Der verlorene Frieden - Andreas Rödder - E-Book

Der verlorene Frieden E-Book

Andreas Rödder

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Beschreibung

Im Jahr 1990 schien ein neues Zeitalter anzubrechen: das Zeitalter der liberalen Weltordnung, des Friedens und der Demokratie. Heute liegt diese Ordnung in Trümmern. Wie konnten die Chancen verloren gehen, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges boten? Warum herrscht dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer wieder Krieg in Europa? Andreas Rödder erzählt die Geschichte des verlorenen Friedens von 1990 und fragt, welche Alternativen es gab. Im Westen glaubte man nach 1990, dass sich die eigenen Werte geradezu gesetzmäßig und global durchsetzen würden. Es mochte Rückschläge geben und es mochte dauern, bis auch die letzten Autokratien verschwunden wären. Aber an der Richtung der Geschichte bestand kein Zweifel. Doch das war ein Irrglaube, der zur Hybris verleitete. Als die machtpolitische Stärke des Westens nachließ, kehrten auch die autoritären Gegenentwürfe zurück, die auf imperiale Herrschaft und auf hegemoniale Einflusssphären setzen. Andreas Rödder erzählt die Geschichte der Weltpolitik seit 1990 und offenbart die Wurzeln der heutigen Weltunordnung. Dabei zeigt er, dass die Welt nicht auf eine multipolare Ordnung zusteuert, wie viele meinen, sondern auf einen neuen Ost-West-Konflikt, auf den sich der Westen einstellen muss, wenn er sich behaupten will.

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Andreas Rödder

Der verlorene Frieden

Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Widmung

Prolog: Eine neue Welt

I. Internationale Ordnungen

1. Ordnungen in der Theorie

2. Vier Ordnungen aus drei Jahrhunderten

«Westfälisches System»: Die Ordnung von 1648

Stabilität über alles: Die Wiener Ordnung von 1815

Der letzte europäische Friedenskongress: Paris 1919/20

Ordnung aus Verlegenheit: Die bipolare Welt nach 1945

II. Die Ordnung von 1990

1. «Die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland»

2. Neuer Wein in alten Schläuchen:

NATO

,

EU

und die Dominanz des Westens

3. «Eine der ganz großen geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts»: Das Ende der Sowjetunion

4. Zwischen Gewalt und Boom: China und Ostasien

5. Technologien und Märkte: Der große Globalisierungsschub

6. «Ende der Geschichte» oder «Kampf der Kulturen»? Einschätzungen und Erwartungen

III. Der unipolare Moment: Die 1990er Jahre

1. Hoffnungsschimmer und Wetterleuchten: Von Kuweit zum Kosovo

2. Postkommunistische Transformationen

3. Betrug an Russland?

4.

NATO

-Erweiterung und Ost-West-Beziehungen

5. Russland unter Jelzin

IV. Wendejahre: 2001 bis 2008

1. 9/11, der

War on Terror

und die

Freedom Agenda

2. Höhe- und Wendepunkt des Unipolarismus: Der zweite Irak-Krieg

3. Putins Wendung

4. Die Doppelkrise von 2008

V. Krisenzeit: Die 2010er Jahre

1. Der Nahe Osten: Kollaps einer Region

Der «Arabische Frühling»

Intervention in Libyen

Der syrische Bürgerkrieg und der Islamische Staat

Hoffnungszeichen und Illusionen: Iran und Israel

2. «… dann scheitert Europa»: Die Krisen der Europäischen Union

«Whatever it takes»: Die Eurokrise

Festung Europa? Die Migrationskrise

Zentralisierung und Zentrifugalkräfte

3. Die Putin-Doktrin und der russische Revisionismus

Die Putin-Doktrin

Großmachtpolitik: «Achse der Revisionisten»

Krieg

4. Chinas Traum und Trumps Wende

Autoritäre Herrschaft

Die «große Erneuerung»

Von der strategischen Anpassung zur Großmachtambition

Trumps U-Turn

VI. Zeitenwende: Das Ende der Ordnung von 1990

1. Impfstoffnationalismus und Deglobalisierung: Die Covid-19-Pandemie

2. Afghanistan: Das Scheitern von Demokratieexport und

Freedom Agenda

3. Russlands Krieg gegen die Ukraine

4. Das Hamas-Massaker und der Nahe Osten

VII. Historisches Fazit: Ursachen eines Scheiterns

Die Entstehung der Ordnung

Sieger und Verlierer

NATO

-Fragen und andere Institutionen

Macht

Freund und Feind: Wahrnehmungen

Normen und Werte: Ordnungsvorstellungen

Entscheidungen

Warum scheiterte die Ordnung von 1990 – und gab es eine Alternative?

VIII. Der verlorene Frieden: Politische Konsequenzen

Der neue Ost-West-Konflikt

Stärke nach außen und Stärke von innen

Wertebasierte Realpolitik

Strategisches Ordnungsmanagement: Fünf Grundsätze

Selbstbehauptung des Westens: Fünf Prioritäten

Dank

Verzeichnis der Abkürzungen

Anmerkungen

Prolog: Eine neue Welt

I. Internationale Ordnungen

II. Die Ordnung von 1990

III. Der unipolare Moment: Die 1990er Jahre

IV. Wendejahre: 2001 bis 2008

V. Krisenzeit: Die 2010er Jahre

VI. Zeitenwende: Das Ende der Ordnung von 1990

VII. Resümee: Ursachen eines Scheiterns

VIII. Der verlorene Frieden: Politische Konsequenzen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Zum Buch

Vita

Impressum

Meinen Eltern Ursula und Hans Peter Rödder

Prolog:

Eine neue Welt

Im Anfang war die Hoffnung: Die Mauer war gefallen und der Eiserne Vorhang verschwunden. In Südafrika endete die Apartheid, und in Washington reichten sich der israelische Ministerpräsident und der Palästinenserführer die Hände. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein «Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit»[1]. Selbst der vermeintlich visionslose US-Präsident George H. W. Bush beschwor die Vision einer neuen Ära,

