, denn Relos Var wusste genau, wie die Acht Unsterblichen reagieren würden.
Es gehörte zu seinem Plan.
Meine liebe Senera,
ursprünglich hatte ich vorgehabt, dieses Werk ausschließlich Kaiserin Tyentso zu überlassen. Schließlich muss sie über die erschreckenden Entwicklungen jenseits der quurischen Grenzen auf dem Laufenden gehalten werden.
Denn sie werden auch ihren Thron erschüttern.
Mir ist jedoch klar geworden, dass ich dich nicht davon abhalten kann, diese Chronik zu lesen. Ich weiß sehr wohl, was der Name aller Dinge vermag. Dazu wäre es zwar nötig, die Antworten auf deine Fragen vollständig aufzuschreiben, doch es gibt keine Regel, die besagt, dass du das in einem gemäßigten Tempo tun musst. Auch ich kenne diese Zauber, genauso wie den Weg nach Shadrag Gor. Wenn du ausgelesen hast, solltest du dir bitte die folgenden Fragen stellen: Wenn Relos Var nicht wusste, dass dies geschehen könnte, was ist ihm sonst noch alles unklar? Oder wusste er es sehr wohl und hält seine wahren Absichten vor dir verborgen? Er hängt dem durch und durch narzisstischen und größenwahnsinnigen Glauben an, er wäre der Einzige, der die Welt retten kann. Daher wirst du, egal wie sehr er deine Unterstützung auch schätzt, immer entbehrlich für ihn bleiben.
Es macht keinen Spaß, das Spielzeug eines Magiers zu sein, oder?
Glaub mir, ich weiß es.
Denk darüber nach, dass du möglicherweise gar nicht deine Seele opfern musst, um die Welt zu retten. Stell dir vor, Relos Var irrt. Was wirst du tun, wenn du herausfindest, dass die Gräueltaten, zu denen er dich veranlasst hat, gar nicht notwendig waren, sondern Folge mangelnder Vorstellungskraft?
Hochachtungsvoll, dein dich bewundernder Feind
Thurvishar (der D’Lorus-Bengel)
Teil I
Kihrin entdeckte Thurvishar in der Bibliothek, oder besser gesagt in einem Turm voller bis zu dreitausend Jahre altem Plunder. Dem Junggesellen, der ihn als Bibliothek genutzt hatte, war offensichtlich nie in den Sinn gekommen, dass möglicherweise auch mal jemand anders seine jahrhundertelangen Forschungsarbeiten würde sichten müssen. Die Räume waren nicht nur mit Büchern, sondern auch mit Notizen, Diagrammen und allerlei Gegenständen vollgestopft, deren Zweck ebenso wenig nachzuvollziehen war wie ihre Herkunft. Kihrin hatte keine Ahnung, wieso das meiste von dem Zeug nicht längst verrottet war. Allerdings gab es hier ziemlich viel Magie: Die Wände stanken danach, und die Böden vibrierten vor Tenyé, das in jede Pore des Granits eingesickert war. Die Steine waren ein Speicher für Zauberkraft, dessen Kapazität für ihre Zwecke allerdings nicht ausreichte.
Der Erblord des Hauses D’Lorus blickte nicht von seiner Lektüre auf. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
Als Kihrin ein großes und schweres Buch mit einem Knall auf den Tisch fallen ließ, schaute Thurvishar hoch. Kihrin musste einen Papierstapel zur Seite schieben, damit Thurvishar ihn sehen konnte. »Schreibst du noch eins?«
Thurvishar hielt beim Lesen inne und klappte sein Buch zu. »Wie bitte?«
»Ob du noch ein Buch schreibst? So wie das über die Entdeckung Urthaenriels?« Kihrin sah ihn eindringlich an.
»Genau genommen habe ich es nicht geschrieben …«
»Doch, das hast du«, erwiderte Kihrin. »Es kann ja sein, dass du auf Aufzeichnungen zurückgegriffen hast. Aber ich bin sicher, dass Senera recht hatte und ein Großteil davon auf deinem Mist gewachsen ist.« Er zögerte. »Ich glaube, du musst dich noch einmal hinsetzen und ein weiteres schreiben.«
Thurvishar richtete sich gerade auf. »Du willst, dass wir es an Kaiserin Tyentso schicken, oder?«
»Natürlich, das auch.« Kihrin trommelte mit den Fingern auf das Buch, das er zurückgebracht hatte. »Ich glaube, wenn wir es nicht tun, dann machen sie es.« Er erläuterte nicht, wen er mit »sie« meinte, aber es war klar, dass er über Relos Var und seine Helferin Senera sowie wahrscheinlich auch seinen neuen Lehrling Qaun sprach.
Thurvishar betrachtete das Buch unter Kihrins Fingern und schürzte die Lippen. »Dann hast du also beide Berichte durchgelesen?«
»Ja«, sagte Kihrin. »Und ich halte deine Schlussfolgerungen für richtig.«2 Der junge Mann seufzte. »Aber ich möchte … ich möchte festhalten, was seither geschehen ist. Ich weiß, dass du fast alles persönlich miterlebt hast, und ich glaube, dass wir etwas übersehen haben. Irgendetwas, das wir … ich weiß nicht. Das wir anders hätten machen können.« Er schüttelte den Kopf. »Mir kommt es einfach so vor, als hätte es nicht so ausgehen müssen.«
»Kihrin, geht es …?« Thurvishar schnitt eine Grimasse. »Geht es dir gut?«
»Was glaubst du denn?«, fuhr Kihrin ihn an. Dann seufzte er. »Es tut mir leid. Aber nein. Ich habe das Gefühl, dass es mir überhaupt nicht gutgeht. Vielleicht nie wieder.« Er nahm ein Blatt Papier von dem Stapel, den er vorhin weggerückt hatte, und warf einen Blick darauf. Als ihm klar wurde, was er da las, sah er Thurvishar mit erhobener Braue an.
Der Zauberer räusperte sich. »Kann sein, dass ich schon damit angefangen habe. Aber ich wollte dich um deine Mithilfe bitten, ehrlich.«
Kihrins Mundwinkel zuckten. »Wenn ich schon mal hier bin …«
1
(Thurvishars Geschichte)
Als die Götter auf die Ruinen von Atrine niederfuhren, unterbrachen sie einen Mordanschlag.
Anfangs hatte Thurvishar die Gefahr gar nicht wahrgenommen. Ja, aus den acht offenen magischen Toren, die auf einem kleinen Hügel neben dem Jorat-See errichtet worden waren, brandeten massenweise Soldaten, doch damit hatte er gerechnet. Bis gerade eben hatte ein Drache so groß wie ein Berg die zweitgrößte Stadt des Reichs in Schutt und feinen Quarzstaub verwandelt und dabei unzählige Menschen getötet. Morios hatte nicht nur die Armee, sondern auch die Zivilbevölkerung attackiert, die nun panisch und heimatlos war. Kein Wunder also, dass es hier nun von Soldaten wimmelte, die die Spuren der Zerstörung beseitigten, bei der Evakuierung halfen und in den zertrümmerten Straßen Atrines patrouillierten. Und die Zauberer? Die mussten Morios’ Körper so gründlich zerlegen, dass er sich nicht wieder zusammensetzen und eine neuerliche Apokalypse über die Stadt bringen konnte.
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, stand außerdem der Damm, der den Jorat-See zurückhielt – die Dämonenfälle – kurz vorm Bersten. Wenn er brach, würde sich der See entleeren. Dabei würden Millionen umkommen. Wer nicht in der Flut starb, würde verhungern, wenn Quurs Brotkorb3 zwanzig Fuß unter Wasser stand. Natürlich würden die Zauberer alles daransetzen, eine solche Katastrophe abzuwenden.
Rückblickend war Thurvishars Annahme, der Hohe Rat von Quur könnte daran interessiert sein, Leben zu retten, zu optimistisch gewesen.
