Der verborgene Hof - René Korte - E-Book

Der verborgene Hof E-Book

René Korte

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Beschreibung

Der Umzug in die Stadt passt Katta gar nicht. Nur noch ein dunkles Zimmer, kein Garten mehr und - wie findet man eigentlich neue Freunde? Ohne ihre jüngeren Geschwister würde Katta verzweifeln. Da lernt sie das Nachbarsmädchen Januscha kennen und gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen, verborgenen Hof. Ihn zu finden wird ein Abenteuer. Doch können sie ihm auch wieder entkommen?

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Für Kaja

Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Tag 1 nach dem Ende der Welt

Kapitel: Das richtige Fenster

Kapitel: Brötchen-Bingo

Kapitel: Löffelbrötchen und Lemminge

Kapitel: Der verschollene Hof

Kapitel: Mein iPad weiß nicht alles

Kapitel: Puppenhalloween am ersten Schultag

Kapitel: Spitzenklassenkameraden

Kapitel: Das Schloss des Eispiraten

Kapitel: Schlaue Nachbarn

Kapitel: Frühstücksflocken und rätselhafte Geräusche

Kapitel: Vegane Warnung

Kapitel: Schnitzelblättchen und die rätselhafte Luise

Kapitel: Handyabseilung

Kapitel: Der fliegende Kater

Kapitel: Das Schlüsselerlebnis mit dem Schildkrötenmann

Kapitel: Der irre Hans

Kapitel: Gut vorstellbar

Kapitel: Der Vogel-Vampir

Kapitel: Keller-Katakomben

Kapitel: Die Expedition

Kapitel: Die Höhle

Kapitel: Höhlengestrandet

Kapitel: Bunter Garten, toter Wald

Kapitel: Stille Spieler, fliegende Vogelscheuchen

Kapitel: Das Zwischenweltliche Meer

Kapitel: Das Schiffswrack

Kapitel: Die Meerjungfrau

Kapitel: Der Fischer

Kapitel: Die Schattenstadt

Kapitel: In der Stadt

Kapitel: Großvaters Geschichte

Kapitel: Der gläserne Garten

Kapitel: Die Wahl

Kapitel: Der Handel

Kapitel: Versprechen und Verfolgung

Kapitel: Am Rande der Welt

Kapitel: Piraten

Kapitel: Frühstücksflocken

Kapitel: Die Klippen ohne Wiederkehr

Kapitel: Ausgang

Kapitel: Januschas Geheimnis

1. Kapitel: Tag 1 nach dem Ende der Welt

Heute ist der erste Tag nach dem Ende der Welt, und ich finde, irgendjemand sollte das aufschreiben. Das tut natürlich niemand, da alle mit dem Umzug beschäftigt sind. Also tue ich es, ich, Katharina Bach, kurz Katta.

Gestern war meine Welt noch bunt und groß. Heute sitze ich in einem kleinen, dunklen Zimmer, eingezwängt zwischen großen Pappkisten und allerlei Krimskrams. Gestern hatte das alles noch einen Platz. Genau wie ich. Meine alte Stoffpuppe Rahmi blickt mich aus ihren angenagten Knopfaugen an und sieht so traurig aus, wie ich mich fühle. Rahmi gehört in mein Bett, neben mein Kopfkissen, um meine Träume zu bewachen. Das tut sie schon seit fast elf Jahren. Natürlich bin ich längst zu alt, um noch mit Puppen zu spielen, und an ihren Augen nage ich auch schon lange nicht mehr. Aber zum Bewachen von Träumen darf man auch mit zehneinhalb noch eine Puppe haben. Ich könnte Rahmi einfach wieder auf mein Bett setzen, das ist schon aufgebaut, aber irgendwie kommt es mir falsch vor. Alles hier kommt mir falsch vor. Alles IST falsch! Es stinkt nach Farbe, der Fußboden besteht aus Brettern, der Flur ist lang und wie ein L geformt, und die Räume sind so hoch, dass einem fast schwindelig wird, wenn man an die Decke guckt. Am schlimmsten sind die Fenster. Die sind alle auf der falschen Seite. Ein Zimmer muss auf jeden Fall an der langen Seite ein Fenster haben, damit viel Licht hereinkommt. In der neuen Wohnung gibt es fast nur Fenster auf den kurzen Seiten. Es fehlen nur noch die Gitter davor, dann wäre das Gefängnis perfekt. Mein altes Zimmer hatte zwei Fenster: eins an der langen und eins an der kurzen Seite. Echt hell. Und ich hatte einen super Blick in den Garten. Manchmal habe ich morgens am Fenster gestanden und Minka, der schwarz-weißen Katze von Frau Meier, zugesehen, wenn sie auf Mäusejagd ging. Das klingt vielleicht nicht spannend, aber mir hat es gefallen. Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, sehe ich nur Regen, graue Häuser und kleine Leute, die es eilig haben. In der Stadt scheinen es die Leute immer eilig zu haben. Wahrscheinlich, weil alles so hässlich ist. Da muss man sich beeilen, um schnell an der ganzen Hässlichkeit vorbeizukommen. Vielleicht macht die Stadt aber auch hässlich. Als mir dieser Gedanke kam, bin ich ins Bad gegangen und habe in den Spiegel geschaut. Ich habe ausgesehen wie immer: mausbraune, schulterlange Haare, ovales Gesicht, eine Nase dünn wie mit dem Lineal gezogen und große, blaue Augen. Die Augen waren nicht ganz so wie sonst. Zwar so blau und so groß, aber sie sahen irgendwie stumpf aus, wie Papas Auto, wenn er es lange nicht geputzt hat. Als ich Papa davon erzählt habe, hat er mein Kinn in die Hand genommen und mich lange angesehen.

„Ich kann keinen Unterschied entdecken“, hat er behauptet. „Wahrscheinlich siehst du sie wieder leuchten, sobald wir die Funzel im Badezimmer durch eine richtige Lampe ersetzt haben.“

„In unserem Haus haben meine Augen auch ohne Lampe geleuchtet.“

„Da hatte unser Badezimmer auch ein großes Fenster.“

„Genau. Was wollen wir denn in einer Wohnung, wo es nicht mal Fenster im Badezimmer gibt?“

Darauf hat er nichts gesagt. Ich glaube, es nervt ihn, dass ich den Umzug doof finde. Er findet den Umzug nämlich nicht doof. Im Gegenteil. Für ihn wird mit dem Umzug alles besser, sagt er. Bisher war er Filialleiter in einer Bank auf dem Dorf, und jetzt ist er Abteilungsleiter in der Zentrale der Bank, hier in der Stadt. Und das ist ja ein toller Aufstieg, mit mehr Geld, einem Dienstwagen und so. Viel besser als vorher, wo er immer nur Omis mit Sparbüchern beraten hat. Aber Papas neuer Job ist nicht das Einzige, was sich für die Familie verbessert. Sagen zumindest Mama und Papa. Quatsch. Hier mal eine Liste von den Dingen, die sie besser finden:

1. Lüsi und ich können jetzt zu Fuß zur Schule gehen und müssen nicht mehr Bus fahren.

2. Hier gibt es fünf verschiedene Supermärkte,

3. ein Schwimmbad,

4. vier Spielplätze,

5. ein Kino,

6. einen Kinderarzt,

7. ein Fitnessstudio – alles im Umkreis von einem halben Kilometer –, dann noch

8. eine Autobahn,

9. einen Flughafen,

10. ein tolles Nahverkehrsnetz und

11. super schnelles Internet.

