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DCI Antonia Hawkins ist nur knapp einem Serienmörder entkommen und leidet unter schweren körperlichen und seelischen Verletzungen. Doch für Erholung ist keine Zeit, denn kaum ist sie wieder zurück im Londoner Kommissariat, erreicht sie eine schockierende Nachricht: Eine junge Frau wurde am Valentinstag mit einem Hammer erschlagen. Die Tote, Samantha Philips, war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden – sie hatte den Mann erstochen, der sie vor einiger Zeit vergewaltigt hatte. Antonia muss alles daran setzen, den Valentinsmörder zu finden, denn schon bald taucht ein zweites Opfer auf ...
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Seitenzahl: 584
Buch
Die Londoner Polizistin DCI Antonia Hawkins hat von ihrem letzten Fall schwere körperliche und seelische Verletzungen davongetragen. Doch lange hält sie es nicht im Krankenhaus aus – schon bald entlässt sie sich selbst und kehrt trotz ihrer schwachen Verfassung zur Arbeit zurück. Und dort erwartet sie gleich der nächste Fall: Ausgerechnet am 14. Februar, dem Tag der Liebenden, wird eine junge Frau mit einem Hammer erschlagen. Die Tote, Samantha Philips, ist kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie hatte einen Mann getötet, der sie vor einiger Zeit vergewaltigt hatte. Und bald darauf taucht ein zweites Opfer auf, das mit dem Valentinsmörder in Verbindung zu stehen scheint. Antonia muss alles daransetzen, den Fall aufzuklären – zumal ihr neuer Kollege DI Steven Tanner es auf ihren Job abgesehen zu haben scheint …
Autor
Alastair Gunn ist Journalist, er schreibt für Zeitschriften und Magazine. Mit »Der Adventkiller« begann seine Serie um DCI Antonia Hawkins. Gunn lebt in Hertfordshire.
ALASTAIR GUNN
DerValentinsmörder
Thriller
Deutschvon Peter Beyer
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »My Bloody Valentine«bei Penguin Books, Penguin Random House UK.
1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Februar 2016Copyright © 2015 by Alastair GunnCopyright © dieser Ausgabe 2016by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, MünchenRedaktion: Viola EigenberzAG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-17340-1V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Für Anna.
Wahre Hingabe ist tödlich.
PROLOG
Sie haben mir beigebracht, unsichtbar zu sein; das war das Gute.
Vielleicht das einzig Gute.
Bull ging intuitiv vor. Als er das Ende der Gasse erreicht hatte, blieb er im tiefschwarzen Schatten stehen und schaute zu dem Tandoori-Restaurant in der Hauptstraße hinüber. Seine Schritte hatten keinerlei Geräusch verursacht, denn man hatte ihm gezeigt, wie er sich lautlos fortbewegen konnte, unabhängig davon, auf welchem Untergrund er ging oder welche Schuhe er trug.
Er zog die Nachtluft durch die Nase ein. Sie war trocken und kalt. Ob der Brandgeruch real oder bloß eine Erinnerung war, vermochte er nicht zu sagen. Das ständige Klingeln in seinen Ohren verwirrte ihn, ließ die Unterschiede zwischen jetzt und damals verschwimmen.
Er schaute auf seine Uhr.
Es war fast so weit.
Schritte von links, zwei Personen, noch knapp zehn Meter entfernt. Bull reagierte blitzschnell und griff in seine Jackentasche. Als das Paar auf seiner Höhe war, hatte er sich die Zigarette schon angezündet und stand mit dem Gesicht zur Wand, rauchend, schwankend, pinkelnd. Es gab für sie nichts zu sehen.
Er wartete, bis sie vorbeigegangen waren, und ließ noch einige Sekunden verstreichen, ehe er sich wieder umdrehte und kurz zu der Kamera über ihm aufschaute; sie zielte auf die Straße zu seiner Rechten. Auf keinen Fall konnte sie ihn aufnehmen, denn sie war nicht direkt nach unten gerichtet. Auch die beiden nächsten Kameras waren nicht so positioniert, dass sie ihn hätten erfassen können. Mit surrendem Motor schwenkte die Kamera herum, und er stellte sich einen fetten Sicherheitsbeamten in Zivilkleidung vor, der in einem winzigen Kontrollraum saß, auf einem Burger herumkaute und auf betrunkene Teenagerinnen zoomte, wenn diese aus den Pubs heraustaumelten.
Als sich genau nach Zeitplan die Tür auf der anderen Straßenseite öffnete, glitt er noch tiefer ins Dunkel.
Und da war sie.
Rosa trat auf den Gehsteig; zaghaft, allein, um den zerbrechlichen Hals einen Schal gewickelt; ihre Handtasche hielt sie dicht an die Seite gepresst. Er betrachtete ihr Gesicht aus der Dunkelheit heraus und erkannte die üblichen Zeichen. Die Schultern gebeugt, der Blick leer …
Tief in ihm, begraben unter Jahren von Qual und Schmerz, war etwas, das ihn zu ihr hinzog, und dieses Etwas ließ ihn fast aus seiner Deckung treten. Doch er hielt sich zurück. Sich jetzt zu zeigen wäre für keinen von ihnen beiden hilfreich; für so etwas war es viel zu spät. Für Mitleid gab es keinen Platz.
Oder für Mitgefühl.
Rosa zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, überquerte vor ihm die Straße und ging nach Norden zur Kreuzung, ohne auch nur einen flüchtigen Blick in seine Richtung zu werfen. Bull folgte ihr nicht, dazu bestand keine Notwendigkeit. Er wusste ganz genau, wohin sie gehen würde.
Seit sie hierhergezogen war, in diese neue Stadt, in ihr neues Leben, war sie Woche für Woche dem gleichen Muster gefolgt. Um elf schloss das Restaurant, dann räumte sie auf, um Viertel vor zwölf verließ sie den Laden. Dann ging sie die Hauptstraße entlang, bog an der Ecke, wo die Bank war, ab und nahm hinter dem Einkaufszentrum als Abkürzung nach Hause den dunklen, einsamen Fußpfad.
