Der Untergang des Morgenlandes - Bernard Lewis - E-Book

Der Untergang des Morgenlandes E-Book

Bernard Lewis

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Beschreibung

Die Probleme der islamischen Welt sind unübersehbar, ebenso deren Folgen für den Westen. Mit dieser provokanten Feststellung analysiert Beranard Lewis die historische Entwicklung des Orients - insbesondere des Osmanischen Reiches und seine Nachfolgestaaten: Die einstige Drehscheibe der Kultur, des Fortschritts und der Kunst verlor im Laufe der Geschichte ihre zivilisatorische Vormachtrolle gegenüber dem Westen und geriet in einen konfliktträchtigen Dualismus zwischen Tradition und Moderne. Das E-Book wendet sich an Leser und Leserinnen, die sich für Lösungsansätze der Krise zwischen der islamischen und der westlichen Welt interessieren: Themenfelder wie Wohlstand und Macht, soziale und kulturelle Schranken, Modernisierung und soziale Gleichheit, Säkularismus und Zivilgesellschaft. Zeit, Raum und Modernität sind die Leitfäden der Darstellung. Die Originalausgabe des Bandes aus der Feder des Princeton-Emeritus Lewis erschien unter dem Titel "What went wrong?".

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Seitenzahl: 302

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ÜBER DEN AUTOR

Der Engländer Bernard Lewis ist Professor emeritus für Near Eastern Studies an der renommierten amerikanischen Princeton University. Seine Bücher wurden in 22 Sprachen übersetzt. Weltweite Vortrags- und Lehrtätigkeit, unter anderem in vielen islamischen Ländern. Außerordentlich zahlreiche Buchveröffentlichungen; davon u.a. auf Deutsch: Der Atem Allahs; Die Assassinen; Kultur und Modernisierung im Nahen Osten; Stern, Kreuz und Halbmond.

Bernhard Lewis

Der Untergang des Morgenlandes

Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor

Aus dem Englischen übersetzt von Bringfried Schröder und Marita Kluxen-Schröder

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2002 by Bernard Lewis Titel der amerikanischen Originalausgabe: »What Went Wrong?« This translation, originally published in English in 2002 by Oxford University Press, Inc., is published by arrangement with Oxford University Press, Inc., USA.

Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2002 by Bastei Lübbe AG, Köln Titelbild: JahnDesign Thomas Jahn, Erpel/Rhein unter Verwendung eines Fotos von Mediacolors, Zürich E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-5792-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

INHALT

VorbemerkungWas ist schief gelaufen?1   Die Lektionen auf dem Schlachtfeld2   Das Streben nach Wohlstand und Macht3   Soziale und kulturelle Schranken4   Modernisierung und soziale Gleichheit5   Säkularismus und Zivilgesellschaft6   Zeit, Raum und Modernität7   Aspekte des kulturellen WandelsSchlussNachwortAnmerkungenZu den AbbildungenRegister

VORBEMERKUNG

Als am 11. September 2001 die terroristischen Anschläge auf New York und Washington verübt wurden, war dieses Buch bereits in Produktion. Diese Ereignisse sind also nicht unmittelbarer Gegenstand des Buches. Trotzdem hat es mit diesen Anschlägen zu tun: nicht, indem es untersucht, was passierte und was unmittelbar darauf folgte, sondern indem es sich mit den größeren Zusammenhängen, Ideen und Einstellungen beschäftigt, die diesen Ereignissen vorausgingen und sie bis zu einem gewissen Grad mit verursacht haben.

Bernard Lewis

Princeton, N.J.

WAS IST SCHIEF GELAUFEN?

Seit langer Zeit stellen sich die Menschen in der islamischen Welt – besonders im Nahen Osten, dem alten Osmanischen Reich – diese Frage: Was ist schief gelaufen?    

Die Frage war ausgelöst worden durch das Zusammentreffen mit dem Westen. Inhalt und Ausformulierung der Frage können sich allerdings erheblich unterscheiden. Sie richten sich nach Umständen, Ausmaß und Dauer dieses Zusammentreffens und nach den Ereignissen, die zeigten, dass mit der Gesellschaft nicht alles in Ordnung war. Doch in welcher Form auch immer die Frage gestellt wird und wie auch immer die Antworten darauf lauten mögen: Es kann keinen Zweifel geben an der schmerzlichen Betroffenheit, an der wachsenden Dringlichkeit und vor allem in letzter Zeit an der aufschäumenden Wut, die sich sowohl in der Frage als auch in der Antwort ausdrücken.

Es gibt tatsächlich gute Gründe, diese Frage zu stellen und auch beunruhigt, ja sogar wütend zu sein. Viele Jahrhunderte lang nahm die Welt des Islam mit ihren Errungenschaften eine Spitzenposition ein. In den Augen der Muslime war der Islam der Inbegriff von Kultur. Jenseits der Grenzen gab es für sie nur Barbaren und Ungläubige. Diese Art der Selbst- und Fremdwahrnehmung kennen wir aus fast jeder anderen Kultur – aus Griechenland, Rom, Indien, China, und man könnte ohne weiteres noch Beispiele aus jüngerer Zeit hinzufügen.

In der Zeit zwischen dem Ausgang des Altertums und der aufkommenden Moderne – das ist jene Periode, die in der europäischen Geschichte als das Mittelalter bezeichnet wird – hatte dieser islamische Anspruch durchaus seine Berechtigung. Natürlich war den Muslimen damals klar, dass es auf der Welt noch andere, mehr oder weniger zivilisierte Gesellschaften gab, zum Beispiel China, Indien oder das christliche Europa. Aber China war weit weg und kaum bekannt; Indien befand sich in einem Prozess der Unterwerfung und Islamisierung. Die Christenheit nahm mit Sicherheit eine gewisse Sonderstellung ein, da sie der einzige ernst zu nehmende Rivale des Islam war, wenn es um den Anspruch als Weltglauben und Weltmacht ging. Aber aus der Sicht der Muslime würde dieser Glaube durch die endgültige islamische Offenbarung verdrängt und die Macht der Christenheit nach und nach durch die göttlich geführte Macht des Islam besiegt.

