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Leon ist seit seiner Jugend von zunehmend negativen ökologischen und gesellschaftlichen Veränderungen betroffen. Später als Naturwissenschaftler erkennt er, dass es zwischen diesen völlig unterschiedlichen Ereignissen und Abläufen einen rätselhaften Zusammenhang gibt. Offenbar wurde durch bestimmte Faktoren eine geheimnisvolle Kraft in Gang gesetzt, die wie ein lernfähiges kybernetisches System agiert und sich dabei selbst weiterentwickelt. Immer wieder geschehen völlig unerwartete Ereignisse. Leon nimmt den Kampf gegen diesen mysteriösen Dämon auf, der im Mittelmeer Blasen aufsteigen lässt, Hungersnöte auslöst und Waldbrände in Sibirien erzeugt. Wird es gelingen, die immer dramatischer werdenden, globalen Ereignisse einzudämmen und den Dämon zu besiegen?
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Detlef Amende
DER VERBORGENE DÄMON
Roman
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2018
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96145-426-6
Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverbild © Jonathan Bowers from Unsplash
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Montevideo, im Jahre 2100
Chancen
Montevideo, im Jahre 2100
Vorboten
Montevideo, im Jahre 2100
Zeitenwende
Montevideo, im Jahre 2101
Demut
Montevideo, im Jahre 2101
Morgen habe ich Geburtstag. Das einzig Ungewöhnliche daran ist nur, dass ich ihn doch tatsächlich noch erlebe. Die Lebenserwartung bei uns Zweibeinern ist in den letzten Jahrzehnten überall so zurückgegangen, dass ich mich – meiner Ansicht nach zu Recht – zu den Methusalems der Welt zähle. Aber ich schmiede immer noch Pläne. Und der neueste Plan: Ich werde ein Tagebuch beginnen. Ich muss es wagen, darf die Lösung des Problems nicht mit ins Grab nehmen. So sitze ich am Schreibtisch vor der leeren Mappe und überlege. Bei dieser elenden Hitze tropfen mir die Schweißperlen von der Stirn. Jetzt im Oktober steigen draußen die Temperaturen schon wieder ins unerträglich Heiße und hier unter dem Dach staut sich die Wärme zusätzlich. Wer soll denn da einen klaren Gedanken fassen? Komm schon, Methusalem, ermuntere ich mich.
„07.10.2100
Zu grauer Vorzeit begab es sich, … Nein, Quatsch.
Ich, Leon H., bin Rentner und bewirtschafte ein kleines Siedlungshäuschen in Aires Puros. Das ist ein heruntergekommenes Wohngebiet inmitten Montevideos. Ich fühle mich wohl in meinen schrägen Wänden, im Parterre wohnen Gernot und seine Frau Lisha. Als die beiden vor drei Jahren kamen, wollte ich wegen meiner verkrüppelten Füße unten wohnen bleiben, doch Lisha sitzt im Rollstuhl und einen Lift besitzt das Haus nicht. Von unserer kleinen Rente lässt sich so etwas hier nicht einbauen. Aber zweimal am Tag komme ich mit der Treppe schon klar. Wenn ich im Erdgeschoss angekommen bin, gibt’s entweder Mittag oder ich kümmere mich um den – in aller Bescheidenheit gesagt – genial angelegten kleinen Vorgarten. Fünf halbwüchsige Zierpalmen sind wie ein Pentagon angeordnet und die Blumenbeete und die Rasenfläche stehen exakt im Verhältnis eins zu Wurzel zwei. Ich glaube, das hat noch gar keiner mitbekommen. Wenn ich fertig bin mit dem Gärtnern, bereitet mir der Gang die Treppe hinauf jedes Mal Mühe. Dabei schimpft Lisha regelmäßig aus der Küche, ich solle mir doch endlich mal angewöhnen, erst die Schuhe abzuputzen, bevor ich wieder hochgehe. Ja, glaubt man denn sowas? Als ob man so mit seinem Schwiegervater spricht! Aber sie ist seit ihrem Unfall eben verbittert, deshalb sag ich meistens nichts dazu.
Und was ich sonst so treibe? Nachmittags sitze ich oft in meinem Arbeitszimmer und denke nach, beziehungsweise gebe mich im Ohrensessel versinkend jener Flut gedanklicher Fragmente hin, die ich früher in der Lage war, zu einem verbalisierten konsistenten Strom zusammenzufassen.“
Ich halte inne, blicke auf. Sei nachsichtig mit dir selbst, Methusalem. Solange du nicht der Demenz anheimfällst und dann deine Enkeltochter Jamina vergisst … Sie wohnt in China, in der Nähe einer dieser abgesoffenen Großstädte. Schade – ich meine, dass sie so weit weg ist. Ich wüsste gerne, wie sie eigentlich aussieht und wie es ihr geht. Ich habe sie nie kennen gelernt. Derzeit werden fast keine Flüge mehr angeboten und diese wenigen sind dann so teuer – nein, nein, da soll sie ihr Geld nicht für ausgeben.
Es ist Zeit, zu schlafen, obwohl sich gerade die 3D-Bilder aus dem überfluteten Tianjin nicht aus dem Kopf vertreiben lassen.
„08.10.2100
Geburtstag. Ab heute bin ich sechsundachtzig und wieder einmal einigermaßen fit. Der Plan mit diesem Tagebuch ist gar nicht übel. Es wird höchste Zeit für eine Retrospektive, denn viel Zeit bleibt mir nicht.“
So viel kann ich zum heutigen Tag schon mal notieren. Die Uhr weist auf den frühen Vormittag hin und das Geschirr steht nach einem kurzen Frühstück wieder sauber im Küchenschrank. Erneut sitze ich wild entschlossen am Schreibtisch und versinke, den Blick zur Seite in eine imaginäre Ferne gerichtet, dennoch in Gedanken. Mutter Erde hat sich im Laufe meines Lebens so viel stärker verändert, als man von einem knappen Jahrhundert hätte erwarten können. Sorry, Lady! Wir haben dir immer wieder wehgetan. Wir haben dich ausgebeutet und rücksichtslos malträtiert. Du hast uns oft genug gewarnt, doch wir hörten nicht. Und irgendwann gebarst du den Dämon und schicktest ihn, die Schuldigen zu bestrafen. Ich hätte nicht schweigen dürfen! Ich muss alles aufschreiben, damit Jamina und ihr Freund Tian nicht denken, es wäre uns egal gewesen. Es war uns nicht egal! Genauer: Es war vielen von uns nicht egal. Aber alle Versuche, das Tun und Lassen unserer Großeltern wieder gut zu machen, konnten das Werden und Wachsen des Dämons nicht mehr verhindern. Und nachdem er immer mächtiger geworden war, hat er auch nach den Unschuldigen gegriffen. Wie viele Menschen sind ihm bis heute zum Opfer gefallen?! Dagegen bin ich selbst durch die Gnade der privilegierten Geburt noch einigermaßen ungeschoren davon gekommen. Ich konzentriere mich und schreibe weiter.
„Ich wuchs in der prosperierenden Sphäre der westlichen Nordhalbkugel auf, konnte studieren und kam unverhofft um den Militärdienst im Orient-Krieg herum. Obwohl die ‚Große Not‘ später auch an meiner Gesundheit genagt hat, will ich nicht klagen. Immerhin habe ich ja auch wissenschaftlich einiges erreicht. Erst seit Yvonne von mir ging, frage ich mich oft, ob uns mithilfe der Möglichkeiten im SAS, dem Südamerikanischen Staatenbund, das Durchbrechen der mysteriösen Dynamik noch gelingen kann.“
„Vater, wo bleibst du denn?!“ Ich schrecke von den Notizen hoch. „Du warst heute noch gar nicht im Garten und dein Geburtstagsessen wird schon kalt!“
Mann, Mann, was tut man nicht alles. Aber mein Unmutsknurren ist etwas leiser als das meines Magens, was mich nach der verpassten Mittagszeit letztendlich dazu bewegt, zu ungewohnt später Zeit noch die Treppe hinab zu steigen.