Dort würde Bull zuschlagen.
Er beobachtete, wie sie die Hauptstraße entlangtrottete. Ging sie heute noch langsamer als sonst? Erneut flackerte Mitleid in ihm auf, doch er unterdrückte das Gefühl. Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, ihm lagen bloß die Nerven blank, und das hatte mit dem zu tun, was er vorhatte. Aber deswegen war es nicht falsch.
Um einen besseren Blick auf sie erhaschen zu können, trat er fast aus dem Schatten heraus. Knapp dreißig Meter vor ihm hatte Rosa die Bushaltestelle am Ende der Straße erreicht. Doch gerade als Bull damit rechnete, dass sie um die Ecke biegen und aus seinem Blickfeld verschwinden würde, tat sie etwas Unerwartetes.
Sie blieb stehen und sah sich um.
Bull sprang jäh zur Seite, glitt hinter die Mauer und konnte sie nicht mehr sehen. Hatte sie ihn bemerkt? Gern hätte er um die Ecke geblickt. Doch was, wenn sie immer noch in seine Richtung schaute und nur darauf wartete, dass er wieder auftauchte?
Ein Bus dröhnte vorbei. Lärm und Abgase ließen Bull zusammenzucken. Er fuhr sich mit beiden Händen in das Gesicht und rieb sich den Staub aus den Augen. In der Ferne hörte er jemanden rufen.
Das ist nicht real.
Gereizt ließ Bull die Hände sinken und konzentrierte sich wieder. Er beugte sich vor und schaute um die Ecke die Straße entlang. Rosa stand nach wie vor da, verharrte noch immer haargenau an derselben Stelle, schaute aber nicht mehr in seine Richtung. Nun begriff er, warum sie dort stand: Sie wartete auf den Bus, der gerade an ihm vorbeigefahren war und jetzt die Haltestelle ansteuerte.
Sie wich vom Plan ab.
Fast hätte er sich in Bewegung gesetzt, erinnerte sich aber im letzten Moment an die Kameras und hielt rechtzeitig inne. Noch suchte ihn die Polizei nicht. Aber bald würde sie es tun.
Er konnte ihr nicht in den Bus folgen.
Rosa stieg ein, die Türen schlossen sich hinter ihr, und als der Bus losfuhr, fluchte Bull, da ihm klar wurde, dass ihn dies eine weitere Woche kosten würde. Neben ihrer Arbeit in einem Sportgeschäft im nahe gelegenen Einkaufszentrum arbeitete sie hier nur an Freitagen. Heutehätteereine Chance gehabt, und nun entwischte sie ihm.
Als der Bus am Ende der Straße rechts abbog, las Bull die Nummer auf dem rückwärtigen Display.
121.
Sofort wusste er, was zu tun war. Er drehte sich um und betrat den dunklen Fußweg. Vor einigen Wochen hatte Rosa diesen Bus schon einmal genommen. Sie hatte schweres Gepäck dabeigehabt und wahrscheinlich deshalb den Bus gewählt. Bull war ihr nicht sofort gefolgt – es empfahl sich immer, etwas Abstand zu wahren –, sondern hatte auf den nächsten 121er gewartet. Wenig später hatte er herausgefunden, wo sie ausgestiegen war. Der Bus fuhr durch eine Einbahnstraße und bediente auf dieser zwei Haltestellen. Dann hielt er auf der Cecil Road gegenüber der Einmündung der Sydney Road.
Wo sie jetzt wohnte.
Heute Abend war sie vielleicht müde oder ihr war unwohl, weswegen sie den Bus genommen hatte, um nach Hause zu fahren. Das hatte Bulls Plan zunichtegemacht, doch damit konnte er umgehen. Er musste sich bloß auf die veränderten Bedingungen einstellen, durfte sich nicht verzetteln.
Denn er musste diese Sache erledigen.
Wenn er die Abkürzung nahm und sich beeilte, konnte er sie abfangen. Zwar war es riskant, sie in einem Wohngebiet und nicht auf einem stillen Fußweg zu erledigen. Doch die ersten hundert Meter der Sydney Road waren unbeleuchtet und zu dieser späten Stunde meist menschenleer.
Bull beschleunigte seine Schritte, war aber darauf bedacht, nicht zu rennen. Sein verletztes Bein tat ihm schon jetzt scheißweh, und es wäre nicht vernünftig, zwar rechtzeitig anzukommen, sich dann aber durch heftiges Schnaufen zu verraten.
Er erreichte die Abzweigung, bog links ab und entfernte sich von dem allmählich verblassenden gelben Schein der Straßenbeleuchtung, froh über das Licht des Halbmonds. Der Weg war eng. Drahtzäune hielten zu beiden Seiten dichtes Gebüsch im Zaum, während es über Kopfhöhe zusammengewachsen war. Durch die Dunkelheit rannte er weiter. Dabei konzentrierte er sich so darauf, wie er den ersten Schlag ausführen würde, dass er völlig den Einkaufswagen vergaß.
Dicht vor ihm ragte das Gitter als Hindernis aus der Dunkelheit auf. Zwar war er schon vorher daran vorbeigegangen und hatte ihn dicht an den Zaun geschoben. Doch der Wagen blockierte noch immer die Hälfte des Fußpfads.
Bull hielt mitten im Lauf an, um auszuweichen. Doch er blieb mit dem Fuß an dem Metallhindernis hängen, stolperte und stürzte auf die Seite. Während er über den Betonboden schlitterte, schürfte er sich die Handballen schmerzhaft auf, nasse Blätter klatschten ihm ins Gesicht.
Er rappelte sich auf, wischte sich die kleinen Steinchen von den Handflächen, ließ seine Kleidung Kleidung sein und setzte sich erneut in Bewegung. Durch den Sturz hatte er Zeit verloren, und das Ende des Fußpfads war noch immer nicht zu erkennen. Schmerz schoss ihm durch das angeschlagene Bein – überlastete Knochen, die von Muskeln hätten gestützt werden sollen. Er verdrängte den Schmerz und lief nun noch schneller. Als er die Zähne zusammenbiss, knirschte es. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Das Zeug war auf seinen Lippen und in seinem Mund. Vom Sturz.
