Wer hat Angst vor Deutschland? - Andreas Rödder - E-Book

Wer hat Angst vor Deutschland? E-Book

Andreas Rödder

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Beschreibung

Deutschland und Europa – ein herausragendes, kluges Buch zu einem der dringlichsten Themen unserer Zeit. Vom Spiegel-Bestsellerautor Andreas Rödder, der zu den bedeutendsten deutschen Historikern zählt. Deutschland steckt in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der deutschen Dominanz vorprogrammiert. Der renommierte Historiker Andreas Rödder erzählt die Geschichte, die dahintersteht: die Geschichte der »deutschen Stärke« in Europa, die alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hat, die Geschichte deutscher Selbstbilder als Kulturnation und die Geschichte der vielen zwiespältigen Gefühle der Nachbarn gegenüber Deutschland – die bis heute immer wieder präsent sind. Wie kann Deutschland mit diesen Ambivalenzen umgehen? Wie lassen sich deutsche Stärke und europäisches Gemeinwohl vereinbaren? Und wie kann Deutschland zu einem starken Europa beitragen? Mit seinem brillanten Blick in die Geschichte erklärt Andreas Rödder überzeugend auch das aktuelle Dilemma Deutschlands in Europa – und entwickelt Vorschläge, wie das Problem zu lösen ist. Ein großer politischer Essay, ein gewichtiger Beitrag zu einer höchst kontroversen Debatte.

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Seitenzahl: 456

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Andreas Rödder

Wer hat Angst vor Deutschland?

Geschichte eines europäischen Problems

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Mehr als ein JahrhundertproblemI Furor und Feingeist: Die deutsche Frage bis 19141 Was ist der Deutschen Vaterland?2 Koloss im Zentrum: Die Reichsgründung und Europa3 Gleichgewicht oder Weltpolitik4 Selbstbilder: Deutsche Tugenden und »Neider überall«5 »Rücksichtslose Missachtung« und »deutscher Drang nach Osten«: Außenwahrnehmungen6 Platz an der Sonne?»Die Schuld trägt Bismarck«II Hunnen und Henker (1914–1945)1 Kulturnation oder »Doktor der Mordkunst«? Die Radikalisierung der Bilder im Ersten Weltkrieg2 Haben oder nicht haben: Die Ordnung von 19193 Opfer und Herrenmenschen – und Gustav Stresemann4 Ein Deutschland oder zwei? Außenwahrnehmungen in der Zwischenkriegszeit5 Die vertane Chance»Deutschland duckt sich weg«III »Deutschland bleibt Deutschland« (1945–1990)1 Teilung aus Verlegenheit: Die Ordnung von 19492 Revisionismus und Zurückhaltung: Die Außenpolitik der Bundesrepublik3 Goldfinger, Kniefall, Atombombe: Außenansichten der Bundesrepublik4 Schuld und Sühne. Auf der Suche nach einer neuen Identität5 Vorstellungen von Europa6 1913, 1938, 1989: Die deutsche Wiedervereinigung7 Spiegelbilder: Zivilmacht und Machtpotentiale»Es geht um die Wahrnehmung des Nachbarn als gleichwertig«IV Hegemon oder Hippie-Staat? Die deutsche Frage seit 19901 Neue alte Ordnung, alte neue Frage2 Phoenix in und aus der Asche: Die Außenpolitik des vereinten Deutschlands3 Gemischte Gefühle: Die Nachbarn und ihre neuen Deutschen4 Wilhelm ante portas? Die Euro-Schuldenkrise5 Humanitäres Vorbild oder »Bully Europas«? Die Flüchtlingskrise»Vorbild sein, statt Befehle zu erteilen«V Wer hat Angst vor Deutschland?1 Die Geschichte eines europäischen Problems …2 … und wie sich damit umgehen lässtMaking-ofDankAbkürzungenQuellen und LiteraturPersonenregister

Dem Team der Neuesten Geschichte in Mainz

Mehr als ein Jahrhundertproblem

Die deutsche Frage ist wieder da. Mit der Euro-Schuldenkrise bewahrheitete sich in den Augen vieler, was 1990 vor allem außerhalb Deutschlands befürchtet worden war: eine neue deutsche Dominanz in Europa. Dabei steht Deutschland vor einem Dilemma. Einerseits wird erwartet, dass Deutschland in Europa Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist die Kritik an der deutschen Vormacht vorprogrammiert.

Dahinter stehen zwei Geschichten. Die eine ist die der deutschen Stärke. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde die über Jahrhunderte politisch zersplitterte Mitte Europas zu einer der militärisch stärksten Mächte auf dem Kontinent. Um die Jahrhundertwende war Deutschland zusammen mit den USA auch der wirtschaftliche und technologische Wachstumsmotor der Welt. Dem Land standen alle Möglichkeiten offen. Und dann beging es den größten Fehler, den es begehen konnte: Mit der Kriegserklärung vom 1. August 1914 begann eine beispiellose Geschichte der (Selbst-)Zerstörung. Deutschland verlor zwei Weltkriege, trieb weite Teile seiner Eliten aus dem Land, führte einen Vernichtungskrieg in Osteuropa und beging mit dem Holocaust das Menschheitsverbrechen schlechthin. Seine Städte wurden zerstört, es ruinierte zweimal seine Währung, verlor ein Drittel seines Territoriums und wurde geteilt. Als sich die verbliebenen zwei Drittel 1990 wiedervereinigten, schien sich das Land mit den Folgelasten endgültig zu überheben; 2005 war allenthalben vom »Abstieg eines Superstars«[1] die Rede. Und dann, nur wenige Jahre später, stand Deutschland wieder da, wo es vor 1914 schon einmal gewesen war. Wieder wurde es als europäische Vormacht in einer »halbhegemonialen Stellung« wahrgenommen, wie es der Historiker Ludwig Dehio einmal genannt hatte:[2] zu schwach, um den Kontinent wirklich zu beherrschen, aber zu stark, um sich einfach einzuordnen.

Das war und ist vielen nicht geheuer – den Deutschen selbst so wenig wie ihren Nachbarn. Davon erzählt die zweite Geschichte: die der unterschiedlichen deutschen Selbstbilder und der Fremdwahrnehmungen von Deutschland. Typisch dafür war die berühmte Rede, die Staatssekretär Bernhard von Bülow 1897 im Deutschen Reichstag hielt. Es gibt davon keine Tonaufnahme; doch wenn er sagte, »wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne«,[3] dann mag er das »auch« betont haben. Die europäischen Nachbarn hingegen hörten das »wir« und den »Platz an der Sonne«. Jedenfalls schrieb der britische Diplomat Eyre Crowe 1907 von dem tiefeingewurzelten Gefühl, dass Deutschland »durch die Stärke und Reinheit seines nationalen Strebens (… und) den hohen Tüchtigkeitsgrad (…) das Recht erworben hat, für die deutschen nationalen Ideale einen Vorrang zu beanspruchen«.[4] Was die Deutschen für ihr gutes Recht oder ihre moralische Pflicht hielten, erschien anderen als deutscher Vormachtanspruch. Dieses Muster zieht sich durch die Geschichte, von der wilhelminischen Weltpolitik bis zur Euro-Schuldenkrise und der Flüchtlingskrise im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Bundespräsident Joachim Gauck waren die Anklänge an Bülows Rede wahrscheinlich gar nicht bewusst, als er im Februar 2013 sagte: »Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unbedingt unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu unseren Erfahrungen, und wir möchten diese gern vermitteln.«[5]

Vor dem Hintergrund dieser Kontinuitäten soll dieses Buch zwei neue Perspektiven eröffnen. Erstens erschließt es ein Panorama von deutschen Selbstbildern und von Außenwahrnehmungen Deutschlands in internationaler Breite und ihrer historischen Entwicklung. Zweitens verbindet es diese Perzeptionsgeschichte gegenseitiger Wahrnehmungen mit der geopolitischen Strukturgeschichte der deutschen Stärke in Europa und der Handlungsgeschichte der deutschen Außenpolitik von der Reichsgründung bis zur Gegenwart.

»Wer hat Angst vor Deutschland?« soll somit einen Beitrag zur Geschichte der internationalen Politik und zur europäischen Konfliktgeschichte seit dem 19. Jahrhundert leisten. Zugleich soll es zur historisch-politischen Gegenwartsdiagnose und Standortbestimmung Deutschlands in Europa beitragen. Das Buch hätte eines seiner Ziele erreicht, wenn deutsche Leser verstehen, warum sie nicht verstehen, wie Franzosen und Griechen die Deutschen sehen, und wenn polnische und britische Leser verstehen, warum sie die Deutschen nicht verstehen. Darüber hinaus versteht es sich als Beitrag zur Debatte über die Weiterentwicklung der europäischen Integration nach den großen Krisen der 2010er Jahre, die Emmanuel Macron am 26. September 2017 mit seinen Vorschlägen zur »Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas« angestoßen hat: einer vertieften Integration in den Bereichen Sicherheit, Grenzen und Digitales, einem höheren europäischen Budget und einem europäischen Finanzminister, der Ausgestaltung des Binnenmarktes als Konvergenz- statt als Wettbewerbsraum, der Annäherung der einzelstaatlichen Sozialmodelle sowie transnationaler Listen für die Wahl zum Europäischen Parlament.[6]

Dazu lässt sich das Buch von vier Fragen leiten.