Es war Janels Zorn, der ihn alarmierte – ein brüllend heißer Schmelztiegel, der normalerweise von ihrer enormen Willenskraft in Zaum gehalten wurde. Einen Moment später spürte er Kihrins Wut wie einen scharfen Peitschenschlag. Er wandte sich von dem Akademie-Magier ab, mit dem er gerade über Zaubertheorie diskutierte, und blickte zu dem Hügel hinauf, wo die Soldaten, denen er bislang keine Beachtung geschenkt hatte, eine Verteidigungsformation bildeten. Die Männer waren nicht wie normale Soldaten gekleidet. Stattdessen trugen sie die unverkennbaren, mit Münzen besetzten Brustharnische einer ganz bestimmten Sorte quurischer Ordnungshüter.
Hexenjäger. Thurvishar sah zwar nicht, wen sie einkreisten, aber er konnte es sich denken.
Er überlegte kurz, ein Portal bei ihnen zu öffnen, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder, da er damit womöglich genau die Reaktion provozieren würde, die er unbedingt vermeiden wollte.
Also rannte er stattdessen los.
Was er bei seiner Ankunft auf dem Hügel vorfand, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Niemand versuchte, ihn aufzuhalten, während er sich nach vorne drängte. Schließlich war er der Erblord des Hauses D’Lorus. Wenn irgendjemand das Recht hatte, hier zu sein, dann er. Auf der Hügelspitze waren mehr Hexenjäger versammelt, als er je zuvor auf einem Fleck gesehen hatte. Und sie waren nicht allein gekommen. Er sah ungefähr ebenso viele Akademie-Magier sowie den Hohen Lord Havar D’Aramarin und mehrere Mitglieder des Hohen Rats von Quur.
Und all das nur wegen drei Leuten: Kihrin D’Mon, Janel Theranon und Teraeth. Weder Kihrin noch Janel trugen sichtbare Waffen. Normalerweise brauchten sie zwar keine, doch würden sie sich auch gegen eine solche Übermacht durchsetzen können?
Thurvishar hatte keinen Zweifel, wie die Sache ausgehen würde.
»Was ist hier los?« General Qoran Milligreest stieß mehrere Hexenjäger beiseite und marschierte in das Zentrum des Konflikts.
Janel ballte die Fäuste. »Offenbar sollen wir zum Dank für unsere Hilfe in eine Kerkerzelle gesteckt werden.«
Milligreest ignorierte seine Tochter4 und wandte sich zu einem der Quurer um. »Was hat das zu bedeuten, Vornel?«
Das Mitglied des Hohen Rats, Vornel Wenora, schnaubte. »Das ist ja wohl offensichtlich. Wir haben es hier mit einer Bedrohung für das Reich zu tun. Darum hättet Ihr Euch eigentlich kümmern müssen.«
»Eine Bedrohung für das Reich?« Qoran deutete auf den riesigen Kadaver des Metalldrachen. »Das ist eine Bedrohung für das Reich. Der bevorstehende Bruch der Dämonenfälle ist eine Bedrohung für das Reich. Die da sind nur Kinder!«
Thurvishar ließ den Blick über die Menge schweifen. Die Gedanken der Hexenjäger waren wie Leerstellen, ebenso die einiger Zauberer und sämtlicher Ratsmitglieder. Doch wo steckte Kaiserin Tyentso?
Vornel zuckte die Achseln. »Das behauptet Ihr, aber für mich sind sie gefährliche Leute, die eine große Bedrohung für unser herrliches und ruhmreiches Reich darstellen. Das hier ist der Mann, der den Kaiser getötet und Urthaenriel gestohlen hat. Und dann haben wir hier noch eine Hexe, die ihre Zauberkräfte offen zur Schau stellt, sowie einen bekannten Spion der manolischen Vané. Doch aus irgendeinem für mich nicht nachvollziehbaren Grund habt Ihr nichts unternommen, um sie aufzuhalten. Wieso bloß, Qoran?«
»Weil ich Prioritäten setzen kann«, entgegnete der General.
Thurvishar musterte Vornel mit erhobener Augenbraue. Seine Anschuldigungen waren nicht unberechtigt, dennoch gingen sie erstaunlich weit an der Wahrheit vorbei. Außerdem würdigten die Ratsmitglieder Thurvishar keines einzigen Blickes, obwohl er ihren Zorn weit eher verdient gehabt hätte. Vornels Vorwürfe klangen wenig überzeugend, und er wirkte auch nicht wirklich wütend, sondern eher so, als witterte er eine Gelegenheit für ein Machtspiel und wäre zu arrogant, kleinkariert oder dumm, einen weniger fatalen Zeitpunkt dafür abzuwarten.
Ratsmitglied Nevesi Oxun, ein alter, dünner Mann mit silbernem Wolkenhaar, trat vor. »Das spielt keine Rolle, Milligreest. Aufgrund eines einstimmigen Beschlusses …«
»Dann muss ich wohl im Schlaf abgestimmt haben«, knurrte Milligreest.
»Fast einstimmig«,5 korrigierte sich Oxun. »Wenn Ihr uns behindern oder diese Männer von ihrem rechtmäßigen Einsatz abhalten wollt, müssen wir davon ausgehen, dass Ihr unter den Einfluss einer ausländischen Macht geraten seid, und Euch aus dem Hohen Rat entfernen.«
»Wie könnt Ihr es wagen …?«
Kihrin begann zu lachen. Thurvishar verzog das Gesicht und wandte den Blick ab.
Natürlich. Tyentso.
»Euch geht es gar nicht um uns, richtig?«, fragte Kihrin. »Wir sind euch doch völlig egal. Aber Tyentso … In Wahrheit haltet ihr sie für ›eine große Bedrohung des Reichs‹.« Kihrin, der immer noch die Uniform trug, die er sich von einem quurischen Soldaten geliehen hatte, streckte die Hände aus. »Wenn ihr Genies Tyentso für dumm genug haltet, sich hier und jetzt zwischen all den Hexenjägern zu zeigen, hätte ich da eine wenig benutzte Brücke am See, die ich euch gerne verkaufen würde.«
Thurvishar spürte Zorn in sich aufsteigen. Kihrin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Ratsmitglieder hielten Janel und Teraeth für unbedeutend. Über Kihrin würden sie sich mehr Gedanken machen, wenn sie mit den devoranischen Prophezeiungen vertraut wären. Doch vor allem waren sie aus irgendeinem Grund beleidigt, weil der neue Kaiser von Quur als Frau zur Welt gekommen war.
Wenn es nach ihnen ginge, würde ihre Amtszeit früher enden als die jedes anderen Kaisers in der Geschichte des Reichs.
»An deiner Stelle würde ich mit dem Verkauf der Brücke noch warten, Leichtfuß.« Tyentso war auf einem Zelt erschienen und balancierte mit Hilfe von Magie auf dem Giebel. »Möglicherweise bin ich ja so dumm. Oder vielleicht auch nur übermütig.« Sie schwang das Zepter von Quur wie einen Zauberstab und zeichnete damit eine dünne Linie in die Luft. »Das ist ein spaßiges Spielzeug, und ich möchte gern damit üben.«
»Tötet sie, Männer …«
In diesem Augenblick tauchten die Götter auf.
Sieben gleißende Lichtsäulen schlugen unmittelbar neben dem Ort des Geschehens in die Erde ein. Die Männer, die dort gestanden hatten – Hexenjäger, Zauberer, Soldaten –, waren verschwunden.
Thurvishar hoffte, dass sie an einen sicheren Ort versetzt worden waren, doch er hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden.6 Nachdem das Leuchten so weit nachgelassen hatte, dass er wieder etwas sehen konnte, erkannte er dafür die Wesen, die nun an ihrer Stelle standen.