Sand.
Er hustete und spuckte aus. Dieser Scheiß war überall, wurde vom Wind durch die Luft geweht. Er klappte den Kragen hoch und zog ihn sich vor das Gesicht. Wenn einem der Sand zwischen die Zähne geriet, kaute man tagelang darauf herum.
Jetzt konzentrier dich.
Er schlug sich mit der Hand gegen die Schläfe.
Plötzlich sah er das Ende des Fußpfads vor sich. Ein Lichtstreifen erhellte den Weg und verdrängte die Erinnerungen. Als er die Straße erreicht hatte, blieb er in der Einmündung des Pfads stehen, bemüht, seinen Puls zu verlangsamen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickte er die Fassaden der Läden zu beiden Seiten der Bushaltestelle.
Der menschenleeren Bushaltestelle.
Bull trat so weit vor, dass er das Ende der Sydney Road sehen konnte. Keine Spur von ihr. Entweder war der Bus längst weg und sie hatte zu viel Vorsprung, oder …
Als das Geräusch eines Motors erklang, drehte er sich um. Der Bus näherte sich, die Nummer 121 auf seiner Front war hell erleuchtet. Bull wartete, bis der Bus vorfuhr, und beobachtete, wie Rosa ausstieg und auf der anderen Straßenseite den Gehsteig betrat. Der Bus fuhr wieder an, während sie an der Haltestelle stehen blieb und an den Tasten ihres Musikplayers herumdrückte. Nach einer Weile schien sie den gesuchten Titel gefunden zu haben und setzte sich in Bewegung.
Bull gewährte ihr einen kleinen Vorsprung und hängte sich an sie dran. Er überquerte die nun ruhige Straße und hielt sich in Rosas totem Winkel. Sie bog links in die Sydney Road ab, und als sie den unbeleuchteten Straßenabschnitt erreichte, schloss Bull allmählich zu ihr auf. Die Gegend war heruntergekommen; schrottreife Autos standen am Fahrbahnrand, die Mauern waren mit Graffiti überzogen. Er musste sich die Dunkelheit zunutze machen. Etwa hundert Meter weiter würde im Anschluss an Backsteinmauern und fensterlose Gebäude ein öffentlicher Parkplatz mit Parkscheinautomat folgen, wo das Licht wesentlich heller war. Gleich dahinter stand das verwahrloste Haus, in dem Rosa mit ein paar anderen Mädchen wohnte.
Es musste jetzt sein.
Bull verringerte den Abstand, sah sich nach möglichen Passanten um und griff nach der Waffe in seiner Jackentasche. Er zog den Hammer hervor und hob ihn in die Höhe. Rosa schaute sich nicht um. Welche Art Musik mochte sie ausgesucht haben, der sie nun in ihren letzten Momenten lauschte?
Er holte sie ein.
Und der Hammer fuhr nieder.
TEIL EINS
1
Samantha Philips betrat den Raum, von einer streng dreinschauenden älteren Dame geleitet. Diese hatte zuvor kurz den Kopf hineingesteckt, um sich zu vergewissern, dass ihre Lieferung auf einen Empfänger stoßen würde, bevor sie sich wieder zurückzog.
»Hallo, Samantha. Ich heiße Pierce Reid. Ich bin Ihr psychologischer Betreuer«, sagte er, als sie nach wenigen Schritten wieder stehen blieb.
Philips antwortete nicht. Stattdessen inspizierte sie den Raum, wobei sie nur die Augen bewegte, jedoch nicht auf die nervöse Art und Weise, wie die anderen es häufig taten. In ihrem Gesichtsausdruck spiegelte sich wider, dass sie den Raum mit nüchternem Interesse wahrnahm. Sich nur schwach erinnerte.
Überraschend war das nicht. Wahrscheinlich hatte sie in den letzten sechs Jahren nichts auch nur annähernd so Luxuriöses gesehen. Es war mit Sicherheit auch das erste Mal, dass sie das Sitzungszimmer mit seinen parfümierten Trockenblumen und seinem Teppich betrat.
Eigentlich hatte er ein wenig mehr Ehrfurcht erwartet. Häftlinge, die für ein Entlassungsgutachten vorgeladen wurden, erhielten nie eine Vorwarnung. Dem unheilvollen Gang zu diesem vergleichsweise opulenten Raum, begleitet von einer unbekannten Wache, ging ein frühzeitiger Weckruf voraus. Diese Kombination sorgte für gewöhnlich dafür, dass die abwehrende Haltung des Häftlings zumindest vorübergehend Risse bekam. Die Reaktion einer erfahrenen Gefangenen auf diesen Raum verriet häufig mehr über ihren Wunsch, sich wieder der Gesellschaft anzuschließen, als alles, was sie hinterher sagte. Das war der Grund, weshalb er diesen Raum benutzte.
Er deutete auf einen der weichen Ledersessel. »Möchten Sie sich setzen?«
Philips sah ihn zum ersten Mal an. Es war ein flüchtiger, emotionsloser Blick, den sie rasch wieder abwandte. Aber eine Antwort gab sie immer noch nicht. Er sah, dass sich die schweren Handschellen, die man ihr unnötigerweise angelegt hatte, in ihre Handgelenke einschnitten. Einen Versuch, den Druck erträglicher zu machen, hatte sie nicht unternommen. Stattdessen fuhr sie damit fort, den Raum eingehend zu inspizieren, sich der von der Decke auf sie gerichteten Kamera offensichtlich bewusst.
»Sie können auch stehen bleiben, wenn Ihnen das lieber ist. Aber wenn Sie darauf bestehen, dass wir mittels Telepathie kommunizieren, könnte das hier noch ein Weilchen in Anspruch nehmen.«
Wieder streifte ihn ein flüchtiger Blick. Kein Lächeln.