„Nun sehet, ich bin euch erschienen … “, frotzele ich, unten angekommen, als Gernot aus dem Wohnzimmer anstatt wie sonst aus der Küche ruft:
„Wir essen heute hier, Vater!“
Wie bitte? Das ist mein Haus, ich kann essen, wo ich will, schießt es mir gerade durch den Kopf, als ich glaube, irgendein fremdartig klingendes Kichern bemerkt zu haben. Jetzt ist es soweit – Wahrnehmungstäuschung wegen Hunger. Höre ich Stimmen? Ich höre Stimmen. So schlimm schon? Wieder dieses fremde Kichern! Nun reicht’s aber. Mühsam einen äußerst forschen Schrittgang vortäuschend begebe ich mich den abgewinkelten Korridor entlang in Richtung der geöffneten Wohnzimmertür. Na wartet, einen alten Mann veräppeln – das macht man nicht. Als ich beim Eintreten fast über die Schwelle stolpere, lächeln mir Gernot und Lisha entgegen.
„Oh!“, entfährt mir. „Ihr habt Besuch zu meinem Geburtstag eingeladen!“ Ich wende mich betont geschmeidig der zierlichen jungen Frau mit dem sehr dunklen Teint einer Halb-Afrikanerin zu, die – immer noch kichernd – vom Sofa aufsteht.
„Hallo, Opa!“
Wie? Ich stutze. Diese Augen, diese Mundwinkel … Ich schaue unsicher von einem zum anderen und dann verwässern mir doch tatsächlich einige Tränen den Blick.
„Jamina?“
„Alles, alles Gute zum Geburtstag, Opa! Vor allem Gesundheit und alles, was du dir wünschst!“
„Jamina!“, wiederhole ich mich, „also lerne ich dich doch noch kennen, mein Enkeltöchterchen!“ So eine attraktive, junge Frau, denke ich.
„Tja, Opa, und so siehst du also aus … “
Wir umarmen uns und schauen uns wieder in die Augen.
„Wann bist du gekommen? Hattest du einen guten Flug?“, will ich in Erfahrung bringen. Und in gespielter Entrüstung drehe ich mich halb zu Gernot und Lisha um. „Und ihr habt’s gewusst!“ Natürlich haben sie‘s gewusst. Jamina war gestern am späten Abend eingetroffen, sodass ich davon nichts bemerkte. Ich kann die Augen nicht von ihr lösen. Das kleine, zierliche Energiebündel mit kurzen, gekräuselten, dunklen Haaren in schmalgeschnittener langer Hose und einem einfachen weißen T-Shirt drückt mich von Herzen. Und dann sehe ich den Ring an ihrer rechten Hand, halte sie fest und frage schmunzelnd:
„Und, wie geht es Tian? Du hast doch vor einem halben Jahr von deinem neuen Freund geschrieben?“
„Nee, nee, Opa“, kokettiert sie. „So neu war der nicht und nix mehr Freund, wir sind schon seit sechs Monaten verheiratet!“ Als ich sie überrascht ansehe, fügt sie hinzu: „Beide konnten wir nicht fliegen. Ich wollte dir Tian so gern vorstellen, aber so viel Geld besitzen wir einfach nicht.“
„Das ist schade, mein Kind“, wage ich die Gratwanderung, „aber ich freue mich über deinen Besuch auch so sehr!“
„Setz dich dort hin, Vater!“, drängt Lisha und weist auf den zweiten Sessel der großzügigen Sitzkombination.
„Wo ist denn nun mein kalt gewordenes Geburtstagsessen?“, meckere ich.
„Das verschieben wir auf den Abend, dann aber warm!“, Gernot lacht, „Nimm dir nachher in der Küche erstmal ein Stück Kuchen.“ Doch der Hunger ist vor Freude verflogen. Ich rücke mir den zweiten Sessel zurecht, setze mich und merke Gernot an, wie tief er sich über die Ankunft seiner Tochter freut.
„Wie lange kannst du bleiben, Jamina?“, will ich wissen.
„Wieder nur zwei Wochen … “, antwortet Lisha – mit leicht vorwurfsvollem Unterton – anstelle ihrer Tochter.
„Aber immerhin, Mama! Und außerdem will ich Tian nicht so lange bei seinen Aufgaben alleine lassen.“
Ich weiß, dass auch Tian sich im Umsiedlungsprogramm Chinas engagiert, das beschlossen wurde, als Jamina zwei Jahre alt war. Damals verlor er bereits als Kleinkind nach den Überflutungen Hongkongs beide Elternteile, wie Jamina einmal geschrieben hatte.
„Wie ist denn mittlerweile die Lage in Tianjin?“, wende ich mich an Jamina. Aber das war wohl die falsche Frage oder zumindest der falsche Zeitpunkt.
„Komm nach Hause, Jamina, ich bitte dich!“, fleht Lisha leise mit traurigem Blick, die Hände fest an die Gummibereifung ihres Rollstuhls gedrückt. Gernot legt seine Hand auf Lishas Arm.
Stille.
„Mama, mein Zuhause ist Tianjin, verstehst du das denn nicht? Auch wenn du damals dort verunglückt bist, wir müssen den Menschen weiterhin helfen!“
Erneut Stille. Ach, was habe ich denn jetzt wieder angerichtet, denke ich noch, als nach endlos langen Sekunden wie zu unser aller Erleichterung plötzlich an der Tür die Klingel läutet.
„Na kommt, Kinder, heute ist mein Geburtstag!“, versuche ich, die Spannung abzubauen. „Ich sehe mal nach, wer es wagt … “, sage ich und gehe nach vorn. Noch die Klinke in der Hand, schauen mich durch die halb geöffnete Haustür zwei kleine listige Augen an. „Federico!“
„Ja, Mann, lass mich rein, ich muss das erstmal abstellen!“, drängt sich der klapprige Alte von gegenüber in den Hausflur und zwingt mich zu einem beherzten Zurückweichen. Klirr, da steht die aus uralten und bereits ergrauten Holzleisten zusammen genagelte und schon halb vergammelte Kiste neben der Küchentür. Ich muss wohl gerade ein ziemlich dummes Gesicht gezogen haben.
„Ja, meinst du, ich hätte deinen Geburtstag vergessen, Gringo?“
„Das würde ich niemals von dir denken.“ Ich lache und dann freut sich Federico, süffisant grinsend.
„Lisha hat mir schon vergangene Woche erzählt, dass deine Enkelin kommt, Methusalem. Ich mag diese jungen Dinger.“
„Pass ja auf!“
Federico wohnt unweit in einem in die Jahre gekommenen Siedlungshäuschen. Der kleinwüchsige Alte scheint bis auf seine dünnen O-Beine nur aus einem braungebrannten und tiefzerfurchten Gesicht zu bestehen. Umrahmt von ungepflegt wirkenden Locken aus dem verbliebenen Haarkranz prangt in dessen stoppeliger Mitte ein ergrauter Schnauzbart. Er ist bestimmt schon siebzig und hat offenbar keine Familie mehr. Deshalb fährt er Lisha in ihrem Rollstuhl oft spazieren, wenn Gernot gerade mal etwas in der Stadt zu erledigen hat und schon wegen Kleinigkeiten mitunter mehrere Stunden unterwegs ist.
„Und was ist da nun drin, Lustmolch?“ Ich deute auf die Kiste, von deren schmuddeliger Abdeckung mittlerweile einige Spinnweben zu Boden gesegelt sind.
„Wart’s ab.“
Ich schließe die Haustür und der Alte folgt mir ins Wohnzimmer.
„Federico, ich wusste, auf dich ist Verlass!“, ruft Lisha.
Wie – auf mich wohl nicht? Gernot schien mein schmollendes Gesicht bemerkt zu haben.
„Ja, auf dich auch, Vater!“, sagt er grinsend.
„Jamina, ich wollte dir mal den alten Mann vorstellen, der sich unsterblich in dich verliebt hat!“, ärgere ich Federico.