12. Überhaupt, die kurzen Wege sind toll, sagt Mama.

Mal ehrlich: Wer braucht schon fünf Supermärkte? Und Spielplätze benötigt man auch nur dann, wenn man keinen eigenen Garten hat. Was will man bei kurzen Wegen mit einem Flughafen oder einer Autobahn? Das ist eine Logik, die nur Erwachsenen einfallen kann. Eine typische Große-Leute-Logik.

Große-Leute-Logik vergisst gerne die wichtigsten Sachen. So etwas wie die beste Freundin, der man jetzt nur noch schreiben kann, oder die Reitstunden, die es zwischen den grauen Steinburgen wohl kaum geben wird. Beim Gedanken an Liska steigen mir Tränen in die Augen. Liska und ich sind die allerbesten Freundinnen der Welt und kennen uns schon seit dem Kindergarten. Hier kenne ich niemanden. Wer weiß, was für komische Kinder in der Stadt wohnen? Wenn sie schon lange hier leben, sind sie vielleicht hässlich und grau so wie alles hier. Und selbst wenn sie das nicht sind, was ich irgendwie hoffe, weiß ich immer noch nicht, wie ich hier neue Freunde finden soll. Bisher waren sie einfach schon immer da, meine Freunde. Wie Liska oder Anna, wie Peti und Fatima. Wie geht Freunde finden überhaupt? Darauf weiß die schlaue Große-Leute-Logik keine Antwort.

„Du lernst ganz sicher schnell nette Kinder kennen“, hat Mama gesagt. Wie, das hat sie nicht verraten. Ich glaube, sie hat nicht einmal die Frage verstanden.

Immerhin habe ich noch Lüsi und Jo. Das sind meine Geschwister. Lüsi ist acht Jahre alt, hat ganz hellblondes Haar, eine Nase wie eine Babykartoffel und immer ein freches Grinsen im Gesicht. Sie ist ziemlich dünn und klein für ihr Alter, aber in allem, was sie tut, flink wie ein Eichhörnchen. Besonders im Reden. Plapper, plapper, plapper. Ihr Mund steht nie still, und ganz oft purzeln lustige Ideen heraus. Sie hat immer die besten Einfälle, was wir spielen können. Geschichtenspiele mit wild gewordenen Blumenwiesen, zahmen Riesenspinnen und Drachen, die gerne Schokolade fressen. Alles ein bisschen verrückt. Manchmal endet es auch im Chaos, wie als wir Puppenhalloween spielten und alle ihre Puppen mit Mamas Acrylfarbe anmalten. Konnte ja keiner wissen, dass die Farbe nicht wieder abgeht und sich beim Versuch, sie mit Wasser aus dem Teppich zu bekommen, in einen riesigen kackbraunen Fleck verwandeln würde. Immerhin roch es nicht so, wie es aussah. Ja, Lüsi ist ein Lichtblick in dieser grauen Stadt.

Jo auch. Johann oder Pümf, wie ich ihn gerne nenne, ist fünf, fast sechs Jahre alt und ein Junge. Er hat auch Haare, natürlich. Sie sind kurz, und die Farbe ist irgendwo zwischen hellblond und mausbraun, also zwischen Lüsi und mir. Seine Nase ist eher ein Linealstrich, so wie meine, er grinst fast so viel wie Lüsi, und Quatsch macht er auch. Aber anders als Lüsi und ganz anders als ich. Er redet gerne in komischen Worten, denkt sich auch manchmal eigene aus. Popapier ist sein Wort für Klopapier, was eigentlich auch viel logischer ist, denn es ist ja für den Po. Oder Gehpass statt Kompass, weil man damit die Richtung findet, in die man gehen möchte, während die Richtung, aus der man kommt, gar nicht so interessant ist. Wobei nicht alle seine Worte so viel Sinn ergeben. Er redet auch gerne wirres Zeug, und im Kindergarten muss es gerade toll sein, wenn man in jedem Satz Worte wie Kacki, Pups oder Stinkefuß unterbringt.

„Katta, die Pups-Lüsi hat mir meine Tasche mit den Stinkefußbonbons weggenommen! Diese doofe Kacki-Schwester.“ Als wäre es ein Verlust, keine Stinkefußbonbons mehr zu haben. Manchmal ganz schön nervig. Lüsi und ich haben unsere Namen übrigens von Jo. Irgendwie ziemlich komisch, dass einem der kleine Bruder einen Namen gibt. Das kam so: Als er ganz klein war, haben wir ihm versucht beizubringen, Katharina und Elisabeth zu sagen. Heraus kamen Katta und Lüsi. Mama und Papa fanden das lustig und haben in typischer Große-Leute-Logik gesagt, wichtig sei doch, dass wir wüssten, wer gemeint ist. Irgendwann haben sie auch nur noch Katta und Lüsi gesagt. Erst nur zu Hause, später auch im Ort. Nach und nach haben das unsere Freunde und alle anderen Leute übernommen, im Kindergarten, im Sportverein und in der Schule auch. Die Große-Leute-Logik hat in der Schule aber nur mit den Namen funktioniert. Bei Rechtschreibung ist es nämlich plötzlich unglaublich wichtig, alles genau richtig zu schreiben. Auch wenn man eigentlich erkennt, welches Wort gemeint ist.

Das ist fast so unverständlich wie dieser Umzug. Erwachsene sind komisch.

2. Kapitel: Das richtige Fenster

Eine gute Woche später, ich komme erst heute wieder zum Schreiben. Seitdem ist viel passiert, aber ich will versuchen, alles zu erzählen – vergessen werde ich ohnehin nichts davon.

Am Abend unseres Umzugs jedenfalls platzten meine Geschwister in mein Zimmer und wollten wissen, was ich gerade mache.

„Ich schreibe auf, was hier alles doof ist“, antwortete ich.

„Warum?“, wollte Lüsi wissen. „Wird es davon besser?“

Sie lächelte mich zaghaft an, wie immer, wenn sie mich aufmuntern will.

