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Mit der Coronapandemie wurde das Bewusstsein für die Verletzlichkeit des Menschen neu geweckt. Es wurde deutlich, dass jede und jeder grundsätzlich von Krankheit betroffen sein kann. Für das Selbstverständnis der Medizin erscheint es dringend erforderlich, den Blick auf die Grundverletzlichkeit des Menschen weiter zu schärfen. Was ist Verletzlichkeit genau und was verlangt die Perspektive auf die Verletzlichkeit des Menschen der Medizin ab? Welche Antwort muss die Medizin auf die Verletzlichkeit des Menschen geben? Ein Dialog zwischen Medizin, Philosophie, Theologie und Soziologie soll diesen Fragen nachgehen.
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
Giovanni Maio (Hg.)
Der verletzliche Mensch
Perspektiven auf eine anthropologische Grundsignatur
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg
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ISBN Print 978-3-451-03549-4
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83621-3
Dialektik der Verletzlichkeit. Zwischen Leiden und unverwundbarem SelbstEmil Angehrn
Vulnerabilität. Konzeptionelle und phänomenologische Annäherungen am Beispiel des SchmerzesClaudia Bozzaro
Verletzliche Seelen, verletzliche Körper? Über integriert biopsychosoziale Vulnerabilität in der MedizinPeter Henningsen
Verletzlichkeit im Horizont einer Ethik der Berührbarkeit des KörpersRebekka A. Klein
Ehre und Scham. Zum Gestaltwandel verletzter GefühleLukas Trabert
VulnerabilitätStephan Lessenich
Vulnerabilitätsblindheiten in der sozioökologischen MehrfachkriseOlivia Mitscherlich-Schönherr
Sich verletzlich machen. Ambivalenzen des christlichen Liebesethos und einer Ethik der SorgeMichael Coors
»Was würden Sie Ihrer Großmutter raten in meiner Situation?« Zum Verhältnis von Autonomie und Vulnerabilität im Kontext von Krankheit und MedizinHenriette Krug
Zur Verletzlichkeit des Menschen als Patient und Angehöriger in der neurologischen Frührehabilitation – mit einem Blick auch auf die IntensivmedizinFriedrich Edelhäuser
Eine kleine Philosophie des Kindes unter der Perspektive seiner VerletzlichkeitGiovanni Maio
Begegnungen mit alten Menschen in Grenzsituationen der VerletzlichkeitAndreas Kruse
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Textnachweis
Anmerkungen
In zahlreichen Diskursen der letzten Jahrzehnte ist der Begriff der Vulnerabilität zu einem Leitbegriff geworden. Nicht nur im nächstliegenden Kontext der Medizin, auch in den Sozialwissenschaften, in der Ökonomie, der Ökologie, der Theologie, der Ethik und der philosophisch-anthropologischen Reflexion hat der Terminus einen zentralen Stellenwert gewonnen.1 Er bündelt unterschiedliche Bedeutungen der Verletzbarkeit, die wir mit menschlichen Organismen, aber auch mit natürlichen oder künstlichen Systemen verbinden, und markiert einen Gegenakzent zur Vorstellung eines mächtigen, unangreifbaren, souveränen Subjekts oder eines störungsfreien Funktionssystems. Die Konjunktur des Begriffs kann mit einem neuen Blick auf die menschlichen Angelegenheiten, geradezu einer »Wende zur Vulnerabilität«,2 aber auch einer generellen Rückkehr zu den Grundlagen des Lebendigen, einer Erweiterung der moralischen Wahrnehmung einhergehen. Bei alledem ist festzuhalten, dass mit der verbreiteten Verwendung des Begriffs ein erhöhter Klärungsbedarf einhergeht. Vulnerabilitätsphänomene erweisen sich als vielschichtig, komplex, ambivalent.
Zumal nach drei Hinsichten erscheint der Begriff präzisierungsfähig und klärungsbedürftig: zunächst im Blick auf das, was zu den vulnerablen Gegenständen zählt, sodann in Hinsicht auf die theoretisch-systematische Dimension, innerhalb deren Verletzlichkeit zum Thema wird, schließlich mit Bezug auf den existenziellen Ort und die Wertung des Phänomens der Verwundbarkeit.
Unterschiedlich besetzt ist zum einen der Referenzbereich des Begriffs, der Raum der Gegenstände, von denen das Prädikat »verletzbar« aussagbar ist und für die gegebenenfalls ein Schutz gegen Verletzung reklamiert wird. Als vulnerabel werden künstlich-technische und natürliche Systeme verhandelt: störungsanfällige Energienetze oder anspruchsvolle Computerprogramme, die vor Viren geschützt werden müssen, ebenso wie ökologische Systeme, von Alpenlandschaften und Wüsten bis zu Pflanzenarten und Tierpopulationen. Im engeren Bereich lebender Organismen steht, namentlich in ethischer Hinsicht, die Differenz zwischen Tier und Mensch zur Diskussion. Dass beide als sterbliche Wesen verletzbar sind, liegt auf der Hand; unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Konsequenzen sie dies sind, versteht sich nicht ebenso von selbst. Im Horizont des menschlichen Lebens wiederum wird Verletzbarkeit mit Bezug auf Individuen wie auf Kollektive – ethnische Gemeinschaften, Kulturen – zum Thema. Schließlich kann im Hinblick auf das Individuum die Person selbst – in ihrer körperlichen wie seelischen Verfassung und Integrität – oder ihr moralischer Status und Rechtsanspruch als das eigentlich Verletzliche und Schutzbedürftige gelten. Der Mensch kann durch physische Gewalt, durch psychischen Zwang, durch Erniedrigung und Entrechtung verwundet werden. Verletzt werden sein Leib, seine Seele, sein Recht, seine Würde.
Je nach Gegenstand und Anwendungsbereich wird Verletzlichkeit in verschiedener Weise verstanden, in einem anderen Problemhorizont und theoretischen Rahmen relevant. Die reichhaltige Literatur zum Thema legt Zeugnis von der Verschiedenartigkeit der Fragerichtungen und disziplinären Verortungen ab. Vulnerabilität als Merkmal der Conditio humana wird in der Anthropologie und Kulturtheorie zum Thema. Als wesensmäßig mit Körper und Leib verbunden, wird sie in der Medizin und der Bioethik verhandelt. In ihrem intrinsischen Bezug zu Rechten und Wertvorstellungen weist sie auf Fragen der Politik und der Rechts- und Sozialphilosophie. In alledem fungiert sie, je nachdem, als deskriptive oder als normative Kategorie. Verletzbarkeit ist einerseits eine objektive dispositionale Eigenschaft eines Seienden, die in ihrer Beschaffenheit und ihren Bedingungen untersucht werden kann. Ein Mechanismus oder ein Organismus kann mehr oder weniger anfällig für Störungen sein. Verletzbarkeit steht andererseits für eine Möglichkeit, die im individuellen oder sozialen Kontext sowohl bejaht und gepflegt wie auch begrenzt oder verboten werden kann. Während existenzphilosophische und anthropologische Diskussionen auf die Verletzbarkeit als Kennzeichen des menschlichen Lebens abheben, scheint es in anderen Diskursen selbstverständlich, sie in einer genuin normativen Perspektive zu behandeln, ja den Blick auf Vulnerabilität geradezu als innovative Ausrichtung der Ethik zu bestimmen.