Die Acht Unsterblichen waren eingetroffen,7 und jedermann in Sichtweite – ganz gleich ob Hoher Lord, Soldat oder Zauberer – sank zu Boden.
Da die Luft um sie herum mit ihren jeweiligen Aspekten erfüllt war, zog niemand ihre Identität in Zweifel. Galavas üppige Gestalt war frühlingsgrün gekleidet, unter ihren Füßen sprossen Blumen. Argas war von mathematischen Formeln umgeben, die an einen Glorienschein erinnerten. Tyas regenbogenfarbene Schleier schimmerten, und ihre Finger versprühten knisternde Magie. Taja trug silberne Kleidung und spielte mit einer Münze. Ompher erinnerte weniger an eine Person als an eine belebte Steinstatue. Khored, rot und in Rabenfedern gehüllt, hielt ein Glasschwert in der Hand. Und dann war da noch Thaena, die mit einem weißen Grabtuch und einem Haarkranz aus Rosen angetan war.
Sie waren alle außer sich vor Zorn.
»Stören wir bei irgendwas?« Thaenas Stimme klang wie eine Steintür, die über den Boden eines Mausoleums schabt.
Auf dem Hang herrschte einen Moment lang peinlich berührtes Schweigen, bis den Anwesenden schließlich aufging, dass die Todesgöttin eine Frage gestellt hatte und auf eine Antwort wartete.
Kaiserin Tyentso erhob sich. »Ich glaube, der Hohe Rat hat versucht, mich zu ermorden, Herrin.«
»Und uns auch, Mutter.« Teraeth sah Tyentso an und zuckte die Achseln. »Sie hätten keine Zeugen gewollt, Ty.«
»Oh, guter Punkt.«
Vornel Wenora stand auf. »Nun, das war alles ein großes Missverständnis …«
»Ruhe!«, donnerte Khored, und tatsächlich verstummten überall sämtliche Geräusche. »Vol Karoth wurde aufgeweckt. Er ist ein Übel, das ihr vergessen habt, doch wenn er nicht wieder eingekerkert wird, werdet ihr ihn besser kennenlernen, als euch lieb ist.«
»Immer wenn das passiert«, erklärte Argas, »ist es die Aufgabe des Kaisers von Quur, ihn wieder gefangen zu setzen.«
»Tatsächlich ist diese Verpflichtung der einzige Grund, weshalb Quur existiert.«8 Ompher sprach nicht laut, und eigenartigerweise klang seine Stimme weniger steinig als Thaenas, doch sie brachte den gesamten Erdboden um sie herum zum Vibrieren. Dann blickte der Gott mit gerunzelter Stirn in Richtung Atrine. In der Ferne erklang ein Mahlen, aber keiner wagte, sich von den Göttern abzuwenden und nach der Quelle dieses Geräusches Ausschau zu halten.9
Alle sahen von den Göttern zu Tyentso hinüber.
Sie schluckte und straffte ihre Haltung.
»Wenn Ihr lieber einen anderen Streiter hättet …«, begann Vornel, »können wir dafür sorgen, dass Euer Wille geschieht. Mit Freuden.«
»Wir sind mit Tyentso zufrieden«, erwiderte Thaena. »Mit dem, was wir hier vorgefunden haben, dagegen nicht. Du hast diese Sache organisiert und die anderen dazu überredet.« Thaenas Blick hätte eine ganze Armee vernichten können. »Du spielst mit dem Schicksal der Welt.«
»Ich beschütze …«
»Schau mir in die Augen«, befahl Thaena.
Vornel fing den stechenden Blick der Göttin auf und hielt ihm nur einen Wimpernschlag lang stand, bevor er sich schaudernd von ihr abwandte.
Thaena machte eine Geste, als zerrisse sie ein Spinnennetz, und Vornel Wenora fiel tot um.
Dann sah die Todesgöttin Nevesi Oxun an. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Das Ratsmitglied riss die Augen auf. »Ja, Göttin.«
Khored wandte sich an die versammelte Menge. »Dies ist nicht die Zeit für Staatsstreiche und Rebellionen.«
»Oder Invasionen«, fügte die Glücksgöttin hinzu. »Wir werden die quurische Armee nicht nach Süden in den manolischen Dschungel entsenden. Diesmal dient uns unser Kaiser am besten, indem er das Reich stärkt.«
»Tu, was du tun musst, um dem Gezänk zwischen den hohen Adelshäusern ein Ende zu machen«, sagte Thaena. »Es ermüdet uns.«
Thurvishar atmete auf. Tyentso hätte die Kämpfe möglicherweise auf eine Art beendet, die den hohen Häusern kaum gefallen konnte. Aus dem Sarg ließ sich schließlich schlecht Politik betreiben.
Die Kaiserin verneigte sich. »Sehr wohl, Herrin.«
»Eine … letzte … Sache noch«, ergriff Tya zum ersten Mal das Wort. Sie trat vor und betrachtete die Akademie-Magier und Hexenjäger. »Mich ermüdet noch etwas.«
Janel bekam große Augen, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah.
»Wir haben euch schalten und walten lassen, wie ihr wolltet«, fuhr Tya fort. »Doch die Not der Menschen ist inzwischen so groß, dass wir eure Dummheit nicht mehr länger dulden können.« Ihr Blick war alles andere als freundlich. »Herzlichen Glückwunsch, ihr habt die Bedrohung durch die Hexen erfolgreich beseitigt, denn vom heutigen Tag an existieren sie nicht mehr. Ich definiere die Regeln neu: Es gibt keine Lizenzen mehr, und niemand wird wegen seines Talents hingerichtet. Jeder, der den Schleier berühren kann, darf das auch tun, ungeachtet seines Geschlechts oder seiner Abstammung.«
Die Magier waren so verwirrt und ungläubig, dass Thurvishar trotz aller Talismane und Schutzzauber ihre Gedanken hören konnte. Niemand protestierte laut, doch ein Gefühl sturen Trotzes machte sich breit. Die Abschaffung des Lizenzsystems würde den hohen Adelshäusern die Existenzgrundlage entziehen, die Hexenjäger obsolet machen und für große Angst in der Akademie sorgen. Die hohen Häuser überlebten nur dank ihrer magischen Monopole. Was die Göttin der Magie soeben verkündet hatte … würde ihnen vielleicht nicht sofort das Genick brechen, aber mittelfristig war ihr Untergang damit vorgezeichnet. Wenn jedermann jede beliebige Magie wirken konnte, ohne dafür Gebühren entrichten zu müssen, wenn es keine Einschränkungen und keine Angst mehr gab, der Hexerei angeklagt zu werden, würde der Hof der Edelsteine schon bald überflüssig werden.
Die hohen Adelshäuser würden einen solchen Wandel nicht akzeptieren, selbst wenn die Göttin der Magie höchstpersönlich vom Himmel herabgeflogen käme und ihn anordnete – was sie tatsächlich getan hatte.
»Widersetzt ihr euch, müsst ihr die Konsequenzen tragen«, warnte Thaena. »Uns ist sowohl die Zeit als auch die Geduld ausgegangen, und unser nächstes Treffen wird nicht mehr so freundschaftlich verlaufen wie dieses.«
Nach dieser letzten Warnung blitzten die Lichter erneut auf, und die Götter verschwanden.
Genau wie Thurvishar, Kihrin, Janel und Teraeth.
Sie tauchten an einem wundersamen Ort wieder auf. Die Höhle war so groß, dass Thurvishar sie zunächst gar nicht als solche erkannte. Im Zentrum der riesigen Kammer schwebte ein orangefarbener Feuerball, um den ein Ring aus Inseln kreiste. Die gesamte Gruppe, alles in allem elf Personen, war auf der zweiten Insel erschienen, die groß genug war, um zehnmal so viele Besucher aufzunehmen. Vor ihnen standen sieben Stühle, die nicht in einem Kreis aufgestellt waren, wie man eigentlich hätte vermuten können, sondern kunterbunt durcheinander. Ihre Insel war von einer durchscheinenden Kugel aus roter, violetter und grüner Energie eingeschlossen. Um jede Insel kreisten Symbole, die mathematische Formeln zu ergeben schienen.