Abwartend musterte er die schlanke Frau in der Häftlingsuniform. Sam war vierundzwanzig Jahre alt und ihrer Akte zufolge streitlustig, schon bevor und seit sie sich zwölf Jahre Haft eingehandelt hatte, von denen sie sechs nun abgesessen hatte. Auf den im Gefängnis verhärteten Gesichtszügen hinter dem zottelig zurückgebundenen Haar waren Spuren des ehemals hübschen Mädchens erkennbar. Doch wurden diese Spuren von einer Leere im Blick, die er schon allzu oft gesehen hatte, weiter verwischt.
Die von einer Vergewaltigung hinterlassene Leere.
»Ich habe von Ihnen gehört.«
Reid konnte ihre leisen, monotonen Worte kaum hören. Eigentlich hatte er damit gerechnet, noch eine Weile das einseitige Spiel zu spielen.
Sie schaute ihn an.
Er räusperte sich und verlagerte sein Gewicht auf dem Sessel.
»Fahren Sie fort.«
»Ein paar von den Mädchen haben mit Ihnen gesprochen, bevor sie gingen. Sie meinten, Sie wären in Ordnung.«
»Das ist interessant. Glauben Sie ihnen?«
»Vielleicht.« Nach wie vor konnte er keine Gefühlsregung erkennen. Immerhin ging Philips nun um einen der Sessel herum und nahm darin Platz. Von seiner Behaglichkeit ließ sie sich offensichtlich nicht beeindrucken. Reid sah zu, wie sie es sich bequem machte und sich die gefesselten Hände auf die Knie legte. Er nahm ein Notizbuch und einen Kugelschreiber von dem niedrigen Tisch, der zwischen ihnen stand, und legte sich den Block so auf die übereinandergeschlagenen Beine, dass nur er die Seite lesen konnte. In die oberste Zeile schrieb er »Samantha Philips«.
»Also, Samantha.« Er schaute zu ihr auf. »Der Ausschuss hat entschieden, dass Sie, basierend auf Ihrem Verhalten und den psychologischen Gutachten, keine weitere Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Es wird natürlich Bewährungsauflagen geben, aber da Sie nun einen angemessenen Zeitraum abgesessen haben, kommen Sie für eine sofortige Freilassung infrage, was eine erhebliche Strafminderung für Sie bedeuten würde. Vorausgesetzt natürlich, ich stimme zu.«
Es war kaum wahrzunehmen, doch er war erfahren genug, um zu sehen, wie sich Philips die Bedeutung seiner Worte erschloss und ihr die Frage durch den Kopf ging.
Sind Sie mein Weg hier raus?
Mit einem Nicken beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Es gehört zu meinem Beruf, mich zu vergewissern, dass Sie in der Lage sind, in das normale Leben zurückzukehren. Dass Sie bereit und imstande für eine Resozialisierung sind.«
Sie schaute in die Richtung, wo ein Fenster hätte sein können, hätten sie sich nicht in einem geschlossenen Raum des Holloway-Gefängnisses befunden. Es war ihre erste emotionale Reaktion.
Sie fragte leise: »Was wollen Sie wissen?«
2
»Seien Sie vorsichtig, Mrs Antonio«, warnte der indische Arzt in heller Aufregung, als Detective Chief Inspector Hawkins zum zweiten Mal versuchte, sich aus ihrem Bett im Krankenzimmer zu erheben. »Es ist enorm wichtig, dass Sie es langsam angehen lassen.«
»Ich heiße Antonia und, ja, das sagten Sie mir bereits. Aber ich versichere Ihnen, ich kann aufstehen.«
»Ach herrje.« Dr. Badal trat zurück, als Hawkins’ Füße den eiskalten Boden berührten und sie sich ruckartig aufrichtete. Da sie dabei fast zusammenklappte, schnellte er wieder vor.
»Mrs Tonia, die oberen Bauchmuskeln sind noch nicht wieder zusammengewachsen.«
Sie krallte sich an der Matratze fest. »Dann besorgen Sie mir Krücken.«
»Ich halte das für keine gute Idee …«
»Sofort, bitte.«
»Wenn Sie meinen.« Der Arzt gab nach, befürchtete jedoch offenkundig, er könne seine Sorgfaltspflicht verletzen.
Hawkins wartete, bis er weg war, und sackte dann auf dem Bett zusammen. Das heftige Brennen in ihrer Brust und in der Magengegend verriet ihr, dass er vermutlich recht hatte. Nach der beinahe tödlich verlaufenen Messerattacke vor erst sechs Wochen war sie immer noch nicht so weit genesen, um aufstehen zu können, geschweige denn in der Lage zu laufen. Die elf Stichwunden hatten das Geflecht der Muskeln in ihrem Rumpf in Stücke geschnitten. Der anschließende Sturz, der zu diversen Rippenbrüchen geführt hatte, war der Heilung auch nicht gerade förderlich gewesen.
Aber dieser Ort hier trieb sie in den Wahnsinn.
Die prognostizierte Genesungszeit bei Verletzungen wie den ihren lag etwa bei einem Monat. Doch weil Murphys Gesetz für Komplikationen gesorgt hatte – in ihrem Fall eine MRSA-Infektion, die sie sich zehn Tage nach der Operation einfing –, hatte Hawkins zwei zusätzliche Wochen auf der Isolierstation verbracht und war erst nach Abklingen der Infektion wieder auf eine normale Station verlegt worden. Es ging nun zwar stetig bergauf, doch wenn es den Bakterien nicht gelungen war, ihr den Rest zu geben, konnte es eine durch diese verflixte Gefangenschaft hervorgerufene Psychose womöglich noch schaffen.
Mit einem Paar Krücken in den Händen kam Dr. Badal wieder in ihr Zimmer geschwirrt, gefolgt von einer jungen Schwester, die einen Rollstuhl schob. Er machte Anstalten, Hawkins eine Hand auf die Schulter zu legen, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. »Ich … verstehe ja, dass Sie hier raus möchten, wirklich, muss aber betonen, dass ein Rollstuhl eine weitaus bessere …«
»Danke.« Hawkins nahm die Krücken und begann mühsam damit, ihr Gewicht auf die Stützen an ihren Unterarmen zu verlagern.
