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Frühe Verlusterfahrungen und deren Aufarbeitung
Viele Menschen gehen oft jahrelang in Therapie, um sich von ihren Verlustängsten, unerklärlichen Schuldgefühlen, ihrer Panik in engen Räumen oder anderen unangenehmen Gefühlen zu befreien. Der eigentliche Hintergrund ihrer Probleme wird manchmal erst im Laufe einer solchen Therapie aufgedeckt: Noch im Mutterleib wurden die Betroffenen von einem damals abgegangenen Zwillingskind getrennt. Seither leiden sie – meist unbewusst – unter den Auswirkungen dieser vorgeburtlichen Trennung.
Evelyne Steinemann stellt mit Beispielen aus der therapeutischen Praxis dieses bislang wenig bekannte und unterschätzte Phänomen vor: Weit mehr Zwillinge sterben unbemerkt vor der Geburt als tatsächlich geboren werden. Die Fallbeispiele zeigen, wie dieses Verlusttrauma das Leben prägen und wie es überwunden werden kann.
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Seitenzahl: 202
1998 hörte ich zum ersten Mal etwas vom »verlorenen Zwilling«. Ich gebe gern zu, dass ich den Gedanken, dass ein vor der Geburt verstorbenes Zwillingsgeschwister auf das Leben eines Menschen irgendeinen Einfluss haben könnte, damals ernsthaft in Zweifel zog. In diesem Zusammenhang erzählte mir jemand von einem Familienaufstellungsseminar, in dem das Zwillingsthema gleich mehrfach auftauchte. Nichtsdestotrotz – oder gerade deshalb – fühlte ich mich in meiner Annahme bestätigt, dass es sich dabei um eine unwahrscheinliche Hypothese handeln müsse.
Offensichtlich muss doch mehr Berührung stattgefunden haben, als mir seinerzeit bewusst war. Jedenfalls begann ich eigene Beobachtungen anzustellen. Mir fiel auf, dass Menschen, wenn es darum geht, in der Therapie ihr Problem zu schildern, oft auffällige Formulierungen benützen, zum Beispiel: »Ein nicht eingehaltener Rückkehrtermin meines Partners löst in mir massive Panik aus. Und ich bin überzeugt davon, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein muss und ich allein zurückbleibe.« Manche fühlen sich dann wie gelähmt oder fürchten, ihre ganze Lebensenergie zu verlieren, wenn sie von ihren Partnern verlassen werden. Andere schildern, dass sie, um Gefühle wie Leere und Einsamkeit nicht ertragen zu müssen, auch demütigende und zerstörerische Beziehungen eingehen und aufrechterhalten. Hauptsache, nicht allein!
Wieder andere fühlen sich innerlich getrieben und suchen nach etwas, ohne zu wissen, wonach, und sogar in einer festen Beziehung kommen sie nicht zur Ruhe. Einigen fällt es schwer, den eigenen Geburtstag zu feiern. Am liebsten würden sie jeweils von der Bildfläche verschwinden. Oder sie haben eine Krise, die bis zur Depression führen kann. Dann gibt es Menschen, die vom plötzlichen Gefühl der Leere sprechen, welches sich, wenn sie es zulassen, anfühlt wie ein endloser Sog ins Nichts und in die Selbstauflösung. Um diesen Zustand nicht spüren zu müssen, flüchten manche in die Arbeit, in Süchte oder andere eigenartige »Ressourcen«.
Einen unvergesslichen Abend erlebte ich mit einer Berufskollegin in einem Restaurant. Ich schilderte ihr meine anfänglichen Bedenken und erzählte von meinen neuesten Erfahrungen bezüglich der Hypothese des »verlorenen Zwillings«, welche mir in der Zwischenzeit schon nicht mehr so abwegig erschien. Der Kellner brachte gerade unser wunderbares Essen, als meine Kollegin wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl aufsprang und in rasendem Tempo Richtung Toilette verschwand. Es dauerte ziemlich lange, bis sie wieder auftauchte. Nachdem sie sich gefangen hatte, erzählte sie mir, weshalb sie so unmittelbar eine Durchfallattacke erlebte:
»Ich habe es mir bisher noch nie so überlegt. Mein Mann und ich leben ganz klar, als wären wir Zwillinge, was mich oft unglaublich traurig macht. Die Tatsache, dass mir etwas fehlt, erlebte ich auf dramatische Weise im ersten gemeinsamen Urlaub am Anfang unserer Beziehung. Wir hielten unterwegs an, um in einem Restaurant zu essen. Irgendwann ging er zur Toilette und ich geriet in absolute Panik. Ich war überzeugt davon, dass, wenn er nicht mehr zurückkäme von der Toilette, es mir nicht mehr möglich wäre, diesen Ort zu verlassen. Das hieße, ich müsste für immer in Italien bleiben. Ohne die Sprache zu verstehen, müsste ich eine Stelle suchen usw. ... völlig jenseits jeder Realität. Ab dem Moment ging das während des ganzen Urlaubs so weiter. Es war schrecklich.«
Damals wusste ich noch nichts von Trauma-Therapie und ich verstand nicht, dass das Gespräch über dieses Thema im Körpergedächtnis meiner Kollegin deren eigenes Trauma aktiviert hatte. Der Begriff »Aktivierung« wird unter anderem in der Trauma-Therapie verwendet und bedeutet, dass ohne ersichtlichen Zusammenhang plötzlich: Trauer, Wut, Gähnen, Müdigkeit, Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Widerstand, Langeweile, Hustenanfall oder Ähnliches auftreten. Aktivierungen entstehen, wenn das Körpergedächtnis sich durch einen äußeren Auslöser an ein ungelöstes Trauma erinnert.