„Es gibt eine coole Kackterrasse!“, rief Jo dazwischen. „Aber nicht im Garten. Das errätst du nie, wo die hier die Terrasse hingebaut haben!“ Er blickte mich erwartungsvoll an.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. In den Keller – oder ins Bad. Wo es doch eine Kackterrasse ist?“

„Nee. Viel besser. Die Terrasse ist auf dem Dach. Und da ist ein Wald. Ein Dschungel!“

„Du erzählst Quatsch. Kein vernünftiger Mensch würde eine Terrasse aufs Dach bauen. Und dann noch einen Wald darauf pflanzen.“

„Doch. Komm mit“, rief Jo, packte mich an der Hand und zog mich hinter sich her.

„Nicht so schnell“, beschwerte ich mich und ging bewusst langsam, weil ich gar keine Lust auf etwas Cooles hatte. Na ja, ein bisschen neugierig war ich schon. In unserem Dorf hatte jedes Haus eine Terrasse gehabt. Unseres auch.

„Vielleicht gibt es ja eine Regel, dass alle Häuser eine Terrasse haben müssen“, sagte Lüsi. „Und weil es hier keine Gärten gibt, hat man sie halt auf das Dach gebaut.“

„Wer weiß schon, auf was für Ideen diese Stadtleute kommen.“

Jo zog mich ins Wohnzimmer. Hier führt in einer Ecke eine Wendeltreppe nach oben ins Dachgeschoss. Das Haus, in dem wir wohnen, ist hoch, fünf Stockwerke. Es gibt zehn Klingeln. Zwei davon gehören uns, denn wir haben eine Wohnung, die im vierten Stock anfängt und bis in den fünften Stock geht. Plus Dachgeschoss mit der Pflichtterrasse. Die untere Wohnung ist vor allem Mamas Büro, ihre Werkstatt und ihr Plunderlager, wie Papa es nennt. Mama fährt mit unserem VW-Bus herum und kauft altes Zeug: Bücher, Bügeleisen, Waschmaschinen, Billardtische, einfach alles. Den Plunder setzt sie wieder instand und verkauft ihn dann für viel Geld im Internet. Da braucht man reichlich Platz. In der oberen Wohnung wohnen wir. Bis meine Geschwister mich zur Dachterrasse führten, hatte ich mir die Wohnungen gar nicht komplett angesehen. Ist ja eigentlich sinnlos, sich etwas anzusehen, was nicht so toll ist wie das, was man bisher hatte. Lüsi und Jo konnten es kaum abwarten, alles zu erkunden. Dabei hatten sie die Dachterrasse entdeckt. Mir fiel ein, dass Papa davon erzählt hatte, aber da hatte ich noch gedacht, er erzähle wieder nur Blödsinn – eine Terrasse auf dem Dach? Aber es war kein Quatsch. Und sie ist wirklich cool. Unsere Dachterrasse ist groß, keine Ahnung, wie groß genau, man kann von der Tür aus kein Ende sehen, denn es wächst ein Regenwald aus kleinen, großen und ganz großen Topfpflanzen darauf. Die stehen so dicht zusammen, dass man vor lauter Grün gar nichts mehr von der Stadt sieht. Nichts sieht und nichts hört! Nicht das kleinste Geräusch von den Straßen drang zu uns hoch, als Lüsi, Jo und ich zwischen all den Dschungelpflanzen standen. Vielleicht lag es am Regen, denn wie es sich für einen echten Regenwald gehörte, regnete es, und die Tropfen klatschten mit leisem Tappen auf die Blätter. Es klang ein bisschen, als würde eine ganze Horde Mäuschen über unseren Bretterflur rennen. TappTappTappTapp, TrippelTapp. Doch noch ein anderes Geräusch erklang im Mäusetappsen des Regens.

„Affen! Ich höre Affen schreien“, rief Lüsi überrascht.

Jo schüttelte den Kopf, während ich angestrengt lauschte.

„Das waren doch keine Affen. Das waren Papageien.“

Das Geräusch kam nicht wieder. Wenn man angestrengt horchte, konnte man aber ein leises Rauschen hören, wie von einem fernen Wasserfall.

„Wir müssen eine Expedition in den Regenwald machen“, entschied Lüsi mit leuchtenden Augen.

Ja, das mussten wir. Als wir uns ein paar Meter bewegt hatten, blickte ich mich um. Hinter uns lag die Tür zu unserem Dachgeschoss. Die Wand drum herum war dreieckig und mit grünem Rankezeug bewachsen, und ich erkannte, dass man für die Terrasse einfach ein Stück Dach weggelassen hatte. Damit es nicht in die Wohnung darunter regnen konnte, war der Boden mit schwarzen Fliesen belegt, die jetzt im Regen glänzten. Die über den Himmel ziehenden Wolken spiegelten sich darin wie in einem dunklen See. Hinter den Dschungelpflanzen auf der linken Seite der Terrasse konnte ich ein kleines Fleckchen Ziegelmauer sehen. Eine Umrandung, nahm ich an. Etwa so hoch, wie Pümf groß ist. Dahinter ging es bestimmt nach unten. Sicher war ich nicht, denn von hier aus sah es ein wenig so aus, als kämen auch Ranken von der anderen Seite der Umrandung in den Dschungel. Oder war es doch keine Umrandung?

„Schaut mal da“, sagte ich. „Sind vielleicht Reste von einem alten Tempel.“

„Ja!“, rief Lüsi begeistert.

„Oder von einer Piratenburg“, hoffte Jo. Jo ist nicht nur in einer Pups-Kacki-Stinkefuß-Phase, sondern auch in einer Piraten-Phase. Die geht schon länger. Mama sagt, ich wollte in diesem Alter immer eine Fee sein, und alles musste feenrosa und am liebsten Flügeln sein. Es gibt Bilder, auf denen ich einen rosa Plüschschlafanzug anhabe, mit angenähten Federflügeln. Das war nicht sonderlich bequem, und nachts lösten sich Flusen. Dann sah ich morgens eher wie ein gerupftes Huhn aus als wie eine Fee. Auch davon gibt es Fotos. Total peinlich, aber zum Glück sind solche Phasen ja irgendwann vorbei.

„Los“, sagte ich. „Lasst uns mal schauen.“

„Kommt wieder rein, Kinder“, erklang plötzlich Papas Stimme hinter uns. „Ihr könnt hier spielen, wenn es nicht schüttet.“

„Aber das ist doch ein Regenwald“, erklärte Lüsi.

„Mit Papageien“, ergänzte Pümf.

„Klar. Kommt rein. Erkundet den Regenwald, wenn es trocken ist.“

Den Regenwald erkunden, wenn es trocken ist? Die Große-Leute-Logik muss man nicht verstehen.

Ich seufzte. „Na gut. Wir machen unsere Expedition später.“

Ganz angenehm war der Regen wirklich nicht, obwohl er warm war. Sommerregen.