Für die meisten Muslime des Mittelalters wurde die Christenheit vor allem durch das Byzantinische Reich repräsentiert. Das aber wurde mit der Zeit immer schwächer, bis es mit der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken im Jahre 1453 völlig unterging. Die weiter entfernten Länder Europas betrachtete man ähnlich wie die abgelegeneren Länder in Afrika – dort lebten nur Barbaren und Ungläubige, von denen man nichts lernen konnte, und außer Sklaven und Rohstoffen ließ sich kaum etwas importieren. Sowohl die nördlichen als auch die südlichen Barbaren konnten nach Meinung der Muslime nur hoffen, eines Tages in das Reich der Kalifen aufgenommen zu werden, um auf diese Weise in den Genuss von Religion und Kultur zu kommen.

In den ersten tausend Jahren nach der Entstehung des Islam schien das auch gar nicht so unwahrscheinlich, und die Muslime versuchten immer wieder, dieses Ziel zu erreichen. Im 7. Jahrhundert rückten islamische Armeen von Arabien aus nach Syrien, Palästina, Ägypten und Nordafrika vor und eroberten diese bis dahin christlichen Gebiete. Tatsächlich waren die meisten der neuen Muslime westlich des Irans und Arabiens konvertierte Christen. Im 8. Jahrhundert eroberten arabische Muslime, zu denen sich jetzt auch konvertierte Berber gesellt hatten, von ihren Stützpunkten in Nordafrika aus Spanien und Portugal und drangen in Frankreich ein. Im 9. Jahrhundert nahmen sie Sizilien und Teile des italienischen Festlands in Besitz. Im Jahre 846 drangen arabische Schiffe von Sizilien aus zum Tiber vor und besetzten Ostia und Rom. Daraufhin versuchten die Christen zum ersten Mal, einen wirkungsvollen Gegenangriff zu organisieren. Die Feldzüge zur Rückeroberung des Heiligen Landes, die so genannten Kreuzzüge, endeten allerdings mit der Niederlage und Vertreibung der christlichen Armeen.

In Europa waren sie dagegen erfolgreicher. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts hatte man die Muslime wieder aus Sizilien vertrieben, und 1492, ungefähr acht Jahrhunderte nach ihrer Landung, endete der lange Kampf um die Rückeroberung mit einem Sieg der Christen, denen jetzt der Weg nach Afrika und Asien offen stand. In der Zwischenzeit gab es jedoch noch weitere muslimische Bedrohungen des christlichen Europas. Im Osten eroberten die Tataren von der Goldenen Horde zwischen 1237 und 1240 Russland, und 1258 konvertierten der Khan von der Goldenen Horde und sein Volk zum Islam. Russland und auch ein großer Teil Osteuropas standen bis 1480 unter muslimischer Herrschaft. Erst Ende des 15. Jahrhunderts konnten die Russen sich vom »Joch der Tataren« befreien. In der Zwischenzeit hatte eine weitere Welle muslimischer Angriffe eingesetzt. Die osmanischen Türken bezwangen zunächst Anatolien, nahmen dann die alte christliche Metropole Konstantinopel in Besitz, eroberten und kolonisierten den Balkan und bedrohten das Zentrum Europas, als sie zweimal bis Wien gelangten.

1  Der Bosporus mit den Burgen von Europa und Asien

Auf dem Höhepunkt der islamischen Macht gab es nur eine Kultur, die im Hinblick auf das Niveau und die Vielzahl der Errungenschaften vergleichbar war, und das war natürlich China. Aber diese chinesische Kultur beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Region, nämlich auf Ostasien, und auf eine einzige ethnische Volksgruppe. Sie wurde zwar bis zu einem gewissen Grad exportiert, aber nur in benachbarte Länder und verwandte Völker. Der Islam schuf dagegen eine weltweite Kultur, die aus vielen Völkern und Rassen bestand und die international, ja, man könnte sogar sagen, interkontinental war.

Jahrhundertelang schienen die Weltsicht und das Selbstbild der Muslime durchaus begründet. Der Islam verfügte über die größte Militärmacht weltweit – seine Armeen fielen gleichzeitig in Europa, Afrika, Indien und China ein. Er war die bedeutendste Wirtschaftsmacht der Welt und unterhielt ausgedehnte Handelsbeziehungen und Verbindungen zu Asien, Europa und Afrika. Aus Afrika führte man Sklaven und Gold ein, aus Europa Sklaven und Wolle. Darüber hinaus tauschte man mit den zivilisierten Ländern Asiens eine Vielzahl von Lebensmitteln, Rohstoffen und Gebrauchsgütern aus. Der Islam hatte im Hinblick auf die Künste und Wissenschaften das höchste kulturelle Niveau in der Geschichte der Menschheit erreicht. Man hatte das Wissen und die Fertigkeiten des antiken Nahen Ostens, Griechenlands und Persiens1 übernommen und außerdem wesentliche Innovationen von außen eingeführt, so zum Beispiel aus China die Herstellung und Verwendung von Papier und aus Indien das Dezimalsystem. Es dürfte schwer fallen, sich die moderne Literatur oder Wissenschaft ohne diese beiden Errungenschaften vorzustellen. Die indischen Zahlen wurden im Nahen Osten in das überlieferte mathematische System integriert. Von dort aus gelangten sie dann in den Westen, wo sie auch heute noch »arabische Zahlen« genannt werden – nicht um diejenigen zu ehren, die sie erfunden haben, sondern die, die sie nach Europa brachten. Zu diesem Erbe steuerten Wissenschaftler und Gelehrte der islamischen Welt eigene Beobachtungen, Experimente und Ideen bei. In den meisten Künsten und Wissenschaften ging das mittelalterliche Europa bei den Muslimen in die Lehre und war in gewisser Weise abhängig von der islamischen Welt: Man berief sich sogar auf die arabischen Versionen ansonsten unbekannter griechischer Werke.