«in der die Nationen der Welt in Ost und West, Nord und Süd gedeihen und in Frieden leben können. Hundert Generationen haben diesen Weg zum Frieden gesucht, während tausend Kriege tobten. Heute wird diese neue Welt geboren, und sie ist sehr anders als diejenige, die wir kannten: Eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts das Gesetz des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit erkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.»[2]

Endzeitstimmung im besten Sinne machte sich breit: Francis Fukuyamas Wortschöpfung vom «Ende der Geschichte»[3] gewann ikonische Bedeutung, denn sie traf den Nerv der Zeit. Das westliche Modell von Demokratie und Menschenrechten, Frieden, Marktwirtschaft und Massenwohlstand, so die allgemeine Erwartung im globalen Westen, würde sich fortan unaufhaltsam über die ganze Welt verbreiten. Auch Russland und China würden sich diesem Lauf der Geschichte nicht entziehen können. Und als 2011 der «Arabische Frühling» ausbrach, schien auch die islamische Welt am Anfang vom «Ende der Geschichte».

Gut zehn Jahre später, am 24. Februar 2022, marschierten russische Truppen in die Ukraine ein und begannen einen Krieg, der die Zerstörungskräfte von mehr als einem Jahrhundert kombinierte: den Stellungskrieg des Ersten und die Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung des Zweiten Weltkriegs sowie den Cyberkrieg des 21. Jahrhunderts. Im Jahr darauf, am 7. Oktober 2023, verübte die Hamas in Israel das größte Gewaltverbrechen gegen Juden seit dem Holocaust. Zwei von drei globalen Krisenherden standen lichterloh in Flammen. Und im Hinblick auf den dritten ließ der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Ende 2023 keinen Zweifel, dass er – unabhängig vom Willen der Betroffenen – die Einverleibung Taiwans durch China anstrebe.[4]

Am Ende vom «Ende der Geschichte» standen Enttäuschung, Bestürzung und Ratlosigkeit. Wenn die deutsche Außenministerin am Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sagte, «wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht»[5], dann irrte sie insofern, als die Welt noch dieselbe war. Der Westen und insbesondere die Deutschen waren nur aus ihren Träumen gefallen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz diagnostizierte in einer international anerkannten Rede eine «Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents»[6]. Die Konsequenzen allerdings – «Dialog und Kooperation» gegen «Aggression und Imperialismus», «neue Partnerschaften» gegen einen «neuen Kalten Krieg in einer multipolaren Ära»[7] – klangen eher nach Kontinuität der Hoffnungen von 1990, die sich als illusorisch erwiesen hatten.

Eine Spur der Gewalt hatte sich durch das gesamte vermeintliche «Ende der Geschichte» gezogen: von den Jugoslawienkriegen über Ruanda 1994, die Attentate vom 11. September 2001 und den amerikanischen «War on Terror», den «Islamischen Staat» und den russischen Krieg gegen die Ukraine bis zum Hamas-Angriff in Israel. Warum haben sich die Hoffnungen vom Ende des Kalten Krieges nicht erfüllt? Warum war die Ordnung von 1990 nicht in der Lage, einen Eroberungskrieg in Europa zu verhindern? Und in diesem Sinne: Warum ist sie gescheitert?

Lag es an institutionellen Schwächen der Weltordnung? An mangelnden internationalen Gremien und Verfahren, die alle großen Akteure auf Augenhöhe einbezogen? Oder handelte es sich um unvermeidliche Machtkonflikte, die mit Verschiebungen der internationalen Kräfteverhältnisse virulent wurden? Welchen Einfluss hatten gegenseitige Wahrnehmungen und Missverständnisse? Welche Rolle spielten ideologische Differenzen und unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen über die internationale Ordnung? Diese Fragen zielen auf Antworten, die vom Realismus, dem liberalen Institutionalismus und dem Konstruktivismus als den Hauptrichtungen der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen zu erwarten wären. Und aus historischer Perspektive: Welche Rolle spielten das Zustandekommen der Ordnung und die Behandlung der Verlierer, die Erwartungen an den Frieden, das Management der Ordnung von 1990 und politische Entscheidungen?[8] Und weil es Thukydides in seinem «Peloponnesischen Krieg» so explizit erwähnte: Wie stand es um die Gefahr der Hybris, die das siegreiche Athen mit der Idee seiner eigenen Größe und der Arroganz der Macht infizierte?

Von der Antwort auf die Frage nach den Gründen des Scheiterns hängt die zweite Frage ab: Gab es Alternativen, sowohl bei der Konstruktion der Ordnung von 1990 als auch in politischen Entscheidungen der Folgezeit, mit denen dieses Scheitern, mit denen Kriege und Gewalt in den 2020er Jahren zu vermeiden gewesen wären? Sowie eine dritte: Was lässt sich aus der Geschichte der Ordnung von 1990 lernen – und was ist nach ihrem Scheitern zu tun?

Das sind die Fragen dieses Buches, das eine an den anglo-amerikanischen International Relations orientierte und durch die Expertise der Thinktanks informierte historische Analyse der Großmächtepolitik, der internationalen Ordnung und der großen Machtkonflikte vom Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Ende der Ordnung von 1990 leistet (Kap. I–VII). Es beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen: Was sind internationale Ordnungen und warum verändern sie sich, theoretisch und historisch? Dieses Gerüst wird an die Geschichte der Ordnung von 1990 angelegt, die in ihren wesentlichen Stationen und im Hinblick auf die Ursachen ihres Scheiterns (und daher bewusst nicht in enzyklopädischer Breite und Vollständigkeit) erzählt wird. Am Ende wird noch einmal systematisch herausgearbeitet, warum die Ordnung von 1990 gescheitert ist. Das Buch verbindet die deutsche und europäische Perspektive des Autors mit den Erfahrungen und Einsichten einer dreijährigen Gastprofessur in Washington. Teil davon ist die Erkenntnis, dass Deutschland und Europa am Anfang der Geschichte im Zentrum der Ordnung von 1990 standen – und darin je länger je weniger eine Rolle spielten.