Neben dem variierenden Gegenstandsbezug und begrifflich-disziplinären Rahmen oszilliert die Wertung der Vulnerabilität. Sie kann neutral festgestellt, als defizitäre Seinsverfassung beklagt, als produktives Potenzial gewürdigt, als ideologische Maske kritisiert, als zweiwertiges, ambivalentes Phänomen charakterisiert werden. Es liegt auf der Hand, dass sich die Wertung des Phänomens mit den jeweils herausgestellten Aspekten verändert; dies wird im Folgenden deutlicher hervortreten. Generell zeigt sich der schillernde Charakter nicht zuletzt im Spiegel des Gegenbegriffs. Die Unverwundbarkeit erscheint als heroisierendes Attribut subjektiver Mächtigkeit und Fluchtpunkt eines Urwunsches, doch ebenso als kritische Negativfigur und ideologisches Konstrukt. Unaffizierbar-unberührbar zu sein gilt als Makel wie die Nichtverwundbarkeit als Ausdruck außergewöhnlicher Kraft.
Ich werde dem stichwortartig umrissenen Komplex in den folgenden Ausführungen mit einer zweifachen Fokussierung und perspektivischen Einengung nachgehen. Zum einen konzentriere ich mich auf die Verwundbarkeit des Menschen und lasse die Verletzlichkeit von Tieren, von natürlichen und technischen Systemen im Hintergrund. Zum anderen gehe ich von der existenzphilosophisch-phänomenologischen Frage nach der Stellung der Verletzbarkeit im Leben und ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen aus; damit verbundene spezifische ethische, politische, medizinische Aspekte werden stellenweise ergänzend in den Blick kommen. Zu verdeutlichen ist, wie Menschen das Verletzbarsein und Verletztwerden erfahren, wie sie mit der Verletzung umgehen und ihre Hinfälligkeit in ihr Leben integrieren. Um die Phänomenologie der Vulnerabilität zu durchmessen, seien fünf Punkte herausgestellt: der Ausgang von der Gegeninstanz des Nichtverwundeten und Nichtverwundbaren (2.), das negative Grundphänomen der Verletzung im Zeichen der Endlichkeit und des Leidens (3.), das positive Pendant des produktiven Potenzials der Empfänglichkeit und des responsiven Umgangs mit der Verletzung (4.), das Wechselspiel von Selbst und Andersheit im Verletzen und Verletztwerden (5.), der Fluchtpunkt des unverwundbaren Selbst (6.).
Die Verletzung bricht ein in ein unversehrtes, nicht verwundetes Dasein. Gegenüber der Fremdheit und Gewalt des Verwundetwerdens erscheint das Davor als heil und ganz. Es ist kein Zufall, dass es als Wunschbild und Gegenstand der Sehnsucht hochgehalten werden kann. Es wird nicht nur in Zuständen paradiesischer Eintracht ausgemalt, sondern ebenso als Ausdruck souveräner Macht und Auszeichnung von Personen idealisiert. Unverwundbarkeit fungiert als mythologisches Attribut herausragender Helden wie Siegfried und Achilles, wenn auch beide Mal unter Aussparung eines einzelnen verletzbaren Körperteils (Ferse, Schulter); der Vorbehalt entfällt im modernen Mythos des zur Gänze unbesiegbaren Comic- und Kinohelden Superman. Doch provoziert die Verabsolutierung wie von sich aus den Verdacht. Mit Bezug auf reale Menschen wird das Prädikat der Unverwundbarkeit suspekt, als Ausdruck ideologischer Hypostasierung oder Niederschlag fiktionaler Omnipotenzfantasien, je nachdem als Reflex einer falschen, lebensfeindlichen Selbstimmunisierung, eines Seelenpanzers, womit sich das affirmative Attribut in kritischer Sicht geradezu ins Negative verkehrt. Stellvertretend sei auf die polemische Darstellung verwiesen, die Elfriede Jelinek vom »unheilbar Gesunden« Max Frisch in seiner Auseinandersetzung mit der unheilbar Kranken Ingeborg Bachmann gibt.3 Ungeachtet dessen, dass Frisch seinerseits von der »unheilbaren Verwundung« spricht, die er in seiner Liebe zu Bachmann erlitten habe,4 ist die zugespitzte Charakterisierung aufschlussreich, die Jelinek von den radikal Verwundeten und Nichtgeretteten wie Bachmann, Celan oder Kafka auf der einen Seite gibt, von den fundamental Gesunden auf der anderen, die wohl manchmal krank seien, doch nicht in der Tiefe krank sind und immer wieder hoch kommen (exemplarisch die deutschen Nachkriegsautoren Böll, Frisch, Andersch, Grass und andere, die Jelinek stellenweise geradezu als »Normalitätsterroristen« karikiert).5 Unverwundbarkeit ist kein harmloses Prädikat.