Und dann veränderte sich plötzlich die Situation. Noch vor der Renaissance machten die Europäer bedeutende kulturelle Fortschritte. Mit dem Beginn des Studiums antiker Originalschriften machten sie eine geradezu sprunghafte Entwicklung durch. Sie ließen das islamische Erbe – die Wissenschaften, die Technologie und schließlich auch die Kultur – weit hinter sich.

Es dauerte lange, bis dieser Prozess den Muslimen bewusst wurde. Die Zeit der großen Übersetzungen, die ihnen und anderen arabischen Lesern Jahrhunderte zuvor zahlreiche griechische, persische und syrische Werke nahe gebracht hatten, war zu Ende gegangen. Andererseits blieb ihnen die neue wissenschaftliche Literatur aus Europa fast völlig unbekannt. Bis Ende des 18. Jahrhunderts war erst ein einziges medizinisches Fachbuch in eine Sprache des Nahen Ostens übersetzt worden – eine Abhandlung über die Syphilis, die Sultan Mehmed IV. 1655 in türkischer Sprache vorgelegt wurde.2 Sowohl die Auswahl des Buches als auch das Datum sind interessant. Die Krankheit, die angeblich aus Amerika kam, hatte über Europa auch den Weg in die islamische Welt gefunden. Noch heute wird sie in den arabischen, persischen und türkischen Sprachen »fränkische Krankheit« genannt. Es schien daher durchaus angemessen zu sein, ein fränkisches Mittel gegen eine fränkische Krankheit zu finden. Abgesehen davon gingen sowohl die Renaissance als auch die Reformation und die technologische Revolution praktisch unbemerkt an den islamischen Ländern vorbei. Dort tendierte man immer noch dazu, die Bewohner der Länder jenseits der westlichen Grenzen als völlig ungebildete Barbaren zu betrachten, die sogar den kultivierteren Ungläubigen in Ostasien unterlegen waren. Die besaßen zumindest nützliche Fertigkeiten und Apparate, die man übernehmen konnte; die Europäer hatten weder das eine noch das andere. Lange Zeit war das tatsächlich so gewesen, jetzt aber war diese Ansicht überholt, und das barg große Gefahren in sich.

In der Regel spielen sich die Lektionen der Geschichte für alle sichtbar auf dem Schlachtfeld ab. Es kann jedoch eine Zeit lang dauern, bis sie dann auch wirklich verstanden und umgesetzt werden. Für die Christen waren die endgültige Niederlage der Mauren in Spanien im Jahre 1492 und die Befreiung Russlands von der Herrschaft der islamisierten Tataren verständlicherweise entscheidende Siege. Ähnlich wie die Spanier und Portugiesen verfolgten auch die Russen ihre ehemaligen Unterdrücker bis in deren Heimat, allerdings mit bedeutend größerem und nachhaltigerem Erfolg. Nach der Eroberung von Astrachan im Jahre 1554 gelangten die Russen bis ans Kaspische Meer. Im folgenden Jahrhundert erreichten sie dann die nördliche Küste des Schwarzen Meers. Damit begann der lange Prozess der Eroberung und Kolonisierung islamischer Gebiete, die nach und nach dem russischen Herrschaftsbereich einverleibt wurden.

Im Kernland des Islam nahm man das, was sich an den fernen Grenzen der Zivilisation ereignet hatte, nicht sonderlich ernst. Für die Muslime stand im 13. Jahrhundert die schimpfliche Vertreibung der Kreuzritter aus der Levante im Vordergrund. Die Einnahme Konstantinopels im Jahre 1453 und der triumphale Vormarsch der türkischen Streitkräfte auf dem Balkan, der sie schließlich bis vor die Kaiserstadt Wien führte, taten ein Übriges. Das Ganze vermittelte ihnen den Eindruck eines unaufhaltsamen Vormarsches des Islam und einer Niederlage der Christenheit.

Der osmanische Sultan musste sich, ähnlich wie sein Gegenspieler, der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, mit politischen Rivalen und Sektierern in seinem eigenen religiösen Umfeld herumschlagen. Aber er hatte bei diesen Auseinandersetzungen mehr Erfolg. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten die Osmanen zwei islamische Nachbarstaaten. Der ältere von beiden war das Mamelucken-Sultanat von Ägypten mit der Hauptstadt Kairo (Misr el-Kahira). Es herrschte über ganz Syrien und Palästina, vor allem aber über die heiligen Stätten des Islam im westlichen Arabien. Der andere Nachbar war Persien, das durch eine neue Dynastie vereinigt worden war und mit einer neuen religiösen Militanz zusammengehalten wurde. Gründer dieser Dynastie war Schah Ismā‘īl Safavī (Regierungszeit 1501–1524), ein türkisch sprechender Schiite aus Aserbaidschan. Zum ersten Mal seit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert brachte er alle Regionen des Irans unter eine zentrale Herrschaft. Er war eher ein Religionsführer als ein militärischer oder politischer Herrscher. Er machte den Schiismus zur offiziellen Staatsreligion, wodurch er das islamische Reich des Irans scharf von den sunnitischen Nachbarn zu beiden Seiten absetzte – im Osten von Zentralasien und Indien, im Westen vom Osmanischen Reich.