Erstens: Wie veränderte sich die deutsche Machtposition in Europa von der Reichsgründung bis ins 21. Jahrhundert? Ließen sich die deutsche Frage, d.h. deutsche Stärke bzw. deutsche Interessen, und die jeweilige europäische Ordnung miteinander vereinbaren – und wenn ja: wie?

Zweitens: Wie wurden Deutschland, seine Position und seine Politik in den politischen Öffentlichkeiten anderer europäischer Länder gesehen? Wie unterschieden sich deutsche Selbstbilder von diesen Außenwahrnehmungen? Wie veränderten sich die Wahrnehmungen und inwiefern blieben sie konstant?[7]

Drittens: Wie verhielten sich geopolitische Machtstruktur, politisches Handeln und Wahrnehmungen zueinander und wie wirkten sie aufeinander ein? Lässt sich feststellen, dass eine der drei Ebenen von vorrangiger Bedeutung war?

Und schließlich, viertens: Wie lassen sich deutsche Stärke und europäische Ordnung, deutsche Interessen und europäisches Gemeinwohl heute vereinbaren? Wie können Deutschland und Europa voneinander profitieren, ohne einander zu schaden?

IFuror und Feingeist: Die deutsche Frage bis 1914

1Was ist der Deutschen Vaterland?

Was die Deutschen die »deutsche Frage« nennen, heißt in anderen Ländern das »deutsche Problem«.[8] Und was dies bedeutete, wandelte sich im Laufe der Zeit mehrfach. Im 19. Jahrhundert ging es zunächst darum, welches Territorium ein zu schaffender deutscher Nationalstaat umfassen und welche Staatsform und Verfassung er haben würde. Nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stellte sich die Frage, ob der neue, starke Staat in der Mitte des Kontinents mit der europäischen Staatenordnung vereinbar sei. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die deutsche Frage dann auf die Möglichkeit eines deutschen Wiederaufstiegs innerhalb der Pariser Friedensordnung, bevor das nationalsozialistische Deutschland diese zertrümmerte. Nach 1949 drehte sich die deutsche Frage wieder um die territoriale Einheit des geteilten und um die verfassungsmäßige Ordnung eines vereinten Deutschlands. Beide Fragen waren mit der Wiedervereinigung von 1990 beantwortet. Nun stellte sich, wie nach 1871, die Frage der europäischen Verträglichkeit des vereinten Staates in der Mitte des Kontinents.

Wenn dabei von der deutschen »Mittellage« die Rede ist, dann bedeutet dies zunächst, dass Deutschland so viele Nachbarländer hat – heute sind es neun – wie kein anderes Land in Europa. Österreich und Frankreich haben immerhin acht, Polen sieben und Italien sechs, das Vereinigte Königreich hingegen hat nur eines. Im Zusammenhang mit dem Raum in der Mitte Europas, der heute Deutschland heißt, entluden sich immer wieder militärische Konflikte: die Varusschlacht der Germanen gegen das römische Imperium, die Kriege Karls des Großen und Friedrich Barbarossas oder die Schlacht zwischen dem Heer des Deutschen Ordens und Polen-Litauen 1410. Im 17. Jahrhundert eskalierte der Dreißigjährige Krieg unter Beteiligung von Dänemark, Schweden, Spanien und Frankreich. Mit Frankreich wurden in den folgenden Jahrhunderten der Pfälzische Erbfolgekrieg, der Siebenjährige Krieg, die Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 sowie der Krieg von 1870/71 ausgefochten. Dieser beendete die Serie der sogenannten Einigungskriege, die Bismarcks Preußen 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich geführt hatte. Preußen und Österreich wiederum hatten im Bunde mit Russland zwischen 1772 und 1795 Polen unter sich aufgeteilt, das erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder als eigenständiger Staat entstand. Zwanzig Jahre später wurde Polen durch den Hitler-Stalin-Pakt abermals geteilt und zum Schauplatz eines Vernichtungskrieges, den Deutschland auch gegen die Sowjetunion führte. Als der Zweite Weltkrieg schließlich durch Bomben und Armeen der Alliierten auf deutsches Territorium zurückschlug, wurde Deutschland erneut zu jenem zentralen europäischen Kriegsschauplatz, der es bis 1813 immer wieder gewesen war: vom Dreißigjährigen Krieg, der das Land »doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret« hatte, wie Andreas Gryphius 1636 beklagte, über die systematischen Verwüstungen im Pfälzischen Erbfolgekrieg bis zur französischen Besetzung, zunächst durch Revolutionstruppen und dann unter Napoleon, die nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 zu Ende ging.

All dies hatte auch daran gelegen, dass die deutschen Lande nicht wie andere Länder eine zentralstaatliche, sondern eine partikulare Entwicklung genommen hatten. Der Investiturstreit, die große Auseinandersetzung zwischen römisch-deutschen Königen und Päpsten im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert, hatte die Zentralgewalt im Reich geschwächt und die Fürsten gestärkt. Dies wiederholte und verstärkte sich mit dem zweiten großen Religionskonflikt, der Reformation im 16. Jahrhundert. Dass die neue Konfession von den Fürsten adoptiert wurde, war die entscheidende Voraussetzung für ihre Verbreitung. Umgekehrt stärkte die Reformation die Stellung der einzelnen Landesherren zumal in den protestantischen Territorien, in denen sie bis 1918 die Leitungsgewalt über das evangelische Kirchenwesen besaßen.

Demgegenüber hatte das Haus Habsburg Anfang des 17. Jahrhunderts versucht, ein vom Kaiser dominiertes, gesamtstaatlich organisiertes Reich in der Mitte Europas zu errichten.[9] Dieses Reich hätte mit seiner Lage und seiner Größe aber eine hegemoniale Position in Europa eingenommen, die den Interessen Frankreichs und Schwedens zuwiderlief. Dies ist der Hintergrund für den Dreißigjährigen Krieg, der als Religions- und Bürgerkrieg im Reich begann und als europäischer Macht- und Staatenkrieg endete – und den Weg zu einem deutschen Zentralstaat blockierte.

Stattdessen schrieb der Westfälische Friede von 1648 das Grundgesetz des Alten Reiches fest: die Landeshoheit der Einzelstaaten nach innen und das Bündnisrecht der Landesherren nach außen. Damit war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, im Gegensatz zu seinem pompös klingenden Namen, ein Bund gleichberechtigter Territorien mit einem Kaiser an der Spitze. Es bildete eine »befriedete, aber entdynamisierte Mitte des Kontinents«[10] – und war zugleich ein zentraler Faktor der »Westfälischen Ordnung« Europas. Die europäische Mitte »war der Puffer, der die aggressiven Anstrengungen anderer Mächte auffing und neutralisierte«.[11] Schon 1648 galt: Die deutsche Geschichte war in besonderem Maße Teil der europäischen, und immer hatten die europäischen Geschicke besondere Auswirkungen auf Deutschland.

Im 18. Jahrhundert wandelte sich die Ordnung der europäischen Mächte. Spanien, die Niederlande und Schweden fielen als Großmächte nach und nach aus, dafür kamen Russland und Preußen hinzu. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1740 annektierte Friedrich II. von Preußen das von den Habsburgern regierte Schlesien und begründete damit den preußisch-österreichischen Gegensatz. So legte er einen deutschen Sprengsatz, der sich bis 1866 mehrfach entzündete.

Unter dem Ansturm der Französischen Revolution und vor allem Napoleons zeigte sich, dass ein Pfeiler des Alten Reiches von 1648 porös geworden war: dass es nämlich den Bestand seiner einzelnen Mitglieder garantierte. 1803 hielten sich die mittleren und größeren deutschen Territorien an den Kleinen und Schwächeren schadlos, um ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich zu kompensieren, das in den Friedensverträgen zwischen 1795 und 1801 den Rhein als Grenze durchgesetzt hatte. Geistliche Fürstentümer und Klöster, Reichsritterschaften und freie Reichsstädte wurden aufgelöst und den mittleren und großen Territorialstaaten zugeschlagen. Das Großherzogtum Baden beispielsweise vergrößerte sich zwischen 1803 und 1805 um rechtsrheinische Teile der Kurpfalz sowie der Bistümer Konstanz, Basel, Straßburg und Speyer. Es erhielt fünf freie Reichsstädte, die Gebiete vieler Abteien und Stifte, den Breisgau mit Freiburg und die Stadt Konstanz. Mit dieser historischen Besitzumschichtung war das Alte Reich am Ende und seine Auflösung im Jahr 1806 nur noch Formsache.