Wir können offenlassen, wieweit Jelineks überzeichnende Charakterisierung der Normalität gerechtfertigt, wieweit ihre Kritik an bestimmten Autoren »gerecht« ist. Wesentlich ist, die Frage der Verletzlichkeit im Spannungsverhältnis der Extreme zu situieren. Auf der einen Seite finden sich die zutiefst Verwundeten und Geschundenen, die abgründig Unversöhnten und Unerlösten, jenseits von Rettung und Hoffnung, wie sie Adorno mit Bezug auf die von Primo Levi geschilderten Muselmanen der Konzentrationslager beschreibt. Und wir haben auf der anderen Seite jene, die nach Hegel durch die Arbeit des Negativen hindurchgegangen sind, über welche sich das Leben des Geistes realisiert, das »in der absoluten Zerrissenheit sich selbst« findet. Wie Hegel im Verweilen beim Negativen die »Zauberkraft« sieht, welche die Umkehr in das Positive trägt, so beschreibt er die »Wunden des Geistes« als Verletzungen, welche »heilen, ohne dass Narben bleiben«.6 Die offen bleibende, schmerzende Wunde, die von der Verletzung hinterlassenen Spuren und Merkmale oder eben die Verflüchtigung der Verwundung und ihrer Narben – dies sind unterschiedliche Weisen, wie Verletzlichkeit sich in das menschliche Leben einschreibt, zum Teil des Lebens wird. Im Fluchtpunkt des Durchgangs durch solche Einschreibungen scheint eine andere, reine Figur der Unverwundbarkeit auf, in welcher sich das unversehrte Selbst in seiner Integrität offenbart.7
Verletzlichkeit ist eine Grundeigenschaft des Menschen und seiner Lebensform. Sie wird als Angelpunkt der condition humaine beschrieben,8 als eine Universalie, die allen Menschen unabhängig von Herkunft, sozialer Zugehörigkeit und körperlich-seelischer Verfassung zukommt,9 als eine existenziale Bestimmung, die mit der Endlichkeit und Körperlichkeit des menschlichen Daseins konstitutiv verbunden ist. Auch wenn man fragen kann, ob sie im strengen Sinne eine Wesenseigenschaft bildet – da man sich Lebewesen ohne Verwundbarkeit vorstellen kann, ohne dass diese aufhörten, ein Mensch oder ein Tier zu sein10 –, steht außer Frage, dass sie empirisch zu den basalen Kennzeichen des menschlichen Daseins gehört. Sie wird mit der Endlichkeit des Menschseins, der Fragilität seiner Existenz verknüpft, vielfach in der konstitutiven Leiblichkeit des Lebewesens Mensch fundiert. Auch wenn Verletzbarkeit ebenso prägnant die psychische Verfassung treffen und sich in seelischem Leiden auswirken kann, stellt die körperliche Bedingtheit, die sich in der Beschränkung sensorischer und motorischer Fähigkeiten, in der Anfälligkeit für Krankheiten und Leiden, letztlich der Sterblichkeit niederschlägt, einen unstrittigen Kern humaner Vulnerabilität dar. Seelische Verletzung ohne somatisches Fundament ist für Menschen eine leere Hypothese. Leiblichkeit ist die konkrete Basis des Ausgesetztseins, der Ungesichertheit und Abhängigkeit gegenüber anderen Menschen, sozialen Verhältnissen und den Kontingenzen der Umwelt.11 Darin hat die Fokussierung der Vulnerabilitätsforschung auf Heilberufe und bioethische Fragen ihre Plausibilität.12 Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Phänomen in seiner existenzphilosophischen Relevanz in einem weiteren Horizont, wesentlich auch im Horizont sozialer Bedingtheiten zu verorten und zu befragen ist. Im Ganzen der Dimensionen menschlicher Prekarität und Exponiertheit gilt es dem Zusammenhang nachzugehen, den Lévinas in der komprimierten Formel »La subjectivité est vulnérabilité«13 auf den Begriff bringt. Verletzlichkeit ist als Grundbedingung des menschlichen Daseins zu erkunden.
Versuchen wir die spezifischen Merkmale der Vulnerabilität herauszustellen, so können wir einerseits auf die gewissermaßen neutralen Seinsbestimmungen der Verletzbarkeit, andererseits ihre negativen Effekte und Erlebensqualitäten abheben. Als objektive Seinsbestimmungen haben wir zunächst die Endlichkeit und Exponiertheit als Quelle der Affizierbarkeit festzuhalten. Verletzbarkeit ist eine dispositionale Eigenschaft, eine Möglichkeit, von äußeren Einflüssen und Behinderungen getroffen, durch sie affiziert und beeinträchtigt zu werden. Dass der Resonanzraum solcher Affizierbarkeit vornehmlich ein negativer ist, geht mit der Primärbedeutung der Verwundbarkeit zusammen: Die erste Konnotation ist die des Gestörtwerdens im normalen Verlauf und Erwartungshorizont. Verletztwerdenkönnen heißt zunächst, in seinem natürlichen Tun und Wollen beeinträchtigt, dem Leiden unterworfen werden zu können, sei es infolge innerer Hinfälligkeit und Krankheit, sei es durch soziale Umstände und äußere Schicksalsschläge, sei es durch direkte Aggression. Wer unerwartet mit einer einschneidenden Krankheitsdiagnose konfrontiert ist, wird mit einem Mal der Verletzbarkeit des eigenen Körpers gewahr, vielleicht der Fragilität einer ganzen Lebensform, der Ungesichertheit langer Lebenspläne. Ein Todesfall naher Menschen kann das eigene Leben verwirren, das Selbst in seiner Tiefe erschüttern. In vielfacher Weise erlebt der Mensch die Ungeschütztheit, Ungesichertheit seines Seins.
Man kann im Negativkoeffizienten der Verwundung zwei Kerne auseinanderhalten, die in der objektiven Schädigung und im affektiven Leiden liegen. Schon Aristoteles hält im Begriffskatalog der Metaphysik unter den Bedeutungen von pathos (Leiden, Affektion) dessen gegenständliche und erlebensmäßigen Aspekte, die »schädlichen« und die »schmerzhaften« Veränderungen, auseinander.14 Die Verletzung ist, je nachdem, etwas, das von außen, durch den Arzt, Juristen oder Soziologen festgestellt werden kann, oder aber eines, das intern, durch das verwundete Subjekt selbst erlebt, als Leiden und Schmerz erfahren wird. Beides kann zugleich der Fall sein, beide Seiten können korrespondieren, aber auch getrennt vorkommen, je für sich als Negativität aufdringlich sein. Der Organismus kann anfällig für Krankheiten und Dysfunktionen sein (wie ein technisches System für Störungen und Attacken), die vielleicht gar nicht bemerkt und affektiv erfahren werden. Medizin und Jurisprudenz sind gegebenenfalls mit dieser Schwelle konfrontiert und haben das subjektive Erleben und die Artikulierbarkeit von Verletzungen als eigene Frage zu behandeln.