Eine Zeit lang stellten er und seine Nachfolger, die Schahs der Safawiden-Dynastie, den Anspruch der osmanischen Sultane auf politische Vorherrschaft und religiöse Führerschaft infrage. Der osmanische Sultan Selim I., der den Beinamen »der Strenge« trug und von 1512 bis 1520 regierte, unternahm Feldzüge gegen beide Nachbarn. Er errang einen wichtigen, aber unvollständigen Sieg gegen den Schah und einen endgültigen Sieg über den mameluckischen Sultan von Ägypten. Ägypten und seine Vasallen wurden daraufhin dem Osmanischen Reich einverleibt. Persien blieb im Wesentlichen isoliert, ein rivalisierender und feindlicher Staat. Busbecq, der kaiserliche Gesandte in Istanbul, ging sogar so weit, zu sagen, dass nur die Bedrohung durch Persien Europa vor einer direkten Eroberung durch die Türken gerettet habe:

»Die türkische Seite verfügt über die Ressourcen eines mächtigen Imperiums und über eine ungeahnte Stärke. Die Türken sind gewöhnt zu siegen, können Strapazen ertragen, sind geeint, diszipliniert, genügsam und stets wachsam. Auf unserer Seite gibt es dagegen nur die Armut der Massen, privaten Luxus Einzelner, wenig Kraft, kaum Mut, keine Ausdauer und schlechte Ausbildung. Die Soldaten widersetzen sich den Befehlen, die Offiziere sind habgierig, Disziplin wird verachtet, Zügellosigkeit, Leichtsinn, Trunkenheit und Ausschweifungen sind an der Tagesordnung. Aber das Schlimmste ist, dass der Feind siegesgewiss ist, während wir selbst uns an Niederlagen gewöhnt haben. Kann man unter diesen Voraussetzungen noch Zweifel haben, wie das Ergebnis aussehen wird? Nur Persien stellt sich zu unseren Gunsten dazwischen, denn wenn der Feind angreifen sollte, darf er nicht die Bedrohung in seinem Rücken aus den Augen verlieren. Aber Persien kann unser Schicksal nur hinauszögern, es kann uns nicht retten. Sobald die Türken sich mit Persien geeinigt haben, werden sie uns an die Kehle gehen, und dabei wird sie der ganze Osten unterstützen. Ich wage gar nicht, daran zu denken, wie wenig wir darauf vorbereitet sind.«3

In jüngster Zeit haben westliche Beobachter in ähnlicher Weise von der Sowjetunion und China gesprochen, und auch sie haben sich getäuscht.

Busbecqs Ängste waren, wie sich herausstellen sollte, unbegründet. Osmanen und Perser bekämpften sich bis ins 19. Jahrhundert, also bis zu einer Zeit, in der sie für niemanden mehr, außer für ihre eigenen Bürger, eine Bedrohung darstellten. Damals wurde gelegentlich der Gedanke einer Allianz zwischen der Christenheit und Persien erörtert, der jedoch nicht weiter verfolgt wurde. Im Jahre 1523 schickte Schah Ismā‘īl, der immer noch unter seiner Niederlage litt, Kaiser Karl V. einen Brief, in dem er sein Erstaunen darüber ausdrückte, dass die europäischen Mächte sich gegenseitig bekämpften, statt gemeinsam gegen die Osmanen vorzugehen. Sein Appell stieß jedoch auf taube Ohren, und der Kaiser beantwortete diesen Brief erst im Jahre 1529, als Schah Ismā‘īl bereits fünf Jahre tot war.

2  Ein europäischer Besucher. Wandmalerei im Gartenpalast Tschehel-Sutun, dem Palast der vierzig Säulen, in Isfahan (Esfahan). Der Palast stammt aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert und wurde 1706 wiedererrichtet.

Zunächst war Persien gelähmt, und unter Selims Nachfolger Süleiman I., dem Prächtigen (Regierungszeit 1520 bis 1566), leiteten die Osmanen eine neue Phase der Expansion in Europa ein. Bei der großen Schlacht von Mohács in Ungarn im August 1526 errangen die Türken einen entscheidenden Sieg, der zur ersten Belagerung Wiens im Jahre 1529 führte. Der Umstand, dass es den Türken diesmal nicht gelungen war, Wien zu erobern, wurde von beiden Seiten nur als Aufschub, nicht als Niederlage betrachtet. Damit begann ein langer Kampf um die Vorherrschaft in Europa.

Hier und da gelang es den Christen, ein paar Erfolge zu erringen, darunter 1571 den bemerkenswerten Sieg bei der Seeschlacht von Lepanto (griech. Naupaktos) im Golf von Patras in Griechenland. In Europa wurde das als großer Triumph gefeiert. Die gesamte Christenheit jubelte den Siegern zu, und König James VI. von Schottland, später James I. von England, schrieb zur Feier des Tages sogar ein langes, ekstatisches Gedicht.4 In den türkischen Archiven liegt der Bericht, den Kapudan Pascha, der Oberbefehlshaber der Flotte, über die Schlacht von Lepanto verfasst hat. Er besteht nur aus zwei Sätzen: »Die Flotte des von Gott gelenkten Imperiums traf auf die Flotte der armseligen Ungläubigen, und die Gunst Allahs neigte sich der anderen Seite zu.«5 Für einen militärischen Bericht mangelte es in diesem Fall zwar an Einzelheiten, aber nicht an Offenheit. In der osmanischen Geschichte ist diese Schlacht nur unter der Bezeichnung Sıngın bekannt, was im Türkischen so viel wie »Schlappe« oder »vernichtende Niederlage« heißt.