Mit diesem Buch möchte ich auf keinen Fall jeder Leserin und jedem Leser einen verlorenen Zwilling »andichten«. Aus meiner Praxis weiß ich jedoch, dass es viele Menschen gibt, die schon seit Jahren auf der Suche nach der Lösung ihres Problems sind – und dieser Aspekt könnte vielleicht der Schlüssel dazu sein. Neulich brachte es eine Klientin auf den Punkt:
»Das Schwierige an der Zwillingsgeschichte ist, dass sie so tief im Unbewussten schlummert. Alle Probleme, die man bewusst erlebt hat, kann man aufarbeiten. Die sind sozusagen einfach gegen etwas, was aus der embryonalen Zeit stammt. Ich habe das ganze Leben versucht, Klarheit über mein ›Leiden‹ zu kriegen. Die Frage, ob ich nach etwas gesucht hätte, konnte ich nicht beantworten. Jetzt ist mir aber klar, dass ich mich das ganze Leben gefragt habe, was ich bloß angestellt habe, dass es mir so schlecht geht. Die ganzen Therapien dienten genau dieser Suche. Was ich erlebt habe bei vielen Therapieformen, war, dass nur wenige bei mir gegriffen haben. Meistens ging es um Familiengeschichten, Selbstbewusstseinsprobleme oder ähnlich ›Greifbares‹, ich schaute auf die Leute in der Gruppe, hörte deren Geschichten und dachte immer, mein Problem ist nicht dabei. Ich hatte das Gefühl, ich konnte mich so ›entgrenzen‹, dass ich mich verflüssigte und irgendwie gar nicht mehr da war. Ich hatte über Jahrzehnte das Gefühl, keine Struktur und auch keinen Charakter zu haben, auch keine Stabilität. Ich dachte, ich kann so sein oder auch so. Ich bin so dünnflüssig, dass ich mich allem anpassen kann. Aber von dem Moment an, als ich mit einem Partner in einer Beziehung war, blieben alle Symptome weg: keine Erschöpfungszustände, keine Angstzustände, keine Panik. Mein Körper war völlig normal. Und in der Zeit brauchte ich auch keine Therapie. Endlich war alles normal. Denkste, dann war er weg. Und es ging 30 Etagen tiefer wieder weiter.«
Selbst wenn viele Punkte in diesem Buch mit Ihren Erfahrungen und Gefühlen übereinstimmen, muss das noch nicht bedeuten, dass Sie einen »verlorenen Zwilling« haben. Mir geht es mit diesem Buch darum, Impulse zu geben, die möglicherweise einen Prozess in Gang setzen können. Auch unterbrochene Verbindungen zu den Eltern können teilweise ähnliche Wunden verursachen.
Meine Beobachtungen sind phänomenologisch und bisher nicht durch weitergehende Untersuchungen bestätigt. Eine Theorie lässt sich daher noch nicht ableiten. Im Hinblick darauf, dass durch die vermehrt in Anspruch genommene Reproduktionsmedizin immer mehr Zwillinge und Mehrlinge im Mutterleib verschwinden, wäre es wünschenswert, dass baldmöglichst gezielte Studien sowohl auf wissenschaftliche wie auf phänomenologische Weise durchgeführt werden.
Laut embryologischer Forschungen führen ungefähr 30 Prozent aller Zeugungen am Anfang zu Zwillings- oder Mehrfachbefruchtungen. Die Amerikanerin Elizabeth Noble, eine führende Kapazität auf dem Gebiet der vorgeburtlichen Psychologie, geht in ihrem Buch Having Twins davon aus, dass der Anteil von zwei oder mehr befruchteten Eizellen zu Beginn der Schwangerschaft zwischen 30 und 80 Prozent liegt. Geboren werden jedoch höchstens etwa drei bis fünf Prozent Zwillinge oder Mehrlinge. Selbst wenn das Phänomen des verlorenen Zwillings »nur« 20 Prozent der Schwangerschaften betreffen würde, wäre bereits jeder Fünfte von uns nicht allein im Mutterleib gewesen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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