Die erste These dieses Buches ist, dass der Sieg von 1989 den Westen zur Hybris verleitete und das Ende des Ost-West-Konflikts mit zu hohen Erwartungen überfrachtet wurde: der Überzeugung von der universalen Gültigkeit der eigenen Ordnung, der Vorstellung des globalen Demokratieexports und einer Arroganz der Macht, die in den zweiten Irak-Krieg von 2003 führte. Die Machtverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges verdeckten unterdessen die fortbestehende Konkurrenz grundlegend unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen, die, so die zweite These, der letztlich entscheidende Grund war: zwischen einer liberalen, universell geltenden Ordnung, die auf der Souveränität und der Integrität der Teilnehmer dieser Ordnung beruht, und hegemonialen Vorstellungen multipolarer Machtzentren, die als Vormächte über die Souveränität und Integrität der Staaten in ihrer Einflusssphäre bestimmen. Diese unterschiedlichen Vorstellungen kamen zum Tragen, so die dritte These, als sich die Machtverhältnisse verschoben und konkrete politische Entscheidungen zur Revision der Ordnung getroffen wurden.

Das Ergebnis ist ein neuer Konflikt zwischen einem herausgeforderten globalen Westen und einem neu formierten, revisionistischen globalen Osten (wobei der Begriff «revisionistisch» in einem rein analytischen Sinne verwendet wird). Welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben und welche politischen Schlussfolgerungen aus dieser Geschichte aus der Perspektive der westlichen Demokratien für die internationale Politik zu ziehen sind, ist der Gegenstand des abschließenden Kapitels (VIII).

I.

Internationale Ordnungen

1. Ordnungen in der Theorie

Wenn allenthalben von «Weltunordnung» oder «Welt in Aufruhr» die Rede ist: Was ist eigentlich eine «Weltordnung»? So einfach die Frage klingt, so uneindeutig fallen die Antworten aus, nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen. Grundsätzlich definieren lässt sich eine internationale Ordnung als die Art und Weise, in der Staaten miteinander umgehen. Sie beruht auf Übereinkommen und Einrichtungen, die diesen Umgang miteinander regeln.[1]

Je nach Forschungsrichtung richtet sich der Blick dabei auf unterschiedliche Ebenen: Der klassische Realismus geht davon aus, dass es in der Staatenwelt keine übergeordnete Regelungsinstanz gibt und folglich Anarchie herrscht. Entscheidend für das Verhältnis der Staaten zueinander ist demzufolge der Charakter und die Verteilung von Macht, die damit auch ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dabei geht der defensive Neorealismus davon aus, dass Staaten in erster Linie Sicherheit suchen, während der offensive Neorealismus annimmt, dass sie nach Vormacht streben.

Liberale Internationalisten glauben demgegenüber an die Möglichkeit, die Anarchie der Staatenwelt durch internationale Kooperation und durch Verflechtung zwischen den Staaten zu überwinden. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich daher vorrangig auf Recht, Verträge und Organisationen. Während sie wie die Realisten von objektiven und rationalen Gegebenheiten ausgehen, zielt der Konstruktivismus hingegen darauf, dass Strukturen, Beziehungen und auch Akteure keine vorgegebenen Größen, sondern das Produkt sozialer Konstruktion sind. Konstruktivisten interessieren sich daher vorrangig für Wahrnehmungen, soziale Praktiken und Ideen.

Während die Wissenschaftspraxis der Internationalen Beziehungen dazu neigt, die Konkurrenz dieser Ansätze als Glaubenskämpfe zu betreiben, lassen sie sich tatsächlich und vor allem in historischer Perspektive gut ergänzen. Verwendet man sie nicht als theoretische Vorannahmen, sondern als analytische Instrumente, so weiten sie den Horizont. Sie eröffnen und schärfen den Blick auf unterschiedliche Faktoren, deren Bedeutung dann gegeneinander abzuwägen ist: Macht, Regeln und Institutionen sowie gegenseitige Wahrnehmungen und Ideen.

Internationale Ordnungen lassen sich nach verschiedenen Kriterien kategorisieren: Sind sie dicht oder eher locker gefügt? Beruhen sie auf bestimmten Machtverhältnissen oder auf vereinbarten Regeln? Ist ihr Geltungsbereich regional oder global? Und handelt es sich um eine allgemeine oder um eine sachspezifische Ordnung (wie etwa eine Handelsordnung)? Kyle M. Lascurettes und Michael Poznansky haben eine Typologie entworfen, mit der sie internationale Ordnungen nach zwei Kriterien sortieren: ihren Entstehungsbedingungen und ihrer Machtverteilung.[2] Ist die Ordnung das beabsichtigte Ergebnis geplanten Handelns, so lässt sie sich als «intentional» charakterisieren – das gilt für alle Produkte einer zum Abschluss gebrachten Friedenskonferenz. Stellt sie hingegen – wie die Ordnung nach 1945 – das unvorhergesehene Resultat kumulierter Interaktionen dar, wird sie «spontan» genannt. Wenn eine Ordnung von einem einzelnen Akteur (bzw. wenigen privilegierten Akteuren) ausgeht, wie es nach 1990 der Fall war, so wird ihre Machtverteilung als «konzentriert» bezeichnet. Beruht sie hingegen, wie das Mächtegleichgewicht des 19. Jahrhunderts, auf mehreren gleichberechtigten Spielern, so gilt sie als «zerstreut» (dispersed). Die Einteilung hilft Ordnungen zu unterscheiden; sie sagt aber nichts über ihre Güte oder Dauerhaftigkeit aus.