Was für eine Bedeutung hat Lepanto? Die Antwort lautet: keine besonders große. Wenn wir die umfassendere Frage nach der Seemacht stellen, ganz zu schweigen von der gesamten militärischen Stärke in dieser Region, dann stellte Lepanto für die Osmanen nur einen unbedeutenden Rückschritt dar, der schnell wieder wettgemacht werden konnte. Die damalige Situation wird sehr gut durch ein Gespräch veranschaulicht, das uns von einem osmanischen Chronisten überliefert wurde. Er berichtet, dass Sultan Selim II. den Großwesir Sokollu Mehmed Pascha nach den Kosten für den Wiederaufbau der bei Lepanto zerstörten Flotte gefragt hat. Der Wesir antwortete: »Macht und Reichtum unseres Imperiums sind so groß, dass wir die gesamte Flotte mit silbernen Ankern, einer Takelage aus Seide und Segeln aus Satin ausrüsten könnten, wenn wir es wollten.«6 Das war offensichtlich eine poetische Übertreibung, aber trotzdem eine ziemlich objektive Beurteilung der wirklichen Bedeutung von Lepanto – eine wichtige Angelegenheit für den Westen, für den Osten nur eine Lappalie. Die große Bedrohung blieb also bestehen. Auch im 17. Jahrhundert regierten in Budapest und Belgrad immer noch türkische Paschas, und Berber-Korsaren aus Nordafrika überfielen die Küsten von England und Irland, 1627 sogar Island. Ihre menschliche Beute verkauften sie dann auf den Sklavenmärkten von Algier.

Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts wurde Persien noch einmal zu einem wichtigen Faktor in diesem Kampf. Schah ’Abbās I., genannt der Große, war in vieler Hinsicht der erfolgreichste Herrscher dieses Hauses. Als er 1598 nach einem Sieg über die Usbeken Zentralasiens in seine Hauptstadt zurückkehrte, nahm eine Gruppe von Europäern, die von zwei Brüdern geführt wurde, Kontakt zu ihm auf. Es waren Sir Anthony und Sir Robert Sherley aus England. Vermutlich auf ihre Anregung hin schickte er Freundschaftsbriefe an den Papst, den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs und verschiedene europäische Monarchen und Herrscher, darunter auch an die Königin von England und den Dogen von Venedig. Aber diese Schreiben hatten kaum eine Bedeutung. Wichtiger war die Umorganisation und Aufrüstung seiner Streitkräfte, die er mithilfe der Gebrüder Sherley und anderer Europäer durchführte. Zwischen 1602 und 1612 und dann noch einmal zwischen 1616 und 1627 lag Persien mit der Türkei im Krieg, und die Perser konnten eine Reihe von Siegen erringen. Da die Türken durch diese Auseinandersetzungen im Osten abgelenkt waren, mussten sie 1606 Frieden mit Österreich schließen.

Das Abkommen von Zsitvatorok, das im gleichen Jahr unterzeichnet wurde, ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Alle vorhergehenden Abkommen waren von den Türken in ihrer Hauptstadt Istanbul diktiert worden. Dieses wurde dagegen auf neutralem Boden auf einer Donau-Insel geschlossen. Noch wichtiger ist womöglich die damit verbundene Anerkennung des Kaisers als »Padischah«. Bis zu diesem Zeitpunkt war es eine gängige Praxis der Osmanen gewesen, europäische Regenten entweder mit untergeordneten Titeln zu belegen, so zum Beispiel Bei. Noch häufiger verwendeten sie eine Anrede, die sie für einen europäischen Titel hielten. So wurde zum Beispiel ein osmanischer Brief an Königin Elisabeth an die »Königin (kiraliçe) des Vilayet von England« adressiert, während der Kaiser als »König (kiral) von Wien« angesprochen wurde.7Kiral und Kiraliçe waren natürlich europäische Titel und nicht türkischen Ursprungs. Sie wurden von den Osmanen auf ähnliche Weise benutzt, wie die Engländer ihre eigenen Titel für Prinzen in Indien verwendeten. Der Titel »Padischah«, den auch die osmanischen Sultane selbst innehatten, stellte also eine formale Anerkennung der Gleichheit dar.8

Auch wenn die Muslime den ungläubigen Westen verachteten, wussten sie doch nur zu gut seine Fertigkeiten bei der Bewaffnung und Kriegsführung zu schätzen. Die anfänglichen Erfolge der Kreuzritter in der Levante hatten die muslimischen Kriegsministerien davon überzeugt, dass die westlichen Waffen zumindest in mancher Hinsicht ihren eigenen überlegen waren, und sie reagierten schnell auf diese Erkenntnis. Man beschäftigte westliche Kriegsgefangene beim Festungsbau, westliche Söldner und Abenteurer wurden eingestellt, und der Handel mit Waffen und anderen Materialien nahm im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu. Selbst als die Türken des Osmanischen Reichs schon nach Südosteuropa vorrückten, konnten sie noch die dringend benötigten Ausrüstungsgegenstände für ihre Flotte und die Armee von christlich-europäischen Lieferanten kaufen und europäische Experten in ihren Dienst stellen. Es gelang ihnen sogar noch in dieser Situation, finanzielle Mittel von europäischen Banken zu bekommen. Das, was wir heute »konstruktives Engagement« nennen, hat also schon eine lange Tradition.

All das hatte jedoch wenig oder gar keinen Einfluss auf die Einstellungen und Sichtweisen der Muslime, solange ihre Armeen im Kernland von Sieg zu Sieg eilten. Die Sultane kauften Kriegsmaterial und militärische Kenntnisse gegen Bargeld und betrachteten das als eine rein geschäftliche Transaktion. Vor allem die Türken übernahmen solche europäischen Erfindungen wie Handfeuerwaffen und Artilleriegeschütze und setzten sie mit großem Erfolg ein. Das bedeutete aber keineswegs, dass sie ihre Meinung über die ungläubigen Barbaren geändert hätten, denen sie diese Waffen verdankten.