Thurvishar sah sich die Inseln noch einmal genauer an und erkannte, dass sie unterschiedlich groß waren. Um ihre zog sich ein Geröllgürtel aus Felsbrocken und Steinen, der ihn an ein Armband erinnerte. Dahinter bewegten sich kleine feurige Punkte. Sie waren in die rotierende Höhlenwand eingebettet. Er erkannte, dass das Ganze eine Art Mechanismus war, der im tiefen Gestein die Bewegungen der Himmelskörper nachbildete.
Während Thurvishar sich erstaunt umsah, schwärmten die sieben Unsterblichen auf der Insel aus. Ein paar von ihnen setzten sich hin. Sie wirkten angespannt und nervös, genau genommen sogar ängstlich. Die Sterblichen blieben stehen. Kihrin sah aus, als überlegte er, ob er sich unsichtbar machen und springen sollte.
Es war … unbehaglich, so nah bei diesen Wesen zu sein. Als hielte man die Finger zu dicht an eine Flamme, an Eis und an eine Schwertschneide – alles gleichzeitig. So stark, wie die Zugkräfte des Tenyé waren, ging Thurvishar davon aus, dass sich die Unsterblichen nicht sehr lange an diesem Ort aufhalten konnten, bei dem es sich offensichtlich um Argas’ Weihestätte handelte, so wie Ynisthana die Weihestätte von Thaena gewesen war.
Thaena drehte sich zu ihrem Sohn um. »Was ist passiert?«, verlangte sie zu wissen.
Ehe er antworten konnte, fiel Janel auf die Knie. »Es war mein Fehler, Herrin. Ich hätte Relos Vars Betrug durchschauen sollen.«
Thurvishar verzog den Mund. Er kannte einige Hohe Lords, die Relos Vars Betrügereien nicht durchschauten. Und, dachte er, als er den Blick über die Gestalten auf der Insel gleiten ließ, auch mindestens acht Götter.10
Kihrin schnaubte. »Moment mal. Hast du etwa Vol Karoths Gefängnis aufgebrochen und dann Urthaenriel verloren? Ich habe es anders in Erinnerung.«
Janel versteifte sich.
Thaenas Augen blitzten, während sie Janel bedeutete aufzustehen. Der kurze Blick, den Thurvishar zu der Göttin hinüberwarf, reichte aus, um ihn mit grenzenlosem Entsetzen zu erfüllen. Noch nie hatte er so deutlich gespürt, wofür sie stand. Thaenas Körper bebte vor kaum zurückgehaltener Wut.
Unterdessen nahm Taja, die Göttin des Glücks, einen Stuhl. Sie trat ein paar Schritte vor, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Argas zog die Brauen zusammen, als hätte sie ihn gerade persönlich beleidigt. »Muss das sein?«11
»Mir ist egal, wessen Fehler es ist«, erklärte Taja, ohne auf Argas’ Tadel einzugehen. »Was für eine schockierende Vorstellung, dass Relos Var jemanden dazu bringen könnte, die Drecksarbeit für ihn zu erledigen. Ich bin ja so überrascht.« Sie legte sich eine Hand an die Wange.
Galava, unter deren Füßen Blumen erblühten, während sie auf und ab lief, warf Taja einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das ist nicht die richtige Zeit für Scherze, Mädchen.« Sie blieb stehen, weil Ompher zu ihr kam – er glitt eher über den Boden, als dass er ging – und sie in die Arme nahm.
»Er ist nicht frei«, murmelte Teraeth. »Noch nicht.«
»Ich habe gespürt, wie er erwacht ist. Ich habe es gefühlt.«
»Erwacht ist nicht das Gleiche wie frei.« Khored setzte seinen roten Helm ab und entpuppte sich als dunkelhäutiger manolischer Vané. »Vol Karoth ist nach wie vor im Zentrum der Öde gefangen.«
»Und wie lange noch?«, hallte Thaenas Stimme durch die riesige Höhle. »Wie lange wird es dauern, bis Relos Var die anderen sieben Kristalle zerschlagen hat und Vol Karoth auf die Welt loslässt? Wir wissen doch, dass dieser Bastard Urthaenriel hat.« Sie sah Kihrin hasserfüllt an. »Das hast du übrigens toll gemacht. Hast du ihm das Schwert einfach überlassen, oder hat er sich darum bemühen müssen?«
Kihrin zuckte zusammen.
»Bei den Sternen«, sagte Taja. »Du bist so eine Zicke, wenn du Angst hast.«
Thaena wirbelte mit feurigem Blick zu ihr herum.
Die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, brachte die Luft zum Vibrieren.
Thurvishar hatte noch nie Götter miteinander kämpfen sehen, und er wollte es auch nicht. Es schien, als würden sie jeden Moment übereinander herfallen.
»Ich habe große Angst«, gab Tya zu. Sie richtete den Blick in die Ferne und zog ihre Schleier enger um sich. »Vol Karoth hat uns trotz unserer Macht problemlos getötet. Es schien ihm überhaupt keine Mühe zu bereiten.« Die Göttin der Magie starrte Kihrin an. »Wir hatten keine Ahnung, was geschehen war. Wir wussten nur, dass sich etwas Schreckliches ereignet hatte – eine riesige, verheerende Explosion. Und dann … dann war er plötzlich da. Ein Loch im Universum. Er wusste genau, was er tat. Erst tötete er Taja, dann Galava und Thaena …«
Galava wimmerte leise und ergriff Omphers Hand.
»Genug jetzt.« Thaenas Stimme klang gepresst.
Argas schüttelte den Kopf. »Diesmal ist es anders.« Der Gott musterte Kihrin. »Es macht einen Unterschied, dass du hier bist. Wir sind nicht diejenigen, die Vol Karoth töten können. Das bist du. Wir müssen dir dafür nur genug Zeit verschaffen.«
»Ich? Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Du und ich, wir waren mal Freunde.« Argas deutete auf die zwei Göttinnen, Taja und Thaena, die sich fast miteinander geprügelt hätten. »Hat dir eine von beiden von unserer Freundschaft erzählt?«
»Nein, ich …« Kihrin verengte die Augen zu Schlitzen. »Warte mal, ich kenne dich. Aber nicht aus einem früheren Leben. Woher kenne ich dich bloß?«
Argas grinste. »Ich bin oft zum Schleier gegangen, um nach dir zu sehen, als du noch ein Kind warst.«
Taja funkelte ihn böse an. »Verdammt noch mal, Argas. Darüber haben wir doch gesprochen! Du hast mir gesagt, dass du dich von ihm fernhalten würdest.«
Argas lachte spöttisch. »Du hast das gesagt. Ich habe mir bloß nicht die Mühe gemacht, dich zu korrigieren.«
Kihrin seufzte und presste sich einen Daumen an die Schläfe. »Ich würde an dieser Stelle ja gern einen Scherz über streitende Eltern machen …«, flüsterte er.
Thurvishar musterte Janel und Teraeth nachdenklich. »Aber für manche von uns ist das die traurige Realität.«
»Ja«, pflichtete Kihrin ihm bei.
»Und wie sieht jetzt der Plan aus?«, fragte Teraeth, der das Gespräch wieder in produktivere Bahnen lenken wollte. »Das Ritual der Nacht?«
Taja und Khored wechselten einen ängstlichen Blick.
»Das wird doch sicher nicht nötig sein«, sagte Taja.
»Es war bei jedem anderen Volk nötig«, erwiderte Galava. »Und diesmal ist es genauso.«
»Die Rituale haben das Unvermeidliche immer nur hinausgezögert …«, setzte Khored an.