„Fangt mal an, eure Sachen in die Schränke zu räumen“, sagte Papa. „Nachher gibt es Pizza und als Nachtisch ein großes Eis in der Eisdiele um die Ecke.“

„Eine Eisdiele um die Ecke?“, fragte Lüsi erstaunt. Bisher hatten wir eine halbe Stunde mit dem Auto fahren müssen, um ein Eis zu bekommen, das nicht aus dem Supermarkt war.

„Manchmal sind kurze Wege doch gar nicht so schlecht“, fand Lüsi.

Wir räumten dann gemeinsam unsere Zimmer ein. Mit Pümfs fingen wir an, das war sehr einfach, denn bei ihm liegt sowieso immer alles auf dem Boden herum. Mama und Papa wollten das in der neuen Wohnung ändern und hatten Plastikkisten gekauft, die man in ein Plastikkistenregal schieben kann. Das ist so eine schwedische Erfindung und sehr praktisch, denn wir konnten seine Spielzeugkartons einfach in die neuen Schwedenkisten schütten und die ins Regal stecken. Für die Anziehsachen brauchten wir länger, aber nur ein bisschen, denn Pümf hat eine Kommode, also einen Schubladenschrank, mit genau sechs Schubladen. Das passt. Unterhosen, Unterhemden, Socken, T-Shirts, Jeans und Pullover sind genau sechs verschiedene Arten Klamotten. Für jede Art gibt es eine Schublade. Schublade auf, Zeug rein, Schublade zu. Und die Sachen, die weder Unterhosen, Unterhemden, T-Shirts, Hosen, Socken oder Pullover waren, haben wir in seinen großen Schrank gekippt. Winterjacken, Sommerjacken, Trainingsanzug, kurze Hosen, Schlafanzüge. Es sah jedenfalls schnell genauso aus, wie es zu Hause immer ausgesehen hatte. Dann hängten wir noch das ehemalige Feenposter auf, auf dem ich den Feen Augenklappen, Holzbeine und Schwerter gemalt hatte, sodass sie aussehen wie Piratenfeen. Zum Schluss stellten wir noch die Bücher ins Regal und warfen die zusammengefalteten Kartons auf den Flur. Einfach.

Bei Lüsi dauerte es etwas länger, weil sie keine Schwedenkisten hat und auch mehr unterschiedliche Klamotten als Schubladen. Außerdem mag sie es, wenn alle ihre Puppen irgendwie zusammensitzen. Und manche verstehen sich nicht so gut. Die dürfen nicht zusammensitzen, sonst zicken sie sich an, sagt Lüsi. Dann mussten wir noch ab und an ein Spielzeugauto, einen Bauklotz oder ein Buch dazupacken, damit sie sich nicht langweilen und keinen Blödsinn machen. Puppenhalloween und so. Als wir mit ihrem Zimmer fertig waren, war ich sicher, Lüsi und Pümf würden jetzt lieber spielen, statt mir zu helfen. Doch ich hatte mich geirrt.

„Es ist ein doofes Zimmer“, sagte ich, als wir fertig waren und nur noch der große Karton mit meinen Malsachen nicht ausgeräumt war.

„Mir fehlt mein Blick in den Garten. Der gehört da hin“, fügte ich hinzu und deutete auf die lange Seite des Zimmers, wo jetzt mein Schreibtisch in der Ecke und ein breiter, halbhoher Schubladenschrank danebenstand. „Damit ich vom Bett aus hinaussehen kann.“

Ich muss dabei wohl ziemlich traurig ausgesehen haben, denn Jo und Lüsi nahmen mich, ohne etwas zu sagen, beide in die Arme. Sie waren warm, und ich spürte, wie mir auch warm wurde. Innerlich. Und wie schön es ist, Geschwister zu haben.

„Der Garten war doch sowieso nur im Sommer schön“, meinte Lüsi, nachdem sie mich losgelassen hatte. Erst wollte ich widersprechen, doch dann sah ich am Zucken ihrer Babykartoffelnase, dass jetzt wieder eine wilde Idee kommen würde. Sie stupste mit dem Fuß gegen meine Kiste mit den Malsachen.

„Wie wäre es mit einem Garten, in dem immer Sommer ist?“, fragte sie mit dem Spezialgrinsen, das sie für den größten Quatsch reserviert hat.

Jo kapierte es sofort und schüttelte den Kopf. „Wir dürfen keine Wände anmalen, und wenn doch, dann nur hinter einem Schrank, wo es Mama und Papa nicht sehen. Oder unter dem Bett. Oder hinter einem Poster. Oder …“

„Machen wir doch gar nicht“, sagte Lüsi schnell, bevor Jo alle weiteren zweiunddreißig Stellen aufzählte, an denen er die Wand in unserm alten Haus heimlich angemalt hatte. „Wir malen ein Fenster. Mit Garten dahinter. Erst malen wir den Rahmen, dann Bäume und Blumen.“

Gerade als wir fertig waren, kamen Mama und Papa, um uns zum Pizzaessen abzuholen. Papa trug einen großen Stapel Kartons auf dem Arm, fast als wäre er immer noch beim Wohnungseinräumen.

„Kartonpizza!“, jubelte Jo.

„Passt am besten zu einem Umz…“, begann Papa, stoppte dann aber mitten im Wort, als er unser gemaltes Fenster sah.

Mama hob die Hand vor den Mund, der eine Sekunde lang wie ein perfektes O aussah, und Jo versteckte sich in derselben Sekunde hinter meinen Beinen.

„Schön, nicht wahr?“, fragte Lüsi mit einem zuckersüßen Lächeln, wie es nur sie hinbekommt. „Katta war traurig, weil sie die Aussicht in den Garten vermisst. Da haben wir ein Fenster gemalt.“

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann stellte Papa den Stapel Kartonpizzen auf den Boden und nahm mir den Pinsel aus der Hand.

„Wo habt ihr Schwarz und Weiß? Die Nachbarskatze fehlt noch.“

3. Kapitel: Brötchen-Bingo

Die erste Nacht in der neuen Wohnung war nicht so aufregend und auch nicht so traurig, wie ich erwartet hatte. Eigentlich war es mehr so wie immer. Die Kartonpizza und der riesige Schokobecher lagen mir schwer im Magen, aber nachdem ich so lange aus meinem gemalten Fenster geguckt hatte, bis dort die Sonne untergegangen war, war ich doch eingeschlafen. Die Sonne kann im Garten untergehen, weil Mama eine LED-Lichtschiene über meinem gemalten Fensterrahmen angebracht hat, bei der man die Farbe wechseln kann. Jo hatte natürlich gleich einen passenden Begriff dafür: Regenbogenleuchte. Und wenn man die auf Rot stellt, sieht es aus wie ein Sonnenuntergang. Nicht so schön wie ein echter, aber das kann man in der Stadt sowieso nicht erwarten.