Der Wiener Kongress, der oft als »Restauration« bezeichnet wird, machte diese revolutionäre Veränderung allerdings gerade nicht rückgängig. Was er wiederherstellte, ja deutlich stärker verankerte als zuvor, war das Prinzip des europäischen Gleichgewichts.[12] Und diese europäische Ordnung setzte abermals eine befriedete, aber politisch schwache Mitte voraus, damit sich das Gleichgewicht der Mächte von den Rändern her austarieren konnte. So errichtete der Wiener Kongress den Deutschen Bund aus zunächst 41 Einzelstaaten. Darunter befanden sich mit Preußen und Österreich zwar zwei europäische Großmächte, zudem saßen der britische König für Hannover, der dänische für Holstein und Lauenburg sowie der niederländische für Luxemburg und Limburg bzw. ihre Gesandten mit am Tisch der Frankfurter Bundesversammlung. Gerade deshalb kam aber keine handlungsfähige Zentralgewalt zustande.

Die Wiener Ordnung von 1815 wurde also, ebenso wie die Westfälische von 1648, im Zeichen von Stabilität und Gleichgewicht gegen die potentielle Stärke eines einheitlichen deutschen Staates in der Mitte Europas gebaut. Die Väter des Wiener Kongresses besaßen zwar die Ressourcen und die Institutionen, um diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Auf der Ebene der Ideen aber standen ihre Vorstellungen von monarchischer Legitimität und Solidarität den Zeichen der Zeit entgegen. Denn neben dem Prinzip der Volkssouveränität wurde vor allem die Nation zur politischen Leitidee des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift.[13] Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in aller Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als »vorgestellte« oder gar (so die etwas überzogene deutsche Übersetzung seines Buchtitels) »erfundene« Gemeinschaften bezeichnet[14] – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkmacht dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben.

So kamen die beiden Phänomene des Staates und der Nation in der Idee des Nationalstaats zusammen – mit einem wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland auf der einen sowie Frankreich und England auf der anderen Seite. In ganz Europa hatten sich aus den mittelalterlichen Personenverbänden während der Frühen Neuzeit bürokratisch organisierte Staaten entwickelt. Ihr Territorium war allerdings in unterschiedlichem Maße mit dem Gebiet derjenigen Gemeinschaften deckungsgleich, die sich im 19. Jahrhundert als Nationen begriffen. In Frankreich und in England war dies der Fall; dort ging der Staat der Nation voraus.[15] Dies ist noch heute spürbar, wenn im englischen Begriff des nation state die Betonung eindeutig auf state liegt.

In Deutschland lagen die Dinge umgekehrt: Als die moderne Idee der deutschen Nation aufkam, gab es auf ihrem Gebiet keinen Gesamtstaat, sondern eine Fülle von Einzelstaaten. Daher ging die Vorstellung der Nation nicht vom Staat aus. Stattdessen ging die Nation dem Staat voraus. Da sie sich nicht von einem bestehenden Staat her bestimmen konnte, wurde sie zunächst als Kulturnation verstanden. Sie berief sich auf kulturelle Faktoren wie gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte oder gemeinsame Werte, die zumeist nicht präzise zu definieren sind[16] – und das unter den Bedingungen der Romantik mit ihrem Zug zur schwärmerischen Utopie und zur schwermütigen Tiefgründigkeit, ihrem idealistischen Überschuss und ihrer Sehnsucht nach Ganzheit.[17] Das Ergebnis war ein kulturell befrachteter deutscher Nationsbegriff mit allerlei schicksalsschweren Konnotationen wie der »verspäteten«, der »verletzten« oder der »unvollständigen« Nation. Sie schwingen bis heute im deutschen Begriff vom »Nationalstaat« mit, dem die Entspanntheit des englischen nation state abgeht.

Was ist deutsch?

Entspanntheit aber wäre ohnehin kaum der nächstliegende Begriff, wenn es um die endlos diskutierte Frage geht: »Was ist deutsch?«[18] Bis 1800 bezog sich die Antwort auf diese Frage in erster Linie auf die Sprache, nachdem die Reformation, im Gegensatz zur territorialen und konfessionellen Zersplitterung, das Deutsche als gemeinsame Sprache etabliert hatte. Jenseits dessen allerdings wurde es schnell diffus. Und so wurde die Debatte über die deutsche »Identität« zu einem Wesensmerkmal der deutschen Identität.

»Redlich, rechtschaffen, unverstellt« – in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1811 wurden individuelle Charaktereigenschaften als Merkmale der Deutschen als Volk aufgeführt. Schon wenige Jahre zuvor hatte Johann Gottlieb Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« neben der Sprache solche kollektiven deutschen Charakteristika benannt: Sein statt Scheinen, weltbürgerlicher Geist, Gründlichkeit, Festigkeit, Ursprünglichkeit, Geistigkeit. Wenn er die deutsche Nation dazu aufrief, »die großen Verheißungen eines Reichs des Rechts, der Vernunft und der Wahrheit« herbeizuführen, dann mochte dies noch den weltbürgerlichen Universalismus und den aufgeklärten Kosmopolitismus in sich tragen, mit dem die Weimarer Klassik die Frage »Was ist deutsch?« beantwortet hatte.[19] Auch Heinrich Heine sprach sein Wort von der »Sendung und Universalherrschaft Deutschlands« im Hinblick auf die Menschheitsbefreiung im Geiste der Aufklärung.[20] Und doch lag der Umschlag vom Selbstverständnis als Kulturnation in die kulturelle Selbstüberhöhung, vom Universalismus zum Nationalismus in greifbarer Nähe.

Manifest wurde diese Wendung in Ernst Moritz Arndts Antwort auf die Frage »Was ist des Deutschen Vaterland?« aus dem Jahr 1813:

»Wo Eide schwört der Druck der Hand

Wo Treue hell im Auge blitzt

Und Liebe warm im Herzen sitzt –

Das soll es sein!«[21]

Damit adressierte er die »Treue« Adelungs sowie den Topos der »Innerlichkeit«. Und damit nicht genug, fügte er seinen bevorzugten Reim auf »Vaterland« hinzu:[22]

»Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,

Wo jeder Franzmann heißet Feind,

Wo jeder Deutsche heißet Freund –

Das soll es sein!«

Seit 1802 nahm Arndt eine radikale Abgrenzung von den Franzosen vor, die über die traditionellen Völkerstereotype hinausging. Arndt lud sie politisch auf und stellte die Völker einander als handelnde Kollektivsubjekte gegenüber – in scharfer Konfrontation: aufrichtige, ehrliche Deutsche gegen Lug und Trug der Franzosen, schlichtes Gemüt und reine Sitte gegenüber Wollust und Unzucht. Unterschiede zwischen den Völkern wurden zu gegensätzlichen Nationalcharakteren umdefiniert und Nationen zu exklusiven Trägern bestimmter moralisch-sittlicher Prinzipien erklärt.

Solche Selbstdefinitionen durch Abgrenzung nach außen waren zunächst Elitenphänomene einer kleinen Gruppe von Publizisten. Aber sie bereiteten den Boden für deren gesellschaftliche Verbreitung. Als die französische Regierung 1840 Anspruch auf die Rheingrenze als natürliche Grenze zwischen Frankreich und Deutschland erhob, gingen die nationalen Aufwallungen auf beiden Seiten hoch.[23] Sprunghaft verbreitete sich ein deutsches Nationalgefühl im Zeichen von Abwehr und Opferbewusstsein, wie es Max Schneckenburger in seinem Lied von der »Wacht am Rhein« zum Ausdruck brachte.

»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,

Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

Wer will des Stromes Hüter sein? (…)

So lang ein Tropfen Blut noch glüht,

Noch eine Faust den Degen zieht,

Und noch ein Arm die Büchse spannt,

Betritt kein Feind hier deinen Strand.«[24]

Furor, Gemüt, Genie

Was den einen allerdings als Abwehr erschien, das deuteten andere als Raserei. Die einschlägige Außenwahrnehmung der Deutschen ging auf den römischen Dichter Lukan (39–65) zurück. Er hatte vom furor teutonicus geschrieben und damit das Narrativ von den Teutonen als ewigen Invasoren in die Welt gesetzt,[25] das in der Neuzeit vor allem auf Preußen angewendet wurde. Die Größe dieses Staates beruhe auf dem militärischen Geist, der für Preußen wichtiger sei als eine gute Regierung – so formulierten es die britischen Außenminister Castlereagh und Canning um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.[26]

Parallel dazu verbreitete sich im späten 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich eine andere Wahrnehmung, nämlich die der Natürlichkeit, der Naivität, der Tugend, des Enthusiasmus und der Sentimentalität der Deutschen, die im Gegensatz zur selbstempfundenen eigenen Dekadenz gesehen wurde. Dieses Bild – wobei ganz überwiegend nur die Wahrnehmungen von Eliten greifbar sind – verbreitete insbesondere die Franko-Schweizerin Germaine de Staël in ihrem 1810 fertiggestellten, aufgrund der Intervention Napoleon Bonapartes aber erst nach 1813 publizierten Buch De l’Allemagne. Es wurde – als Gegenbild zum napoleonischen Kaiserreich – für das französische Deutschlandbild im 19. Jahrhundert prägend, jedenfalls bis 1870. Madame de Staël skizziert darin die Deutschen auf der Grundlage ihrer Reiseeindrücke als praxisfern, gemütsbetont, langsam und gehorsam, musikbegeistert und philosophisch, zugleich etwas rückständig und harmlos.[27] Diese Vorstellung von den Deutschen findet sich noch in Gustave Flauberts Dictionnaire des idées reçues, in dem er die Deutschen als »Volk von Träumern« bezeichnete.[28]

Nicht nur in Frankreich stand somit das Bild der idyllischen Kulturnation neben dem des brutalen, barbarischen und gewalttätigen Deutschen. Der preußische Generalfeldmarschall Gerhard Leberecht von Blücher, dessen offensive Truppenführung beim Vormarsch auf Paris 1813/14 und in der Schlacht von Waterloo 1815 ihm den Beinamen »Marschall Vorwärts« eintrug, wurde zum Inbegriff des tapferen, furchteinflößenden und biertrinkenden Deutschen, wie er in den Karikaturen des britischen Zeichners George Cruikshank sein Abbild fand.[29] Zugleich galt Deutschland als kulturelles, literarisches und philosophisches Vorbild und als Land der Romantik, insbesondere in Großbritannien.