»Ähm …«, wand sich der Arzt. »Sie müssen sich Ihrer Anatomie bewusst sein, Mrs … bitte. Ihre Axilla wird extrem empfindl…« Seine Worte wurden von Hawkins’ Aufschrei übertönt, als sie ihr Gewicht ganz auf die Krücken verlagert hatte und ihr der Schmerz durch die Achselhöhlen schoss.
Offensichtlich darauf vorbereitet, trat die Schwester neben sie, während Hawkins wie ein nasser Sack in den Rollstuhl plumpste und die Krücken scheppernd auf dem Fußboden landeten.
»Ich habe es Ihnen prophezeit, Mrs Antonio.« Der Arzt klang aufrichtig betrübt. »Aber Sie sind sehr entschlossen.«
Schwer atmend starrte ihn Hawkins zornig an. »Wie lange noch, bis ich hier rauskann?«
»Sie müssen verstehen, dass Ihre Verletzungen schwer sind. Sie wären fast gestorben. Sie können von Glück reden.«
»Wie lange?«
»Sie machen gute Fortschritte. Ich denke, in Anbetracht von …«
Als sie ihn immer zorniger anstarrte, hielt er inne und ließ die Schultern hängen. »Sie können sich jederzeit selbst entlassen, davon kann ich Sie nicht abhalten. Sie brauchen bloß ein Formular zu unterschreiben, dann können Sie gehen. Aber ich empfehle Ihnen dringend, wenigstens noch eine Woche im Krankenhaus zu bleiben, damit Ihr Körper noch etwas Zeit hat, sich zu erholen.«
Dr. Badal schreckte sichtlich zusammen, als Hawkins’ Gesicht sich verfinsterte wie der Himmel bei einem aufziehenden Sturm. Sogar die Krankenschwester trat zurück.
»Also schön«, erklärte sie schließlich. »Ich bleibe.«
»Ich denke, da treffen Sie die richtige Entscheidung, Mrs … wirklich. Ich komme dann später wieder, um nach Ihnen zu schauen. Oder … es könnte auch ein Kollege kommen.«
Er zog sich zurück, während die Schwester blieb, um Hawkins aus dem Rollstuhl und wieder ins Bett zu helfen. Dann begann sie die Schläuche des Katheters zu entwirren.
»Dieses beschissene Ding werden Sie mir nicht wieder anlegen«, brummte Hawkins böse. »Und lassen Sie den Rollstuhl hier.«
3
Eine halbe Stunde nach ihrem gescheiterten Versuch, sich auf Krücken fortzubewegen, ebbte der Schmerz in Hawkins’ Achselhöhlen wieder ab. Bis dahin hatte sie die Zeit damit verbracht zuzusehen, wie der Tee in der Tasse, die ihr die Schwester gebracht hatte, kalt wurde. Und sie hatte es bereut, klein beigegeben zu haben. Sie stellte sich vor, wie sich auf den Möbeln in ihrem Büro der Staub sammelte und wie in ihrem überquellenden Posteingang die E-Mails bereits in monatliche Ordner sortiert wurden.
Und was passierte mit den unerledigten Fällen? Während sie hier drinnen war, blieben bestimmt Straftaten ungeahndet. Schlimmer noch: Sollte ihr Team imstande sein, Einsätze auch ohne sie durchzuführen, brauchte sie erst gar nicht mehr zurückzukehren. Sie seufzte und sah aus dem Fenster.
Das Haus würde natürlich makellos sauber sein. Ihre Mum war schon immer ein Putzteufel gewesen. MRSA war wahrscheinlich nicht wegen zunehmender Antibiotikaresistenz erst in den 1990er Jahren aufgekommen, sondern weil Christine Hawkins zu dieser Zeit aus dem Dienst des National Health Service ausgeschieden war.
Das Krankenhaus trieb einen in den Wahnsinn, vor allem nach einer zweiwöchigen, in nahezu vollkommener Abgeschiedenheit verbrachten Bettlägerigkeit. Ihr Po war ständig taub, und als jemand, der Familienkontakte für gewöhnlich auf dreißig Minuten beschränkte, durchlebte sie in den Besuchsstunden die Hölle. Ihr Dad? Okay. Mike oder ihre Freunde? Toll. Aber ihre Mutter und Schwester, gemeinsam, dreitausendsechshundert Sekunden lang? Nie mehr.
Sie musste mit Maguire sprechen.
Bemüht, den gellenden Schmerz in ihrer Bauchmuskulatur auszublenden, beugte sich Hawkins zum Nachttisch hinüber und holte ihr Handy aus der Schublade.
Sie wählte seine Nummer. Es läutete. Und läutete.
Sie beendete den Anruf und schaute auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens. Wahrscheinlich befand sich ihr Detective Inspector und sporadisch Auserkorener noch in der morgendlichen Einsatzbesprechung. Ihre Hin-und-her-Beziehung hatte vor zwei Jahren als Affäre hinter dem Rücken von Hawkins’ damaligem Verlobten begonnen. Sie waren zwischen amourösen und gefühlsgeladenen Extremen hin- und hergependelt, und es war zu Ende gewesen, als Hawkins alles ihrem Verlobten gebeichtet hatte, der daraufhin rasch ihr Exverlobter wurde. Zwischendurch wurde Mike Maguire nach Manchester zurückversetzt, was zu einer sechsmonatigen Auszeit führte. Seine Rückkehr vor weniger als zwei Monaten hatte ähnlich intensive Vorkommnisse ausgelöst. Gemeinsam hatten sie einen gefährlichen Psychopathen gestellt, hatten sich verliebt, entliebt und wieder verliebt und einander fast zeitgleich das Leben gerettet.
Sie stellte sich den hoch aufgeschossenen Afroamerikaner während der Einsatzbesprechung vor, inmitten von einem Meer bleichgesichtiger Briten, die nie darum verlegen waren, irgendetwas zu bemängeln. Mike hatte erzählt, die Besprechung werde nun jede Woche überzogen, seit der neue Chief Superintendent ein Zielsetzungsgespräch eingeführt hatte, beziehungsweise seinen »Nörgellaberkasten«, wie die Runde umgehend getauft worden war. Es handelte sich um einen an das Ende der täglichen Besprechung angehängten »Klärungs- und Effizienzaustausch«. Vielleicht war das Krankenhaus letzten Endes doch nicht so übel.