„Pass mal auf, Gringo, sei froh, dass du heute Geburtstag hast!“, kontert der und wischt mit der linken Hand wichtigtuerisch Staub vom Hals einer der beiden Weinflaschen, die er eben der alten Kiste entnommen hatte. Jetzt lächelt auch Lisha.
„Hallo. Freut mich. Was ist das denn für eine Sorte?“, will Jamina wissen. Federico beugt in ihre Richtung übertrieben den Oberkörper nach vorn.
„Das ist ein Tannat aus Canelones von 2074, ein halbtrockener Jahrgang. So was von süffig, mein Spatz!“
„Na dann schenk mal ein, alter Freund!“, äfft Jamina Federico nach und schaut dabei unverhohlen in meine Richtung. Ich muss grinsen und denke: Sieh einer an, unsere Jamina kann sich gegen die anzüglichen Bemerkungen des Alten durchsetzen. Der entkorkt umständlich eine der beiden Weinflaschen. Das Einschenken in Lishas formschöne Gläser, die Gernot mittlerweile aus der Vitrine herausgeholt hat, obliegt natürlich dem Spender des edlen Gesöffs. Wir stoßen gemeinsam an.
„Alles Gute noch mal, Opa!“
„Jawohl, Gringo!“
„Auf unser Wiedersehen. Das war die schönste Überraschung, die ihr mir bereiten konntet! Auch euch vielen Dank, Lisha und Gernot. Ihr habt das ja mit organisiert“, spreche ich an alle gewandt.
„Na, sie ist ja unsere Tochter!“ Lisha blickt Gernot an. Das scheint der rechte Moment und ich versuche, die fühlbar entspannte Situation zu nutzen.
„Aber noch mal, Jamina: Wie geht es denn den Menschen in deiner Heimatstadt nun?“ Diesmal reagiert auch Lisha mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck, was Jamina zu ermuntern scheint.
„Einfach nur beschissen, Opa. Wir tun, was wir können, aber eigentlich … Wir evakuieren und siedeln die Leute um, und das nicht nur in Tianjin. Es ist ein Kampf gegen die Zeit.“ Jamina wirkt resigniert. „Das gesamte Flughafengelände hat sich in den letzten Jahren gesenkt, die Start- und Landebahnen sind unbenutzbar. Der Hauptbahnhof funktioniert zwar noch, aber die Eisenbahnstrecken aus der Stadt wurden unterspült. Die Akkus der Busse sind uralt und können oft nur halb geladen werden, die Stationen in der City sind völlig überlastet.“
„Also immer noch die gleichen Probleme – nur schlimmer. Und die Seuchen?“, fragt Gernot.
„Cholera, Typhus, das Übliche eben. Wir versuchen, alle, die das Stadtgebiet verlassen, vorher zu untersuchen. Manchmal werfen Hubschrauber Lebensmittel und Medikamente ab. Im Moment haben wir noch einige Vorräte. Aber das Schlimmste ist die Psyche, Papa. Die Leute sind müde, furchtbar müde. Keine Energie, kein Antrieb, die blanke Hoffnungslosigkeit – das ist die Hauptseuche, und von der sind alle betroffen, da helfen auch Medikamente nicht.“
„Ich kenne die Chinesen als höchst arbeitsames, diszipliniertes und fleißiges Volk?“, wende ich ein.
„Papperlapapp!, Gringo – die Flachnasen können’s eben nicht besser!“
„Na, na, was sind denn das für Vorurteile?“, muss ich den alten Rüpel jetzt doch mal zurechtweisen. Gernot schaut seine Tochter sorgenvoll an. Doch Lisha ermutigt ihn:
„Ich denke schon, dass die jungen Menschen mithelfen wollen. Ich werde Jamina ein paar Tipps mitgeben, wie ich mich damals vor meinem Unfall verhalten habe. Wir haben davor die vier Jahre in Bukarest auch überstanden, Gernot. Sie ist dreiundzwanzig und hält sich dort mit Tian schon eine ganze Zeit über Wasser. Wer weiß, vielleicht entscheiden sich die beiden ja in einigen Jahren doch noch, auch hier her zu kommen.“
„Mama, du hast seit dem Start der Umsiedlung … Wann war das genau?“
„2079.“
„Ja, seitdem hast du einen Riesenjob dort gemacht! Ich bin jetzt auch Krankenschwester und Tian will später noch Meteorologie studieren.“
„Ja, ich bin dann aber auf dieses rostige Stahlstück gefallen, das meinem Lendenwirbel die hübsche kleine Botschaft überbrachte: ‚Lisha wird nie wieder laufen können‘!“
„Ja, Mama, aber deswegen dürfen wir jetzt nicht aufgeben! Denk doch dran, wie das Unglück vor fünf Jahren in Indonesien verlaufen ist, weil keiner die Zusammenhänge ernst genommen hat! Das kann doch alles nicht wahr sein!“
Inzwischen hat Federico unsere Gläser wieder gefüllt und prostet uns zu.
„Ist sie nicht süß, Gringo?“
„Du willst jetzt aber nicht auf die Toten von Jakarta anstoßen, oder?“
„Nein. Nur darauf, dass wir nicht unter ihnen sind. Der Tannat ist gut. Salud, mein Spatz!“ Mir hängt seine vordergründige Schauspielerei zum Halse heraus, obwohl er mir andererseits auf eine kaum näher bestimmbare Weise vertraut vorkommt – nicht nur, weil er Lisha unterstützt.
Ich wende mich erneut an meine Enkelin:
„Glaubst du wirklich, Jamina, dass keiner diese Entwicklungen ernst genommen hat? Wir hatten selbst in den 40ern, als ich in Zürich war, nicht den geringsten Schimmer, wie man den Dämon in den Griff bekommen könnte. Ich habe fast dreißig Jahre daran gearbeitet, um herauszufinden, wie er funktioniert. Und ich kenne ihn genau: Er agiert selbständig und schlägt immer wieder an scheinbar unvorhersehbaren Orten zu.“
„Was für ein Unsinn“, knurrte Federico abwertend.
„Schicksal jedenfalls war und ist das nicht!“, murrt Gernot.
„Aber Gernot, wer hätte denn etwas tun können? Ich habe in jungen Jahren auch mein Schicksal ertragen müssen, viel Leid mitbekommen, kaum etwas anderes gesehen als schreiende, kranke Kinder und ausgedörrte, lebensmüde Menschen und mittendrin Leichen über Leichen. Wer bitte hätte denn daran etwas ändern sollen?“ Lisha ist aufgewühlt, ihre Augen glänzen.
„Ich weiß“, nimmt sich mein Sohn zurück. „Wir haben uns ja schon so oft darüber unterhalten, Lisha. Aber man kann unserer Vätergeneration diesen Vorwurf nicht ersparen – ich bleibe dabei.“
„Jetzt bist du fällig, Gringo!“, kichert der Alte und blinzelt mich mit seinen listigen kleinen Augen scharf an.
„Nun lass ihn doch mal in Ruhe, er hat heute Geburtstag!“, greift Jamina ein und ergänzt spitzzüngig: „Aber wie so ein abartiges Jahrhundert zustande kommen konnte, würde mich schon interessieren, Opa. Wenn du das erforscht hast – was habt ihr denn unternommen?“ Und sie fügt leidenschaftlich hinzu: „Wir jungen Leute müssen die Ursachen wissen, sonst können wir gar nichts mehr tun!“
Ich schaue ihr in die Augen und nicke.
„Die Frage war damals, ob die verbleibende Zeit ausreichen wird. Der Dämon fing bereits an, sich weiterzuentwickeln, und wurde dabei immer seltsamer und gefährlicher.“ Ich blicke einen langen Moment in die Runde und bitte dann Jamina: „Die Jüngste geht mal schnell hoch in mein Arbeitszimmer, da liegen auf dem Schreibtisch ein Tagebuch und meine Brille.“ Schon ist sie durch die Tür.