Das romantische Deutschland zeigte sich am Rhein mit seinen Burgen.[30] Aus britischer Sicht wirkte es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sei es von der Industrialisierung noch nahezu unberührt, landschaftlich intakt und wirtschaftlich rückständig – als schönes und zugleich harmloses Gegenbild zur Dynamik und dem von den Engländern selbst empfundenen Materialismus der Industrialisierung. Die britische Wahrnehmung richtete sich zudem auf die deutsche Literatur und Kunst, wobei immer auch Goethe und Schiller, also nach deutschem Sprachgebrauch die Weimarer Klassik, zur Romantik gezählt wurden (und werden). Alles in allem mischten sich im viktorianischen Deutschlandbild verschiedene Facetten. Das Bild passiver Folgsamkeit und wirtschaftlicher Rückständigkeit verband sich mit Bewunderung und Respekt für deutsche Musik und Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung, Theologie und Mathematik sowie für die Erfindungen in den Ingenieurwissenschaften und der Industrie.[31] Noch 2017 beschrieb der britische Bankmanager, Priester und Deutschenfreund Stephen Green die »Mischung aus dem Guten, dem Tiefen, dem Harmlosen und dem Bedrohlichen« in der deutschen Sprache und Kultur.[32]

In Italien fanden mit der antiken Kultur auch antike Vorurteile eine lang anhaltende Verwendung, also auch der furor teutonicus. Sein Fundament in der Sache fand dieses Stereotyp in der lange wirkenden Erinnerung an die Zerstörung Mailands durch Friedrich Barbarossa 1162 und die Plünderung des Kirchenstaates durch Deutsche und Spanier 1527. Auch Luther wurde als Gegner gesehen, wie überhaupt der Protestantismus in Italien auf Ablehnung stieß. Eine positivere Einschätzung der Deutschen stellte sich erst ab dem späten 18. Jahrhundert durch Dichter wie Goethe, Schiller und Kleist ein.[33]

Das polnische Bild der westlichen Nachbarn wurde vor allem durch die polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 geprägt.[34] In drei Schritten hatten Russland, die Habsburgermonarchie und Preußen das Königreich Polen unter sich aufgeteilt, bis es als souveräner Staat ganz verschwunden war. 1815 wurde das Gebiet Polens dreigeteilt, wobei der Kern, das sogenannte Kongresspolen einschließlich Warschaus, als Königreich Polen in Personalunion mit dem Zarenreich unter russische Herrschaft geriet. Preußen behielt die Gebiete, die ihm durch die ersten beiden Teilungen zugeschlagen worden waren: das Ermland, Westpreußen und Südpreußen, das nach 1815 die Provinz Posen bildete. Blickten die Polen nach Westen, so standen ihnen zwei unterschiedliche Bilder vor Augen: das Bild von Preußen, das große Teile Polens annektiert hatte, und ein deutlich freundlicheres Bild von Deutschland. Denn dort hatte die Nationalbewegung auf dem Hambacher Fest von 1832 Unterstützung für den polnischen Freiheitskampf artikuliert.[35] Das änderte sich jedoch bereits 1848, als das Frankfurter Paulskirchenparlament darüber debattierte, was aus den polnischen Gebieten werden sollte, die Preußen durch die Teilungen Polens annektiert hatte. Die deutschsprachigen Gebiete der preußischen Provinz Posen sollten sich, so die Paulskirche, Deutschland anschließen dürfen, während der Teil, der Polen zugesprochen werden sollte, im Laufe der Zeit immer kleiner wurde.[36]

Nachdem Preußen unterdessen schon 1848 einen polnischen Aufstand in der Provinz Posen niedergeworfen hatte, unterstützte die preußische Regierung unter Bismarck 1863 auch die russische Niederschlagung des polnischen Aufstands in Kongresspolen. In der Folge wurden die Polen verschärften Repressionen und Maßnahmen zur Zwangsintegration von russischer Seite unterworfen. Zugleich ging die preußische Politik unter Bismarck zu einer kompromisslosen Eindeutschung der Polen über, die innerhalb der Provinz Posen ein Drittel und im Königreich Preußen insgesamt zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten. Vor diesem Hintergrund überlagerte das polnische Preußenbild zunehmend das gesamte Bild von Deutschland.

Das russische Deutschlandbild wiederum, zumindest das der höfischen Eliten, war seit den Tagen Peters des Großen von einem besonderen Verhältnis zwischen beiden Mächten geprägt.[37] Über eine Million Deutsche immigrierten vom 17. Jahrhundert bis 1917 nach Russland, an den Zarenhof, in deutsche Agrarkolonien an der Wolga und in Handwerkerviertel in russischen Städten. Diese Einwanderer trugen deutsche Einflüsse auf das politische, wirtschaftliche und geistige Leben nach Russland;[38]1725 wurde die Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg auf Anregung von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründet. Zugleich studierten Russen aus der Bildungsschicht, die fast durchweg dem Adel entstammten, an deutschen Universitäten und vermittelten ihren Landsleuten Bilder von Deutschland. So schilderten die (mit dem später berühmten Dichter nicht verwandten) Gebrüder Turgenew die Deutschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts als sympathisch, aber auch ziemlich langweilig, steif und gefühlsarm, was ihre Bewunderung für deutsche Bildung und Gelehrsamkeit nicht schmälerte. Enthusiasmus für das deutsche Kulturleben hatte Ende des 18. Jahrhunderts bereits Nikolaj Karamzin in den Briefen eines reisenden Russen versprüht und damit ähnlich nachhaltig auf das russische Deutschlandbild eingewirkt wie Madame de Staël auf das französische.[39]

Gerade das Preußenbild war dabei aus russischer Sicht immer zugleich ein Blick in den Spiegel – und fiel diffus aus.[40] Für die nach Westen orientierten Eliten, begonnen mit Zar Peter I. nach 1698, war Preußen ein Vorbild für Reformen. Die Slawophilen hingegen, die auf die Einheit der slawischen Völker zielten, grenzten sich vom Westen ab. Für Iwan Kirejewski (1806–1856), einen der Begründer der slawophilen Bewegung, gab es »auf dem ganzen Globus kein schlechteres, seelenloseres, dümmeres und ärgerlicheres Volk als die Deutschen«, und Nikolai Gogol schrieb 1836 von einer Deutschlandreise, in den Adern der Deutschen fließe »Kartoffelblut«.[41] Waren die Empfindsamkeit des Sturm und Drang und die Leidenschaft der Romantik in der russischen Belletristik auf große Sympathie gestoßen, so zeichneten Alexander Puschkin und Leo Tolstoi im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Bild, das rationale und berechnende Deutsche gegen emotionale Russen stellte.[42]

Alles in allem ergaben die Außenwahrnehmungen Deutschlands ein buntes Bild, das sich um drei Komplexe gruppierte: den der gewalttätigen Barbaren, den der gemütlichen und gehorsamen Biedermänner sowie den des Landes der Wissenschaft, der Kunst und der Musik, der Philosophie und der Romantik. Dann kam die Reichsgründung, und sie veränderte die politische Landkarte Europas ebenso wie die mentale.