Ihr Telefon läutete.
Sie nahm das Gespräch an und freute sich, Mikes US-amerikanischen Akzent zu hören. »Toni. Ich hatte mein Handy stumm geschaltet. Was gibt’s?«
»Ich wollte nur deine Stimme hören«, log sie. »Was gibt es Neues bei der Arbeit?«
Er schnaubte. »Bin gerade aus dem Kasten raus. Oje, was jammert ihr Briten bloß immer so? Hör zu, tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht vorbeigekommen bin, aber ich habe eine tolle Ausrede. Wir waren nämlich gerade in Craven Park und haben Ausschau nach den Gangmitgliedern gehalten, die letzten Monat diesen Studenten ermordet haben, als plötzlich kein anderer als dein Lieblingspädophiler aufgetaucht ist.«
»Ihr habt Clarke? Was ist passiert?«
»Lange Geschichte, erzähl ich dir später. Wie fühlst du dich?«
»Entsetzlich. Lenk mich ab. Was geht sonst noch so vor sich?«
»Ähm, nicht viel. Bin heute zufällig im Haus deiner Mum begegnet. Geht sie immer noch zum Lachen in den Keller?«
Irgendwas war hier faul; er walzte sonst immer die Neuigkeiten von der Arbeit aus, ehe die Familie drankam.
»Du verschweigst mir etwas, Maguire. Was ist los?«
»Es ist nichts, bloß ein Gerücht. Nicht einmal wert …«
»Erzähl’s mir.«
»Ach, zur Hölle, Toni, es ist bloß Gerede.« Er stieß einen Seufzer aus. »Sei’s drum. Ich habe gehört, sie stellen einen tollen Hecht von einem Absolventen ein, der für dich einspringen soll …«
Hawkins sagte nichts.
»Nur so lange, bis du wieder zurück bist.«
»Oh mein Gott.« Sie schielte nach den Krücken, die sie neben der Tür lehnend zu verspotten schienen. »Es wird aber nicht nur bis ich wieder zurück bin sein, nicht wahr? Du weißt doch, wie so etwas läuft. Er wird der Protegé des Chiefs sein; ein Kerl, den sich Vaughn für eine Führungsposition ausgeguckt hat, einer, den er schon länger hat befördern wollen. Und ich habe gerade die optimale Leitersprosse freigegeben. Sobald die Füße des Absolventenbürschchens auf meinem Schreibtisch liegen, werde ich schneller abserviert als die letzte Mrs Cruise.«
»Das wird nicht passieren. Dieser Posten gehört dir.«
»Schwachsinn. Komm und hol mich ab.«
»Du bist noch krank.«
»Ich erscheine wieder zur Arbeit, das ist die einzige Möglichkeit.«
»Vergiss es.« Er legte auf.
»Du machst Witze.« Sie starrte erst das Telefon, dann den Rollstuhl an. Dann scrollte sie auf dem Display nach unten, wählte eine andere Nummer und wartete, bis jemand das Gespräch annahm.
»Dad? Ich bin’s.«
4
Die beiden Männer verschwanden in den dunklen Schatten auf der Chambord Street. Vor ihnen überquerte eine knochige Katze die Straße und schlängelte sich durch den Zaun auf den kleinen dahinterliegenden Parkplatz. Einer der Männer warf eine leere Bierdose nach ihr.
»Räudiges Vieh!«, rief er der flüchtenden Katze hinterher, während die Dose scheppernd an der Stelle auf dem Gehweg aufschlug, an der eben noch die Katze gewesen war. Beide Männer brachen in Gelächter aus. Das Tier schoss unter die nächstgelegene Parkbank, hielt dort inne und beobachtete die Männer, die ihren Weg auf dem Gehsteig fortsetzten, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
Zuversichtlich, sich nun gefahrlos bewegen zu können, glitt die Katze aus ihrem Versteck und begann die schäbige Grünfläche in Richtung der Schaukeln zu überqueren. Bevor sie um die Ecke bog, blieb sie kurz stehen und schaute sich um. Den betrunkenen Obdachlosen, der sich in der Dunkelheit unter einer Abdeckung aus durchnässtem Karton auf der nächsten Bank zusammengekauert hatte, schien sie nicht zu bemerken.
Nur dass es kein betrunkener Obdachloser war.
Es war Bull, der wie unsichtbar unter der kaputten Straßenlaterne saß.
Er war auf der Jagd.
Von seinem Versteck aus hatte er einen optimalen Überblick über die Wohnungen. Das gesamte Karree diente als öffentliche Toilette, so viel stand fest, aber diese Gegend hier hatte noch etwas anderes an sich, etwas Seltsames. Es gab keine Jugendlichen, die an den Ecken herumlungerten, keine Nutten, keine Dealer mit Hunden. Und es ging noch weiter als das. Man hatte nicht das Gefühl, als lauere hier Gefahr, wie man es sonst in einem derart miesen Drecksloch gehabt hätte. Ob es daran lag, dass es an diesem Ort nichts mehr gab, wofür es sich zu kämpfen gelohnt hätte?
Die Gegend war aufgegeben worden.
Bull suchte die Gebäude nach Lebenszeichen ab. Nichts rührte sich. Das war keine Überraschung; die Bewohner wollten weder etwas sehen noch gesehen werden. Vor sämtliche Fenster waren entweder dicke Vorhänge gezogen worden, oder sie waren unbeleuchtet. Seit er vor einer Stunde angekommen war, hatte Bull nicht mehr als eine Handvoll Bewohner gesehen, und die hatten sich rasch davongeschlichen. Plötzlich aber war neben dem ramponierten Toyota auf der anderen Straßenseite eine Bewegung auszumachen.
Der Mann kam zurück.
Darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, kauerte sich Bull auf der Bank zusammen. Es bestand allerdings kein Grund zur Panik; der Kerl sah aus wie ein Trottel, ein Muttersöhnchen mit schmuddeligem Haar, Wildlederschuhen und einem billigen Mantel. Er war schlank und mochte jünger sein als Bull, stellte aber keine Bedrohung dar.
Der Mann hob einen weiteren Karton aus dem Kofferraum des Wagens und balancierte ihn zwischen seinem Bein und der Stoßstange, während er nach oben langte, um die Heckklappe zu schließen. Er zog sie kräftig nach unten und fluchte, als er sich dabei die Finger schmerzhaft verdrehte und die Schlüssel zu Boden fielen. Unbeholfen bückte er sich, um nach ihnen zu tasten.
Dann schloss er den Wagen ab und trottete zurück in Richtung der Wohnungen, betrat das mittlere Treppenhaus und stieg in den ersten Stock der sechsstöckigen Klapsmühle hinauf, in der die Behörden wahrscheinlich ihren gesamten Abschaum verklappten. Es war seine dritte Tour gewesen, sodass nicht mehr viele Kartons übrig sein konnten – so groß war der Kofferraum des Toyotas nicht.
Als der Mann die Tür von Nummer 28 erreicht hatte, stieß er sie mit dem Fuß auf und ging hinein.
Zehn Minuten später tauchte er wieder auf, dieses Mal jedoch in Begleitung. Die beiden trotteten zum Gehsteig und unterhielten sich dann neben dem Wagen. Allerdings waren sie zu weit entfernt, als dass Bull hätte mithören können. Stattdessen beobachtete er sie und bemühte sich, in dem trüben Licht Einzelheiten zu erkennen. Die Frau sah älter aus. Aber es bestand kein Zweifel.
Sie war es.
Sogar aus der Distanz konnte er erkennen, dass sie müde aussah. Das Gesicht, das er so gut kannte, war gezeichnet von Verzweiflung und Erschöpfung. Die Falten hatten sich noch tiefer in ihr Gesicht eingegraben. Er kannte diesen Zustand und fühlte mit ihr.
Deshalb musste sie sterben.
Es sah aus, als versuche der Mann sie aufzuheitern, schien damit aber nicht viel Erfolg zu haben. Während er ihr die Schultern massierte, starrte sie in die Ferne, und als er sie umarmte, ließ sie ihre Arme schlaff herabhängen. Dann stieg er in den Toyota, fuhr davon und ließ sie allein an dem Bordstein stehend zurück. Bull beobachtete, wie sie unter der Straßenlaterne stand. Weinte sie?
Er hätte es ihr nicht verübelt. Schon allein, hier gelandet zu sein, wäre Grund genug. Zwar kam die Kommune für die Miete auf, doch sie war verpflichtet, sich an die Hausordnung zu halten, und musste wegen einer einzigen Kippe mitten in der Nacht zwei Treppen hinunterirren. Er hatte das Nichtraucherzeichen auf ihrer Wohnungstür gesehen. Wie krank war das denn?
Im nächsten Moment ging sie zur Hauswand, lehnte sich dagegen und zündete sich eine Zigarette an.
Ihre Gewohnheit wiedererkennend, wartete er ab. Seit er angefangen hatte, sie zu beobachten, hatte sie ihre Wohnung nur verlassen, um Lebensmittel einzukaufen oder um zu rauchen, und die Kippen ihrer vor Mitternacht gerauchten Zigaretten lagen ausgedrückt genau dort herum, wo sie jetzt stand.
Später veränderten sich die Abläufe. Seit die Temperaturen gefallen waren, tauchte sie seltener auf, nur einmal alle paar Stunden im Laufe der Nacht; bekleidet mit Mantel und Schal, drehte sie beim Rauchen mehrere Runden in dem kleinen Park.
Doch dieses Mal würde er bereit sein. Er würde nicht auf der Bank lauern wie in der ersten Nacht, als sie ihn überrascht hatte, indem sie nach dem Betreten des Parks direkt an ihm vorbeigegangen war. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als sie zu ignorieren. Zum Glück hatte sie nicht einmal flüchtig in seine Richtung geschaut. Heute Nacht würde er auf ihrem Rundweg weiter entfernt lauern, im dunkleren Schatten nahe dem Denkmal.
Knapp zwanzig Meter von ihm drückte sie ihre Zigarette an der Hauswand aus, bevor sie sich wieder die Stufen hinauf- und den Laubengang entlangschleppte.
Dann sah Bull zu, wie Samantha Philips ihre Wohnungstür öffnete und hineinglitt.
5
Urplötzlich war Hawkins wieder bei Bewusstsein. Ihr Herz hämmerte. In dem Halbdunkel über ihr schwebten verschwommene Gesichter. Sofort kämpfte sie gegen die Hände an, die sie nach unten drückten. Dabei trat ihr der Angstschweiß auf die Stirn. Jemand versuchte sie zu beruhigen.
»Alles ist in Ordnung, Antonia, versuchen Sie einfach, sich zu entspannen. Es geht Ihnen gut. Sie sind in Sicherheit.«
Plötzlich war ihre rechte Hand frei. Sie griff sich an die Brust und tastete wie wild nach den Einstichen.
Dort, wo das Messer eingedrungen war.
»Miss Hawkins.« Noch eine Stimme. »Versuchen Sie sich zu beruhigen. Sie haben geträumt und sich dabei Ihren Infusionsschlauch herausgerissen.«
Hawkins hörte auf herumzutasten und schluckte. Ihr schwirrte der Kopf. Sie schaute die Krankenschwestern, die an ihrem Bett standen, eine nach der anderen an. Allmählich verblasste ihr Traum, und sie nahm das schwach beleuchtete Krankenzimmer wahr. Sie holte ein paarmal tief Luft und rieb sich die linke Hand dort, wo der Infusionsschlauch herausgerissen war.
»Geht es wieder?«, fragte eine der Schwestern.