»Diesmal ist es anders«, unterbrach Argas. »Vol Karoth ist anders. Jetzt ist er schwächer.« Er deutete auf Kihrin. »Es könnte uns zum ersten Mal gelingen, ihn zu vernichten – aber nur, wenn er nicht entkommt, bevor uns einfällt, wie wir das anstellen sollen. Wir müssen ihn bloß noch ein kleines bisschen länger gefangen halten.«
»Was«, fragte Janel, »ist das Ritual der Nacht?«
»Es nimmt den Völkern die Unsterblichkeit«, antwortete Thurvishar. »Früher einmal gab es vier unsterbliche Völker, doch von denen sind nur noch die Vané übrig. Denn das Ritual wurde bereits dreimal durchgeführt, um Vol Karoths Kerker rechtzeitig instand zu setzen, bevor er sich daraus befreien konnte.«
»Oh.«
»Wir brauchen eine Atempause«, sagte Thaena. »Und ich werde sie uns verschaffen. Es ist höchste Zeit, die Vané dafür bezahlen zu lassen, dass …«
Die sieben Götter hielten unvermittelt inne und wandten die Köpfe zur Seite. Es war, als beobachteten sie alle etwas, das die anwesenden Sterblichen nicht sehen konnten.
»Wie lange wird es dauern, bis die Dämonen ins Land des Friedens durchbrechen?«, fragte Khored.
»Es besteht eine achtundneunzigprozentige Chance, dass sie nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten einfallen«, antwortete Taja, »und danach eine sechsundachtzigprozentige Chance, dass sie die Kluft stürmen.«12
»Meine Leute sind dort«, sagte Thaena. »Aber sie werden die Stellung nicht lange halten können.«
»Dann haben wir keine Zeit mehr«, erklärte Argas.
Tya drehte sich zu Janel um. »Wir werden euch nicht unterstützen können. Als Vol Karoth erwacht ist, haben die Dämonen von ihren Höllenmärschen abgelassen, da er sie sonst zu leicht aufgespürt hätte. Doch nun belagern sie das Land des Friedens und versuchen, zum Brunnen der Seelen zu gelangen. Rechnet also nicht mit unserer Hilfe.«
Janels Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Thurvishar nahm sich vor, sie später nach einer genaueren Erklärung zu fragen.13
»Wenn der Brunnen fällt«, sagte Galava, »haben wir keine Zukunft mehr.«
Thaena drehte sich mit finsterer Miene zu ihrem Sohn Teraeth um. »Terindel hätte schon vor Jahrtausenden seine Pflicht erfüllen müssen, aber das wollte er nicht. Also musst du nun dafür sorgen, dass sein Neffe Kelanis es tut.«
Thurvishar wandte den Blick ab. Es würde das tragische Finale eines Stückes werden, das bereits viertausend Jahre dauerte. Mit den Vané würde das letzte der großen Völker seine Unsterblichkeit verlieren und untergehen. Ja, es würde ihnen Zeit verschaffen … aber der Preis für diese Galgenfrist war entsetzlich hoch.
»Was, wenn er nein sagt?«, fragte Kihrin.
»Das wird er nicht tun«, entgegnete Thaena. »Das wagt er nicht. Dafür habe ich gesorgt. Ich habe deine Mutter vom Thron geholt, damit sich Terindels Sünde nicht wiederholt.«
»Richtig.« Tajas Lächeln war verbittert und traurig zugleich. »Dann sollte wenigstens dieser Teil einfach werden.«
Kihrin musterte die Göttin einen Moment lang unsicher, bevor er sich wieder den anderen zuwandte. »Ich bin nur ungern derjenige, der darauf hinweist, dass die Suppe kalt ist, aber sind wir für diese Aufgabe wirklich die beste Wahl? Ich bin mir zum Beispiel ziemlich sicher, dass Teraeth der Einzige von uns ist, der Vané spricht.«
»Voral«, verbesserte Tya ihn gedankenverloren. »Die Vané und die Voras haben schon immer dieselbe Sprache gesprochen.«
»Seht ihr?« kommentierte Kihrin. »Ich weiß noch nicht einmal, wie ihre Sprache heißt.«
Argas grinste. »Dagegen kann ich etwas tun.«
2
Kihrin lehnte sich zurück und seufzte.
»Dir ist bewusst, dass du etwas sagen musst, oder?«, fragte Thurvishar. »Außer du möchtest, dass ich fortfahre. Mir ist beides recht.«
Kihrin kaute auf der Lippe und blickte in die Ferne. »Ich habe nur darüber nachgedacht, wie eigenartig es ist, dass ich nie an der gleichen Stelle anfangen will wie alle anderen.«
»Wo würdest du denn beginnen?«, fragte Thurvishar.
Kihrin trommelte mit den Fingern auf einen Papierstapel. Auf dem obersten Blatt sah er Formeln irgendeiner veralteten Mathematik, mit der niemand mehr etwas anfangen konnte. Obwohl … das stimmte nicht. Wahrscheinlich unterrichteten sie die Dreth noch irgendwo.
»In der Öde«, sagte Kihrin.
Thurvishar schloss die Augen und schlug sie gleich wieder auf. »Weil dort alles beginnt und endet?«
»Soweit es mich betrifft, ja«, entgegnete Kihrin.
(Kihrins Geschichte)
Ich öffnete die Augen. Über mir schleppten sich schwefelhaltige Wolken über einen geschundenen Himmel. Wegen des dumpfen Schmerzes, der hinter meinen Augen pochte, brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, dass ich es mir nicht nur einbildete: Ich lag tatsächlich auf dem Rücken, während die Welt an mir vorbeischlingerte. Die faulig riechende Luft hinterließ einen scharfen Geschmack auf meiner Zunge, dunstige Säureschwaden trieben mir die Tränen in die Augen und schnürten meine Kehle zu. Meine Kleidung und die Haare klebten feucht an mir. In der Ferne ertönte ein unaufhörliches Summen.
Als ich die Wolken sah, begann mein Puls zu rasen, und die Kopfschmerzen wurden noch schlimmer. Ich wusste, wo wir uns befanden und dass dies ein Ort war, an dem es schon seit langer Zeit keine Freude mehr gab.
Ich setzte mich auf und sah mich um. Ich war in einen langsam dahinrollenden Wagen geworfen worden. Neben mir lagen drei Personen, die alle noch bewusstlos waren: Teraeth, Janel und Thurvishar.14 Unsere Entführer hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, uns umzuziehen. Und so trugen wir immer noch die reich geschmückten Gewänder, die wir angehabt hatten, als wir in ihren Hinterhalt gerieten. Unsere Waffen hatten sie uns dagegen weggenommen.
Zwei Tiere zogen den Wagen. Ich konnte nicht erkennen, was für welche es waren. Sie hatten Hufe und gestreifte Hinterläufe.15 Da niemand ihre Zügel hielt, blieben sie alle paar Schritte stehen, um zu grasen. Deshalb war unser Gefährt also mit dem Tempo eines Seesterns an Land unterwegs. Allerdings gab es gar kein Gras, das sie fressen konnten – nur Dornenbüsche und gallertartigen Schleim. Beides sah ungenießbar aus und war wahrscheinlich giftig.16
»Taja!«, rief ich, gefolgt von etwas, das nicht ernsthaft als Gebet an meine Lieblingsgöttin bezeichnet werden könnte, dann verstummte ich wieder.
Sie würde sich nicht zeigen. Nicht hier. Nicht so nahe an dem Ort, wo ein inzwischen hellwacher Vol Karoth die Knöchel knacken ließ und sich auf Runde zwei vorbereitete. Weiter als bis in den manolischen Dschungel hatten sich die Acht noch nie vorgewagt, und selbst dort war es für sie riskant gewesen. Wir waren also auf uns allein gestellt.