Es wurden jedoch auch andere Stimmen laut. Schon im 16. Jahrhundert bemerkte ein pensionierter osmanischer Großwesir, dass die muslimischen Streitkräfte zwar auf dem Land überlegen seien, die Ungläubigen jedoch zur See immer stärker würden. »Wir müssen sie besiegen.«9 Seine Botschaft fand jedoch kaum Gehör. Im frühen 17. Jahrhundert stellte ein anderer osmanischer Regierungsbeamter beunruhigt fest, dass die Zahl der portugiesischen, niederländischen und englischen Handelsschiffe in asiatischen Gewässern zugenommen hatte, und warnte vor den damit verbundenen Gefahren.10

Diese Bedrohung war durchaus real und nahm ständig zu. Als der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama Ende des 15. Jahrhunderts um Afrika herum in den Indischen Ozean gesegelt war, hatte er einen neuen Seeweg zwischen Europa und Asien entdeckt, was für den Nahen und Mittleren Osten sowohl kommerziell als später auch strategisch weit reichende Folgen haben sollte. Schon 1502 hatte die Republik Venedig, der größte Nutznießer des östlichen Gewürzhandels, einen Abgesandten nach Kairo geschickt, um den Sultan von Ägypten vor den Gefahren zu warnen, die dieser neue Seeweg für den Handel zwischen ihren Ländern darstellte. Zuerst schenkte der Sultan dieser Botschaft wenig Beachtung, aber der plötzliche Einbruch seiner Zolleinnahmen lenkte seine Aufmerksamkeit dann doch auf dieses neue Problem. Ägyptische See-Expeditionen gegen die Portugiesen in östlichen Gewässern blieben jedoch erfolglos, was zweifellos mit zur Niederlage des ägyptischen Sultanats 1516–1517 beigetragen hat. Und das wiederum hatte schließlich zur Folge, dass Ägypten seine gesamten Herrschaftsgebiete an das Osmanische Reich verlor.

Nun übernahmen die Osmanen diese Aufgabe, doch sie waren nicht wesentlich erfolgreicher. Ihre Versuche, die Portugiesen am Horn von Afrika und im Roten Meer zu stellen, waren bestenfalls ergebnislos. Dass die Osmanen an dieser Entwicklung kaum interessiert waren, lässt sich am besten an folgendem Ereignis veranschaulichen. Im Jahre 1563 schickte der muslimische Herrscher von Aceh einen Abgesandten nach Istanbul und bat um Hilfe gegen die Portugiesen. Um seinem Hilferuf den nötigen Nachdruck zu verleihen, fügte er hinzu, dass sich mehrere nichtmuslimische Herrscher in der Region bereit erklärt hätten, zum Islam überzutreten, wenn die Osmanen ihnen zu Hilfe kämen. Die waren aber damals gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigt – so mit der Belagerung von Malta und von Szigetvár (heute: Sziget) in Ungarn. Außerdem war gerade Sultan Süleiman II. gestorben. Erst mit einer Verspätung von zwei Jahren stellten sie eine Flotte von 19 Galeeren und einigen Transportschiffen für Waffen und Versorgungsgüter zusammen, um den Belagerten von Aceh zu Hilfe zu kommen.

Die meisten Schiffe kamen jedoch nie dort an. Der größte Teil dieser Expedition wurde umgeleitet, weil er für andere wichtigere Aufgaben benötigt wurde: Man musste dringend die osmanische Autorität im Jemen wiederherstellen, sodass letzten Endes nur zwei Schiffe, die mit Kanonengießern, Kanonieren und Technikern sowie ein paar Kanonen und anderem Kriegsgerät beladen waren, in Aceh eintrafen. Dort wurden sie in den Dienst des örtlichen Herrschers gestellt und bei den vergeblichen Versuchen, die Portugiesen zu vertreiben, eingesetzt. Die Episode erregte damals offenbar kaum Aufsehen und ist uns nur aus türkischen Archiven überliefert.11 Ob es Absicht war oder Nachlässigkeit, ist nicht geklärt, doch die Osmanen können von Glück sagen, dass sie sich in den orientalischen Gewässern nicht mit der Seemacht der Portugiesen angelegt haben. Die osmanische Flotte mit ihren mittelmeertauglichen Galeeren hätte gegen die bedeutend größeren, besser bewaffneten und leichter zu manövrierenden portugiesischen Handelsschiffe und Galeonen, die für den Atlantik gebaut waren, kaum eine Chance gehabt.

Die Auswirkungen, die der neue Wasserweg zwischen Europa und Asien auf den Transithandel des Nahen Ostens hatte, waren nicht so groß, wie man eine Zeit lang befürchtet hatte. Im gesamten 16. Jahrhundert blühte der Transithandel des Nahen Ostens mit Gewürzen und anderen Gütern zwischen Süd- und Südostasien auf der einen und dem südlichen Europa auf der anderen Seite. Im 17. Jahrhundert entstand jedoch eine neue und – für den Nahen Osten – bedeutend gefährlichere Situation. Inzwischen waren die Portugiesen, Niederländer und andere Europäer nicht mehr einfach nur als Kaufleute in Asien. Sie gründeten dort Niederlassungen, aus denen nach einer gewissen Zeit Kolonien entstanden. Indem sich ihr Machtbereich von der See auf die Seehäfen, ja sogar bis ins Innere der Länder ausdehnte, wurde der Nahe Osten ausmanövriert. Denn die neuen europäischen Imperien in Asien hatten jetzt die Abfahrts- und Ankunftspunkte des Ost-West-Handels unter Kontrolle.

Diese Gefahr bezog sich nicht nur auf die westeuropäische Expansion in Südasien. Es gab außerdem eine russische Expansion in den Norden Asiens, was die muslimischen Herrscher erneut dazu veranlasste, das Osmanische Reich, die damals größte islamische Macht, um Hilfe zu bitten. Daraufhin planten die Osmanen im Jahre 1568, einen Kanal durch den Isthmus von Sues zu graben, der das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbinden sollte. Im folgenden Jahr stellten sie zuerst einmal eine Verbindung zwischen dem Don und der Wolga her. Das Projekt sollte offensichtlich ihre Seehoheit über das Mittelmeer hinaus erweitern, und zwar auf der einen Seite zum Roten Meer und zum Indischen Ozean, auf der anderen zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer hin. Doch anscheinend wurden beide Projekte von den Osmanen als relativ nebensächlich betrachtet und wieder aufgegeben, als sie sich als problematisch erwiesen. Ende des 16. Jahrhunderts zogen sich die Osmanen von der aktiven Teilnahme an beiden Fronten zurück – gegen die Russen in Nord- und Zentralasien und gegen die Westeuropäer in Süd- und Südostasien. Sie konzentrierten stattdessen alle ihre Kräfte auf den Kampf in Europa, das sie – nicht ohne Grund – als wichtigsten Kriegsschauplatz im Kampf zwischen dem Islam und der Christenheit betrachteten. Beide Glaubenslehren rivalisierten miteinander um Erleuchtung – und Beherrschung – der Welt.