Dieser Typologie zufolge sind Ordnungen einer Balance of Power in ihrer Entstehung «spontan» und in ihrer Machtverteilung «zerstreut». Letzteres galt auch für die Pariser Ordnung von 1919/20, die im Hinblick auf ihre Entstehung allerdings «intentional» war. Das Gegenteil galt für den Ost-West-Konflikt: Er war «spontan» in der Entstehung und «konzentriert» in der Machtverteilung. Letzteres galt auch für die Ordnung von 1990, ihre Entstehung war demgegenüber allerdings «intentional».

Entstehungsbedingungen

Machtverteilung

intentional

spontan

konzentriert

hegemonialWarschauer Pakt Ordnung von 1990

zentralisiertOst-WestKonflikt

zerstreut

verhandeltWestfälische Ordnung 1648 Wiener Ordnung 1815 Pariser Ordnung 1919/20

dezentralBalance of Power

Henry Kissinger hat in seinen Studien über die Wiener Ordnung von 1815 eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren einer Ordnung herausgearbeitet, die in der Politikwissenschaft bis heute geteilt wird: dass die Ordnung von Seiten der relevanten Akteure respektiert und nicht aktiv in Frage gestellt wird. Nur aus dieser allgemeinen Akzeptanz, so Kissinger ganz funktional, realistisch und zugleich konstruktivistisch avant la lettre, bezieht sie ihre Legitimität.[3] Das heißt aber auch: Wenn eine Ordnung von den relevanten Akteuren nicht akzeptiert und zudem aktiv in Frage gestellt wird, dann verliert sie ihre Legitimität und damit ihre Funktion.

Das Ende einer Ordnung liegt nicht automatisch in einzelnen Veränderungen oder Konflikten und nicht einmal in begrenzten Kriegen; selbst der Krimkrieg und die italienischen und die deutschen Einigungskriege setzten in den 1850er und 1860er Jahren die Wiener Ordnung von 1815 nicht außer Kraft. Umgekehrt führt auch die Ablehnung der Ordnung durch einzelne Spieler nicht zu ihrem Ende, wenn diese nicht gegen die Ordnung handeln. Das Ende einer Ordnung ist aber gekommen, wenn das gesamte System samt seiner Ordnungsprinzipien von entscheidenden Akteuren nicht nur grundsätzlich in Frage gestellt, sondern auch aktiv zurückgewiesen wird[4] – so wie Japan, Italien und das Deutsche Reich in den 1930er Jahren die Pariser Ordnung von 1919/20 bekämpften.

Die aktive Ablehnung durch relevante Akteure ist also eine Möglichkeit, wie das Ende einer internationalen Ordnung zustande kommen kann. Eine zweite liegt in den Auswirkungen von systemischen Schocks wie Wirtschafts- und Finanzkrisen oder von Kriegen oder Revolutionen wie etwa nach 1789. Und eine dritte Möglichkeit, das Ende einer Ordnung herbeizuführen, liegt in einem evolutionären Wandel von Machtbeziehungen, wirtschaftlichen Verhältnissen und gegenseitigen Wahrnehmungen, wie es im Hinblick auf China im 21. Jahrhundert der Fall war. Und natürlich können sich alle Faktoren auch miteinander verbinden.

2. Vier Ordnungen aus drei Jahrhunderten

Keine internationale Ordnung hat sich als ewig erwiesen. Vielmehr hat ihre Geltungsdauer seit dem Dreißigjährigen Krieg abgenommen: Brachte es die Westfälische Ordnung von 1648 auf gute 150 Jahre und die Wiener Ordnung von 1815 auf ein knappes Jahrhundert, so betrug die durchschnittliche Dauer der drei Nachkriegsordnungen des 20. Jahrhunderts etwa 30 Jahre: knappe 20 im Falle der Pariser Ordnung von 1919/20, gute 40 im Falle der bipolaren Ordnung nach 1945 und gute 30 für die Ordnung von 1990. Der Umfang der Neugestaltung bzw. der Gestaltbarkeit dieser Ordnung nahm unterdessen ab, vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Werfen wir, um die Ordnung von 1990 historisch einordnen zu können, einen näheren Blick auf diese Friedensregelungen: die Kriege, die ihnen vorausgingen, die Art und Weise, in der sie herbeigeführt wurden, ihre zentralen Probleme und ihre wichtigsten Ergebnisse sowie die aus ihnen hervorgehenden Konfliktpotenziale und ihr Ende.

«Westfälisches System»: Die Ordnung von 1648

«Wir sind doch nunmehr gantz/ja mehr denn gantz verheeret!» So beklagte Andreas Gryphius mit den «Thränen des Vaterlandes Anno 1636» die physischen und seelischen Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges: «Die Türme stehn in Glutt/die Kirch ist umgekehret. Das Rathauß ligt im Grauß/die Starcken sind zerhaun/Die Jungfern sind geschänd’t/und wo wir hin nur schaun/Ist Feuer/Pest/und Tod/der Hertz und Geist durchfähret.»[5]

Der Krieg begann als Konfessions- und Bürgerkrieg zwischen den protestantischen Ständen und dem habsburgischen König in Böhmen, er weitete sich aber bald aus: auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation, wo sich die Protestantische Union und die Katholische Liga gegenüberstanden, und auf andere Gebiete Europas; zum Beispiel kämpften die calvinistischen Generalstaaten in den Niederlanden für die Unabhängigkeit vom katholischen Spanien. Aber auch innerhalb des protestantischen Lagers kam es zu Konflikten, etwa zwischen Dänemark und dem tief nach Deutschland vorgedrungenen Schweden um die Vorherrschaft im Ostseeraum, ebenso wie auf katholischer Seite zwischen Frankreich und den Habsburgern. Der Dreißigjährige Krieg verwandelte sich in einen zunehmend unübersichtlichen Macht- und Staatenkrieg. Dabei gingen die von Gryphius beklagten Verheerungen vor allem von durchziehenden und lagernden Heeren aus, und sie betrafen vorrangig das Gebiet des Deutschen Reiches, wo auch die großen Schlachtfelder lagen.