2Koloss im Zentrum: Die Reichsgründung und Europa

Von einer »deutschen Revolution« sprach der Oppositionsführer im britischen Unterhaus, der vormalige und spätere Premierminister Benjamin Disraeli, drei Wochen nach der Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles: Es sei ein »größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution« von 1789, denn »das Gleichgewicht der Mächte ist vollkommen zerstört worden«.[43] In der Tat: Die Reichsgründung von 1871 revidierte die Ordnung des Wiener Kongresses, der das Prinzip des Gleichgewichts der europäischen Mächte um eine politisch schwache Mitte herum auf seinen historischen Höhepunkt geführt und mit der Gründung des Deutschen Bundes zugleich die deutsche Nationalstaatsbewegung zurückgedrängt hatte. Wie sich zeigte, ließ sich das Thema aber nicht auf Dauer unterdrücken. Nachdem die Nationalstaatsgründung von unten durch die Revolution von 1848/49 gescheitert war, kam sie 1871 von oben, unter preußischer Führung. Das Scharnier zwischen Nationalstaatsbewegung und preußischer Machtstaatspolitik war Otto von Bismarck, der »weiße Revolutionär« (Lothar Gall). Nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 steuerte er mit bemerkenswerter Konsequenz auf drei Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zu, die innerhalb von weniger als acht Jahren und vier Monaten zu jener Gründung des deutschen Staates in der Mitte Europas führten, die zuvor so vehement vermieden worden war.

Mit der Reichsgründung war die Frage nach Territorium und Verfassung einstweilen beantwortet. Territorial realisierte sie die kleindeutsche Lösung, verzichtete also auf Gebiete der Habsburgermonarchie, deren Zugehörigkeit 1848/49 so lebhaft diskutiert worden war. »So weit die deutsche Zunge klingt«, reichte dieses Deutschland, im Gegensatz zu Ernst Moritz Arndts Definition von »des Deutschen Vaterland« aus dem Jahr 1813, also nicht. Somit war es im strengen Sinne der Definition kein vollständiger Nationalstaat, weil Nation und Staat nicht deckungsgleich waren.

Was die Verfassung betrifft, so hatte der preußische König 1849 die Krone aus den Händen eines gewählten Parlaments abgelehnt, das er nicht als Träger der Souveränität anerkannte. Das Kaiserreich von 1871 wurde stattdessen als Fürstenbund gegründet, es bezog seine Legitimation also nicht von unten, sondern von oben. Zugleich besaß es mit dem allgemeinen Männerwahlrecht das formal demokratischste Wahlrecht in Europa. Sein politisches System war aber kein parlamentarisches, weil das gewählte Parlament nicht über die Regierung bestimmte: Es konnte sie weder wählen noch stürzen. Das tat allein der Kaiser, und daher war das Kaiserreich trotz seines Wahlrechts nicht demokratisch. Es war aber auch kein absolutistisches oder diktatorisches System, da eine Verfassung die Machtaufteilung zwischen Kaiser und Parlament regelte. Vielmehr entsprach es dem verfassungspolitischen Typus des monarchischen Konstitutionalismus, von dem es grundsätzlich zwei Varianten gab: eine mit Vorrang des Parlaments (wie im Vereinigten Königreich) und eine mit Vorrang des Monarchen. Letzteres war im Kaiserreich der Fall, das sich so gesehen innerhalb des verfassungshistorischen Grundschemas im Europa des 19. Jahrhunderts und nicht auf einem Sonderweg bewegte.[44]

Etwas anderes waren das Sonderbewusstsein vom »deutschen Konstitutionalismus«, von dem noch die Rede sein wird, und die Sonderstellung des Militärs, das durch die Erfolge in den Einigungskriegen noch einmal an Sozialprestige gewonnen hatte. Nach Artikel 63 der Reichsverfassung stand das Heer »in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers« – und war zugleich der parlamentarischen Mitwirkung und Kontrolle entzogen, mit Ausnahme des Budgets, das aber stets für mehrere Jahre verabschiedet wurde. Auch innerhalb der Reichsleitung waren die Militärs unabhängig von ziviler Gewalt. Die kommandierenden Generäle und der Generalstab hatten unmittelbaren Zugang zum Kaiser und bildeten vor allem unter Wilhelm II. einen Staat im Staate. In dieser Hinsicht war der deutsche Verfassungsstaat von 1871 auch eine preußisch dominierte Militärmonarchie.[45]

War die erste deutsche Frage des 19. Jahrhunderts 1871 also einstweilen beantwortet, so stellte sich nun die zweite: die Frage nach der Verträglichkeit eines machtvollen deutschen Nationalstaats in der Mitte des Kontinents mit der Ordnung Europas. Aber was hieß überhaupt »machtvoll«? Im späten 19. Jahrhundert galten als Kriterien von Macht vor allem die klassischen Faktoren von hard power: Territorium, Bevölkerung, Militärmacht und zunehmend auch wirtschaftliche und technologische Ressourcen.

Dabei war die Fläche der europäischen Staaten[46] weniger bedeutsam als die Zahl ihrer Einwohner, die nicht zuletzt eine Ressource für Soldaten und somit für Militärmacht darstellten. Nachdem Preußen vor den Einigungskriegen etwa 18,5 Millionen Einwohner gezählt hatte, lag deren Zahl im Deutschen Reich 1871 bei 41 Millionen und damit um 5 Millionen höher als in Frankreich und Österreich; im Vereinigten Königreich belief sie sich auf 31 und in Russland auf 77 Millionen. Zudem wuchs die deutsche Bevölkerung aufgrund hoher Geburtenraten bis 1910 um fast 60 Prozent auf 65 Millionen, während sie in Frankreich nur um 10 Prozent auf knapp unter 40 Millionen zunahm, so dass die deutsche Bevölkerung vor dem Ersten Weltkrieg mehr als anderthalbmal so groß war wie die französische.[47]

Ein weiterer, im späteren 19. Jahrhundert wichtiger Indikator von Macht war die Schwerindustrie: als entscheidende Voraussetzung moderner Waffenproduktion und Militärmacht, aber auch im Hinblick auf allgemeine wirtschaftliche und technologische Stärke. In Deutschland war die Industrialisierung seit den mittleren 1830er Jahren mit dem Eisenbahnbau in Fahrt gekommen, der die ganze Schwerindustrie mit sich zog. In der »Gründerzeit« der 1850er und 1860er Jahre erlebte Deutschland einen Boom, der sich nach der Reichsgründung noch einmal verstärkte. Zwischen 1870 und 1873 wuchs die Roheisenproduktion um 61 Prozent, und massenhaft wurden neue Aktiengesellschaften gegründet. Das Spekulationsfieber und eine überhitzte Konjunktur endeten allerdings im »Gründerkrach« von 1873, dem zwei Jahrzehnte des gebremsten Wachstums folgten. Zugleich machte die technologische Entwicklung entscheidende Sprünge: Elektrotechnik und Chemie wurden zu neuen Leitindustrien, die ab den 1890er Jahren in einer neuerlichen Phase der Hochkonjunktur voll zum Tragen kamen. So wurde Deutschland zusammen mit den USA vor 1914 zum technologischen und wirtschaftlichen power house der Welt, und Krupp wurde zum Inbegriff von Schwerindustrie und Rüstungstechnologie.

Aus der Sicht des Jahres 1871 kam schließlich eine weitere militärpolitische Komponente hinzu. Mit den drei erfolgreichen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 gegen zwei europäische Großmächte innerhalb von weniger als sieben Jahren war Preußen-Deutschland zur militärisch stärksten Macht auf dem Kontinent neben Russland geworden, während die französische Militärmacht zusammengebrochen war. 1871 stellte sich die Frage, was Preußen-Deutschland aus dieser »halbhegemonialen Stellung«[48] machen und welche Ziele es zukünftig verfolgen würde: eine großdeutsche Lösung? Einen weiteren Krieg?

Die Frage stellte sich umso eindringlicher, als sich das internationale System 1871 in einem Schwebezustand befand.[49] Das Gleichgewicht der Mächte, eine der beiden Leitideen von 1815, war aus der Balance geraten, nachdem die europäische Ordnung mit der Einigung Italiens und Deutschlands umgestaltet worden war. Und die andere Leitidee, das monarchische Prinzip, war endültig perdu, nachdem Bismarck mit der preußischen Annexion des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen und des Herzogtums Nassau 1866 nicht einmal vor Königskronen und Fürstenthronen haltgemacht hatte.

Zugleich wurde das von den Deutschen annektierte Elsass-Lothringen nach dem Deutsch-Französischen Krieg zum Objekt des französischen Begehrens nach Revision. Dies wurde dadurch verstärkt, dass sich die französische Politik allgemein nicht damit abzufinden vermochte, dass Frankreich seine europäische Führungsrolle verloren hatte. Der Wunsch nach Revanche beschrieb einen weitgehenden französischen Konsens von links bis rechts und machte den deutsch-französischen Gegensatz zu einem Faktor der europäischen Politik. Dabei war in Paris klar, dass Frankreich allein gegen Deutschland nicht stark genug sein würde und daher auf Partner angewiesen war. Für die deutsche Politik bedeutete dies im Gegenzug, Frankreich zu isolieren. Im Ergebnis schränkte es die Handlungsoptionen auf beiden Seiten ein.