Als ich am Sonntag früh aufwachte, wusste ich erst gar nicht, wo ich überhaupt war. Verwirrt tapste ich ins Bad und musste feststellen, dass die Stadt schon an mir nagte. Meine Haare standen in alle Richtungen ab, als hätte ich einen Luftballon daran gerieben. Etwas getrockneter Popel hing mir aus der Nase, und meine Augen waren klein und stumpf. Gähnend spritzte ich mir Wasser ins Gesicht, kämmte das gröbste Übel aus den Haaren und schlich in mein Zimmer zurück. Alle anderen schliefen noch, denn bei uns in der Familie bin ich die Frühaufsteherin. Wochentags sind Mama und Papa auch schon früh auf, aber nur weil sie müssen. Am Wochenende schlafen sie immer so lange, bis es einer von den Kleinen nicht mehr ohne sie aushält und sie weckt. Meistens ist das Pümf, der dringend sein neustes Bild zeigen oder mit seinen Playmobil-Piraten die Schlafzimmerfestung mit der Bettenburg einnehmen muss.

In meinem Zimmer trat ich ans Fenster und blickte hinaus. Wieder Regen. Ob es in der Stadt wohl immer regnete? Autos fuhren noch nicht, nur ein hässlicher nasser Hund trabte herrenlos durch den grauen Morgen und verrichtete sein Geschäft mitten auf dem Gehsteig. Ich stellte das Fenster auf Klapp und lauschte dem Regen. Der klang immerhin so wie zu Hause. Was Liska wohl gerade tat? Sie war auch Frühaufsteherin, und sonntagmorgens trafen wir uns immer auf dem Weg zum Bäcker. Hier gab es bestimmt auch einen Bäcker. Schließlich gab es in der Stadt alles und immer mit einem kurzen Weg. Seufzend drehte ich mich um. Als mein Blick auf das gemalte Fenster fiel, dachte ich erst, ich schlafe doch noch und träume nur, was ich sehe. Ungläubig trat ich näher an die Wand und starrte die Katze an, die Papa gestern gemalt hatte. Er kann gut Katzen malen und hatte Minka, die Katze unserer ehemaligen Nachbarin, gut getroffen. Nur war es jetzt nicht mehr Minka. Statt schwarz-weiß war die Katze jetzt weiß mit schwarzen, rotbraunen und grauen Flecken. Um das rechte Auge herum war sie schwarz, sodass es aussah, als trüge sie eine Piraten-Augenklappe wie die Feen auf Pümfs Poster. Das linke Ohr war ein wenig zerfleddert. Das Erstaunlichste aber war, dass die Katze grinste. Der Kater. Es war ein Kater. Keine Ahnung, woher ich das wusste, denn sehen konnte man es nicht, aber irgendwie wusste ich es sofort. Warum hatte Papa Minka übermalt? Und das Bild war irre gut, sah fast schon wie ein Foto aus, war also nicht einfach eben mal schnell hingemalt. Wieso hatte er das gemacht, und wieso mitten in der Nacht? Und ohne dass ich es bemerkt habe? Ich habe keinen sehr tiefen Schlaf, werde normalerweise schon bei kleinen Geräuschen wach. Trotzdem musste es Papa gelungen sein, hier hereinzukommen und unbemerkt Minka durch den Kater zu ersetzen. Ich schüttelte den Kopf. Manchmal hat er komische Ideen. Vielleicht war es sogar besser so, denn ich gebe zu, dass es mich ein wenig traurig gemacht hatte, meine kleine Minka zu sehen.

Ich grübelte immer noch über den Kater, als ich eine Viertelstunde später leise die Wohnung verließ, um zum Bäcker zu gehen. Das Treppenhaus ist ziemlich dunkel, weil es nur Fenster hat, die ein bisschen aussehen wie Schießscharten in einer alten Burg. Dazu sind die Scheiben noch aus so einem geriffelten Glas, durch das man nicht hindurchsehen kann, was irgendwie wieder Große-Leute-Logik ist, denn wofür hat man Fenster, wenn nicht zum Hindurchsehen? Jedenfalls wäre ich im dritten Stock beinahe über ein Mädchen gestolpert, das dort auf der Treppe saß. Sie sprang auf, als ich kam, und nur deshalb hatte ich sie überhaupt gesehen, als ich die Treppe runterkam.

„Hi!“, sagte sie und lächelte mich breit an. Sie war ein bisschen kleiner als ich, hatte Milchkaffeehaut und schwarze Strubbellocken, die wie eine Löwenmähne um ihren Kopf herumstanden. Neben ihr stand ein Skateboard auf dem Boden. Skateboard ist doof, das ist nur was für Jungs und auch nur für die komischen, die ihre Hosen nicht zumachen können, ihre Schuhe anmalen und nicht wissen, wie herum man ein Käppi trägt. Obwohl sie ein Skateboard hatte, war das Mädchen normal angezogen, zugeknöpfte Jeans, T-Shirt und eine offene Kapuzenjacke darüber. Kein Käppi. Turnschuhe nicht angemalt, soweit ich das sehen konnte.

Einen Moment lang war ich zu verblüfft, um etwas zu sagen.

„Hallo?“, fragte sie vorsichtig. Dann machte sie ein paar Gesten und sprach ganz langsam und deutlich. „Wenn – du – taubstumm – bist - , - nick – einfach – mit – dem – Kopf.“

Ich fand meine Sprache wieder, irgendwo zwischen den langsam ausgesprochenen Worten.

„Nein. Bin ich nicht. Ich habe nur nicht erwartet, jemanden hier im Halbdunkeln auf der Treppe zu treffen. Ich bin Katta“, sagte ich und reichte ihr die Hand.

Ihre Hand war kleiner als meine, aber fester und mit härterer Haut an den Handflächen.

„Ich bin Januscha. Ich wohne hier“, sagte sie und deutete mit der Hand auf die Tür rechts neben der Treppe.

„Wir sind gestern hier eingezogen.“

„Ich habe den Umzugskran gesehen. Ziemlich cool. Wäre ich gerne mal in einer Kiste mit hochgefahren.“

Ich zuckte mit den Achseln. „Ich muss zum Bäcker. Weißt du, wo einer ist?“

„Klar. Wir haben eine ganze Menge. Brötchenskala von gummi-knatschig bis dunkel-stein-kross.“

Ich musste sie ziemlich verwirrt angesehen haben, denn sie grinste und fügte dann hinzu: „Dazwischen gibt es auch ziemlich leckere. Aber sonntags machen alle Bäcker erst um acht Uhr auf.“

Ich blickte auf meine Uhr. Es war erst kurz nach sieben. Fast eine Stunde. Mist.