Mit wachsender Erschöpfung gingen Sondierungen für einen Friedensschluss einher. Nach acht Jahren diplomatischer Vorbereitung kam 1645 in Münster und in Osnabrück der erste internationale Gesandtenkongress seiner Art zusammen, auf dem über 100 Gesandtschaften 16 europäische Staaten und 140 Reichsstände vertraten. Als nach drei Jahren langwieriger Verhandlungen im Oktober 1648 die Friedensverträge von Münster und Osnabrück unterschrieben wurden, veränderten sie den europäischen Kontinent.

Die Trennung von Politik und Religion, die im mittelalterlichen Investiturstreit angelegt war, wurde jetzt endgültig vollzogen. Der Papst erklärte das Vertragswerk zwar für null und nichtig – aber sein Protest verhallte ungehört. Nicht der Papst und nicht der Kaiser waren die fortan dominierenden Einheiten, sondern die säkularen Staaten. Insbesondere auf deutschem Boden wurde das Heilige Römische Reich deutscher Nation geschwächt, die Einzelstaaten hingegen wurden gestärkt: Ihnen oblag die Landeshoheit nach innen und das Bündnisrecht der Landesherrn nach außen.

Auch in Europa wurden die souveränen Staaten zu den entscheidenden Spielern. Sie führten keine Konfessionskriege mehr, sondern Territorialkonflikte. Kriege gegeneinander, Eroberungen und gegenseitige Schwächung waren Teil dieses Systems, aber mit einem entscheidenden Vorbehalt: Die Existenz des Anderen wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Im angelsächsischen Sprachgebrauch hat sich daher der Begriff des «Westfälischen Systems» verbreitet, das auf der Integrität souveräner und völkerrechtlich gleicher Territorialstaaten beruht. Diese Gleichrangigkeit war die wesentliche Neuerung und das entscheidende Kennzeichen der europäischen Staatenordnung nach 1648.

An sein Ende kam dieses System durch externe Schocks von Revolution und Krieg sowie die aktive Ablehnung durch Napoleon. Die Französische Revolution beseitigte mit dem Ancien Régime auch das Prinzip der monarchischen Legitimität. Das Prinzip der Volkssouveränität trat an die Stelle der souveränen Staatsgewalt der Fürsten durch dynastische Erbfolge. Dagegen zogen die europäischen Fürsten zu Felde. Als die Kanonade von Valmy im September 1792 aber das Scheitern dieser Intervention markierte, will Goethe gesagt haben: «Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.»[6] Das war zwar wahrscheinlich nachträglich erfunden, aber treffend formuliert.

Stabilität über alles: Die Wiener Ordnung von 1815

Die Revolutions- und Koalitionskriege stürzten Europa in eine erneute, über 20 Jahre andauernde Zeit der Gewalt und der Anarchie. Dabei war es der moderne Napoleon, der sagte: «Ich bin in den Heerlagern aufgewachsen, ich kenne nichts anderes als die Heerlager. Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen!» Der konservative Metternich hingegen war der Überzeugung: «Was für eine böse Sache ist der Krieg! Er besudelt alles, sogar das Denken […] Deshalb arbeite ich ungeachtet des Geschreis der Dummen und der Narren für den Frieden»[7].

Das war ebenso wenig eindeutig «restaurativ», wie es das Verhalten von Vertretern des monarchischen Prinzips 1803 gewesen war, als sich mittlere und größere deutsche Territorien auf Kosten der Kleinen und Schwachen schadlos gehalten hatten, um ihre linksrheinischen Verluste an Napoleon zu kompensieren. Durch Mediatisierung und Säkularisation wurden geistliche Fürstentümer und Klöster, Reichsritterschaften und freie Reichsstädte aufgelöst und den größeren Territorien zugeschlagen. Damit war die Westfälische Ordnung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches am Ende und seine Auflösung 1806 die logische Konsequenz. Aber auch nach Napoleons Scheitern stand eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen nicht zur Debatte.

Knapp neun Monate lang tagte und tanzte der zweite große europäische Friedenskongress 1814/15 in Wien. 200 Staaten, Städte, Herrschaften und Körperschaften waren vertreten, maßgebend aber waren die Vertreter der Großmächte Habsburg, des Vereinigten Königreichs, Russlands und Preußens sowie bald auch wieder des besiegten Frankreichs. Der Wiener Kongress setzte darauf, alle großen Spieler einzubeziehen, um eine konsensfähige Ordnung herzustellen.

Auf der Agenda standen Gebietsfragen im Nachkriegseuropa, die für Europa zentrale Frage nach der Gestalt dessen, was bis 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gewesen war, obendrein Fragen der Flussschifffahrt oder des Sklavenhandels. Geleitet wurde der Wiener Kongress von den Prinzipien der Legitimität und der Autorität monarchischer Herrschaft, der Solidarität gegen revolutionäre Bewegungen und des Gleichgewichts zwischen den Staaten. Denn das überragende Interesse lag in der Stabilität einer europäischen Nachkriegsordnung, um neuerliche revolutionäre Erschütterungen zu verhindern.[8]

Daher wurde der Deutsche Bund aus 41 Einzelstaaten als befriedete, aber schwache Mitte Europas gebildet. Eine hohe Dichte von Gebietsregelungen wurde im Stile des vorrevolutionären Territorialerwerbs getroffen: Russland gewann «Kongresspolen», Preußen erwarb halb Sachsen, die Rheinprovinz und Westfalen, Österreich erhielt bayerische, illyrische und italienische Territorien. Frankreich wurde auf seine Grenzen von 1792 zurückgestuft, aber unter den wiedereingesetzten Bourbonen als gleichberechtigte Großmacht behandelt. Das Ergebnis war, ungleich ausgeglichener als nach 1648, das europäische Gleichgewicht der fünf Großmächte Frankreich, Großbritannien, Preußen, Habsburg und Russland.