Ich schüttelte die anderen. »Wacht auf. Wacht auf, verdammt noch mal.«
Zu meiner Überraschung erhob sich Janel als Erste. Vermutlich half es, dass es taghell war, denn nachts konnte man sie unmöglich aufwecken.17
Sie rieb sich die Augen und tastete nach den Waffen, die sie nicht mehr besaß. »Was ist passiert? Wo sind wir?«
Bevor ich ihr antworten konnte, wachte Teraeth auf, gefolgt von Thurvishar.
Ich schaute mich kurz in unserem sehr schicken und völlig nutzlosen Wagen um und entdeckte darin weder etwas zu essen noch Wasser. Was bedeutete, dass derjenige, der uns hierher versetzt hatte, nicht wollte, dass wir diese Erfahrung überlebten. »Ich vermute mal, irgendwer am Hof der Vané war nicht allzu erpicht darauf, dass wir mit dem König sprechen.« Ich rieb mir die Stirn. »Wie haben sie uns erwischt?«
»Giftpfeile«, sagte Teraeth in gekränktem Ton. Er hielt Janel die Hand hin, doch die sah ihn nur eigenartig an und kletterte, ohne seine Hilfe anzunehmen, vom Wagen. Thurvishar folgte ihr auf dem Fuß.
Teraeth zog die Hand zurück.
»Haben wir irgendeine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist?«, fragte Janel und dachte einen Moment lang nach: »Es war doch nicht der König, oder?«
»Wäre Kelanis darin verwickelt gewesen, hätte er uns wahrscheinlich nicht heimlich aus dem Palast geschmuggelt«, sagte Thurvishar. »Es war unseren Entführern sehr wichtig, nicht gesehen zu werden.«
Wir blieben stehen.
»Du warst … bei Bewusstsein?« Angesichts von Thurvishars magischen Fähigkeiten war Teraeths Frage nicht unberechtigt.
Thurvishar tat, als hätte er auf seiner Seidenrobe einen Fleck entdeckt. »Nein. Kihrin kann es euch erzählen. Drogen wirken bei mir nicht so, wie man es erwarten würde. Zum Teil war ich fast vollständig klar. Was aber nicht bedeutet, dass ich alles mitbekommen habe.«
»Wer hat uns dann hier ausgesetzt?« Teraeth schaute sich um. Seine Stimme klang rau.
»Wahrscheinlich Vané …«, antwortete Thurvishar. »Ich kann mich nicht an viel erinnern, aber unter unseren Entführern war eine Frau mit blauen Haaren.«
»Königin Miyane?« Teraeth sah zu mir herüber, als wäre ich in der Lage, seinen Verdacht zu bestätigen.
Ich spürte ein Stechen in der Kehle, das nichts mit der Luft zu tun hatte. »Oder meine Mutter. Sie hat ebenfalls blaue Haare.«18
Meine Antwort ließ alle stutzen. Keiner wusste, wo sich Khaeriel befand, und es war bekannt, dass sie während ihrer Herrschaft über die Vané dagegen gewesen war, jemals das Ritual der Nacht zu vollziehen. Nachdem sie mittlerweile der Sklaverei entkommen war, rechnete ich damit, dass sie versuchen würde, wieder den Thron zu besteigen. Vermutlich hatte sie Kontakte und Verbündete im Königspalast. Vielleicht genug, um die Boten, die gesandt worden waren, um das Ritual der Nacht zu Ende zu führen, hinterrücks überfallen zu lassen.
»Wenn deine Mutter das getan hat« – Teraeth deutete auf die Umgebung – »solltest du dir Gedanken über eure Beziehung machen. Uns hierherzubringen kommt einer Todesstrafe gleich.«
»Buchstäblich«, bestätigte Thurvishar. »Ich glaube, die Vané nennen es den Verrätermarsch.«
Ich seufzte. »Ich kann nicht ausschließen, dass sie es gewesen ist. Ein Kind, das sie nicht kennt, für ihre Unsterblichkeit opfern? Gut möglich, dass sie da nicht lange überlegen musste.«
»Für Schuldzuweisungen haben wir auch später noch Zeit«, sagte Janel. »Im Moment haben wir dringendere Probleme: Nahrung, Wasser, lange genug überleben, um in die Zivilisation zurückzukehren. Wenn es hier überhaupt so etwas wie Zivilisation gibt. Das ist wirklich die Korthaenische Öde, oder?« Sie schaute sich um, so weit sie das zerklüftete Felsgelände überblicken konnte.
»Ziemlich sicher«, antwortete ich und sah Janel neugierig an. Ich hatte erwartet, dass Teraeth und Thurvishar diesen Ort kennen würden, aber Janel? Sie war noch nie in der Öde gewesen. Das heißt, in diesem Leben. In ihrem letzten hatte sie in dieser Region eine Suche von epischen Ausmaßen unternommen.
Allmählich erinnerte sie sich wieder daran.
Ich selbst kannte diesen Ort, weil ich mich ein paar Jahre zuvor in die zerstörte Stadt Kharas Gulgoth versetzt hatte, in der sich Vol Karoths Kerker befand. Diese Wolken und der scharfe Geschmack in der Luft hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Damals hatte ich überlebt, weil drei der Unsterblichen gekommen waren, um mich aus der Öde hinauszugeleiten. Damit war diesmal nicht zu rechnen.
Teraeth hob einen Stein auf und schleuderte ihn frustriert davon. »Oh, das ist ganz eindeutig die Korthaenische Öde. Verdammt. Ich frage mich, ob der König überhaupt mitbekommen hat, dass wir ihn sprechen wollten.« Die Zugtiere trotteten immer noch von einem Gestrüpp zum nächsten und zwangen uns, hinter dem Wagen herzulaufen, wenn wir ihn nicht aus den Augen verlieren wollten.
»Vielleicht nicht«, sagte Thurvishar, »aber bald wird er es erfahren. Ich werde ein Portal öffnen und uns in die Hauptstadt zurückbringen. Sobald wir dort sind, können wir wieder Kontakt mit den Acht aufnehmen und entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Klingt das vernünftig?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Schließlich wurde mir klar, dass Thurvishar auf unsere Erlaubnis wartete.19 »Ja, sehr gute Idee. Mach das.«
»Bitte«, fügte Janel hinzu und sah sichtlich entnervt auf ihr rotes Seidengewand hinab. »Wieso konnten sie nicht abwarten, bis wir uns etwas Ordentliches angezogen hatten, bevor sie uns unter Drogen setzten und hier abluden?«
Das Ärgerliche war, dass die Vané uns gastfreundlich aufgenommen hatten. Keiner von ihnen hatte gesagt: »Nein, verschwindet.« Stattdessen hatten sie uns willkommen geheißen und versichert, dass wir den König treffen würden, sobald er in die Hauptstadt zurückkehrte. Und sie hatten darauf bestanden, dass wir in der Zwischenzeit angemessene Kleidung für den Hof bekamen. Daraufhin hatten sie uns ungefähr eine Woche lang mit luxuriösen Gewändern überhäuft – vor allem, damit wir für all die Feierlichkeiten, zu denen sie uns einluden, etwas Hübsches anzuziehen hatten.
Was Janel anhatte, erinnerte an die traditionelle westquurische Kleidung. Allerdings gab es zahlreiche Abweichungen. So trug sie zum Beispiel zwar ein Raisigi, doch es schnürte ihre Brüste ein und fiel darunter in durchsichtigen Seidenbahnen herab, deren Farbverlauf von Orange bis Dunkelrot reichte. Ihre Kefhose war seitlich von der Hüfte bis zum Saum geschlitzt. Die beiden Hälften wurden von einer dünnen Kette aus ineinandergreifenden goldenen Salamandern zusammengehalten. Ihre gesamte Aufmachung war für einen Aufenthalt in der Wildnis denkbar ungeeignet, aber immerhin steckten ihre Füße in Stiefeln.