Die Siege, die der Westen auf den Schlachtfeldern und auf hoher See errang, wurden von zwar weniger spektakulären, jedoch bedeutend umfassenderen und letzten Endes gefährlicheren Erfolgen auf den Märkten begleitet. Die Entdeckung und Ausbeutung der Neuen Welt bescherte dem christlichen Europa zum ersten Mal reiche Gold- und Silbervorräte. Das fruchtbare Land dieser Kolonien versetzte sie außerdem in die Lage, neue Dinge anzubauen, darunter bislang aus dem Nahen Osten importierte Waren wie Kaffee und Zucker, die man jetzt sogar an die ehemaligen Lieferanten exportieren konnte. Die zunehmende Präsenz der Europäer in Süd- und Südostasien beschleunigte diesen Prozess, und alteingesessene Handwerke standen plötzlich vor einer doppelten Herausforderung: Sie sahen sich mit billigen Arbeitskräften aus Asien konfrontiert und mussten sich mit der europäischen Handelskunst auseinander setzen. Die westlichen Handelskontore, die von ihren geschäftsorientierten Regierungen unterstützt wurden, stellten einen neuen Machtfaktor im Nahen Osten dar. Auch in diesem Fall gab es hier und da besorgte Stimmen, die jedoch kaum Gehör fanden.

Dabei verschärften diese Entwicklungen und die damit verbundenen Veränderungen in den inneren und äußeren Beziehungen die alten Probleme. Und sie schufen zusätzlich neue – währungs- und finanzpolitische, bald auch wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle –, die mit der Zeit immer größer und immer komplexer wurden.12

Das militärische Gleichgewicht blieb im 17. Jahrhundert lange Zeit unverändert. Fast bis zur Mitte des Jahrhunderts war Europa in den Dreißigjährigen Krieg verwickelt gewesen und hatte immer noch mit den Folgen zu kämpfen. Zur gleichen Zeit mussten sich die Osmanen mit Problemen im eigenen Land und an ihrer östlichen Grenze auseinander setzen. 1645 begann ein Krieg mit der Republik Venedig, in dem die Türken zunächst wenig Erfolg hatten. Im Jahre 1656 konnten die Venezianer, die einige Jahre lang die Meerengen blockiert hatten, mit ihrer Flotte sogar in die Dardanellen eindringen und einen Seesieg erringen.

Im gleichen Jahr wurde Mehmed Köprülü, ein albanischer Pascha, zum Großwesir ernannt. Während seiner Regierungszeit (1656–1661) und der seines Sohnes und Nachfolgers Ahmed Köprülü (1661–1678) machte der osmanische Staat eine bemerkenswerte Veränderung durch. Die geschickten, energischen und skrupellosen Herrscher organisierten die Streitkräfte von Grund auf neu, stabilisierten die Finanzen und nahmen die Auseinandersetzungen mit dem christlichen Europa wieder auf. Besonders aktiv war man dabei in Polen und in der Ukraine. Und hier gerieten die Osmanen zum ersten Mal mit Russland in Konflikt. Nach dem Abkommen von Radzin von 1681 verzichteten die Türken auf ihre Ansprüche in der Ukraine und erklärten sich bereit, den Kosaken Handelsrechte auf dem Schwarzen Meer einzuräumen. Diese einschneidende Veränderung kennzeichnet das Auftauchen eines neuen und gefährlicheren Feindes und gleichzeitig auch den Beginn eines langen, harten und erbitterten Kampfes.

In der Zwischenzeit war ein neuer Großwesir ernannt worden. Kara Mustafa Pascha, ein Schwager von Mehmed Köprülü, betrachtete es als seine Pflicht, den Ruhm der Köprülü-Dynastie wiederherzustellen. Im Jahre 1682 begann er einen neuen Krieg gegen Österreich, der seinen Höhepunkt in der zweiten Belagerung Wiens vom 17. Juli bis zum 12. September 1683 fand. Der zweite erfolglose Versuch, diese Stadt einzunehmen, wird am anschaulichsten von dem osmanischen Chronisten Sılıhdar beschrieben: »Es war eine katastrophale Niederlage, so groß wie nie zuvor seit der Entstehung des osmanischen Staates.«13 Man muss die Offenheit bewundern, mit der die Osmanen sich mit unangenehmen Realitäten auseinander setzten.    

Der Niederlage vor Wien folgte eine Reihe von weiteren Misserfolgen. Mit dem Verlust von Buda fanden anderthalb Jahrhunderte osmanischer Herrschaft in Ungarn ihr Ende. An dieses Ereignis erinnert ein türkisches Klagelied aus jener Zeit.

»Sie waschen sich nicht mehr in jenen Brunnen

Und in den Moscheen wird nicht mehr gebetet

Die einst reichen Plätze sind jetzt verlassen

Der Österreicher hat uns unser schönes Buda genommen.«14

Der Rückzug von Wien eröffnete neue Möglichkeiten. Im März 1684 bildeten Österreich, Venedig, Polen, die Toskana und Malta mit dem Segen des Papstes eine Heilige Liga im Kampf gegen das Osmanische Reich. Auch Russland trat den katholischen Mächten in diesem Unternehmen bei. Unter Zar Peter, bekannt als der Große, zog man gegen die Osmanen in den Krieg und errang bedeutende Siege. Am 6. August 1696 nahm Peter der Große Asow ein – die erste russische Festung an der Küste des Schwarzen Meeres.