Konflikte waren vor allem durch die enttäuschten Hoffnungen von Nationalbewegungen in Deutschland und Italien angelegt. Insofern war es kein Wunder, dass die italienischen und deutschen Einigungskriege zwischen 1859 und 1871 zur größten Erschütterung der Wiener Ordnung führten. Der britische Oppositionsführer, frühere und spätere Premierminister Benjamin Disraeli sprach zwar von einer «deutschen Revolution», die ein «größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution» von 1789 darstelle: «Das Gleichgewicht der Mächte ist vollkommen zerstört worden.»[9] Aber derjenige Bismarck, der dies durch drei Kriege zu verantworten hatte, mutierte nach der Reichsgründung zum neuen Hüter der Ordnung und Anwalt der Stabilität.

Gleichwohl war nach 1871 eine unüberbrückbar scheinende deutsch-französische Rivalität als Bruchlinie in die europäische Ordnung eingezogen. Hinzu kamen im späten 19. Jahrhundert ein zunehmend antagonistischer Nationalismus in ganz Europa sowie ein Imperialismus der Großmächte, mit dem die überschießende Kraft der europäischen Nationen sich gegeneinander zu richten begann. Im frühen 20. Jahrhundert nahmen reale oder perzipierte Machtverschiebungen und gegenseitige Bedrohungswahrnehmungen so sehr zu, dass der Konsens über die Notwendigkeit schwand, den Frieden zwischen den Großmächten aufrechtzuerhalten. Als die gemeinsame Überzeugung von den Vorzügen der Ordnung schwächer geworden war als die Hoffnung auf den Nutzen ihrer eigenmächtigen Revision, eskalierte die von keiner Seite ernsthaft verhinderte Julikrise 1914. Der Erste Weltkrieg markierte das unwiederbringliche Ende der europäischen Pentarchie.

Der letzte europäische Friedenskongress: Paris 1919/20

Zugleich war der Erste Weltkrieg der erste Krieg, in dem die modernen Technologien des Industriezeitalters ihre volle Vernichtungswirkung entfalteten. Maschinengewehre, Granaten und Giftgas führten zu einem Massensterben in den Schützengräben und zu einem wahren Zivilisationsschock. Die damit verbundene allgemeine Verbitterung wurde noch dadurch gesteigert, dass sie von der ebenfalls erst im späten 19. Jahrhundert aufgekommenen Massenpresse verbreitet wurde. Diese setzte wiederum die handelnden Politiker unter Druck, die im Januar 1919 zur internationalen Friedenskonferenz in Paris zusammenkamen.[10] Emotionalisierung und Moralisierung in Kategorien von Schuld und Strafe eröffneten eine neue Dimension internationaler Politik, die zuvor in moralfreien Kategorien von Staatsräson und Kabinettsdiplomatie gehandelt hatte.

Wie sich zeigen sollte, war es der letzte große Friedenskongress im Stile von 1645–48 und 1814/15, auf dem entsprechend der globalen Dimension des Krieges neben den europäischen Mächten auch die USA und Kanada, südamerikanische Staaten, Arabien, Südafrika, Indien, Japan, Australien und Neuseeland vertreten waren. Zudem wurden auch nichtoffizielle Abordnungen nach Paris entsandt – insgesamt waren etwa 10.000 Teilnehmer vor Ort. Von den 32 Teilnehmerstaaten führten allerdings nur 4 das Zepter: die Kriegssieger USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien. Anders als der Westfälische Friede und der Wiener Kongress mit dem Prinzip der Gleichrangigkeit trennte die Pariser Konferenz strikt und mit moralischem Gestus zwischen (27) Siegern und (5) Besiegten, wobei diese Einteilung allein schon im Hinblick auf die Nachfolgestaaten des aufgelösten Habsburgerreiches heikel war. Gar nicht vertreten war das revolutionäre Russland, das nach der Machtübernahme der Bolschewiki als internationaler Outlaw galt, so dass die Nachfolgeregelungen für das Gebiet des Zarenreiches in Paris außen vor blieben.

Nach dem Ende des Zarenreiches und der Habsburgermonarchie, die in sieben neue Staaten zerfiel, und angesichts der Auflösung des Osmanischen Reiches war eine unüberschaubare Vielzahl von Territorialfragen und weiteren Problemen in Europa zu regeln. Das geschah durch die fünf Pariser Vorortverträge mit den Verliererstaaten: den Vertrag von Versailles mit dem Deutschen Reich, von Saint-Germain mit Österreich, von Trianon mit Ungarn, von Neuilly mit Bulgarien sowie von Sèvres mit dem Osmanischen Reich, wobei letzterer nach dessen Auflösung 1923 durch den Vertrag von Lausanne mit der Türkei revidiert wurde. Die Regelungsdichte und der thematische Umfang der Pariser Vorortverträge reichten von der Einrichtung des Völkerbundes als einer neuen globalen Institution über weitreichende Grenzfragen bis hin zu territorialen Zugehörigkeiten von Nordschleswig über Danzig und Südtirol bis auf die arabische Halbinsel. Und sie umfassten Fragen von Besatzung und Abrüstung, Reparationen, Luftfahrt und Kolonien sowie im Falle des Vertrags von Lausanne auch als «Bevölkerungsaustausch» deklarierte Vertreibungen.

Waren schon all diese Themen kompliziert genug, zumal neue Grenzziehungen angesichts der ethnisch heterogenen Siedlungsstrukturen in den betroffenen Gebieten immer neue nationale Minderheitenprobleme schufen, stießen obendrein völlig unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufeinander. Bedeutete zum Beispiel das von US-Präsident Woodrow Wilson verfochtene «Selbstbestimmungsrecht der Völker» deren demokratische Selbstbestimmung (so hatte Wilson gedacht) oder deren Recht auf einen eigenen Staat (so hatten die vormaligen Minderheiten gehofft)? Und auch zwischen den führenden Siegermächten gingen die Vorstellungen weit auseinander: Wollte Wilson eine liberale Weltordnung etablieren, so ging es den französischen Vertretern um Sicherheit vor Deutschland, das entsprechend nachhaltig zu schwächen sei, den britischen hingegen um ein neues Gleichgewicht der Kräfte.