„Du schreibst Tagebuch, Vater? Das wusste ich gar nicht!“, wundert Gernot sich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Na ja, das Schreiben war mein Plan für die nächste Zeit. Aber ein Tagebuch beantwortet keine Rückfragen und wenn wir hier schon mal beieinander sitzen … Ich weiß, dass wir Alten uns – wenigstens um eine Erklärung – nicht werden drücken dürfen. Sonst lernt ja niemand mehr was draus.“
„Hauptsache, der Methusalem langweilt uns nicht!“
„Schenk ein und wart‘s ab, Federico.“
In diesem Moment kommt Jamina zurück und geht langsamen Schrittes und bereits lesend in meine Richtung.
„Na, na, Enkeltöchterchen, das gehört sich nicht!“
„‘Tschuldigung, Opa, ich war jetzt etwas neugierig … “, drückt sie mir meine Mappe in die Hand.
„Ich habe ja gestern Abend erst angefangen damit, aber schon vor Wochen immer mal ein paar Gedanken notiert“, murmele ich und beginne, mit einer etwas verlegenen Stimme leise vorzulesen: „Siebter Oktober 2100. … Achter Oktober 2100. Geburtstag. Ab heute bin ich sechsundachtzig und wieder einmal einigermaßen fit. Der Plan mit diesem Tagebuch ist gar nicht übel. Es wird höchste Zeit für eine Retrospektive … “
Ich unterbreche, lasse die Mappe langsam auf den Schoß sinken und blicke verlegen zu Lisha. Alle schauen mich erwartungsvoll an. „Nein“, sage ich, „so wird das nichts. Ich muss früher beginnen, als ich das in dem Tagebuch vorhatte.“
„Hi, hi, hi!“, kichert der Alte, „Jetzt hat er sich verrannt. – Gringo, der Wein scheint dir geschmeckt zu haben?!“
„Mag sein“, gebe ich nach. „Der ist wirklich gut. Und ich bin jetzt auch schon ziemlich müde.“
Anderntags sind Gernot und Jamina vormittags in die Stadt gefahren, um einige Kleinigkeiten einzukaufen, die Tian sich aus Südamerika gewünscht hatte. Und während Federico und Lisha ihren fast schon obligatorischen Morgenspaziergang unternehmen, habe ich mich, immer noch gähnend, die Treppe hinab gearbeitet, und am Pentagon der kleinen Zier-Palmen im Vorgarten zu schaffen gemacht. Obwohl ich trotz Schmerzen in den Beinen einige gelbe Wedel erfolgreich entfernen kann, breitet sich eine eigenartige Niedergeschlagenheit in mir aus. Jamina geht mir nicht aus dem Sinn. Stolz bin ich auf die tapfere junge Frau, nicht minder als auf ihre Eltern. Sie kämpft in Tianjin, versucht Leben zu retten und wird doch die Welt nicht ein winziges Stück besser machen können. Ihre Kräfte richten sich auf Folgenminimierung, nicht auf Ursachenbeseitigung. Diese helfende, doch – bei Lichte betrachtet – vergebliche Aufopferung sticht mir in die Seele. Vielleicht auf einem anderen Planeten … in einer fernen Zukunft … – die Gedanken verschwimmen. Stopp, Methusalem. Interpretiere nicht Müdigkeit als Resignation, versuche ich, meiner Seelenverfassung zu trotzen.
Da ist das teils temperamentvolle, teils mürrische Geplapper Federicos zu vernehmen ist. Schon kommt vorn an der Straßeneinmündung der Rollstuhl um die Ecke. Recht langsam gehend redet Federico auf Lisha ein. Irgendetwas stimmt nicht. Die Weitsichtbrille habe ich nicht bei mir und so warte ich zuerst, bis die zwei näher kommen. Lisha wirkt zusammengesunken und weint. Ich zwinge meine Beine, der Schwiegertochter ein paar Meter entgegenzueilen. „Was ist los, Mädchen!?“
„Ach, Vater! Jamina muss heute noch zurück, kurz nach ihrem Abflug ist Tian schwer erkrankt!“
Ich beuge mich, soweit das mein Rücken zulässt, nach vorn und versuche, sie in den Arm zu nehmen. „Ja, wie kam denn … “
„Sie hat auf dem SPF-Kommunikator eine Nachricht über das russische Netz erhalten und dann Federico auf seinem Lokalmelder angerufen!“, schluchzt sie. Ich will ihr mein Taschentuch geben, stelle dabei aber fest, dass ich es in dem gebrauchten Zustand nicht würde anbieten können.
„Lass mal, geht schon!“ Sie weint leise und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen vom Kinn. „Nicht mal Tschüss konnte ich ihr sagen.“
Federico wendet sich mit einem knurrigen „Adios!“ seinem Zuhause zu und wir beide haben zum Glück einen nur noch kurzen Weg bis zu unserer Haustür.
Abends sitzen wir beieinander. Gernot ist spät vom Flughafen zurückgekehrt und scheint merkwürdigerweise nicht ganz so niedergeschlagen zu sein. Ich versuche, beiden ein paar aufmunternde Worte zu schenken.
„Ja, dass Jamina schon wegmusste, ist schade. Aber ich glaube, mit dieser Nachricht von Tian hätte sie sich hier jetzt auch nicht mehr wohlgefühlt, wäre nicht mehr wirklich mit den Gedanken bei uns gewesen. Sie muss ihrem Mann jetzt beistehen und sie ist Krankenschwester.“
„Du hast ja Recht, Vater. Aber Loslassen ist schwer. Nicht nur das eigene Kind, sondern auch das eigene Selbstverständnis. Wenn man helfen möchte und nicht mehr kann.“
„Doch, Lisha, du kannst!“, sagt Gernot schmunzelnd. Unverständnis zeigt sich in Lishas Gesicht, während Gernot ein kleines schwarzes Klappetui aus der Hosentasche nestelt und es Lisha und mir hin und her schwenkend unter unsere Nasen hält. „Ta, ta! – Jaminas SPF-Kommunikator!“
„Wie?“, entfährt mir.
Lishas Augen leuchten.
„Sie hat ihn hier gelassen!?“, sagt sie überglücklich.
„Richtig, Schatz. Wir können jetzt auch von hier aus mit Jamina viel bessere Verbindung halten!“
„Und ich bin in der Lage, ihr und Tian Tipps und Hinweise für ihre Arbeit zu geben!“
Und der Opa kann auch mal einen Gruß senden, nicht wahr, denke ich und freue mich über die Weitsicht meiner Enkelin. Sie weiß sehr wohl, wie es uns hier jetzt geht. Wir sollten nur Geduld haben, bis sie in Tianjin angekommen sei, dann würde sie sich melden, hat Jamina ihrem Vater noch gesagt und ist mit verweinten Augen in die Maschine gestiegen, die sie zunächst nach Buenos Aires bringen wird. Von dort über Paris und Guangzhou bis Peking hat sie noch einen über dreißigstündigen Flug zu bewältigen.
Heute Nachmittag geschah dann das sehnsüchtig Erwartete. Jaminas SPF-Kommunikator hat mit nervigem Gepiepse auf sich aufmerksam gemacht und gleich darauf höre ich Gernot hektisch im Erdgeschoss herumlaufen.
„Ich sehe den Text nicht! Verdammt, ich komme nicht ran!“, flucht er, was mich bewog, am heutigen Tag entgegen allen maßvollen Gewohnheiten zum dritten Mal die Treppe hinab zu steigen. Bevor ich unten ankomme, ist Lisha herangerollt.
„Gib mal her.“ Sie probiert etwas. „Verdammt, ich weiß auch nicht, wo man hier drücken muss!“
„Wisst ihr was – ich gehe mal zu Federico rüber. Der hat doch so einen Lokalmelder, der kennt sich bestimmt auch mit dem Ding hier aus!“
„Gute Idee, Vater!“ Ich nehme das Klappetui und begebe mich auf den Weg zu Federicos Siedlungshäuschen, das dem unseren ähnlich ist, aber natürlich nicht so einen schönen gepflegten Vorgarten hat. Die Haustür steht einen Spalt breit offen, sodass ich mich ermutigt fühle, sie etwas weiter nach innen zu drücken.