Ein weiteres Element der europäischen Ordnung nach 1871 lag in zunehmenden Konflikten zwischen dem österreichisch- ungarischen und dem russischen Kaiserreich, die sich an beiderseitigen Macht- und Expansionsinteressen in Südosteuropa entzündeten. Dass auf russischer Seite dahinter auch die Ambitionen panslawistischer Bewegungen standen, verweist auf das Konfliktpotential, das der gegen Ende des Jahrhunderts zunehmende Massennationalismus in die internationale Politik trug. Großbritannien schließlich orientierte sich immer mehr an den Interessen seines Empires – und wandte sich erst dreißig Jahre nach der Reichsgründung wieder nach Europa zurück.

Internationale Krisen regelte nach 1871 das »europäische Konzert« der Großmächtediplomatie. Dies geschah stets auf dem Weg situationsbezogener ad-hoc-Diplomatie; institutionalisierte Organisationen oder Konfliktregelungsmechanismen standen hingegen nicht zur Verfügung. Dabei musste das Deutsche Reich damit rechnen, dass Macht Gegenmacht erzeugt, wie sich in der Tat bald zeigte.

Nachdem schon 1873/74 erneute deutsch-französische Spannungen aufgetreten waren, weil Frankreich zunehmende diplomatische Aktivitäten in Richtung Russland entfaltete, sorgten verstärkte französische Rüstungsbemühungen 1875 endgültig für Unruhe im politischen Berlin. Vor diesem Hintergrund erschien am 8. April in der Berliner Tageszeitung Die Post ein Artikel des Publizisten Konstantin Rößler unter der Überschrift »Ist der Krieg in Sicht?«. Da dieses Organ in der Vergangenheit häufiger für offiziöse Zwecke gebraucht worden war, wurde der Artikel in den europäischen Hauptstädten umgehend Bismarck zugeschrieben – und warf die Frage neuerlicher kriegerischer Ambitionen des Deutschen Reiches auf. Das Ergebnis war eine britisch-russische Intervention in Berlin, die Bismarck sehr klar machte, dass hier eine rote Linie verlief: bis hierher und nicht weiter[50] – das wurde in Berlin verstanden, zumal ein Zweifrontenkrieg aus deutscher Sicht als nicht zu gewinnen galt.[51]

Der Status quo wurde mithin zum Maß der Dinge in der Mitte des Kontinents, um die Erschütterung der europäischen Ordnung einzuhegen, die von der deutschen Reichsgründung (und der italienischen Einigung) ausgegangen war. Zugleich trug diese Status-quo-Orientierung das Potential von Doppelstandards in sich, zumal als in den 1880er Jahren eine neue Dynamik in das Staatensystem einzog. Denn die europäischen Kolonialmächte nahmen für sich selbst einen Zuwachs an Macht in Anspruch, den sie aufseiten der anderen als Gefährdung der bestehenden Ordnung ansahen.[52] Damit eröffnete sich das Grundproblem einer Diskrepanz zwischen den Machtpotentialen Deutschlands und seiner in Europa akzeptierten Position.

3Gleichgewicht oder Weltpolitik

Nach 1871 wurde Bismarck vom Zerstörer zum Bewahrer der Ordnung. Nach innen bekämpfte er die katholische Kirche und die Sozialisten als vermeintliche »Reichsfeinde«, und nach außen suchte er das Gleichgewicht der Mächte in der Form von 1871 zu erhalten. Bismarck lernte die Lektion der Krieg-in-Sicht-Krise. Er verkündete, um die »halbhegemoniale Stellung« Deutschlands einzuhegen, das Deutsche Reich sei zufrieden mit dem Status quo – entgegen allen expansiven Ambitionen nationaler oder machtpolitischer Art. In gewisser Weise ähnelte diese Politik der Machtsicherung durch Machtverzicht der bundesdeutschen Politik des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht. Sie geschah allerdings nicht wie nach 1949 durch supranationale Selbsteinbindung, sondern mit dem Anspruch, die Fäden selbst in der Hand zu halten.

In seinem berühmten Kissinger Diktat vom 15. Juni 1877 hielt Bismarck seine Leitlinien fest:

»Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten.«

Was ihm vorschwebte, war nicht das Bild »irgend eines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden«.[53] Oder wie er es später formulierte: »Versuche, einer von dreien zu sein, solange die Welt durch das instabile Gleichgewicht von fünf Großmächten regiert wird.«[54] Mit einem Wort: Es ging darum, auf jeden Fall eine deutsche Isolation zu vermeiden.

Im Jahr des Kissinger Diktats hatten Aufstände gegen die osmanische Herrschaft auf dem Balkan zu einem militärischen Eingreifen Russlands geführt. Das Zarenreich brachte dem Osmanischen Reich eine schwere Niederlage bei und rief durch harte Friedensbedingungen die anderen europäischen Mächte auf den Plan, die eine russische Hegemonie in Südosteuropa fürchteten. Als ein Krieg der Großmächte bevorzustehen schien, lud die deutsche Regierung zu einem Kongress, der vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878 in Berlin tagte. Bismarck schrieb sich die Rolle des »ehrlichen Maklers« zu, der in Wahrheit ein ziemlich perfides Kompensationsgeschäft auf Kosten Dritter vermittelte, um die anderen Großmächte in eine spannungsvolle Balance zu bringen und sie dadurch »von Koalitionen gegen uns« abzuhalten. So wurde Österreich-Ungarn zum Beispiel das Recht zur Besetzung Bosniens und der Herzegowina zugesprochen, was die russische Regierung argwöhnisch machte, oder Zypern vom Osmanischen Reich an Großbritannien überlassen. Zugleich hatte Bismarck dem Deutschen Reich als Hüter des europäischen Gleichgewichts auf dem internationalen Parkett Respekt verschafft.

Grundlage dieser Vermittlungspolitik war, dass Deutschland keine eigenen territorial-expansiven Interessen verfolgte. Das galt auf dem Balkan, und das galt grundsätzlich auch in der Kolonialpolitik, als in den 1880er Jahren das große Rennen der europäischen Mächte um koloniale Macht und imperiale Expansion begann. Zwar nahm auch das Deutsche Reich in dieser Zeit »Schutzgebiete« in Ost-, West- und Südwestafrika unter seine Herrschaft, deren Territorien weit größer waren als das des Deutschen Reiches. Im europäischen Vergleich aber hielt sich Bismarck kolonialpolitisch doch deutlich zurück: »Meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland und hier (…) liegt Frankreich und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.«[55]

Daher betrieb Bismarck eine zunehmend komplizierte Bündnispolitik, um die europäischen Mächtebeziehungen auzutarieren. Dem Zweibund mit Österreich-Ungarn 1879 folgten 1881 das Dreikaiserabkommen mit der Habsburgermonarchie und dem Zaren und 1882 der Dreibund zwischen Berlin, Wien und Rom. 1887 war das Deutsche Reich im Hintergrund stiller Teilhaber des Mittelmeerabkommens zwischen England und den deutschen Dreibundpartnern Italien und Österreich. Dieses besaß mit seiner Verpflichtung auf den Status quo eine Spitze gegen die russischen Interessen auf dem Balkan sowie an den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen, die Bismarck wiederum durch den deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag von 1887 auszugleichen versuchte. Dieses »System der Aushilfen«[56] wurde zunehmend prekär und entfernte sich von den Realitäten eines politischen Ernstfalls – Bismarcks Sohn sagte über den Wert des Rückversicherungsvertrags, er halte »uns im Ernstfall die Russen wohl doch 6–8 Wochen länger vom Halse als ohne dem«.[57] Aber es verhinderte eine russisch-französische Annäherung – das war für die Statik von Bismarcks Machtgefüge entscheidend und markierte zugleich eine wesentliche Schwachstelle. Hinzu kam, dass eine Politik der Machtsicherung durch Machtverzicht in einen zunehmenden Gegensatz zur allgemeinen Dynamik der Hochmoderne und des Hochimperialismus geriet.

Eine Woche nach Bismarcks erzwungenem Rücktritt am 18. März 1890 vermerkte der Unterstaatssekretär des Äußeren, Maximilian Graf von Berchem:

»Eine so komplizierte Politik, deren Gelingen ohnedies jederzeit fraglich gewesen ist, vermögen wir nicht weiter zu führen nach dem Ausscheiden eines Staatsmannes, der bei seiner Tätigkeit auf dreißigjährige Erfolge und einen geradezu magnetisierenden Einfluss im Auslande sich stützen konnte. Aber auch dem Fürsten Bismarck ist es nicht gelungen, aus dem Vertrage Vorteile zu ziehen.«[58]

Dass die deutsche Politik im Jahr 1890 weder den Rückversicherungsvertrag noch die Sozialistengesetze verlängerte, markierte den Willen zum Aufbruch in eine neue Zeit der Bewegung, nach innen und nach außen. »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber«,[59] so Fürst Bülow im Dezember 1897 im Reichstag.