Die Pariser Ordnung war am Ende eine Mischung aus Restitution und Neuordnung. Auf der östlichen Seite Europas stand die Auflösung der Vielvölkerreiche: des Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches. In Westeuropa hingegen wurden die Verhältnisse von vor 1914 restituiert, wobei das Deutsche Reich zwischen beiden Welten stand: Es wurde durch den Versailler Vertrag geschwächt, blieb aber als potenzielle Großmacht bestehen. Die USA wiederum gingen aus Krieg und Friedensschluss als globale Macht hervor, waren aber nicht bereit, diese Rolle aktiv zu spielen. Sie zogen sich aus der internationalen Politik zurück, die sich nach 1919 noch stark auf Europa konzentrierte. Der Völkerbund mit Sitz in Genf war unterdessen nicht in der Lage, eine global ordnende Rolle zu spielen, sondern blieb, wie auch nach 1945 die Vereinten Nationen, Instrument der Großmächtepolitik.

Die Konfliktlinien der Pariser Ordnung gingen sowohl aus ihren Regelungen als auch aus den ungeregelten Fragen hervor. Neue Grenzen wurden in Paris nur als Grenzen der Verliererstaaten, nicht als Grenzen neuer Staatsgebilde festgelegt. Das galt für die polnischen West- und Südgrenzen durch die Verträge von Versailles, Saint-Germain und Trianon, während Polens Grenzen zur Ukraine, zu Russland und zu Litauen ebenso in bewaffneten Konflikten ausgefochten wurden, wie sie zwischen Ungarn und Rumänien oder zwischen Griechenland und der Türkei geführt wurden. Insgesamt eröffneten die in Paris ungeregelten Grenz- und Sicherheitsfragen Zonen instabiler Staatlichkeit in Ostmittel- und Südosteuropa, in denen bis 1945 besonders blutige Konflikte geführt wurden.[11] Und die Auflösung des Osmanischen Reiches, die zwischen den europäischen Mächten während des 19. Jahrhunderts immer wieder als «Orientalische Frage» (oder «Eastern Question») diskutiert worden war, bereitete das Feld für den Nahostkonflikt im 20. Jahrhundert.

Eine weitere Konfliktlinie eröffnete, ganz im Gegensatz zu 1648 und 1815, die Aufteilung der Staatenwelt in «Haves» und «Have-Nots»[12], in Status-quo-bewahrende und revisionistische Mächte. Die entscheidende Frage war, ob sich das absehbare deutsche Revisionsstreben im Hinblick auf die Ostgrenze, Rüstungsbeschränkungen und Reparationen in den Rahmen der Pariser Ordnung integrieren lassen oder ob es ihn sprengen würde. Sah es in den zwanziger Jahren für einen kurzen historischen Moment so aus, als könnten deutsche Großmacht- und französische Sicherheitsinteressen sich vereinbaren lassen, so wiesen die dreißiger Jahre eine ganz andere Richtung: Systematisch und vorsätzlich brachten die drei revisionistischen Mächte Japan, das faschistische Italien (das sich als formelle Siegermacht von der Pariser Ordnung benachteiligt sah) und das nationalsozialistische Deutschland die Pariser Ordnung zwischen 1931 und 1939 zum Einsturz.

Ordnung aus Verlegenheit: Die bipolare Welt nach 1945

Der Zweite Weltkrieg übertraf den Zivilisationsschock des Ersten. In nochmals globalerem Ausmaß, mit 60 teilnehmenden Staaten in Europa, Afrika und Asien, im Pazifik und im Atlantik, wurde er nicht wieder als Stellungs- und Abnutzungskrieg, sondern als Bewegungskrieg geführt. In bislang ungekanntem Maße richtete sich die Kriegführung vorsätzlich auch gegen die Zivilbevölkerung, und durch die Ermordung der europäischen Juden nahm er einen zuvor nicht gekannten Charakter als Vernichtungskrieg an.

Nach seinem Ende war ein neuerlicher internationaler Kongress zwar ursprünglich vorgesehen, er kam aber nicht zustande. Das lag nicht einmal an der Erfahrung, dass die Pariser Ordnung an überhöhten Erwartungen, überkomplexen Anforderungen und den daraus resultierenden Mängeln und Widersprüchen gescheitert war; in manchem war die Lage nach 1945 sogar eindeutiger als nach 1918. Es war vielmehr die westliche Wahrnehmung, dass mit Stalins Sowjetunion keine gemeinsame Lösung möglich sei, die 1946/47 zu einer Wende von der kooperationsorientierten Politik des Aufschubs strittiger Fragen (Postponement) hin zur konfliktbereiten Eindämmungspolitik des Containment führte.

So beruhte die Ordnung nach 1945 auf drei Grundlagen: erstens den Ergebnissen der Kriegskonferenzen der drei Hauptsiegermächte USA, Sowjetunion und Großbritannien in Teheran, Jalta und Potsdam 1943/45 – vor allem Stalins Forderung nach Sicherheitsgarantien durch Einflusszonen in Jalta –, zweitens administrativen Maßnahmen wie der Einrichtung der Besatzungszonen in Deutschland bei Kriegsende und drittens auf der Unfähigkeit, sich in der Folgezeit zu einigen. 1949 wurde der Status quo faktisch eingefroren.