Inzwischen waren die Türken bereit, Friedensverhandlungen zu führen. Der Friedensprozess begann mit Geheimverhandlungen zwischen dem Kanzler Österreichs und dem neu ernannten osmanischen Großwesir, der – interessanterweise – von seinem obersten Dragoman, Alexander Mavrokordatos, einem Griechen aus Istanbul, begleitet wurde. Im Oktober 1698 trafen sich die Diplomaten in Karlowitz in der Wojwodina. Das Gebiet war erst vor kurzer Zeit von den Österreichern erobert worden, nachdem es vorher unter türkischer Herrschaft gestanden hatte. Am 26. Januar 1699 wurde dann mithilfe britischer und niederländischer Vermittlung ein Friedensvertrag zwischen dem Osmanischen Reich und der Heiligen Liga in Karlowitz unterzeichnet. Etwas später wurde die Abtretung von Asow an die Russen in einem separaten Vertrag besiegelt.

Die Osmanen hatten erhebliche Gebietsverluste hinnehmen müssen. Und sie waren darüber hinaus gezwungen, sich von überholten Vorstellungen und Methoden des Umgangs mit dem Rest der Welt zu verabschieden. Zudem mussten sie eine neue Weise der Diplomatie, Verhandlung und Vermittlung erlernen. Der Krieg war nicht total verloren worden, und der Vertrag bedeutete keine absolute Unterwerfung für sie. So hatten sie sich Anfang des 18. Jahrhunderts sogar wieder ein wenig davon erholt. Aber das militärische Ergebnis war letzten Endes eindeutig – die katastrophale Niederlage vor Wien, die schrecklichen Verluste an Menschen und Material und natürlich die Gebietsverluste. Die Lektion war deutlich, und die Türken begaben sich an die Arbeit, sie zu lernen und umzusetzen.

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DIE LEKTIONEN AUF DEM SCHLACHTFELD

Der Vertrag von Karlowitz hat in der Geschichte des Osmanischen Reiches und in einem weiteren Sinne sogar in der Geschichte der islamischen Welt eine besondere Bedeutung, denn er war der erste Friedensvertrag, den das besiegte Osmanische Reich mit siegreichen christlichen Gegnern schließen musste.

In globaler Hinsicht war das nichts völlig Neues. Der Verlust Spaniens und Portugals, der Aufstieg Russlands und die zunehmende Präsenz der Europäer in Süd- und Südostasien, all das waren Rückschläge, die der Islam durch die Christenheit erlitten hatte. Aber damals war kaum ein Beobachter, ob Muslim oder Christ, in der Lage, das Geschehen aus einer globalen Perspektive heraus zu betrachten. Für die Muslime im Kernland des Nahen Ostens hatten diese Ereignisse nur eine periphere Bedeutung, schienen sie doch kaum geeignet, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen der islamischen und der christlichen Welt entscheidend zu verändern, das sich in dem langen Kampf seit dem Entstehen des Islam im 7. Jahrhundert und dem Überfall der muslimischen Armeen auf die damals noch christlichen Länder Syrien, Palästina, Ägypten, auf Nordafrika und zeitweise auch Südeuropa herausgebildet hatte. Die Kreuzritter hatten den triumphalen Vormarsch des Islam nur vorübergehend aufhalten können, waren dann aber gestoppt, besiegt und vertrieben worden. Die Muslime waren weiter vorgerückt, hatten Byzanz ausgelöscht und damit den Weg nach Europa frei gemacht. Das Reich von Konstantinopel war bereits gefallen, und das Heilige Römische Reich war als Nächstes an der Reihe. Das Bewusstsein, das die Osmanen und allgemein die Muslime von der Welt hatten, in der sie lebten, spiegelt sich wider in der reichlich vorhandenen historischen Literatur jener Zeit und, noch detaillierter, in den Millionen von Dokumenten, die in den osmanischen Archiven erhalten sind. Sie illustrieren die Funktionsweisen des osmanischen Staates mit all seinen vielfältigen Aktivitäten Jahr für Jahr, ja beinahe Tag für Tag. Hin und wieder findet man Hinweise auf den Verlust Spaniens, aber das erscheint als relativ kleines Problem – weit weg, also nicht bedrohlich. Es gibt ein paar Bemerkungen über die Ankunft muslimischer und jüdischer Flüchtlinge, die aus Spanien in osmanische Länder geflohen waren, aber das war auch schon alles.

Der Friedensvertrag von Karlowitz erteilte den Muslimen zwei wichtige Lektionen. Die erste war militärischer Art, die Niederlage durch eine überlegene Streitmacht. Die zweite war komplexer und betraf die Kunst der Diplomatie, die man im Laufe der Verhandlungen erst noch erlernen musste. In den ersten Jahrhunderten seit der Entstehung des Osmanischen Reichs war ein Vertrag eine einfache Angelegenheit gewesen. Die osmanische Regierung diktierte die Bedingungen, und der besiegte Feind akzeptierte sie. Nach der ersten Belagerung von Wien gab es eine Zeit lang so etwas wie Verhandlungen und als erstaunliche Neuheit sogar Zugeständnisse an den Kaiser, dem man den gleichen Status wie dem Sultan zuerkannt hatte. Letzten Endes verliefen diese Verhandlungen jedoch ergebnislos. Beim Abschluss des Friedensvertrags von Karlowitz sahen sich die Osmanen zum ersten Mal gezwungen, auf jene seltsame Kunst zurückzugreifen, die wir Diplomatie nennen. Sie versuchten, das Ergebnis ihrer militärischen Niederlage mit politischen Mitteln zu modifizieren oder sogar zu mildern. Für die Vertreter des Osmanischen Reichs war das eine völlig neue Aufgabe. Keiner von ihnen wusste, wie man nach einer Niederlage möglichst gute Bedingungen aushandelt.