Wenn wir uns hier dem engeren Bereich der subjektiv erfahrenen Verletzung und des mit ihr verbundenen Schmerzes zuwenden, so ist eine weitere, schon berührte Distinktion von Belang: die Unterscheidung zwischen körperlichem und seelischem Leiden. Auch hier muss die Unterscheidung keine Abtrennung beinhalten. Vielfach sind beide Weisen der Verletzung miteinander verbunden, können sie sich – nach beiden Richtungen – beeinflussen, füreinander empfänglich sein, auseinander hervorgehen. Unabhängig davon steht die Dualität für zwei Kerne und Urerfahrungen der Negativität mit je eigener Prägnanz.15 »Leid physisch« lautet ein Titelstichwort in Adornos Negativer Dialektik, dessen Emphase sich der intrinsischen Absolutheit des mit ihm Angesprochenen verdankt: Körperliches Leiden ist immun gegen diskursive Beschwichtigung und Relativierung, ein unwiderlegbarer Einspruch gegen die Ordnung des Seienden; Philosophieren nach Auschwitz, so Adorno, ist von der »Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz«16 bewegt. In vielfältigsten Gestalten ist Leiden mit körperlichen Mängeln und Schädigungen verbunden, wie denn auch das Zufügen von Schmerz, das in radikalster Weise das Selbst in seinem Innersten trifft, die physische Folter ist. Wer die Folter überlebt hat, bleibt nach Jean Améry für immer gezeichnet und hat die Fähigkeit verloren, sich je wieder zu Hause, sicher zu fühlen.17 Doch auch außerhalb solcher Extremformen bilden die körperliche Verletzung, der körperliche Schmerz einen Grundtenor menschlichen Lebens. Vom schreienden Säugling zum Kriegsverletzten und Schwerkranken haben Medizin und Pflege mit Formen der Schädigung und des Leidens zu tun.
Ein fließender Übergang erstreckt sich von objektiven Beeinträchtigungen, etwa der Einschränkung der Mobilität durch Krankheit oder Alter, die sich in unterschiedlichem Maße mit Beschwerden und Schmerzen verbinden, zu Leiderfahrungen, die gegebenenfalls auch losgelöst von somatischen Defiziten im Leben dominierend und belastend werden. Wenn der somatische Schmerz paradigmatisch ein unwiderlegbares, unauflösliches Leiden verkörpert, so steht die seelische Krankheit weder der Qualität noch der Intensität nach notwendig dahinter zurück. Sie kann ihrerseits zur unerträglichen Qual werden, die im Unterschied zum körperlichen Schmerz ohne Lokalisierung bleibt, doch die Person im Ganzen berührt, sie in der Tiefe erschüttert. Wer unter Depressionen leidet, ist in besonderer Weise mit den Abgründen im eigenen Selbst, mit der Haltlosigkeit der Existenz und der Desorientierung in der Welt konfrontiert. Unterschiedliche psychiatrische, psychoanalytische, psychotherapeutische Methoden bemühen sich, Ursachen seelischer Krankheiten aufzuspüren, ihre Wunden zu behandeln, ihre Leiden zu heilen. Je nach Konstitution sind Individuen in verschiedenem Ausmaß durch unterschiedliche Faktoren psychisch verletzbar, existenziellen Ängsten oder Erfahrungen der Nichtigkeit ausgesetzt.
Neben intrinsischen sind es externe Verletzungen, die das Individuum treffen und seelisches Leiden verursachen können. Die »symbolische«,18 »sprachliche«19 oder »moralische Verletzbarkeit«,20 die wie die leibliche Exponiertheit zur Conditio humana gehört, hängt wesentlich mit der sozialen Lebensform der Menschen zusammen. In dieser liegt, dass wir mit einem bestimmten Bild von uns und der Welt leben, mit Wertvorstellungen und Rechtsansprüchen, Würdehaltungen und Freiheitsbildern, in denen wir auf Anerkennung und Bestätigung durch andere angewiesen sind. Wo diese fehlen, wo sie uns im Gegenteil entzogen werden und wir stattdessen Missachtung und Entrechtung erleben, wo wir in abschätziger Rede oder verächtlichem Schweigen21 entwürdigt und erniedrigt werden, können wir tiefem, ausweglosem Leiden ausgesetzt sein. Menschen können wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Aussehens angegriffen, beleidigt, verwundet werden, auch ohne dass irgendeine körperliche Berührung oder Belästigung stattfindet. Man kann mit Worten töten, durch verbales Verhalten den körperlichen Schmerz verdoppeln, durch Verhöhnung die Folter steigern. Doch schon die einfache Rechtsverweigerung, die reale oder vermeintliche Ungleichbehandlung können Anlass tiefgehender Verletzung sein. Die Missachtung trifft das Subjekt mitten in seinem Selbstbewusstsein. Theorien der Grundlegung des Sozialen – exemplarisch die Konzepte von Hobbes und Hegel – fokussieren im zwischenmenschlichen Konflikt, je nachdem, stärker auf die physische oder auf die rechtlich-symbolische Verletzbarkeit. Für ein modernes Verständnis ist grundlegend, dass körperliche Unversehrtheit und soziale und persönliche Integrität für ein befriedetes Zusammenleben gleichermaßen konstitutiv sind.22
In noch anderer Weise können Verwundung und Leiden aus dem Gewahren der Halt- und Sinnlosigkeit resultieren, ohne dass uns diese in einem performativen Akt anderer entgegentritt. In pointierter Form vertritt Friedrich Nietzsche die These, dass »die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden« selbst den Fluch darstellte, der »über der Menschheit ausgebreitet« war und von welchem die Religion und asketische Moral den Menschen befreite.23 Die Verletzlichkeit des Menschen erstreckt sich im weiten Spektrum von der körperlichen Schädigung über die zwischenmenschliche Aggression bis zum Verlust ideeller Ordnung.