„Federico?“ Ich warte. „Federico?“ Da springt im halbdunklen Flur eine nahegelegene Seitentür auf und aus einem erschrockenen Gesicht schauen mich zwei kleine Augen verdutzt an.
„Mann, Gringo! Was willst du denn hier!?“ Er schließt sofort die Tür zu diesem Nebenraum, in dem ich gerade noch einige seltsame Gerätschaften wahrnehmen kann, an deren Vorderseite rote und grüne LEDs aufblitzen. Schon kommt er mit ungehaltenem Gesicht auf mich zu, als ich beschwichtige:
„Ich wollte nicht stören, Federico.“
„Hast du aber!“
„Ich brauch Hilfe – sieh mal hier!“ Ich halte ihm Jaminas Kommunikator hin. Schon weicht sein offenkundiger Unmut einer gewissen Neugier.
„Ein SPF-Texter! Wo stammt der denn her?“
„Von deiner neuen Freundin!“
„Ja, das Goldstückchen! Hi, hi, wann kann ich einheiraten, Alter? – Ja, und? Was soll ich damit?“ Er hält das kleine Klappetui seinerseits hoch.
„Jamina hat geschrieben und wir wissen nicht, wie wir an den Text gelangen! Ich wüsste jetzt auch nicht, wie ich antworten könnte. Weißt du, wie’s geht?“
„Gringo, aus dir wird nichts mehr! Guckst du hier: Knopf drücken zum Lesen und guckst du da: Knopf drücken zum Schreiben. Comprendes? – Mann, Mann, Methusalem auf Weiterbildung!“
„Pass mal auf!“, protestiere ich gegen seine herablassende Art.
Schon hat er den ersten Knopf gedrückt, da nehme ich ihm das Etui aus der Hand, sage noch: „Und sorry für die Störung in deinem Spezialzimmer.“ Dass ich jetzt erneut meine Beobachtung von eben erwähne, scheint ihm gar nicht zu gefallen.
„Adiós, compadre!“ Das war ein Rauswurf. Ich wende mich um, höre noch, wie sich hinter mir energisch der Schlüssel im Schloss dreht und laufe mühsam den Weg nach Hause. Was hat sie denn nun geschrieben? Ich halte kurz inne. Knopf eins ist schnell noch mal gedrückt und tatsächlich:
„Hallo ihr Lieben! Bin gut angekommen. Tian wird überleben, er bekommt Antibiotikum und viel Salzwasser. Mama, bald besuchen wir euch in M. Opa soll alles aufschreiben.“
Ein Lächeln tritt in mein Gesicht, da knicken mir die Beine weg.
„Komm, komm, komm, aufwachen! Vater!“ Wie durch Watte dringen die Worte ins Bewusstsein. „Aufwachen, Vater!“ Gestank zwingt mich, angewidert den Kopf zu drehen. Nochmal. Ich spüre einen weichen Handschlag im Gesicht. „Vater, wach endlich auf!“
Was zur Hölle ist hier los? Jetzt kann ich die Augen etwas öffnen und nehme verschwommen Gernot wahr, als schaute er mich durch eine weiße Gardine an. Ich muss husten, dann wird der Blick etwas klarer, der Nebel lichtet sich und ich fange an, meinen Körper wieder zu spüren. Wo bin ich? Die Beine schmerzen und ein dumpfes Stechen durchdringt meinen Kopf. Ich will mich aufrichten, aber Lisha widerspricht: „Ruhig, bleib liegen, Vater!“
„Was … ist … “
„Ein Schwächeanfall. Du bist gestürzt – aber alles halb so wild“, erklärt Gernot. Erleichtert sinke ich zurück und erkenne jetzt erst, dass ich zuhause unten im Wohnzimmer auf der Couch liege.
Abends, als sich mein Befinden schon wieder etwas gebessert hat, erzählt Lisha, dass sie sich gewundert habe, wo ich denn bliebe, nachdem ich mir Jaminas SPF-Kommunikator hatte erklären lassen. Nach einem Blick aus dem Küchenfenster hat sie sofort Gernot gerufen und das Riechsalz herausgekramt. Der Kommunikator ist bei dem Sturz zwar heruntergefallen, aber dadurch zum Glück nicht kaputt gegangen.
„Jamina meint, du sollst jetzt unter die Schriftsteller gehen!“ Gernot schmunzelt.
„Na, eher unter die Chronisten. Mit Poesie hat‘s Vater dann doch nicht so“, spöttelt Lisha und ergänzt: „Aber wir helfen dir auch – wenn du magst!“
„Na ja, Kinder, wenn ich einigermaßen objektiv berichten will, dann werde ich auf eure Hilfe auch angewiesen sein. Die eigene subjektive Sicht kann man mit noch so viel Abstand zur Realität zu schärfen versuchen, aber umfassender wird sie deshalb nicht. Eure Erfahrungen in Lagos, Bukarest oder Tianjin sind doch vielfältiger als das, was ich in dieser Zeit in Deutschland erlebt habe“, und füge leise und mit leicht gesenktem Blick hinzu: „Yvonne kann ich ja nicht mehr fragen.“
„Wie willst du’s denn angehen, Vater?“, interessiert Gernot sich, ohne auf meine vorangegangene Bemerkung einzugehen. „Ich habe noch einige Zeitschriften aus meiner Studienzeit, die du auch auswerten könntest.“
„Na, mal langsam.“ Ich bremse die beiden, die sich offenbar freuen, dass ich der mir von Jamina angetragenen Aufgabe mit Schaffensdrang entgegensehe. Die zwei beargwöhnen jedes Mal meinen gelegentlichen Müßiggang, den die geringe Größe unseres Vorgartens oder auch mein nicht mehr ganz so taufrischer Zustand von Zeit zu Zeit nach sich ziehen. „Ein Tagebuch jedenfalls wird’s nicht. – Was ich aufschreibe, ist ja nicht egal. Aber es ist egal, an welchem Tag.“ Nur fertig werden muss das Buch, bevor mich die Raben holen, murmele ich in mich hinein. Der vertraute Griff des Gehstocks gibt mir beim Aufstehen etwas Sicherheit und Gernot hilft mir bis auf die ersten Stufen der Treppe. „Schlaft gut, Kinder!“ Oben angekommen, gehe ich zum Schlafzimmer. Der Sturz vorhin hat meinen Stolz verletzt, so etwas ist mir seit Ewigkeiten nicht passiert. Immer noch schmerzt der Kopf und die Knie zittern. Beim Zubettgehen wird mir meine Verletzlichkeit bewusst und dass ich womöglich nicht mehr viel Zeit habe. Mann, Mann, ich werde mich anstrengen und zügig arbeiten müssen, wenn ich alles aufzuschreiben will. Auch Methusalems beißen irgendwann mal ins Gras.