Hawkins nickte und blieb geduldig sitzen, während sie ihr die Kanüle wieder unter die Haut schoben und ein Pflaster auf den Handrücken klebten. Dabei versicherten sie ihr erneut, es sei alles gut. Nur um sie loszuwerden, nahm sie das Angebot einer Tasse Tee an. Schließlich gingen sie und ließen sie erschöpft, aber auch erleichtert zurück, sah man von ihrem schmerzenden Körper und dem abschätzigen Blick der alten Dame auf der gegenüberliegenden Seite des Krankenzimmers ab. Sie schaute auf die Uhr und seufzte, als sie die Zeit ablas. 02:15 Uhr.
Sie sehnte den Morgen herbei.
6
Er schlug zu.
Der Hammer grub sich direkt an der Schläfe in ihren Kopf. Volltreffer. Ein dumpfer Knall erklang, aber kein Schrei, und für einen kurzen Moment standen sie beide wie erstarrt.
Dann fiel sie zu Boden, als hätte ihr Gehirn einfach abgeschaltet.
Bull trat zurück und sah zu, wie sie auf dem Fußweg zusammensackte. Er schaute auf, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand gesehen hatte. Der düstere Park war menschenleer, und auf der Straße war kein Auto zu sehen. Er konnte im Dunkeln verschwinden und ihre Makel vom eiskalten Regen fortwaschen lassen.
Doch da war ein Geräusch.
Als Bull wieder hinabschaute, flammte Panik in ihm auf. Irgendwie hatte sie überlebt und versuchte nun, sich davonzuschleppen.
Hatte er einen Fehler gemacht?
Er folgte ihr, bemerkte aber sofort, dass sie enorm viel Blut verlor und die Beine schlaff hinterherzog. Der Tod war ihr gewiss.
Nach wenigen Schritten hatte er sie erreicht und schlug erneut zu. Sie fiel mit dem Gesicht nach unten und blieb zuckend liegen, doch er hielt nicht inne, sondern holte immer wieder mit dem Hammer aus und machte es dieses Mal richtig.
Endlich hörte er auf. Er zitterte, und sein Atem ging stoßweise. Sie lag zu seinen Füßen und rührte sich nicht mehr.
Tot.
Bull beruhigte sich, steckte den Hammer in die Manteltasche und ging davon.
7
»Hoppla!« Dem alten Mann entglitt das Handgelenk seiner Tochter, worauf sie in den Beifahrersitz seines goldmetallicfarbenen Rover 75 Estate sackte. Als er ihrem Gesicht ansah, welche Beschwerden dies bei ihr hervorrief, wandelte sich sein amüsierter Ausdruck in Tadel.
»Antonia … bist du sicher, dass der Arzt dir erlaubt hat, nach Hause zu gehen?«
Hawkins schaute durch die Windschutzscheibe auf das Ealing Hospital und erschauderte. »Ja, Dad. Hätte mich die Schwester etwa sonst zur Tür geschoben? Jetzt lass uns bitte von hier wegfahren.«
Wohlweislich hatte sie es unterlassen, ihm von dem Formular zu berichten, durch das sie ihre Entlassung auf eigene Verantwortung bewirkt und das sie kurz vor der Ankunft ihres Vaters unterschrieben hatte. Die Formulierung hatte in etwa gelautet: »Mir ist bewusst, dass ich auf ärztlichen Rat im Krankenhaus verbleiben sollte. Ich übernehme die volle Verantwortung für meinen Gesundheitszustand als Folge meiner Entscheidung, das Krankenhaus zu verlassen.«
Ihr Vater gab jenen kurzen Brummlaut von sich, mit dem er signalisierte, dass ihm das Ganze nicht gefiel, sah jedoch auch keinen Sinn darin, sich mit ihr zu streiten. Er trat zurück, damit sie die Tür schließen konnte.
Sie beobachtete im Rückspiegel, wie er den Rollstuhl hinten um das Auto herumschob und die Heckklappe öffnete. Ihr Vater befand sich mittlerweile in jener Lebensphase, in der manche Menschen keinen Gedanken mehr darauf verschwendeten, wie sie aussahen, sondern anzogen, was immer sie wollten – egal, ob sie ihre Tochter vom Krankenhaus abholten oder Tee mit der Queen tranken. Die senffarbene Cordhose und der psychedelisch gemusterte Pullover wären womöglich als beißende Ironie auf Weihnachten durchgegangen, wäre es nicht bereits Mitte Februar gewesen. Tragischerweise hatte seine Aufmachung nichts mit Satire zu tun.
Hinter ihr legte Alan Hawkins nun die Krücken auf die Pappe, welche die Plastikfolie schützte, die wiederum den Teppich im Kofferraum schützte. Dann verbrachte er eine Weile damit, an jedem Riegel und jedem hervorstehenden Teil des Rollstuhls zu ziehen, bemüht, den Entriegelungsschieber zu finden, den ihm die Schwester vor nicht einmal fünf Minuten gezeigt hatte.
Schließlich obsiegte das Gesetz der Beharrlichkeit, und es gelang ihm, den Rollstuhl wie eine Ziehharmonika zusammenzuklappen, bevor er ihn auf der Seite liegend in den Kofferraum zerrte. Dann drückte er die Heckklappe wieder nach unten und schlurfte zur Fahrertür.
Erst als er sich in den Wagen setzte, hätte Hawkins trotz ihres Zustands beinahe darauf beharrt, selbst zu fahren. Das war der Grund, warum sie nur in den schlimmsten Notfällen ihren Vater um Hilfe bat. Fast sieben Milliarden Menschen lebten auf der Erde, und wer kam ihr in einer Krise zu Hilfe?
Alan Hawkins trug Pantoffeln.
8
»Warum kommst du eigentlich nicht für ein Weilchen zu uns?« Alan Hawkins bog von der Hauptstraße in die Auffahrt zum Grundstück seiner Tochter ab. »Nur für ein paar Tage.«
»Nimm es nicht persönlich, Dad, aber ich komme mit deiner Frau nicht aus.«
Er lächelte. »Ich weiß, dass deine Mum und du manchmal aneinanderrasselt, aber sie würde sich sehr freuen, dir zu helfen. Sie ist ja schließlich selbst mal Krankenschwester gewesen.«
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