In all den im Vorausgehenden beschriebenen Formen begegnet die leiblich-seelische Affizierbarkeit des Menschen in negativer, schmerzlicher Gestalt. Sie nimmt Bezug auf eines, das unserem ursprünglichen Verlangen, unserem Lebenswillen und Streben nach Glück zuwiderläuft. Indessen ist nicht alles passive Erleiden und Affiziertwerden durch Anderes ein Leiden. Das »Pathische«24 ist eine umfassende, basale Bestimmung des menschlichen Lebens, welche die Passivität und Empfänglichkeit beinhaltet, die gleichermaßen in ihrer affektneutralen, aber auch positivwertigen Funktion zur Geltung kommen kann. Wir können die passive Erlebensqualität oft mit einer affirmativen und lebensbejahenden Fähigkeit, einer wertvollen Eigenschaft des menschlichen Seins verbinden. Betont werden dann die Rezeptivität, die Empfänglichkeit für anderes, und die Fähigkeit, Qualitäten des sozialen Umgangs, der Ausstrahlung von Kunstwerken oder des moralischen Appells wahrzunehmen und aufzunehmen: als soziale Empathie, als ästhetischer Sinn oder als moralische Sensibilität. Die Fähigkeit, sich durch Anderes affizieren zu lassen und für fremdes Leid oder die Schönheit der Natur empfänglich zu sein, ist eine produktive Potenz, die als Charaktereigenschaft oder Urteilskompetenz eigens kultiviert und entfaltet werden – aber auch verkümmern, absterben – kann. In diesem Sinne hat das Pathische als Raum der Empfänglichkeit wesentlichen Anteil am Reichtum des menschlichen Lebens. Im Konkreten mögen zwischen der schmerzlichen und der lebensfördernden Potenz der Verletzlichkeit fließende Übergänge bestehen. In stringentester Weise beschreibt Emmanuel Lévinas die mit der Sinnlichkeit verbundene Dimension der »äußersten Passivität« und »reinen Empfänglichkeit« als eine Wesensbestimmung des Subjekts, die für ihn nicht zuletzt mit der äußersten menschlichen Möglichkeit einhergeht, sich vom Transzendenten berühren zu lassen.25
In noch anderer, deutlicherer Weise wird ein Gegenakzent zur Negativität des Pathischen dort gesetzt, wo sich der Gegenstandsbezug mit einem eigenen, antwortenden Verhalten assoziiert. Profilierte Konzepte der Phänomenologie haben den »responsiven« Zug im menschlichen Wahrnehmen und Verhalten herausgearbeitet. Maurice Merleau-Ponty hat die eigentümliche Macht des Malers gefeiert, in Anschmiegung an den inneren Hervorbringungsprozess der Natur im Gemälde die Phänomene selbst sich öffnen und sprechen zu lassen, im Bild das, was sich zeigt, zur Erscheinung zu bringen.26 Martin Heidegger hat dem menschlichen Sagen die Kraft zugesprochen, den Logos des Seins zur Sprache zu bringen,27 und die Aufgabe phänomenologischer Beschreibung dahingehend bestimmt, »das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selber her sehen zu lassen«.28 In umfassender Weise hat Bernhard Waldenfels die Responsivität als Strukturmerkmal der menschlichen Existenz entfaltet.29
Es liegt nahe, etwas von der erschließend-kreativen Kraft des responsiven Seinsbezugs im Umgang mit der Verletzlichkeit auszumachen. Schon im normalen therapeutischen Verhalten gilt das Gebot, im offenen Dialog mit dem Patienten aufzunehmen, wie er seine Krankheit schildert, hellhörig dafür zu sein, wie sein Leiden aus ihm spricht, was die Symptome uns sagen; Analoges gilt für den Umgang mit eigener Verletzung, die Sensibilität sich selbst gegenüber. In der Weiterzeichnung dieser Linie deutet sich an, wie der nicht extern-reaktive, sondern responsive, auch kor-responsive Umgang mit der Verletzung einen Zugang zur Heilung eröffnen kann. In einer pointierten Figur ist diese Wendung im homerischen, bei Parsifal wiederkehrenden Motiv vom Speer, der die Wunde schlägt und sie allein zu heilen vermag, ausgesprochen.30 In gewisser Weise ist sie im hegelschen Bild des dialektischen Umschlags reformuliert, demgemäß der Geist im Schmerz der äußersten Entzweiung zu sich selbst findet und, wie Adorno in hegelscher Diktion formuliert, »die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt«.31 Indes ist die radikale Figur solcher Umkehrung nicht nur dem dezidierten Einspruch Negativer Dialektik ausgesetzt, die sich der versöhnenden Synthese verweigert, sondern ebenso dem Zweifel, ob sie ohne metaphysische Prämissen haltbar sei.32 Weniger voraussetzungsreich ist das gemäßigtere Modell eines Umgangs mit der Verwundung, der vom Vertrauen in die natürliche Heilkraft des Lebens getragen ist. Ein pflegender, solidarischer Umgang mit Verletzung baut auf die unterstützende Kraft des Leibes selbst. Erinnert sei an die berühmte Aussage des französischen Feldchirurgen Ambroise Paré (1510–1590) »Je le pansai, Dieu le guérit«, die Freud in seinen Ratschlägen für den Arzt zitiert, indem er anfügt: »Mit etwas Ähnlichem sollte sich der Psychoanalytiker zufrieden geben.«33 Heilen ist dann nicht als äußeres Bewirken verstanden, sondern als inneres Ermöglichen aus der Lebenskraft des Verletzten selbst.
Schließlich ist Verletzbarkeit in signifikanten Konstellationen mit dem Verhältnis zum Anderen verschränkt. Der im Vorigen herausgestellte responsive Grundzug des Umgangs mit Verletzungen gewinnt ein zusätzliches Profil, wenn die Responsivität mit der Alterität im dialogischen Verhältnis verknüpft wird. Dabei liegt die Eigentümlichkeit der Verbindung zwischen Verletzlichkeit und Alterität darin, dass der andere Mensch in zweifacher Weise, in entgegengesetzter Bedeutung in den Blick kommt. Der Andere ist nicht nur und nicht in erster Linie – wie in der bei Hobbes und Hegel statuierten konfliktuösen Situation – der mich Verletzende. Er ist seinerseits verletzlich, ja er begegnet mir geradezu als der ursprünglich Verletzbare. Lévinas’ Leitsatz »Subjektivität ist Vulnerabilität« gilt nicht nur für das Selbst, sondern gleichermaßen für den Anderen. Ja, es gehört in gewisser Weise zur Tiefe der authentischen Begegnung, im Anderen zuallererst die konstitutive Endlichkeit, seine Schwäche und Verwundbarkeit – und nicht wie in Hegels Kampf um Anerkennung den Selbstbehauptungswillen – wahrzunehmen. In eindringlicher Weise hat Emmanuel Lévinas das zwischenmenschliche Verhältnis von dieser Umkehrung her beschrieben.34 Vom Anderen her kommt der Mensch zu sich selbst, und die radikalste Begegnung ereignet sich darin, dass der Andere sich aus der Tiefe seines Selbst heraus meinem Blick darbietet, mir sein Antlitz zuwendet. In der Nacktheit des Antlitzes aber, so Lévinas, begegnet er mir in seiner Ungeschütztheit, als der absolut Verwundbare. Mit der Eindringlichkeit dieses Sich-Exponierens und Sich-in-seiner-Ungeschütztheit-Offenbarens verbindet Lévinas den irreduziblen ethischen Appell und Anspruch an Solidarität. Im Anblick der Verletzbarkeit des Anderen mache ich die ursprünglichste Erfahrung des absoluten Gebots »Du sollst nicht töten!«.