Auf der rechten Seite liegend schlage ich die Augen auf. Ein neuer Tag. Mein Blick richtet sich zum Kopfende, wo auf dem Nachttisch ein halbleeres Glas Wasser wartet und der uralte Wecker mit beruhigender Regelmäßigkeit vor sich hin tickt. Viertel nach sieben. Ein Moment vergeht, bevor die letzten Traumwirren aus dem Kopf verschwunden sind. Beide Knie angezogen, stütze ich mich ab und schwenke in den aufrechten Sitz. Die Füße kommen so genau an den ebendort gestern Abend stehen gelassenen Pantoffeln an. Alter Perfektionist, grinse ich und mustere die unförmigen Zehen. Mittlerweile habe ich diese Verstümmelungen akzeptiert, aber Schmerzen sind meine häufigen Begleiter. Na, komm, muntere ich mich auf. Heute Morgen geht’s schon wieder etwas besser. Ich nehme einen Schluck Wasser, stecke die Füße bis über die Sprunggelenke in diese Pantoffel-Konstruktionen, deren Gummisohlen mir Gernot aufgeraut hat, damit ich auf den glatten Holzstufen der Treppe auch wirklich Halt fände, und schließe die Klettverschlüsse über den unteren Schienbeinen. Im Bad schaltet der Bewegungsmelder das Licht an. Rasieren?! Werde ja nicht nachlässig, Methusalem! Beim Blick in den Spiegel fallen mir wieder ein paar neue Falten auf – oder trage ich die schon länger? Zum Glück habe ich über die Jahre kein Doppelkinn bekommen. Nach allen üblichen Prozeduren und dem darauf folgenden Ankleiden gehe ich hinüber in die Wohnküche, von wo aus die Fenster an der Stirnseite des Häuschens in den Vorgarten an der Straße und das kleinere Fenster in der Dachgaube zum Nachbargrundstück blicken lassen. Ich drücke den einzigen Knopf an der Kaffeemaschine, schneide zwei Stück vom leckeren, nigerianischen Bananenkokoskuchen ab und positioniere sie gegenläufig auf einem Teller. Als ich mich mit Tasse, Teller und einer kleinen Gabel bewaffnet am Tisch in der Mitte des Raumes hinsetze und das erste der beiden Kuchenstücke zu zerteilen beginne, fällt mir auf, wie althergebracht alles geblieben ist. Ich schaue mich in meiner Wohnung um. Gemütlich, ja. Aber die Ausstattung, von der ich annehme, dass sie bei anderen Leuten zumindest hier in unserem Ortsteil nicht luxuriöser ausfallen dürfte, ist doch geblieben, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Die Stromversorgung, die Haushaltsgeräte, die Einrichtungsgegenstände, die Kommunikationsmittel sind doch jetzt am Ende des 21. Jahrhunderts im Wesentlichen die gleichen, die meine Eltern und Großeltern auch schon hatten – oder zumindest kannten. Der Kühlschrank arbeitet immer noch mit einer Wärmepumpe und die Waschmaschine immer noch mit einer rotierenden Trommel. Nur was früher als Fernseher bezeichnet wurde, ist heute der 3D-Viewer, der beliebig vielen Personen davor je zwei Bilder in die Pupillen projiziert und damit personalisierte räumliche Eindrücke vermitteln kann. Aber Türen und Fenster haben immer noch ganz normale Drehgriffe und Heizungsthermostate funktionieren immer noch mit Bimetall-Streifen. An diesem ganzen Alltagskrempel hat sich fast nichts verändert. Dabei habe ich mich schon mit knapp dreißig mit ‚Human Interfaces‘, den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine beschäftigt. Mein gesamtes Forschungsteam war damals euphorisiert und von dem Drang beseelt, die Zukunft zu erfinden. Gedanken, nervliche Impulse sollten genügen, unsere Umwelt bedienen und beeinflussen zu können, den Menschen die Handhabung ihrer Umgebung noch leichter zu ermöglichen. Künstliche Intelligenz! Wie viele Fiktionen von vernetztem Leben, von computergesteuerten Städten oder völlig automatisierter Produktion begeisterten uns damals?!
Ich nehme mir genüsslich das zweite Kuchenstück vor.
Fast nichts von diesen Fiktionen ist in den letzten sechzig Jahren im Alltag angekommen. Freilich hielt technischer Fortschritt Einzug und natürlich – obwohl, so natürlich ist das gar nicht – begeisterte man sich über Erfindungen und Entdeckungen und Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Grundlagenforschung. Doch vieles davon ist in den Schubladen der Militärs verschwunden und war von Anbeginn nicht für den kleinen Mann gedacht – jedenfalls nicht, solange moralischer Verschleiß noch keine Rolle spielte. Wie mein Großvater mir in jungen Jahren mal erzählte, muss es damals in vielen, auch alltagsrelevanten Bereichen immense wissenschaftliche Neuerungen gegeben haben, die die Menschen dazu verführten, an eine gloriose Zukunft zu glauben. Tatsächlich aber wurden bereits im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts ganz allmählich die Bedingungen geschaffen, unter denen der Dämon begann, aufzuwachen.
Ich hole mir noch eine Tasse Kaffee, der Kuchen war wieder lecker. Das muss ich Lisha unbedingt heute noch mal sagen. So, und nun wird mir langsam klar, welche Mühe auf mich zukommt. Derart ungeordnet, wie mir die Gedanken durch den Kopf schwirren, kann ich sie nie und nimmer aufschreiben. Ich muss das alles besser systematisieren. Woran liegt das eigentlich, dass der erste Gesamteindruck, der im Kopf entsteht, sobald ich mich auf die Vergangenheit konzentriere, meist mit einem Gefühl der Verbitterung einhergeht?
„Vater?“, höre ich meinen Sohn unten rufen.
Ich stehe auf und gehe langsam zur Treppe. „Was ist, Gernot?“
„Ich fahre jetzt in die Stadt. Lisha ist mit Federico draußen!“
„O.k., und sieh mal zu, dass du ein paar Schreibblöcke mitbringen kannst!“
„Wird gemacht!“ Die Haustür fällt ins Schloss und ich wende mich mit dem Gehstock von der Treppe hin zur Seitentür, die in mein Arbeitszimmer führt. Ein massiver Schreibtisch aus hellem Holz und eine übergroße Regalwand dominieren den Raum. Allerdings ist in etlichen Fächern, die keine Bücher beheimaten, mehr oder weniger wichtiger Kleinkram einsortiert, teilweise nur beiläufig abgelegt. Auf dem Schreibtisch häufen sich verstreut liegende Zettel, ein Stapel mit unerledigter Post und das halbherzig angefangene Tagebuch mit seinen ersten Einträgen. Die Lesebrille liegt oben darauf. Ich lasse mich in meinen etwas seitwärts des Schreibtisches stehenden alten Ohrensessel fallen und versuche, eine Strukturierung zu entwerfen. Trotz der hochwichtigen Obliegenheiten im Vorgarten, die ohne größere floristische Verluste auf den halben zeitlichen Aufwand würde reduziert werden können, nehme ich mir vor, täglich mehrere Stunden für mein Projekt zu verwenden. Vormittags Erinnerungen, Notizen, Systematisierungen und Recherchen. Und nachmittags werde ich „den Griffel spitzen“. Ab und zu können die Kinder ja mal Korrektur lesen. Mir hilft das im Sprachgebrauch und sie nutzen die Gelegenheit, ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit einzubringen. Außerdem benötige ich Plätze für Papier, Entwürfe und Korrekturen – ich schaue mich im Zimmer um und dann bleibt mein Blick an dem kleinen Bild im silbernen Rahmen neben der Schale mit Stiften und Büroklammern hängen. Yvonne! Na, meine Liebste? Wo treibt sich deine Seele gerade herum? ‚In den Köpfen einiger Menschen‘, würdest du jetzt sagen. Ich weiß. Deswegen hat dein Bild keinen schwarzen Flor an einer der unteren Bildecken. In mir und den Kindern lebst du weiter. Ich muss lächeln und werde doch wieder nachdenklich.
Soll ich den Eid brechen? Selbst auf die Gefahr hin, dass die Amerikaner mich vorzeitig ins Jenseits bugsieren? Ja, ich weiß: Yvonne, du würdest mein Projekt unterstützen. Oder meintest du: Blicke nicht in die Vergangenheit, sondern kümmere dich um die Zukunft? Ist das in diesem Fall nicht sogar das Gleiche? Nur nach vorn schauen – das ist für junge Menschen richtig. In meinem Alter darf man aber zurückblicken, denn da liegt ein Erfahrungsschatz auf dem silbernen Tablett, der denjenigen, die noch tätig sein können, erst teilweise zur Verfügung steht. Vielleicht müssen die Alten weiterkämpfen und mit ihrer Erfahrung den Jungen helfen, anstatt in Erinnerungen zu versinken. Auch du, Yvonne, hattest einen immensen Erfahrungsschatz – was bist du nicht in der Welt herum gekommen, bis dein Engagement dir in Isfahan zum Verhängnis wurde. Du hattest keine Chance. Ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden, für uns warst du einfach nicht mehr da. Spüre ich da einen vorwurfsvollen Unterton? Nicht ungerecht werden, Methusalem, sage ich zu mir selbst. Das hätte sie nicht verdient. Ich glaube, sie spräche mir Mut zu: Nicht so viel sinnieren, dazu ist der Rest deiner Zeit zu knapp. Komm schon, Methusalem. Ich beginne meine Aufzeichnungen.