Einmal mehr stand dabei die deutsche Frage im Zentrum, wobei der Neuordnungsbedarf angesichts der globalen Dimension des Krieges und des Ausmaßes der Zerstörungen weit darüber hinausreichte. Anders als nach 1918 aber kamen wenig weitreichende Ambitionen oder strategische Planungen zum Tragen. Die Ordnung nach 1945 war eine Ordnung aus Verlegenheit. Auch Deutschland wurde nicht aus Absicht, sondern mangels Einigung geteilt, und die bipolare Welt wurde durch die Gründung der Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt institutionalisiert. Die drei revisionistischen Mächte der dreißiger Jahre und Kriegsverlierer (West-)Deutschland, Italien und Japan wurden vor diesem Hintergrund (und zu ihrem historischen Glück) nicht wie die Verlierer in Paris behandelt, sondern – ähnlich Frankreich auf dem Wiener Kongress 1814/15 – als bald gleichberechtigte Partner in die westliche Ordnung integriert. Das östliche Deutschland hingegen fiel ebenso wie die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als formal souveräner, aber faktisch abhängiger Staat in den sowjetischen Einflussbereich und wurde nach sowjetischem Vorbild zu einer planwirtschaftlichen Parteidiktatur umgestaltet. Neu waren neben dieser sowjetischen Hegemonialsphäre nach 1945 vor allem die entscheidenden internationalen Institutionen: die Vereinten Nationen und vor allem NATO und Warschauer Pakt sowie die Europäische Gemeinschaft.

Das Ergebnis war ein 40 Jahre währender «langer Friede»[13], der auf der Verbindung von zwei Konfliktlinien beruhte: der Rivalität zweier Ideologien mit jeweils exklusivem Geltungsanspruch und der gegenseitigen militärischen Vernichtungsandrohung, deren maximales Konfliktpotenzial zugleich maximale Stabilität garantierte. Zudem überlagerte und dominierte der Ost-West-Konflikt eine Vielzahl anderer Konflikte, von den Nationalitätenkonflikten in Europa über die Dekolonisierungen in Afrika und den Nahostkonflikt bis nach Indochina. Dabei erlebte der Ost-West-Konflikt unterschiedliche Stadien der Intensität: Einer konfliktreichen ersten Phase des Kalten Krieges folgte in den sechziger und siebziger Jahren die Politik der Entspannung, die an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren in eine neuerliche Phase der Spannungen, den «zweiten Kalten Krieg» umschlug. Als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, die polnische Regierung das Kriegsrecht in Polen verhängte und amerikanische Mittelstreckenraketen in Europa stationiert wurden, rechnete niemand damit, dass am Ende der achtziger Jahre der Beginn einer neuen Epoche stehen würde, die alles zum Guten zu wenden schien.

Das Ende der bipolaren Ordnung kam durch eine Verbindung von Machtverschiebungen, politischem (Nicht-)Handeln und revolutionären Schocks. Als die Sowjetunion in den achtziger Jahren ökonomisch und technologisch immer stärker ins Hintertreffen geriet, begann Michail Gorbatschow, der 1985 ins Amt gekommene Generalsekretär der KPdSU, eine Reformpolitik, die sich bald verselbständigte und aus dem Ruder lief. Statt den Kommunismus zu verbessern, wie es Gorbatschow beabsichtigte, warf die Politik der Perestroika (Umgestaltung) mit jeder ökonomischen Reformmaßnahme ungeahnte Folgeprobleme auf und brachte die ökonomischen Strukturprobleme des sowjetischen Systems erst richtig zum Vorschein. Die Politik der Offenheit (Glasnost) setzte in den baltischen Staaten Debatten über das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt in Gang, die den sowjetischen Herrschaftsanspruch unterminierten. Im Willen, die Sowjetunion von äußerer Überbürdung zu entlasten, gab Gorbatschow die «Breschnew-Doktrin» auf, d.h. den Anspruch, die Staaten des Warschauer Pakts nach innen und nach außen auf den sowjetischen Kommunismus zu verpflichten, und eröffnete den Teilnehmern der hegemonialen sowjetischen Ordnung damit die Freiräume, diese Ordnung aktiv abzulehnen. Als sie dies in den weitgehend friedlichen Revolutionen zwischen 1989 und 1991 taten, ließ Gorbatschow den ökonomischen, ideologischen und politischen Kollaps des sowjetischen Imperiums durch weitgehendes Nicht-Handeln geschehen. Die kommunistischen Herrschaften in den Warschauer-Pakt-Staaten wurden gestürzt, Deutschland wurde wiedervereinigt, und die Sowjetunion löste sich auf.[14] Der Westen gewann den Ost-West-Konflikt, indem der Osten zusammenbrach.

Als die Mauer fiel, stand die deutsche Frage im Raum – und auf dem Tisch lag die Frage der internationalen Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges, die Frage der dritten europäischen Nachkriegsordnung des 20. Jahrhunderts. Die Ordnung von 1648 vermachte ihr das Erbe des Westfälischen Systems: die Integrität souveräner Staaten. Die Ordnung von 1815 verwies auf das Prinzip der Stabilität durch Legitimität, die Ordnung von 1919/20 auf das Problem des Revisionismus. Und die Ordnung von 1945/49 überlieferte multilaterale Institutionen sowie die Erfahrung der Festschreibung des Status quo aus Verlegenheit.

II.

Die Ordnung von 1990

1. «Die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland»

Die Bilder vom Fall der Berliner Mauer und der Menschen, die sie erklommen, wurden zu globalen Ikonen für das Ende des Kalten Krieges. Gleichzeitig leitete dieses Ereignis die nationale Wende der friedlichen Revolution in der DDR ein.[1] Darüber spaltete sich die Bürgerbewegung, die in den euphorischen Wochen im Herbst 1989 die SED-Herrschaft zu Fall gebracht hatte. Eine Minderheit der Oppositionsbewegung zielte auf Reformen einer selbständig bleibenden DDR, eine wachsende Mehrheit hingegen wollte eine Vereinigung mit der westlichen Bundesrepublik – besaß allerdings zunächst keine politische Stimme in der DDR. So schloss sie ein informelles Bündnis mit der Bonner Regierung, das beim Besuch Helmut Kohls in Dresden am 19. Dezember 1989 symbolischen Ausdruck fand, als der Bundeskanzler vor der Ruine der Frauenkirche bejubelt wurde. Es manifestierte sich in der Volkskammerwahl vom 18. März 1990, als eine überwältigende Mehrheit zugunsten einer schnellen Wiedervereinigung stimmte.