„Bei uns zu Hause haben die immer um sechs Uhr aufgemacht.“

„Hier nicht“, sagte Januscha gleichmütig. Am Bahnhof hat der Bäcker schon auf. Falls du an Brötchennotstand leidest.“

„Nee. Das nicht. Ich geh halt immer um die Zeit zum Bäcker. Aber hier ist ja alles anders.“ Ich seufzte.

„Na gut, wenn du also nicht verhungerst, kann ich dir in der Zwischenzeit unser Viertel zeigen, wenn du möchtest.“

„Musst du nicht. Du hast sicher was Besseres vor, als sonntags um sieben Fremdenführerin zu spielen.“

„Stimmt. Auf der Treppe sitzen, zum Beispiel.“

Sie blickte mich ernst an, und ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte. Dann grinste sie.

„Also eigentlich habe ich nichts vor.“

Ihr Grinsen steckte an. „Okay. Dann nichts wie los, Frau Fremdenführerin.“

Und so kam es, dass mir Januscha unser Viertel zeigte. Der Regen hatte aufgehört, aber es war kühler als gestern. Sie fuhr mit ihrem Skateboard, während ich neben ihr herging. Wir guckten uns graue alte Häuser an und braune alte Häuser, blau angemalte alte Häuser und gelb gestrichene alte Häuser. Sie zeigte mir komische Steinfiguren, Köpfe, Tiere oder einfach nur Muster als Verzierung auf den Fassaden. Über den Türen waren oft kleine, bunte Zeichen, an unserem eigenen Haus waren das eine Blume und ein springender Fisch. Oft sah ich das Motiv eines weißen Pferdes an den Giebeln, doch über all den Versuchen, die Stadt schön zu machen, schien ein grauer Schleier zu liegen.

„Die Farben sind hier nicht so wie zu Hause.“

„Du meinst, die Bäume sind da, wo du herkommst, nicht grün und der Regenhimmel nicht grau?“, fragte Januscha. „Das muss ja sehr praktisch sein. Besonders, wenn die Hundehaufen rot sind und man sie so besser sehen kann.“

Ich verdrehte die Augen, eine Geste, die ich mir von Mama abgeschaut habe. „Alles ist irgendwie grau.“

„Grau? Ist es das bei euch nicht, wenn es regnet? Wenn die Sonne scheint, ist alles schöner.“

Da hatte sie vielleicht recht.

„Du hast übrigens coole Leuchteaugen“, sagte sie unvermittelt. „War mir im Treppenhaus gar nicht aufgefallen. Darf ich mal?“, fragte sie, sprang von ihrem Skateboard und hielt mir die Hand etwa dreißig Zentimeter vor die Augen. Sie blickte konzentriert auf die Handfläche und schüttelte dann den Kopf. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass Januscha ziemlich komisch war.

„Du dachtest, meine Augen leuchten wie eine Laterne?“

„Na ja. Sie sind so unglaublich blau. Wie eine Lampe. Und groß. Wie Scheinwerfer. – Schau mal. Da vorne ist ein Kiosk. Der ist wichtig“, lenkte sie schnell ab.

„Wichtig, weil …?“

„Wenn du es nicht bis 22 Uhr in den Supermarkt geschafft hast, kannst du hier die lebensnotwendigen Dinge auch später noch bekommen. Teurer, aber besser, als nichts zu essen zu haben. Und da vorne ist ein tolles Eiscafé.“

„Da war ich gestern mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern. Erst gab es Kartonpizza, dann einen großen Eisbecher. Das perfekte Abendessen.“

Einen Moment huschte ein Ausdruck über Januschas Gesicht, den ich nicht deuten konnte. Irgendwas wie Traurigkeit, aber er wurde schnell von einem Lächeln überdeckt.

„Schön. Da kann ich gar nicht oft genug hingehen und Eis essen.“

Januscha führte mich weiter herum. Auf einem Spielplatz mit Skatebahn zeigte sie mir, dass sie ein paar ziemlich coole Tricks drauf hatte. Sie flitzte auf ihrem Board die Betonabhänge hoch und runter, sprang über ein Hindernis und fiel kein einziges Mal hin. Definitiv besser als alle komischen Jungs in meinem Dorf. Und dabei so schnell, dass ich schon vom Hinsehen Angst bekam.

„Willst du auch mal?“

„Lieber nicht. Das sieht gefährlich aus.“

„Gefährlich? Du bist komisch.“

Dass ausgerechnet sie das sagte, fand ich nicht nett.

„Lass uns zum Bäcker gehen“, sagte ich grummelig. „Es ist kurz vor acht.“

„Okay. Die besten Brötchen gibt es bei uns um die Ecke.“

Wir brauchten nur ein paar Minuten vom Spielplatz aus. Ein kurzer Weg. Wir mussten warten, denn es waren fünf Leute vor uns. Das machte mir nichts aus, das war zu Hause ja genauso. Ich mochte den Bäcker. Es roch gut, nach warmem Brot und frisch gemahlenem Kaffee. Der Kuchen in der Auslage stand dem bei unserem Bäcker im Dorf in nichts nach. Die Auswahl war aber ungefähr fünfmal so groß. Ich zog meine Brötchenliste aus der Tasche und prüfte kritisch, was es gab. Auch bei den Brötchen war die Auswahl viel größer.

„Du hast eine Liste? Zum Brötchenkaufen?“, fragte Januscha entgeistert, als wäre das die merkwürdigste Sache der Welt.

„Klar. Ich weiß sie eigentlich auswendig, aber so kann ich nichts vergessen.“

„Und du kaufst immer dasselbe? Auch hier, wo es total coole Sorten gibt?“

„Natürlich. Wenn man einmal weiß, was einem schmeckt, kann man das doch immer wieder nehmen.“

Januscha schüttelte den Kopf. „Weißt du was? Lass uns gegenseitig bestellen. Ich bestelle deine Brötchen, du meine. Ich brauch drei.“

„Ich fünfzehn. Aber ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Meine Familie mag vielleicht nicht, was du aussuchst.“ Und ich auch nicht, dachte ich im Stillen.

„Lass es uns versuchen. Ist doch witzig. Ich nenn es Brötchen-Bingo.“

Der Mann vor uns bekam seine Tüte, und die kleine rotwangige Verkäuferin hinter der Theke wandte sich uns zu.

„Was darf es denn sein, die Damen?“

Bevor ich etwas antworten konnte, begann Januscha: „Guten Morgen, die Dame. Für meine neue Nachbarin hätte ich gerne zwei Tomaten-Basilikum, zwei Süßkartoffel-Cranberry, zwei Möhren, zwei Safran-Mehrkorn, zwei Müslimischung, zwei vegane Dinkel, zwei normale und ein … wie wäre es mit einem Bärlauch?“

Ich verzog angewidert das Gesicht.