Alles schien wie immer, und nur wenige Wissenschaftler und Spezialisten schrieben in internen Berichten von einigen rätselhaften Beobachtungen. In Nordamerika hatte bei Gewittern die Anzahl der Blitze stark zugenommen und in manchen afrikanischen Küstenstädten standen plötzlich überall riesengroße schmutzige Pfützen in den Straßen. In Bolivien war Anfang des Jahres 2016 der zweitgrößte See des Landes, der Lago Poopó, merkwürdigerweise ausgetrocknet. Monatelang herrschte akute Wasserknappheit in vielen großen Städten des Landes. Aber sonst ging alles seinen Gang.
Bei uns Zuhause spürte man davon offenbar nichts. Wie die meisten Menschen in Europa machten sich meine Eltern über solche Dinge keine Gedanken. Beide waren verbeamtet, hatten ein Niedrig-Energie-Haus gebaut, trennten gewissenhaft und ordentlich den Hausmüll und brauchten die Zukunft nicht fürchten. So sah die Welt aus, als ich laufen lernte und die Windeln hinter mir ließ. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen sehe ich mich noch inmitten einer unübersichtlichen Menge Steckbausteine knien, mit denen ich höchst interessante Konstruktionen erschuf. Papa thronte in einiger Entfernung mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sessel der Couchgarnitur und las Zeitung, Mama hörte ich aus Richtung des in der offenen Küche platzierten und wegen seiner Lautstärke durchaus furchteinflößenden Kaffeeautomaten über die auf allen Kanälen ins Unendliche anwachsende Werbung schimpfen. Man hat wohl in dieser Zeit, in der Informationsüberschuss chic und zur Mode geworden war, die Welt mit Unwichtigem geflutet, um wichtiges - wo gewollt - gezielt untergehen lassen zu können. So war es offenbar auch Opa ergangen. Er hatte eine Berechnung angestellt, die die wichtigsten Faktoren berücksichtigte. Auf diese Art und Weise war er trotz der positiven Annahme, dass im Jahr 2100 mehr als die Hälfte aller Primärenergie aus CO2-neutralen Quellen stammen werde, zu einem wahrscheinlichen Temperaturanstieg von mehr als sieben Grad im Verhältnis zum Anfang des Jahrhunderts gekommen. Aber seine Botschaft hatte niemanden interessiert.
Ich wurde zu einer Zeit eingeschult, in der nach Öffnung der türkischen Grenze Richtung Balkan die zweite größere Flüchtlingswelle Mitteleuropa erreichte. Uns Erstklässler betraf dies aber nur dadurch, dass eines Tages mehrere, eher fremdartig aussehende und aus dunklen Augen ängstlich um sich schauende Neulinge, einige Jungen und mehrere Mädchen die Klassengruppe verstärkten. Aber es machte Spaß, mit ihnen zu spielen und zu toben – nur sprechen wollten die mit uns nicht so viel. Erst als die Lehrerin allen erklärte, dass die Neuen einfach unsere Sprache nicht kannten, haben wir verstanden, warum die untereinander immer so ein komisches Kauderwelsch redeten. Erst viele Monate später, als sie schon ein bisschen Deutsch konnten, haben sie uns erklärt, dass sie aus einem Land kämen, wo Flugzeuge alle Häuser kaputt gebombt und fremde Männer mit schwarzen Tüchern um den Kopf und schwarzen Fahnen ihren Müttern, Vätern oder den Geschwistern die Köpfe abgeschnitten hätten. Ungläubig lachten wir, dann weinten ein paar von ihnen und andere fingen an, sich wütend mit uns zu prügeln. Nachdem die Klassenlehrerin, eine kleine zierliche, aber energische Frau, das mitbekam, zeigte sie uns im Unterricht ausgewählte Fotos von schier endlosen Trümmerlandschaften und erklärte: Das waren einmal bunte Städte, in denen Kinder wie ihr gespielt und gelernt haben. Die Väter und Mütter sind jetzt tot. Vielleicht erschien ihr selbst das im Nachhinein zu hart, aber diese Konfrontation erzeugte Gefühle. Und sie lehrte uns, dass es außerhalb der für uns so friedlichen und glücklichen Erlebniswelt noch viele andere Regionen auf der Erde gab, in denen statt dessen Krieg, Hunger, Armut, Not und Krankheit zu den Selbstverständlichkeiten zählten. So standen uns Hiesigen die Tränen in den Augen und wir lernten, dass wir den Neulingen Respekt entgegenzubringen hatten und ihnen würden helfen müssen. Das wollten wir dann auch wirklich und so wuchs langsam etwas Vertrauen zwischen uns. Sie erzählten mehr von ihrer ehemaligen Heimat und davon, wie Kämpfer aus verschiedenen anderen Ländern sich dort gegenseitig ermordet haben. Aber obwohl sich die Lehrerin Mühe gab, einiges auf kindgerechte Art verständlich zu erläutern, wollten wir von Krieg nichts wissen. Natürlich nicht. Krieg passt nicht in die Köpfe von Kindern. Nur in die von skrupellosen Erwachsenen. Und so drehte sich unsere Welt einfach weiter. Wir lernten neue Zahlen und Buchstaben, ohne etwas von den Ereignissen zu ahnen, die sich in fernen Teilen der Welt anbahnten.
Auch ein Jahr danach bekam ich als wohlbehütet aufwachsendes Kind von diesen politischen Geschehnissen nicht viel mit. Erst viel später als Jugendlicher hat mir Vater mal erzählt, dass das Eingeständnis von 2020 eine Zäsur von Weltbedeutung gewesen sein musste: Damals hatte die UN zugeben müssen, dass hinsichtlich der Senkung der CO2-Emissionen bis dato nichts, aber auch gar nichts erreicht worden war. Alle Bemühungen, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen, zunehmend auf Kohlekraftwerke zu verzichten, insgesamt weniger Energie zu verbrauchen, hatten die jährlichen Emissionsmengen an Kohlendioxid nicht reduzieren können. Die internationale Zusammenarbeit an diesem Thema ließ daraufhin nach, viele Staaten zogen nun mehr und mehr nationale Alleingänge vor. An meiner Schule zuckten die Lehrer nur ratlos mit den Schultern, wenn sie sich darüber unterhielten. Für viele Menschen mit erhalten gebliebenem gesellschaftlichem Gewissen und Problembewusstsein war das ein Schock. Alles vergebens? Wirklich alles umsonst? Selbst unter Umweltaktivisten breitete sich Resignation aus. Die virtuelle Gemeinde der an Nachhaltigkeit und Ökologie Interessierten zerfiel. Kernkraftgegner mutierten zu Kernkraftbefürwortern, andere gaben auf oder wandten sich in spirituellem Frohlocken der neu entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“ zu. Aber all das spielte für einen Zweitklässler keine Rolle. Ich interessierte mich vielmehr für Papas neuen Globus. Eine riesengroße Kugel, die wunderschön leuchten konnte, war mit feinsten Linien und Buchstaben bemalt. Ich wusste schon, dass sie unsere Erde darstellt mit all den fernen Ländern, Meeren und Gebirgen. Sie drehte sich in einem Halbkreis, der auf dem wuchtigen Sockel komischerweise etwas schräg befestigt war. In einem Display konnte man Namen von Flüssen oder Städten eingeben und dann leuchtete die jeweils richtige Stelle. Papa nahm sich viel Zeit, mir auf dem Globus Länder, Gebirge und Flüsse zu zeigen. Da gab es unseren Heimat-Kontinent Europa. Fast auf der anderen Seite lag Nordamerika mit den USA, die mit den übrigen Ländern nichts mehr zu tun haben wollten. Noch eine halbe Umdrehung weiter umfuhr Papa mit dem Zeigefinger eine große Fläche. Das war Russland, das in der Raumfahrt und im Cyberwar unbedingt die