Von dieser Art der Zuwendung des Anderen wird das Selbst getroffen. Das Antlitz berührt mich, es nimmt mich in seiner äußersten Verwundbarkeit in die Pflicht. Ich bin meinerseits schutzlos dem zuvorkommenden Appell des Antlitzes ausgesetzt, es erschüttert meine selbstbezügliche Souveränität. Lévinas scheut nicht davor zurück, die Übermächtigkeit des fremden Anspruchs mit Begriffen des Befehls, ja der Gewalt, der Obsession oder der Geiselhaft zu umschreiben.35 Sie beinhalten, dass sich auch die Grundtatsache der Vulnerabilität in eigentümlicher Weise umkehrt. Nicht nur das fremde Antlitz steht für das schlechthin Verwundbare, auch das Selbst wird durch den Anderen seiner unversehrten Integrität beraubt, in seiner Immunität tangiert. Es erfährt sich selbst in seiner Verletzlichkeit, und die eigene Verletzbarkeit bildet die Grundlage, um den Anderen in seiner Zerbrechlichkeit und Gefährdetheit, auch seiner realen Verwundung wahrzunehmen. In Weiterführung des von Merleau-Ponty ausgeführten Gedankens des Fleisches als Medium der Zwischenleiblichkeit insistiert Judith Butler auf der geteilten Verletzlichkeit als Basis der Empathie, der Teilnahme am Leid anderer, aber auch der politischen Aktion und des gemeinsamen Widerstandes.36 Es ist eine originäre Gemeinsamkeit, die zugleich die geteilte Passivität und Ausgeliefertheit wie das antagonistische Widerspiel von Verletzen und Verletztwerden einschließt. Als verletzliches Subjekt bin ich in der Lage, die Vulnerabilität im Antlitz des Anderen zu erfassen – und zugleich von seiner Wunde berührt zu sein, durch seinen Appell und den mir auferlegten Befehl getroffen, in meiner Sicherheit ergriffen, gleichsam selbst verletzt zu werden.
Die Verschränkung bildet den Hintergrund einer bei Lévinas eigentümlich zugespitzten, teils geradezu befremdlichen Ausformulierung des Phänomens der Verletzlichkeit. Dass mir der Andere in seiner Wehrlosigkeit Gewalt antun, mich in gewisser Weise selbst verletzen soll, ist eine ebenso ungewöhnlich-extreme Sichtweise des moralischen Appells wie die gegenläufige These, dass die Verwundbarkeit des Anderen selbst zur Gewalt reizt und gleichsam das Tötungsverbot als notwendigen Komplementärerlass über das Ich verhängt.37 Wenn wir von dieser Extremversion Abstand nehmen, bleibt vom dialogischen Ansatz die Fundierung der Sensibilität für die fremde Verwundung in der eigenen Verletzlichkeit. Die Erfahrung der Verletzbarkeit ist in die Tiefe der Beziehung zum Anderen eingelassen und aus ihr heraus zu explizieren.
Nicht zuletzt gewinnt im Horizont der Beziehung von Selbst und Andersheit die Dialektik zwischen Verletzlichkeit und Unverwundbarkeit ihr besonderes Profil. Dialektik heißt, dass beide Pole in ihrer Stringenz, ihrer radikalen Gestalt zum Tragen kommen und nicht in einem Mittleren konvergieren oder sich ausgleichen. Auf der einen Seite tritt uns der Andere in seiner radikalen Verletzbarkeit, gegebenenfalls Verletztheit, in der von Lévinas beschriebenen Wehrlosigkeit des nackten Antlitzes entgegen. Gleichzeitig wird das Ich seiner selbst in seiner Zerbrechlichkeit und tiefen Verwundbarkeit gewahr. Die geteilte Verletzbarkeit ist Basis der Erfahrung wechselseitiger Bedrohtheit wie der Fähigkeit zur empathischen Teilhabe an der Verwundbarkeit des Anderen.
In dieser Empathie liegt andererseits, dass sie dazu verhilft, den Anderen ernst zu nehmen in dem, worin sein Selbstsein gründet und worin er letztlich gefährdet ist, das heißt ihn auch in dem wahrzunehmen, was sein Wesentliches ausmacht und was durch keine Verletzung und Erniedrigung annihiliert oder ihm entrissen werden kann. Jemanden in seiner schutzlosen Verletzlichkeit wahrzunehmen heißt gleichzeitig, ihn in seiner tiefsten Unverwundbarkeit, im unverletzlichen Kern seines Selbst zu erkennen. Damit kommt jene Zone in den Blick, die mit der Unantastbarkeit der menschlichen Würde angesprochen wird und die im Ethischen mit den personalen Leitideen der Freiheit, Selbstständigkeit und Rechtsfähigkeit, auch mit letzten Stützen humaner Existenz wie Vertrauen und Hoffnung verknüpft wird. Es mag schwerfallen, in Situationen extremer Erniedrigung und äußersten Leidens an solchen Ideen als regulativer Orientierung festzuhalten, an sie als letzte Werte zu »glauben«. Und dennoch kommen sie gerade im Erlebnis der Verletzbarkeit in ihrer Intransigenz zur Geltung, nicht nur als von einem ethischen Rigorismus hochgehaltene Normen, sondern als intrinsische Elemente und innerste Antriebe menschlichen Lebens, je nachdem als Kraft des Widerstands und Quelle der Hoffnung.
Das intime Junktim zwischen Verletzlichkeit und Unverwundbarkeit manifestiert sich im Verhältnis zum Anderen ebenso wie im Umgang mit der eigenen Hinfälligkeit. Im Gewahren der Verletzlichkeit tut sich die ebenso tiefe, absolute Unverwundbarkeit kund. Die fremde wie die eigene Verletzlichkeit ernst zu nehmen ist nicht ablösbar vom Bezug zu einem Unverletzlichen im Selbst.38 Dabei unterliegt der Terminus der Verletzung in dieser zweifachen Referenz einer bestimmten Bedeutungsverschiebung, wird er gleichsam tiefer, grundsätzlicher gefasst. Während sich die Rede von Verletzlichkeit im Normalsinn auf partikulare Schädigungen und Wunden bezieht, zielt die Idee eines Unverwundbaren auf ein Jenseits solcher Affizierung, auf ein Ganzes und Innerstes im verletzbaren Selbst, auf eines, das ungeachtet jener Verletzung unversehrt bleibt. Diese Differenz festzustellen heißt nicht, die mit der Conditio humana gegebene Verwundbarkeit des Menschen und die tatsächlichen Verletzungen zu relativieren. Sie berühren in extremen Fällen Zonen, wo sich jene Distinktion zu verflüchtigen droht, wo etwa im Erleiden körperlicher Schmerzen (oder in Verhöhnung, Erniedrigung, Entrechtung) die Person selbst getroffen, in ihrer Integrität aufgelöst, in ihrem Selbst erschüttert wird. Wichtig ist, beides in seiner Radikalität festzuhalten: die Zerstörungskraft und das Leiden, die der Verletzbarkeit des Lebens innewohnen, und die Absolutheit, die der Größe und unverlierbaren Würde des Menschen zukommt.
Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Améry, Jean (1966): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny.
Angehrn, Emil (2020): Dialogische Hermeneutik. Vom Ursprung des Sinns im Anderen. In: B. Liebsch (Hg.): Emmanuel Lévinas. Dialog. Ein kooperativer Kommentar. Freiburg im Breisgau / München: Alber, 57–73.
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»Ich habe Schmerzen«, ruft die Schülerin in einem Theaterstück von Eugène Ionesco. »Ich habe Schmerzen«, ruft sie erneut und immer wieder. Doch der Lehrer führt unbeeindruckt seinen Unterricht fort. Sie wiederholt: »Ich habe Schmerzen, ich habe Schmerzen.« Er doziert stur weiter. Plötzlich fängt sie an, auf ihrem Stuhl hin und her zu wippen und vor Schmerzen zu stöhnen. Der Lehrer führt unbekümmert seinen Unterricht weiter. Schließlich schreit es aus ihr heraus: der Kopf, der Hals, der Bauch, die Glieder – alles tue ihr weh! Der Lehrer, der zuerst leichtfertig, dann immer mühsamer und ungeduldiger ihre Klage überhört hatte, geht auf die Schülerin zu, zieht ein Messer aus der Tasche und erdolcht sie.
Diese Szene stellt in zusammengefasster Weise die Handlung eines Theaterstückes von Eugène Ionesco dar. Ionesco ist ein Vertreter des sogenannten Theaters des Absurden, und in der Tat erscheint einem diese Szene zunächst einmal absurd. Doch bei genauerer Betrachtung erschließt dieses Stück in einer sehr direkten und unverblümten Weise, was Schmerzen, aber auch andere Erfahrungen von Verletzlichkeit in einem hervorrufen: nämlich den Wunsch, sie sollen aufhören. Schmerzen sollen aufhören zu stören und zu verstören. Sie sollen weggemacht werden. Das Dreiste an diesem Stück ist, dass Ionesco keineswegs das Mitleiden, das Mitgefühl mit der schmerzleidenden Schülerin thematisiert, sondern vielmehr das Unbequeme und Störende, das mit dem Schmerz, mit der schmerzleidenden Person verbunden ist.1 Ionesco trifft mit ebendieser Provokation den Nerv der Sache: Die bohrenden, sich immer wiederholenden Schmerzäußerungen der Schülerin treiben den Lehrer und auch den Zuschauer im Theater in den Wahnsinn. Der Lehrer reagiert schließlich in der konsequentesten Weise: Er liquidiert den Schmerz, indem er die schmerzleidende, vulnerable und unbequeme Person selbst liquidiert. Als Zuschauerin2 ist man über seine unerwartete Reaktion erschrocken und erleichtert zugleich.
Das Theaterstück von Ionesco beinhaltet einige zentrale Anregungen für eine Reflexion über das Thema der Verletzlichkeit, auf die im folgenden Beitrag eingegangen werden soll. Der vorliegende Text will einen Beitrag zur Klärung des Begriffs, der Erfahrung und der normativen Bedeutung von Verletzlichkeit leisten, indem er eine Erfahrung fokussiert, die als Verletzlichkeitserfahrung par excellence gelten kann: den Schmerz. In einem ersten Schritt sollen einige begriffliche Unterscheidungen in Bezug auf den Begriff der Vulnerabilität in aller Kürze dargestellt werden. Dabei wird der Begriff der Vulnerabilität als Synonym zum Begriff der Verletzlichkeit verstanden. Er wird jedoch bevorzugt, da im internationalen bioethischen Diskurs dieser Begriff geläufig ist. In einem zweiten und dritten Schritt werden dann anhand von zwei Beispielen – nämlich dem akuten und dem chronischen Schmerz – relevante Unterschiede verschiedener Verletzlichkeitserfahrungen herausgearbeitet und damit der Versuch unternommen, ihren unterschiedlichen normativen Stellenwert zu begründen. In einem anschließenden Teil werden mögliche Schlussfolgerungen aus der durchgeführten Analyse gezogen.
Im bioethischen Diskurs hat sich die Unterscheidung zwischen einer grundlegenden und einer situativen Vulnerabilität etabliert. Mit der grundlegenden Vulnerabilität ist eine ontologisch bedingte Verletzlichkeit gemeint, die der Leiblichkeit und Endlichkeit im Sinne der Conditio humana immanent ist.3 Es bezeichnet ein Merkmal, das allem Lebendigen zukommt.4 Die situative Verletzlichkeit dagegen bezeichnet die Tatsache, dass einzelne Personen beziehungsweise Personengruppen in bestimmten Situationen und aufgrund bestimmter Merkmale – wie beispielsweise der Nichteinwilligungsfähigkeit – eine höhere Anfälligkeit haben, Schaden zu erleiden. Vor allem diese letzte Auffassung von Vulnerabilität hat in verschiedenen Diskursen in der Bioethik, speziell im Kontext der Forschungsethik, eine wichtige normative Rolle eingenommen. Hier dient der Begriff dazu, spezielle Schutzmechanismen für vulnerable Personen zu legitimieren:5 So sind zum Beispiel bei Forschungsvorhaben strengere Vorgabe zu beachten, wenn man Kinder oder kognitiv beeinträchtigte Personen einschließen möchte.