Das Problem für die wilhelminische Politik war nur, eine globale wirtschaftliche und politische Präsenz Deutschlands mit den Anforderungen seiner prekären europäischen Mittellage zu verbinden,[60] zumal unter dem Druck einer schwer kalkulierbaren Massenpresse. Denn diese gewann im späten 19. Jahrhundert (mit einer ähnlichen Wucht des unkontrollierbaren Neuen wie die sozialen Medien zu Beginn des 21. Jahrhunderts) zunehmende Verbreitung und trug zur nationalistischen Aufladung der Öffentlichkeiten in ganz Europa bei. Der neue Kurs der »freien Hand« aber schwenkte seit 1897 von einer Politik der verzichtbereiten Konfliktvermeidung zu einer offensiven nationalen Interessenpolitik um, wie der in diesem Jahr zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes ernannte Alfred von Tirpitz mit seiner Begründung für den Bau einer deutschen Hochseeflotte deutlich machte:

»Wollen wir aber gar unternehmen, in die Welt hinauszugehen und wirtschaftlich durch die See zu erstarken, so errichten wir ein gänzlich hohles Gebäude, wenn wir nicht gleichzeitig ein gewisses Maß von Seekriegsstärke uns verschaffen. Indem wir hinausgehen, stoßen wir überall auf vorhandene oder in der Zukunft liegende Interessen. Damit sind Interessenkonflikte gegeben. Wie will nun die geschickteste Politik, nachdem das Prestige von 1870 verraucht ist, etwas erreichen ohne eine reale, der Vielseitigkeit der Interessen entsprechende Macht?«[61]

Die wilhelminische Politik setzte verstärkt auf hard power und mit der Flotte auf den Inbegriff von Militärmacht im Zeitalter der Schwerindustrie. Die Folge war ein maritimes Wettrüsten mit der britischen Weltmacht zur See, das Deutschland allerdings 1906 verloren hatte. Denn in diesem Jahr lief mit der HMS Dreadnaught in Portsmouth ein neuer Typ von Schlachtschif- fen vom Stapel, dem die deutsche Marine nichts entgegenzusetzen hatte. Die klassische Deutung der deutschen Geschichtswissenschaft besagt, dass die wilhelminische Weltpolitik durch den »Sündenfall« des Flottenbaus die britische Weltmacht herausgefordert, damit die Bildung der britisch-französisch-russischen Entente provoziert und sich schließlich selbst ausgekreist habe.[62]

Allerdings hatten Frankreich und Russland schon 1892 bzw. 1894 eine Übereinkunft getroffen, in der sie sich gegenseitig der Unterstützung versicherten, sollte es zu einem Angriff durch eine der Dreibundmächte unter deutscher Beteiligung kommen. Die britisch-französische Entente cordiale von 1904 ebenso wie die britisch-russische Konvention von 1907 regelte demgegenüber nur konkrete koloniale Streitfragen bzw. politische Gegensätze in Asien. Und doch zeichnete sich mit diesen Verträgen eine Blockbildung in Europa ab, die aus deutscher Warte als »Einkreisung« beklagt wurde.

Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen die politischen Spannungen zwischen den europäischen Mächten erkennbar zu, und eine Folge von Krisen verfestigte die Bündnisse. 1905 brach über den französischen Ambitionen, sich als vorherrschende Macht in Marokko zu etablieren, die erste Marokkokrise aus. Die deutsche Regierung befand sich dabei zunächst in einer günstigen Ausgangsposition. Dann aber versuchte sie – mit einem ähnlichen Kalkül wie in der Julikrise 1914 –, Frankreich zu düpieren, um die Entente cordiale zu sprengen, und bestand auf einer großen internationalen Konferenz, die 1906 in Algeciras tagte. Dort aber fand sich die Reichsregierung, die ihr Blatt überreizt hatte, in diplomatischer Isolierung wieder. Im Ergebnis beförderte sie ihre »Auskreisung«, statt die selbstempfundene »Einkreisung« zu verhindern. Dasselbe Muster griff fünf Jahre später noch einmal mit der zweiten Marokkokrise.

Das Hauptproblem der europäischen Ordnung aber lag auf dem Balkan. Allenthalben wurde der Zusammenbruch der Herrschaft des Osmanischen Reiches in dieser Region erwartet, die sich schon seit Jahrzehnten auf dem Rückzug befand. Unabhängigkeitsbestrebungen der Nationalbewegungen und territoriale Ambitionen der Balkanstaaten trafen auf die kontroversen Interessen der Großmächte, vor allem Österreich-Ungarns und Russlands. 1914 eskalierte, was als südosteuropäischer Regionalkonflikt begann, zur europäischen Katastrophe.

4Selbstbilder: Deutsche Tugenden und »Neider überall«

Die Reichsgründung veränderte die Wahrnehmungen Deutschlands in den Nachbarländern einschneidend. Außerhalb des Landes trat das Bild des gemütlichen, rückständigen Deutschen zurück, das Madame de Staël Anfang des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Übrig blieben ambivalente Deutschlandbilder, die sich um deutschen Militarismus und Expansionismus einerseits und um die Leistungen deutscher Wissenschaft und Kul- tur andererseits gruppierten.[63] Um die Jahrhundertwende setzte dann ein Prozess der zunehmenden Entdifferenzierung, Reduzierung und Pauschalisierung ein, der in eindeutig negative Wahrnehmungen mündete. Dem entsprachen auf deutscher Seite zunehmend einseitige und immer nationalistischere Selbstbilder. Beide Entwicklungen drehten sich wie zwei Spiralen ineinander, wobei der Höhepunkt mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erreicht wurde.

Friedensliebe und Gleichberechtigung

Um mit den deutschen Selbstbildern und den deutschen Kaisern zu beginnen: Durchgängig, von 1871 bis 1914, waren sie von ihrer eigenen Friedensliebe überzeugt.

»Die Achtung, welche Deutschland für seine Selbständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es bereitwillig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, der schwachen wie der starken. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Krieges hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewusst genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbtheil zu bewahren.«[64]

So sprach Wilhelm I. bei der Eröffnung des ersten Reichstags im vereinten Deutschland im März 1871. Kaum anders klang Wilhelm II. im Juni 1888:

»In der auswärtigen Politik bin Ich entschlossen, Frieden zu halten mit jedermann. (…) Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhms noch irgendwelcher Eroberungen, nachdem es sich die Berechtigung, als einige und unabhängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat.«[65]

Nicht zu überhören war die Genugtuung darüber, nicht mehr Spielball anderer Mächte zu sein. Der Deutsch-Französische Krieg und die Reichsgründung 1870/71 wurden in Deutschland als politisch-kultureller Vorzeichenwechsel verstanden, der die zweihundertjährige Vorherrschaft Frankreichs über den Kontinent gebrochen habe.[66] Doch die Selbstwahrnehmung reichte bald weiter: »Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden«,[67] verkündete Wilhelm II. 1896. Das war freilich ein kühner Anspruch. Denn die Weltreichslehre, die zu dieser Zeit einen Höhepunkt erreichte,[68] ging von der Vorstellung aus, das bestehende Staatensystem werde ein Weltsystem mit drei bis vier dominierenden Weltreichen hervorbringen. Die USA, das Vereinigte Königreich und Russland waren sozusagen gesetzt. Blieb die große Frage: Würde Deutschland auch dabei sein? Diese Frage enthielt zugleich die bohrende deutsche Sorge, zu spät zu kommen und im »Kampf ums Dasein« zu unterliegen. Daraus resultierte einerseits Zukunftsangst und andererseits das Gefühl, ungerecht behandelt und benachteiligt zu werden. Bei der »Verteilung der nichteuropäischen Welt« unter die europäischen Mächte sei »Deutschland bislang immer zu kurz gekommen«, beklagte der ursprünglich nationalliberale, dann zunehmend nationalistische Historiker Heinrich von Treitschke zu Beginn der 1890er Jahre.[69]

Nahm man die »Verteilung der nichteuropäischen Welt« als Maßstab, so ließ sich von deutscher Seite aus tatsächlich argumentieren, dass die anderen Mächte zweierlei Maß anlegten. Sie nahmen für sich in Anspruch, weltweit zu expandieren, was sie Deutschland wiederum nicht zubilligten. Für den britischen Diplomaten Eyre Crowe war jedenfalls klar, dass Deutschland kein Weltreich war, und er mokierte sich über die täppischen deutschen Versuche, es zu werden.[70]

In der Selbstwahrnehmung der Reichsleitung nach dem Abgang Bismarcks strebte Deutschland aktiv nach Gleichberechtigung: »Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«[71] Das Jahr 1897 markierte den Auftakt zur wilhelminischen Weltpolitik, in der sich ein Streben nach Gleichberechtigung und das »Gefühl des Zukurzgekommenseins«,[72] Selbstbewusstsein und Unsicherheit mischten.