Macht haben wollte. Darunter zeigte er mir, wo die großen chinesischen Ballungsgebiete liegen, in denen jährlich Millionen Menschen nur an den Folgen der Luftverschmutzung starben. Anschließend drehte Papa die Kugel wieder etwas zurück und legt den Finger auf den Mittleren Osten. Hier bekriegten sich immer noch die Länder Iran und Saudi-Arabien. Ohne mit meinen knapp acht Jahren viel davon zu verstehen, erzählte Papa noch, dass Russland sich in der Zwischenzeit aus dem Konflikt in Syrien zurückgezogen hat. Das bewog im Frühjahr 2022 die USA, in einer Blitz-Intervention große Teile des ehemaligen Syriens zu besetzen und diesen Staat kurzerhand zu einem amerikanischen Protektorat zu erklären. Kurz nach dessen Ausrufung wurden die USA von den schlimmsten Busch- und Waldbränden der jüngeren Geschichte heimgesucht. Zwölftausend Quadratkilometer südkalifornischer Fläche standen rund um Los Angeles in Flammen. Die Behörden sahen sich veranlasst, zehn Prozent des Stadtgebietes zu evakuieren. Für zirka dreihundertachtzigtausend Menschen mussten in entfernten Gebieten Notunterkünfte gebaut, die dazugehörigen Versorgungsverbindungen etabliert sowie die Umsiedlungsmaßnahmen durchgesetzt werden. Die Kosten des Löscheinsatzes, der Umsiedlungsaktion und der wirtschaftlichen Folgen hatten Kalifornien und damit die gesamte USA fast an den Rand einer Wirtschaftskrise gebracht. Viele Amerikaner sprachen damals von Sabotage oder Brandstiftung durch die Chinesen oder Russen. Diesmal wollte Papa, dass ich die geographischen Orte, an denen die großen Feuer brannten, selber auf dem Globus finde. Ich suchte lange nach Kalifornien und fand sogar Australien. Auch dort brachen etwa zum gleichen Zeitpunkt durch lang anhaltende Trockenheit nördlich der Millionenstadt Sidney großflächige Buschbrände aus. Hohe Temperaturen und starke Winde hatten dafür gesorgt, dass die Feuer sich soweit ausbreiteten, dass sie mit den zur Verfügung stehenden Löschmitteln nicht mehr bekämpft werden konnten. Die Konsequenzen für die Landwirtschaft waren unüberschaubar. Australien musste in der Folge Unmengen an Lebensmitteln importieren und rutschte so in eine fatale Staatsüberschuldung. Das Land wurde mit dem Problem allein gelassen und musste hilflos zusehen, bis sich das Inferno von selbst aufgezehrt hatte.
Einige Monate später, als ich mich auf die dritte Klasse freute, wurde Mitteleuropa von einer Hitzewelle geplagt. Ich kann mich noch an die heißen Sommermonate erinnern. Meine schulischen Leistungen waren in dieser Zeit ganz ansehnlich, weil der Umgang mit den kryptischen Symbolen des Alphabets und der Algebra mir eine Menge Spaß bereitete. So musste ich nicht allzu viel meiner nachmittäglichen Freizeit in die Erledigung von Hausaufgaben und Übungen investieren, sondern trieb mich stattdessen häufig irgendwo draußen herum. Die glücklichen Ferienwochen verbrachten meine Kumpels und ich – darunter auch einige von den Neuen – oft ganztägig im Schwimmbad, wir unternahmen Fahrradtouren oder stundenlange Exkursionen in das von unserem Haus nicht weit entfernte Waldstück, wo sich das dichte Unterholz mit ein wenig Geschick in kaum zu entdeckende Geheimquartiere umfunktionieren ließ. Uns Kindern haben die extremen Temperaturen offensichtlich kaum zugesetzt. Aber ich kann mich auch erinnern, dass viele Leute gestöhnt und gejammert haben. Mehr als zehn Wochen lang herrschten damals Tagestemperaturen von über fünfundvierzig Grad und nachts kühlte die Luft sich nicht mehr unter fünfundzwanzig Grad ab. Wir hörten oft das Martinshorn der Rettungswagen und die Eltern erzählten mir später, dass in diesen Monaten in ganz Europa Zehntausende älterer oder kranker Menschen an Schwäche gestorben sind. Versorgungsengpässe müssen den Leuten das Leben schwer gemacht haben, zum Beispiel bei den begehrten Kühlaggregaten, die dann nicht mehr frei gekauft werden durften, sondern nur für Krankenhäuser und die öffentliche Verwaltung reserviert worden sind. Und trotz der Proteste, die allein dieser Umstand auslöste, stiegen zudem auch noch die Preise, was zu berechtigtem Unmut in der Bevölkerung führte. Viele Leute wollten das nicht mehr hinnehmen und gaben sich der angeblich „selbstbefreienden“ Lebensweise hin. Sie sahen ihr Heil in der schon zuvor entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“, die mit ihrem neuen Zentrum in den USA in dieser Zeit einen Zulauf von Millionen Begeisterten verbuchte.
Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte Opa mir die dicke, von einem gewaltigen Einweckgummi zusammengehaltene Mappe voller Berechnungen mit den Worten: Leon, bewahre dieses Geschenk gut auf. Auch wenn du das noch nicht verstehst, du wirst die Niederschriften irgendwann gebrauchen können! Seinen bedeutungsvollen Blick habe ich bis heute nicht vergessen. Dennoch vertraute ich den Packen Unterlagen dann ohne größeres Verlustgefühl meinem Papa an, war aber mächtig stolz, nunmehr Besitzer irgendeines, wie auch immer gearteten Schatzes geworden zu sein. Und als „Schatzbesitzer“ kann man seine Kinderzeit genießen, obwohl auch für unsere Familie damals die Lebenshaltungskosten immens gestiegen sein mussten. Ich bekam das mit, weil sich die Eltern um die Bezahlung meiner Schulbücher für die vierte Klasse zankten. Doch meistens versuchten sie, die Sorge um ihren Schützling vor mir zu verbergen, so gut sie konnten. Außer bei dem Netz, das sie über meinem Bett anbrachten und das ich so über alle Maßen scheußlich wie unnötig fand. Ich bin doch kein Mädchen, das einen Schleier über der Bettdecke haben möchte! Aber diese Maßnahme müsse sein, hatte Mama gesagt und Papa verbot mir mit aller Strenge, drüben noch einmal in den Wald zu gehen. Was ist los? Nein, ich hätte nichts Falsches getan und das wäre um Gottes willen auch keine Strafe. Zur Schule musste ich neuerdings auch bei warmem Wetter nur noch mit langärmeliger und langbeiniger Kleidung gehen und befürchtete, dafür von den Anderen voll „gedisst“ zu werden. Komisch war nur, dass es vielen meiner Schulkameraden ähnlich ging. Die trugen plötzlich auch so voll uncoole Klamotten und dann lachten wir uns alle gegenseitig aus. Aber das Lachen verging uns, als eines Morgens unsere Klassenlehrerin und der Schuldirektor mit ernsten Gesichtern den Klassenraum betraten und uns bekannt gaben, dass Elvira S., wir nannten sie immer Elvis, nicht mehr in unsere Schule käme. Elvis war schon seit über einer Woche nicht mehr zum Unterricht gekommen und jetzt sagte die Klassenlehrerin, sie hätte mit einer schlimmen Krankheit im Krankenhaus gelegen. Wir waren alle tief betroffen und fragten nach. Der Direx erklärte, dass seit mehreren Wochen in Deutschland die asiatische Buschmücke gehäuft aufgetreten ist, sich nun mit hoher Geschwindigkeit vermehrt und weiter schnell ausbreitet. Diese Mückenart überträgt das Virus des sogenannten Dengue-Fiebers, an dem man sterben kann. Und Elvis war von solch einer Mücke gestochen worden. Da niemand mit diesem Krankheitsbild