Und das war mehr, als man von Teraeth oder mir behaupten konnte. Wir hatten Sandalen an und dazu hauchdünne seidene Vané-Roben. Ich war froh, dass die derzeitige Mode verlangte, sie in mehreren Lagen übereinander zu tragen.20 Teraeth trug dagegen nur deshalb mehr als das unbedingt Erforderliche, weil er seine Messer verbergen wollte.
Er seufzte. »Wenigstens ist die Seide ein Vermögen wert.«
»Ich wäre lieber nackt und hätte dafür immer noch mein Schwert«, entgegnete Janel.
Thurvishar streckte die Hände aus und begann, den komplizierten Zauber zu wirken, mit dem er uns aus dieser Todesfalle befreien würde. Es überraschte mich nicht, dass unsere Möchtegernmörder – wer immer sie sein mochten – angenommen hatten, wir wären nicht imstande, aus der Öde zu entkommen. Auf der ganzen Welt gibt es nur ungefähr hundert Personen, die mächtig genug sind, freistehende Portale zu öffnen – und bei den meisten von ihnen handelt es sich um Gottkönige. Um die Sterblichen abzuzählen, die diesen Trick beherrschen, bräuchte ich nicht einmal alle meine Finger.21
Zum Glück war Thurvishar einer von ihnen.
Doch es geschah nichts.
»Ähm, Thurvishar?« Ich räusperte mich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er hörte auf, die Finger zu bewegen. »Das … hat nicht funktioniert. Lasst es mich noch einmal versuchen …«
»Schau mal nach oben, Thurvishar«, sagte Janel leise, aber drängend.
Ich hob ebenfalls den Blick. Die fahlgelben Wolken über unseren Köpfen waren silbergrau geworden. In ihrem Inneren zuckten die Farben des Regenbogens22: Rot, Grün, Violett. Sie schienen zu kochen.
»Was zur Hölle ist …?«, setzte Janel an.
Teraeth riss die Augen auf. »Ich kenne diesen Himmel. Alle unter den Wagen! Schnell!«
Janel packte Thurvishar und stieß ihn unter das Gefährt. Teraeth zerrte mich ebenfalls zu Boden. Ich bedurfte der Aufforderung zwar nicht, war aber für jede Hilfe dankbar, während ich in Deckung kroch.
Ganz in der Nähe schlug etwas mit einem dumpfen Knall in der Erde ein. Gleich darauf folgte ein zweiter Einschlag, dann ein dritter, bis es klang, als wären wir in ein heftiges Gewitter geraten.
»Was …?« Ich reckte den Hals, um etwas zu sehen.
Ein Schwert bohrte sich mit der Spitze voran in den Boden, daneben ein zitternder Dolch, dicht gefolgt von einem weiteren. Nicht alle Waffen fielen mit der Spitze nach unten herab, doch im Freien hätte man damit rechnen müssen, sehr bald entweder erstochen oder erschlagen zu werden. Und tatsächlich erklangen nun Tierschreie, nur um gleich darauf wieder zu verstummen.23 Überall um uns herum klirrte es, als immer neue Waffen auf den bereits niedergegangenen Klingen landeten.
»Schwerter?«, fragte ich. »Es regnet Schwerter?« Dabei fiel mir Morios ein, doch der hatte lediglich Wolken aus windgepeitschten rasiermesserscharfen Metallsplittern ausgeblasen. Dies hier waren dagegen echte Waffen mit drahtumwickelten Griffen, Parierstangen und Blutrinnen.
»Ja«, stimmte Teraeth zu. »Wenigstens ist es diesmal kein Säureregen.«
»Oder Giftspinnen«, fügte Thurvishar hinzu. »Ich habe mal einen Bericht gele…«24
»Du meinst, du hast meinen Bericht gelesen …«25
»Kihrin!« Janel packte meine Misha und zog mich ruckartig zu sich heran. Dadurch verfehlte mich die Schwertklinge, die einen Wimpernschlag später den Wagenboden durchbohrte, um Haaresbreite.
Außerdem fand ich mich dicht an Janel gepresst wieder, was mir, um ehrlich zu sein, nicht unangenehm war. Auch sie schien zu merken, wie aufreizend unsere Position war, und begann zu lächeln.
»Seid ihr verletzt?«, fragte Teraeth.
Ich wendete den Kopf und blickte an der Klinge vorbei in Teraeths Augen. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah er verängstigt aus.
Teraeths Sorge raubte mir jede Lust, mit Janel zu schäkern. Stattdessen sandte ich ein Stoßgebet zu meiner Göttin, auch wenn ich wusste, dass es nichts bringen würde.
Taja war beschäftigt. Oder sie versteckte sich.
Ich konnte nicht sagen, welche Vorstellung mich nervöser machte.
3
Thurvishar überflog einen Moment nachdenklich meine Schilderung, dann legte er sie beiseite. »Ich bin mir nicht sicher, mit wessen Erzählung ich fortfahren soll.«
»Was ist mit Senera?«, fragte Kihrin grinsend.
»Wie bitte?« Thurvishar kniff irritiert die Augen zusammen.
»Senera. Du weißt schon … die mit der weißen Haut und dem schwarzen Herz. Ich persönlich weiß zwar nicht, was du an ihr findest, aber …« Kihrin beugte sich über den Tisch zu Thurvishar vor. »Du magst Schwarz viel lieber als ich.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte Thurvishar steif. »Wie auch immer. Senera hat mir nicht berichtet, wie sie in diese Sache hineingeraten ist.«
Kihrin lachte. »Das glaube ich dir nicht.«
»Es stimmt.« Thurvishar hielt einen Moment lang Kihrins forschendem Blick stand. Dann seufzte er und griff nach einem anderen Papierstapel. »Für eine vollständige Version der Geschichte brauchen wir auch Taleas Perspektive.«
(Taleas Geschichte)
Der Boden begann, rhythmisch zu beben.
Talea zog einen Speer aus dem Krieger des Forgurogh-Klans, der irrigerweise davon ausgegangen war, ihm würde nichts geschehen, wenn er wüste Beleidigungen ausstoßend auf sie zurannte. Sie trat über seinen Leichnam hinweg und fing Bikeinohs Blick auf. Die Yorerin wirkte ebenso verwirrt wie sie.
»Was ist das?«, fragte Talea.
Die ältere Frau, die wie sie zu den Verschmähten gehörte, zuckte die Achseln.
Das Treffen war praktisch von Anfang an schiefgelaufen und hatte sich als Hinterhalt entpuppt. Xivan Kaen, die Herzogin von Yor, hatte versucht, sich mit den yorischen Klans zu einigen, die sich nach dem Verschwinden und mutmaßlichen Tod ihres herzoglichen Gemahls für unabhängig erklärt hatten. Dabei gab es Probleme. Genau genommen waren es drei. Erstens gefiel es den Klans überhaupt nicht, dass Xivan Kaen eine gebürtige Yorerin war. Zweitens war Xivan eine Frau, und yorische Männer waren offensichtlich empfindliche Schneeblumen, die es nicht verkrafteten, von weiblichen Befehlshabern kommandiert zu werden. Und drittens war sie tot.
Unter normalen Umständen wäre nichts davon ein unüberwindliches Hindernis gewesen.26
Doch der Forgurogh-Klan gewährte der Gottkönigin Suless Unterschlupf. Xivan hatte gehofft, sie könnten verhandeln und den Klan dazu überreden, Suless herauszugeben. Rückblickend betrachtet hätten sie allerdings mit dem Hinterhalt rechnen müssen.27
Der Boden bebte weiter. Hinter den schneebedeckten Felsen des vereisten Passes, auf dem sie das Treffen anberaumt hatten, tauchte ein blauweißes Gesicht auf. Der von einem Bart umkränzte Kopf war ungefähr so groß wie ein Eisbär und der dazugehörige Körper entsprechend proportioniert. Der Neuankömmling wedelte mit einer Kiefer, die er mitsamt den Wurzeln ausgerissen hatte.