„Nehmen wir“, sagte sie. „Jetzt bist du dran.“

„Äh, äh“, überlegte ich. Sie hatte meine Brötchen so schnell bestellt, dass ich gar keine Chance gehabt hatte zu widersprechen. Und erst recht nicht, mir über die Auswahl für sie Gedanken zu machen.

„Ja?“, fragte die Verkäuferin.

„Ein Kürbiskern, ein Sonnenblumen und …“ Das waren die Sorten, die ich immer nahm. Was jetzt noch? Mein Blick schweifte über die Auslage. „Ein, ein, ein …“ Januscha und die Verkäuferin sahen mich erwartungsvoll an, selbst die Blicke der Leute, die hinter uns in der Schlange standen, meinte ich zu spüren. Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Megapeinlich. Da ist dieses kleine Mädchen vom Land, das schon mit Brötchenbestellen überfordert ist.

„Ein Zwiebel“, sagte ich dann mit fester Stimme. Alle sahen auf einmal sehr zufrieden aus. Januscha grinste mich an, die Verkäuferin lächelte und tippte energisch Preise in ihre Kasse. „Sie haben aber auch eine Auswahl. Unglaublich!“, sagte ich erleichtert darüber, die Situation gemeistert zu haben.

Wir verließen die Bäckerei. „Jetzt habe ich ein Problem“, fiel mir plötzlich ein.

„So?“

„Na ja. Alle werden es blöd finden, dass ich die falschen Brötchen mitbringe.“ Mist. Das würde das ganze Frühstück verderben.

„Meinst du? Wart erst mal ab. Wenn man irgendwo neu ist, ist das doch eine gute Gelegenheit, mal etwas auszuprobieren.“

Ich dachte darüber nach, als wir zurückgingen. Vielleicht stimmte es. Schließlich musste ich hier die guten Dinge erst einmal finden. Das würden auf jeden Fall andere sein als in meinem kleinen Dorf. Wenn es hier denn überhaupt welche gab. Ich nahm mir vor, eine Liste von dem zu machen, was ich am meisten vermisste, von den richtig guten Dingen, und immer wenn ich passenden Ersatz gefunden hätte, würde ich einen kleinen grünen Haken dahinter setzen. Ja, eine Liste wäre gut. Listen waren immer gut. Aber ich war mir jetzt schon sicher, dass Bärlauchbrötchen keinen grünen Haken bekommen würden.

4. Kapitel: Löffelbrötchen und Lemminge

„Danke für die Führung, Frau Nachbarin“, sagte ich, als wir wieder im dritten Stock ankamen.

Januscha winkte ab. „Habe ich doch gern gemacht. Außerdem bin ich mal gespannt, wie das Sonnenblumenbrötchen schmeckt.“

„Bestimmt besser als Bärlauch.“

Sie antwortete nicht, lauschte. Aus ihrer Wohnung drang eine gedämpfte Stimme.

„Tschüssi“, sagte sie schnell, schloss die Tür auf und schlüpfte nach drinnen, ehe ich auch nur einen kurzen Blick in die Wohnung werfen konnte. Oder auf ihre Mutter, oder wer auch immer da gesprochen hatte. Sie war wirklich ein ziemlich komisches Mädchen.

Zurück in unserer neuen Wohnung wollte ich den Frühstückstisch decken, wie ich das sonntags immer tue. Ging aber nicht, denn alles war noch in Kartons verpackt, die sich kreuz und quer in der Küche auftürmten. Ich zählte sie und stellte fest, dass es siebenundzwanzig Stück waren. Schon seltsam, wie viele Dinge sich in Schränken unterbringen lassen. Lustlos öffnete ich einzelne Kartons in der Hoffnung, zufällig auf unsere Frühstücksbrettchen zu stoßen, doch vergeblich. Kurz überlegte ich, einfach wieder in mein Zimmer zu gehen und erst wieder herauszukommen, wenn jemand anderes dieses Problem gelöst hatte. Dann fiel mir ein, dass Mama gestern eine große Packung Plastikteller und Besteck aus ihrem unerschöpflichen Vorrat an Plunder auf die Küchenarbeitsplatte gelegt hatte. Ich deckte den Tisch damit, obwohl Plastikteller echt hässlich sind, besonders wenn „Suleimans Antik-Döner“ draufsteht. Antik heißt alt. Da stellt man sich doch gleich die Frage, warum jemand alte Döner verkauft und warum er das dann noch auf seine Teller schreibt. Wundert mich jedenfalls nicht, dass die Teller bei Mama gelandet sind, die gerne von schlechten Geschäftsleuten Sachen kauft, wenn die ihren Laden dichtmachen müssen, weil eben doch keiner gammeligen Döner mag.

„Mit Kacki-Creme und Bananen schmecken Kattas Stinkebrötchen sogar noch besser“, rief Pümf, als er die zweite Hälfte des Bärlauchbrötchens aß.

„Johann!“, sagte Mama streng. „Du sollst nicht immer dieses K-Wort benutzen.“

Jo zog die Schultern hoch, sah ein wenig bedröppelt drein und sagte dann kleinlaut: „’tschuldigung. Sag ich halt nicht mehr Katta. Darf ich Pups-Schwester sagen?“

Mama zog die Mundwinkel nach unten.

„Das ist nicht witzig, Johann.“

„War doch nur Spaß“, sagte Jo, lachte ein ansteckendes und ziemlich nutellaverschmiertes Lachen und sah gar nicht mehr kleinlaut aus.

„Das ist jetzt meine neue Lieblingskombination“, lenkte er ab. „Total piratig.“ Er hatte auf das Brötchen mit den stinkenden grünen Flusen Nutella geschmiert und aus drei Bananenscheiben etwas gelegt, was mit sehr viel Jungsfantasie einem Totenkopf ähnelte.

Lüsi schien mit den Ergebnissen des Brötchen-Bingos auch zufrieden zu sein. Sie tauchte gerade ein Stück Müslibrötchen in ihre Milchtasse. „Vielleicht kann man auch Nussjoghurt draufschmieren“, überlegte sie laut. „Und darauf kommen Apfelstückchen. Das erste Müsli, das man nicht löffeln muss.“

„Du kannst es ja ganz in den Joghurt legen, dann wird es so weich, dass du es löffeln kannst“, meinte Papa. „Das erste Brötchen, das sich löffeln lässt.“

Mama schüttelte den Kopf. „Einer redet immer Quatsch.“

„Oder macht Quatsch. Wie das mit dem Kater“, sagte ich und grinste Papa an. Der tat so, als verstünde er nichts.

„Kater, Katta?“, wollte Mama wissen.

„Na, an meiner Wand.“

„Ach, du meinst Minka.“

„Nein. Die hat Papa doch heute Nacht übermalt. Jetzt ist es ein Kater.“

Mama sah Papa stirnrunzelnd an, und der zuckte nur mit den Schultern. Es sah irgendwie nicht wie gespielt aus. Er wischte sich die Krümel vom Pulli und erhob sich.