Beide Vulnerabilitätskonzepte wurden kritisch hinterfragt, vor allem in Bezug auf ihre normative Funktion. Vorausgesetzt wird nämlich für beide Konzepte, dass sie eine negative Konnotation haben, woraus sich jeweils ein moralischer Appell zum Schutz vor der Vulnerabilität ableiten lässt. Bezüglich der grundlegenden Vulnerabilität wurde auf das Problem hingewiesen, dass sich, wenn alle Individuen vulnerabel seien, aus deren Vulnerabilität keine besonderen Schutzpflichten mehr ableiten ließen. Der Begriff würde in normativer Hinsicht gewissermaßen obsolet.6 Der situative Vulnerabilitätsbegriff hingegen wurde kritisiert, weil er die Gefahr einer Stigmatisierung und Diskriminierung von als vulnerabel identifizierten Personen mit sich bringt.7 So haben bekanntlich die gut gemeinten Schutzvorgaben bezüglich besonderer Personengruppen auch dazu geführt, dass mit diesen gar nicht geforscht wurde und somit zum Beispiel Therapien speziell für diese Personengruppen erst gar nicht entwickelt wurden.8
Henk ten Have9 hat wiederum einen Versuch unternommen, den Vulnerabilitätsbegriff etwas anders zu konnotieren. Vulnerabilität sei grundsätzlich von Potenzialität gekennzeichnet, da es um die Möglichkeit gehe, dass ein Widerfahrnis eintrete:
»[V]ulnerability is a conditional notion. It expresses a potentiality. […] Vulnerability means that there is the possibility of harm, injury, exploitation or abuse but it does not imply that these negative effects are actually happening or have occurred.«10
Sein Ausgangspunkt ist die Kritik daran, dass die gängigen Vulnerabilitätsauffassungen letztlich die Vulnerabilität als ein Merkmal des einzelnen Individuums verstehen. Zwar sei natürlich die grundlegende Vulnerabilität auch in der Tat ein Charakteristikum, das allen Individuen zukomme, aber die situative Vulnerabilität – so ten Have – sei mitnichten etwas, was primär mit bestimmten Charakteristika besonderer Personengruppen zusammenhänge, zum Beispiel, weil sie nicht einwilligungsfähig seien. Vielmehr seien es situative, oft soziale Faktoren, die dazu führten, dass diesen Personen eine erhöhte Anfälligkeit für Schaden zukomme. Daher sei es sein Anliegen, den Vulnerabilitätsbegriff auch stärker als einen gesellschaftspolitischen Begriff zu verstehen. Dies schaffe gleichzeitig den Spielraum für schützende Eingriffe: »Because vulnerability is a potentiality there is also room for intervention.«11
In seinen Ausführungen unterscheidet ten Have zudem drei Aspekte, die Vulnerabilität ausmachen und die im Folgenden als Systematik dienen sollen: Sensitivität, Exposition und Adaptation. Sensitivität stehe für die grundlegende Anfälligkeit für Bedrohungen; Exposition bezeichne das konkrete Ausgesetztsein an Bedrohungen; Adaptation meine die Fähigkeit, auf Bedrohungen durch anpassendes Verhalten reagieren zu können. Diese drei Aspekte und ihre jeweilige Bedeutung für eine normative Einschätzung von Vulnerabilitätserfahrungen sollen im Folgenden anhand von zwei Beispielen präziser herausgearbeitet werden.
Stellen Sie sich vor, dass Sie an einem warmen Sommernachmittag barfuß am Strand entlangspazieren. Sie genießen die warmen Sonnenstrahlen, die Meeresbrise und beobachten die Möwen am Himmel. Plötzlich geht ein Schaudern durch Ihren Körper, Ihr Gesicht verzerrt sich, es schreit aus Ihnen heraus. Ihr Puls schießt in die Höhe, Schweiß bricht aus. Sie heben reflexartig Ihr Bein: Eine spitze Muschel hat sich tief in ihren Fuß hineingebohrt. Der akute Schock wandelt sich in einen anhaltenden, brennenden und pochenden Schmerz. Die Wunde blutet, rötet sich und schwillt an. Sie entfernen die Muschel aus dem Fuß und versorgen die Wunde. Der Schmerz beherrscht Sie dennoch. Nach einiger Zeit versuchen Sie wieder zu laufen, doch bei jedem Schritt meldet sich der Fuß mit einem stechenden Schmerz, und Sie sind sich plötzlich ganz sicher, dass Sie einen Fuß haben.
Das Erleben eines akuten, plötzlichen und vorübergehenden Schmerzes ist eine alltägliche Erfahrung, die jeder und jede bereits gemacht hat.
Die Internationale Gesellschaft für die Erforschung von Schmerz (IASP) definiert den Schmerz als eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder möglichen Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt.12
Diese Definition beschreibt einige wichtige Aspekte des Schmerzes, indem sie auf den Zusammenhang zwischen der Verletzung des Gewebes, dem sensorischen Reiz und der emotionalen Verarbeitung verweist. Zugleich hebt sie auch die subjektive Komponente des Schmerzes hervor, indem sie davon spricht, dass sich dieser wie eine mögliche Gewebeschädigung anfühlt.
Es ist wichtig zu verdeutlichen, dass die Schmerzwahrnehmung ein dialogischer Prozess ist: Wenn bestimmte Reize gesetzt werden, empfinden Personen nicht unmittelbar den Schmerz. Der Reiz (zum Beispiel durch das Berühren einer heißen Herdplatte) löst Impulse aus, die von der Eingangsstelle im Körper – nehmen wir an, die Hand, die die Herdplatte berührt hat – über das Rückenmark und von dort aus in das Gehirn geleitet werden müssen. Hier lösen die Schmerzsignale eine »Antwort« aus. Der Körper schüttet Botenstoffe aus. Erst wenn diese »Antwort« erfolgt, wird die Schmerzempfindung auch bewusst wahrgenommen.
Das Beispiel des akuten, vorübergehenden Schmerzes kann als Paradebeispiel für eine Erfahrung grundlegender Verletzlichkeit dienen. Weil Menschen leibliche Wesen sind, sind sie von Natur aus sensitiv im Sinne ten Haves. Das bedeutet, dass sie affiziert werden können, dass sie empfinden können, wobei die Sensitivität sowohl für angenehme als auch für unangenehme Empfindungen empfänglich macht. Damit es jedoch zu einer Verletzung kommt, bedarf es zusätzlich der Exponiertheit. Würde man den Spaziergang am Meer nicht barfuß machen, sondern mit entsprechendem Schuhwerk, hätte man die Exposition in diesem speziellen Fall vermieden und es wäre nicht zur Verletzung gekommen.
Wie oben bereits erwähnt, ist das Schmerzerleben kein passives, einseitiges Ereignis, sondern ein dialogisches. Der Schmerz beinhaltet auch eine Antwort des Körpers auf die Exponiertheit, die mit ten Have, so mein Vorschlag, als ein gelingender Adaptationsmechanismus verstanden werden kann. Bevor näher erläutert wird, warum diese Interpretation naheliegt, muss noch kurz auf einen weiteren Aspekt eingegangen werden: die angebliche Negativität des Schmerzes.
Schmerzen sind etwas Negatives. Diesem Satz würden vermutlich die meisten Menschen ohne Weiteres zustimmen. Der Schmerz gilt als Inbegriff des Widrigen, Unangenehmen, Nicht-sein-Sollenden. Dieses negative Urteil über den Schmerz scheint jedoch bei genauer Betrachtung nicht mehr so eindeutig. Denn gerade das intrinsisch Unangenehme im Schmerz, was zum Rückzug – die Hand wird schnell, reflexartig von der heißen Herdplatte entfernt – führt und Ablehnung und Vermeidung hervorruft, kann einen überlebenswichtigen Adaptationsmechanismus darstellen, denn Schmerzen können bekanntlich eine wichtige Warnfunktion erfüllen.
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