»Ein Eisgigant!«, rief Bikeinoh aus. »Bei den Göttern, ich dachte, die wären ausgestorben.«
Talea bemerkte die ausgetrockneten Augen und das verweste Fleisch der Kreatur, unter dem die Wangenknochen und Teile des Schädels zu erkennen waren. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das auch sind. Lauf!«
Der Gigant ging langsam und brachte mit jedem schwerfälligen Schritt die Erde zum Zittern. Auch die Forgurogh flohen vor ihm, denn er achtete nicht darauf, wen er mit seinem Baum traf. Höchstwahrscheinlich betrachtete ein untoter Eisgigant jeden als Feind.
Die Pfeile der Verschmähten, die sich in seine Brust bohrten, machten ihm nicht das Geringste aus.
»Verschwendet nicht eure Munition!«, rief Talea.
Sie mussten irgendetwas unternehmen. Aber was? Sollten sie versuchen, ihn zum Stolpern zu bringen? Die Idee schien gar nicht abwegig, doch ob er tatsächlich langsamer würde, wenn sie seine Fußsehnen durchschnitten, hing von dem Bann ab, unter dem er stand, beziehungsweise von dem Dämon, der sich seiner bemächtigt hatte. Sie hatten nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
In diesem Augenblick tauchte hinter den Felsen auf der Südseite des Passes Xivan auf. Sie sprang aus vollem Lauf ab, schnellte in einem perfekten Bogen durch die Luft und landete unmittelbar unter dem Nacken auf dem Rücken des Eisgiganten. Dann holte sie mit dem schwarzen Schwert, das sie in der Hand hielt, zu einem horizontalen Hieb aus. Die Klinge, die eigentlich nicht lang genug war, um den Eisgiganten mit einem einzigen Schlag zu enthaupten, wuchs auf die doppelte Größe an und schnitt durch das tote Fleisch und die Knochen des Wesens, als wäre sein Hals mit Gänsedaunen und Kinderreimen gefüllt.
Xivan blieb auf dem umkippenden Giganten stehen und sprang erst kurz vorher ab, bevor er aufschlug und den gesamten Pass zum Beben brachte. Während sie das schwarze Schwert – Gottesschlächter, Urthaenriel, oder wie auch immer man dieses verfluchte Ding nennen wollte – in die Scheide zurückschob, schrumpfte es wieder auf eine akzeptable Länge zusammen.
Die yorische Herzogin wischte sich eine unsichtbare Schneeflocke von ihrem Umhang und kam zu Talea herüber.
Der stockte bei ihrem Anblick wie immer der Atem. Xivans Aussehen schwankte extrem. Ihre dunkle khorveschische Haut sah abwechselnd wie verwittertes altes Leder oder wie der liebliche rosige Teint eines jungen Mädchens aus, das zu lange im Schnee unterwegs gewesen war – je nachdem, wann sie zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte. Ihre schwarzen Locken hatte sie mit silbernen Spangen zurückgesteckt. Ihre weißen Augen waren das Einzige an ihr, das yorisch aussah, wenn auch aus dem falschen Grund.
»Was hast du mir zu berichten?«, fragte Xivan, während sie an Leutnant Talea vorbei zu dem mit Leichen übersäten Versammlungsort ging.
»Die Zahl der Toten steht noch nicht fest«, antwortete Talea, »aber wir haben Häuptling Mazagra28 gefangen genommen und ihn hergebracht, damit du ihn verhören kannst.«
»Irgendeine Spur von der Königshündin?«
Xivan meinte Suless. Sie nannte die Göttin fast nie bei ihrem richtigen Namen. Tatsächlich war »Königshündin« einer von Suless’ offiziellen Titeln, doch Xivan gebrauchte ihn mit erheblich weniger Respekt als Suless’ yorische Anhänger.
Talea schüttelte den Kopf. »Nein, nichts, aber ich wäre überrascht, wenn sie uns nicht beobachten würde.«
Sie hatten sich intensiv mit den alten Geschichten und Gottkönigmärchen über Suless befasst und herausgefunden, dass sie wörtlich zu verstehen waren. Ja, Suless konnte anderen den Verstand vernebeln, Seelen stehlen und wilde Tiere wie Krähen, Schneehyänen, weiße Füchse und Eisbären für sich spionieren lassen. Sie durften die Göttin auf keinen Fall unterschätzen.
»Das würde mich auch nicht überraschen«, stimmte Xivan zu und unterstrich ihre Worte mit einer obszönen Geste in Richtung Waldrand. Sie blieb vor dem Zelt stehen, in dem das Treffen abgehalten worden wäre, wenn die andere Seite sich ehrenhaft verhalten hätte. Die mit Pfeilen gespickte Wachsplane brannte. Xivan ging an dem tosenden Feuer vorbei zu einer Frau, die einen brüllenden Kerl in Fellen und Lederrüstung auf den Boden drückte. Ein paar andere Frauen hielten ihre Schilde über den Mann, um ihn vor Pfeilen zu schützen. Die Verschmähten gingen davon aus, dass Mazagras Männer ihn ohne Zögern erschießen würden, jetzt, da er in die Hand des Feindes geraten war.
»Hör auf, dich zu wehren«, befahl Xivan, »oder ich sage Nezessa, sie soll dir die Arme brechen. Es wäre ihr ein Leichtes.«
Das stimmte. Nezessa war die Stärkste von ihnen.
Der Häuptling des Forgurogh-Klans warf Xivan einen angewiderten Blick zu und spuckte aus. »Ich habe dir nichts zu sagen, du Hure.«
»O nein, das stimmt nicht«, entgegnete Xivan. »Du wirst mir zum Beispiel sagen, wo Suless hingegangen ist.« Sie hockte sich neben dem Häuptling auf die Fersen. »Lass mich eines klarstellen, Mazagra: Es ist nicht nötig, dass du es mir sagst. Ich kann es auch allein herausfinden. Im Moment geht es mir nur darum zu entscheiden, ob ich dich und deinen gesamten Klan zur Abschreckung für die anderen auslöschen soll.«
Er machte große Augen. »Das würdest du nicht wagen.«
Xivan lachte. »Was hat Suless dir erzählt? Hat sie dir eingeredet, ich wäre weichherzig? Dass ich nachsichtig mit dir umgehen würde, weil meine Soldaten Frauen sind?«
Darüber lachten Talea und alle anderen Verschmähten in Hörweite.
»Mein Gemahl Azhen hat einmal einen ganzen Klan vernichtet«, fuhr Xivan fort, »und ich erinnere mich noch gut, wie erfolgreich diese Taktik war. Danach haben ihn alle viel ernster genommen. Möchtest du auch als so ein Beispiel herhalten? Die Leute werden noch jahrelang darüber tuscheln, was mit dem Forgurogh-Klan passiert ist.«
Er zuckte zusammen. Talea merkte es und wusste, dass er lange vor Xivan die Nerven verlieren würde. Und sie wusste, dass Xivan es ebenso mitbekommen hatte.
»Du weißt nicht, was sie tun wird!«, bellte Mazagra. »Sie ist unsere Göttin. Man darf sich einer Göttin nicht widersetzen!«
»Das werden wir ja sehen.« Xivan stand auf und ging davon.
Talea folgte ihr. »Was wollt Ihr mit dem Klan anstellen?«
Xivan zog ein finsteres Gesicht. »Azhen hatte große Pläne mit ihnen. Er wollte ihnen zeigen, dass es etwas Besseres als all diese sinnlose Brutalität gibt, diesen Irrglauben, dass immer die Starken die Schwachen beherrschen müssen. Er wollte, dass die Yorer nicht länger die Barbaren sind, für die der Rest von Quur sie hält. Und deswegen haben sie ihn gehasst.«