Deutsches Sonderbewusstsein: Konstitutionalismus und Militarismus

Vor diesem Hintergrund spitzten sich Selbst- und Fremdbilder ab der Jahrhundertwende immer stärker zu. Die Verfassungsform des »deutschen Konstitutionalismus«[73] hatte der Historiker Heinrich von Sybel schon kurz nach der Reichsgründung als Prinzip »geordneter Freiheit« und als Verwirklichung eines gemäßigt liberalen Staatsideals charakterisiert.[74] In der deutschen Geschichtsschreibung, Rechtswissenschaft und Öffentlichkeit – mit Ausnahme der Sozialdemokratie und von Teilen der demokratischen Linken – verbreitete sich vor 1914 zunehmend die Überzeugung, das spezifisch deutsche monarchisch-konstitutionelle Verfassungssystem sei allen anderen überlegen: der russischen Autokratie und dem habsburgischen Vielvölkerstaat ebenso wie den westlichen parlamentarischen Systemen.[75] Liberale und gemäßigt konservative Intellektuelle wie Max Weber, Gustav Schmoller, Otto Hintze, Ernst Troeltsch oder Adolf von Harnack waren von der Überlegenheit eines deutschen Sonderwegs überzeugt. Sie sahen eine effiziente, unbestechliche deutsche Verwaltung und eine soziale Monarchie als Gegensatz zu einer korruptionsanfälligen französischen Demokratie und einer aristokratischen Cliquenwirtschaft des britischen Parlamentarismus. Sie bevorzugten die Balance zwischen unitarischen und föderalistischen Elementen gegenüber dem Zentralismus in Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Und sie waren vom Vorsprung des deutschen Wissenschafts- und Bildungssystems überzeugt.[76] Die scharfe Dichotomie zwischen deutscher »Kultur« und westlicher »Zivilisation«, die im Ersten Weltkrieg so prominente Bedeutung gewann, war hier bereits angelegt.

Die Wertschätzung einer straffen Staatsorganisation anstelle einer parlamentarischen Regierung ging nicht zuletzt von der Überzeugung aus, dass die gefährdete »Mittellage« ein starkes Heer und konsequente Machtpolitik erfordere.[77] Zugleich hatten die gewonnenen Einigungskriege und vor allem der Sieg über Frankreich das Sozialprestige des Militärs noch einmal erhöht. Militärische Berufe gewannen an Ansehen, militärische Verhaltensweisen und militärischer Ehrenkodex wurden zu Leitbildern auch der Zivilgesellschaft.[78] Dass sich ein Ideal der Mannhaftigkeit und der Ablehnung von Weichlichkeit etablierte,[79] war eine Konsequenz der preußisch-deutschen Militärkultur, die sich nach 1871 weiter verfestigte. Eine ihrer Besonderheiten lag, wie der amerikanische Historiker McGregor Knox herausgestellt hat, im Prinzip der Selbständigkeit auf taktisch-operativer Ebene. Denn es führte zu einer besonderen Hochschätzung von persönlicher Tapferkeit und zu einem regelrechten Kult des Willens. Dieser verband sich mit einem Geist der Offensive und der Risikobereitschaft anstelle von »Sentimentalität und weichlicher Gefühlsschwärmerei«, wie der Große Generalstab 1902 formulierte. Die Bereitschaft zum Alles oder Nichts hing mit einer in Deutschland weitverbreiteten Kultur der Unbedingtheit zusammen, aus der im Ersten Weltkrieg sowohl eine – trotz numerischer und materieller Unterlegenheit – besondere Kampfkraft des deutschen Heeres als auch, in Verbindung mit der Militärverfassung, eine faktische Militärdiktatur folgten.[80]

Ein solches Denken war nicht nur eine Sache der Reichsleitung, der aristokratischen und der bürgerlichen Eliten, sondern auch Teil einer breiteren bürgerlichen Kultur, wie sie sich in der allgemeinen Mode der Matrosenanzüge zur Zeit des Flottenbaus zeigte – es war die öffentliche Meinung im Sinne der Definition von Elisabeth Noelle-Neumann, also das, was man öffentlich artikulieren kann, ohne sich zu isolieren. Freilich gab es auch andere Stimmen. Für die satirische Wochenzeitschrift Simplicissimus, die bürgerlich-liberale und linksliberale Leser ansprach, war der politische und gesellschaftliche Einfluss des Militärs immer wieder Stoff für Spott und Kritik – nicht nur, als sich 1906 ein Schuhmacher in Köpenick allein durch eine Hauptmannsuniform und militärische Sprechweise den Gehorsam eines Trupps Soldaten wie auch der zivilen Stadtverwaltung verschaffte. Auch das Frankreichbild des Simplicissimus stand im Gegensatz zur allgemeinen, zunehmend verfestigten Vorstellung von der deutsch-französischen »Erbfeindschaft«; vielmehr stellte das Satireblatt den Nachbarn gerade wegen dessen Revolution, der Trennung von Staat und Kirche und seiner Bereitschaft zur Auflehnung positiv dar.[81]

Die Sozialdemokratie sah sich nach der Reichsgründung einer doppelten Loyalität verpflichtet, einerseits gegenüber dem internationalen Sozialismus, andererseits gegenüber der eigenen Nation.[82] Wiederholt betonten Parteivertreter wie August Bebel die Bereitschaft zur Reichsverteidigung. Anfang des 20. Jahrhunderts lehnte die SPD zwar Flottenrüstung und Militarismus ab, beteuerte aber immer wieder ihre nationale Loyalität.[83]1907 kritisierte der Chemnitzer Abgeordnete und spätere Reichswehrminister Gustav Noske zwar »säbelrasselnde Reden«, sagte aber auch: »Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht etwa von irgendeinem anderen Volk an die Wand gedrückt wird«[84] – wobei die Rede innerparteilich als zu starke Befürwortung des Militarismus kritisiert wurde.[85]

Dass Sozialdemokraten traditionell die Verteidigung gegen das zaristische Russland unterstützten, schlug dabei eine Brücke zum Mainstream-Nationalismus. Denn Russland war das autokratische Feindbild, und zwar nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht.[86] Schon Karl Marx und Friedrich Engels hatten die slawische Kultur als rückständig und asiatisch-despotisch abgewertet. Auch August Bebel dachte in Kategorien einer Hierarchie der Völker, wenn er »Chinesen als ausgesprochen unreinliche Menschen« bezeichnete; er appellierte freilich angesichts des brutalen Vorgehens der Kolonialmächte im Boxer-Krieg, »in dem Fremden auch den Menschen zu sehen«.[87]

Selbstaufwertung durch Fremdabwertung

Das war im Zeitalter des sozialdarwinistisch aufgeladenen Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus keine Selbstverständlichkeit. »Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht«,[88] rief Wilhelm II. den nach China eingeschifften Truppen am 27. Juli 1900 zu. In seiner berühmt-berüchtigten »Hunnenrede« kamen verschiedene Elemente vor 1914 verbreiteter deutscher Selbstbilder zum Vorschein. Zum einen die Vorstellung einer christlichen Kultur, die nichtchristlichen Völkern zivilisatorisch überlegen sei. Ebenso die Vorstellung deutscher Tugenden:

»[S]o sende ich Euch aus, dass Ihr bewähren sollt einmal Eure alte deutsche Tüchtigkeit, zum zweiten die Hingebung, die Tapferkeit und das freudige Ertragen jedweden Ungemachs und zum dritten Ruhm und Ehre unserer Waffen und unserer Fahnen. Ihr sollt Beispiele abgeben von der Manneszucht und Disciplin, aber auch der Ueberwindung und Selbstbeherrschung.«

In zeitgenössischen Appellen an »deutsche Tugenden« lassen sich fünf Komplexe identifizieren: erstens Pflicht, Treue und Gehorsam; zweitens Tapferkeit; drittens Ernst, Zurückhaltung und Innerlichkeit; viertens: Arbeit, Fleiß und Tüchtigkeit, Disziplin, Gründlichkeit und Exaktheit; und fünftens: Ehrfurcht und Religion, Ehre und Sittlichkeit.[89] Daraus resultierte die Vorstellung einer »Kulturaufgabe des Deutschen Reiches«, die sich mit dem Bewusstsein der moralisch-kulturellen Überlegenheit verband: »Am deutschen Wesen wird einmal noch die Welt genesen.«[90] Und dieses Bewusstsein wiederum ging einher mit einer Abwertung des Bildes von den anderen.

China[91] hatte sich von Marco Polo bis Gottfried Wilhelm Leibniz europäischer Hochschätzung für seine Kultur erfreuen können, war aber seit dem 19. Jahrhundert, nicht zuletzt von Kant, Herder und Hegel, zunehmend negativ gesehen worden. In den 1870er und 1880er Jahren galt China als ein exotisches Land, der Chinese – im zeittypischen Kollektivsingular – zugleich als »Ideal einer menschlichen Arbeitsmaschine«.[92] Karl May stellte sich Chinesen als klein und schwächlich, listig und verschlagen, gefühllos und grausam vor, da sie etwa ein Huhn bei lebendigem Leibe rupften und brieten.[93]

Wenn Michael Georg Conrad 1895 in seinem Roman »In pupurner Finsterniss« von »Millionen-Horden« von »Schlitzaugen und Schlenkerbeine[n]« sprach,[94] dann deutete er mit dieser Zahl zugleich auf die »gelbe Gefahr« hin, von der seit den 1890er Jahren die Rede war.[95]