„Dann wollen wir uns mein Werk doch mal ansehen.“

Gemeinsam gingen wir in mein Zimmer. Das gemalte Fenster war genauso wie am Morgen. Der Kater saß da und grinste.

„Boah, Papa. Das ist ja der Piratenkater. Käpt’n Scrump. Den will ich auch an meine Wand!“, rief Pümf.

Papa starrte ungläubig auf das Bild, dann zu Mama. Sie deutete mit dem Zeigefinger erst auf ihn, dann auf den Kater und machte dabei ein fragendes Gesicht. Papa schüttelte leicht den Kopf.

„Das ist ein schönes Bild“, sagte Mama dann zu mir. „Ich wusste schon immer, dass du ein Talent fürs Malen hast.“

Sie dachte wirklich, ich hätte das Bild gemalt. Doch das hatte ich nicht. Und Papa und sie anscheinend auch nicht. Von Lüsi und Pümf konnte es auch nicht sein. Lüsi malte zwar Sachen, die man auch erkennen konnte, doch Katzen konnte sie gar nicht. Bei Jo musste man noch raten, ob seine Zeichnung einen Baum, einen Schmetterling oder einen Trecker zeigen sollte. Eins davon war es meistens. Ein Kater nie. Wer hatte also diesen Käpt’n-Scrump-Kater an die Wand gemalt? Das war rätselhaft. Ein echtes Geheimnis. Toll. Ich beschloss nicht zu verraten, dass das Bild nicht von mir war. Dann könnte ich selber versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Ich versuchte ein schmales Lächeln, um meine Aufregung zu verbergen. Käpt’n Scrump. Woher wusste Pümf eigentlich den Namen? Oder war das nur der Name von irgendeinem Kater in seinen Piratenspielen? Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich den Namen schon jemals von ihm gehörte hatte.

„Ja, ist gut geworden, nicht wahr? Lasst uns mal weiteressen“, schlug ich vor. „Und wenn wir mit Essen fertig sind, können wir doch spielen gehen, oder?“

„Klar“, antwortete Mama. „Papa und ich werden noch ein bisschen beschäftigt sein. Wir wollen heute ein Regal an die Wand dübeln.“

Papa verdrehte die Augen.

„Gerade. Das nicht wieder alles runterrutscht.“

Papa verdrehte die Augen so weit, dass sie sich gegenseitig ansahen. Er ist der schlechteste Handwerker, den ich kenne.

„Es war eine tolle Puppenrutsche“, sprang Lüsi ihm bei. „Und alle meine Puppenkinder würden sich freuen, wenn es wieder eine Rutsche wird.“

„NEIN!“, rief Mama energisch. „Ich habe im Durchschnitt tausendfünfhundert CDs oder DVDs, die in dem Regal gemütlich auf den Verkauf warten wollen. Nicht auf dem Boden, erdrückt von ihren hinterherstürzenden Artgenossen. Es sind CDs, keine Lemminge. Eine kaputte Hülle heißt einen Euro weniger.“

„Und Lemminge rutschen gerne?“, fragte Pümf.

„Was sind Lemminge?“, wollte Lüsi wissen.

„Das sind kleine, mausähnliche Tiere. Hellbraun mit einem dunklen Streifen auf dem Rücken. Total süß“, erklärte ich, denn ich hatte im letzten Schuljahr einen Aufsatz über Nagetiere schreiben müssen. Papa war auf den glorreichen Einfall gekommen, ich solle Lemminge nehmen. Über die schreibe sonst niemand.

„Lemminge rutschen gern ins Wasser, wenn es davon zu viele gibt“, sagte Papa. „Und sie können nicht schwimmen.“

Pümfs Augen wurden groß. „Aber, aber, …“, begann er. Er ist zwar erst vier, aber dass man nur ins Wasser gehen sollte, wenn man schwimmen kann, weiß er schon.

„Das ist nur eine Legende“, sagte ich darum entschieden. „Man dachte früher, die Lemminge stürzen sich ins Meer, wenn es zu viele von ihnen gibt. Aber das ist natürlich Quatsch.“

„Es gibt ein Computerspiel, da sprengen sie sich sogar in die Luft“, sagte Papa. Er grinste dabei.

„Das Spiel haben große Jungs im letzten Jahrtausend gespielt. Als Computer noch einfache graue Kisten waren und der Bildschirm noch monochrom. – Monochrom ist so was wie schwarzweiß“, ergänzte Mama an Pümf und Lüsi gewandt.

Ihr Einwand dämpfte Papas Begeisterung.

„Hört nicht auf eure Mutter. Die hat keine Ahnung. Die Bildschirme konnten schon Farbe, als man Lemmings gespielt hat“, grummelte er.

Nach dem Frühstück zog ich Lüsi und Pümf in mein Zimmer. Als die Tür hinter uns zugerumst war, zeigte ich auf den Kater.

„Wer hat den gemalt?“

„Ich dachte, du?“, sagte Lüsi.

„Nein. Ich war das nicht. Ich habe geschlafen.“

„Nicht? Komisch“, sagte Lüsi, und ihre Stirn wurde vom Nachdenken ganz faltig. „Aber Mama und Papa waren es auch nicht. Da bin ich ziemlich sicher.“

„Käpt’n Scrump kann zaubern“, erklärte Jo. „Und hier ist sein Revier, da lässt er keine anderen Katzen hin.“

„Wer ist denn dieser Käpt’n Scrump? Ich meine, woher kennst du ihn?“, fragte ich.

„Er ist ein Piratenkater und Kapitän auf der Fastraid, dem schnellsten Schiff der Zwischenweltlichen Meere.“

„Du guckst zu viel Mist im Fernsehen“, sagte ich.

„Wieso? Du hast doch gefragt. Der ist auch gar nicht im Fernsehen. Ich habe letzte Nacht von ihm geträumt. Da hat er mir das erzählt.“

„Geträumt?“, fragte Lüsi mit hochgezogenen Brauen. „Du guckst zu viel Mist im Traum.“

Jo verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor. „Ihr müsst mir ja nicht glauben. Aber geträumt habe ich das trotzdem. Das war eine echte Ümformation.“

„Ümformation?“, echote ich.

„Eher eine Pümformation“, meinte Lüsi, die bei solchen Wortspielen immer schneller ist als ich.

„Dann heißt es eben Pümformation. Und jetzt geh ich was Piratiges spielen. In meinem neuen Zimmer. Tschüssi und Ahoi.“ Und weg war er.

5. Kapitel: Der verschollene Hof

„Lass uns eine Liste machen“, schlug ich vor.

„Eine Liste?“, fragte Lüsi.

„Ja. Von Möglichkeiten, wie der Kater auf die Wand gekommen sein kann.“

Lüsi zuckte mit den Schultern. „Wir können es mal versuchen.“