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Es ist etwas passiert in den letzten dreißig Jahren. Immer weniger Menschen vertrauen den Institutionen dieses Landes – weder der Regierung noch den Medien, noch nicht einmal der Wissenschaft. Doch wie konnte es so weit kommen? Die preisgekrönte Journalistin Anita Blasberg rekonstruiert die schrittweise Erosion des Vertrauens – am Beispiel ihrer eigenen Mutter und entlang historischer Bruchstellen und Protagonisten. Da ist ein junger Treuhandmanager, der achtzig ostdeutsche Betriebe in zwei Jahren verkauft; da ist eine Klinikärztin, die ihre Patienten schneller entlassen soll, als ihr lieb ist; da sind Politiker, die nach der Finanzkrise ihre eigene Ohnmacht bestaunen und dann fast alles beim Alten belassen. Packend und schonungslos ergründet Anita Blasberg eine der dringlichsten Krisen unserer Zeit. «Ein bemerkenswertes Buch!» Maja Göpel «Anita Blasberg erzählt so unaufgeregt wie eindringlich, warum das Vertrauen von immer mehr Deutschen in ihren Staat so erschüttert ist. Sie zeigt, was das macht mit unserem Land – und mit den Menschen, im Osten wie im Westen.» Florian Illies «Das ist das Thema der Stunde. Ich habe schon lange nicht mehr ein Buch gelesen, das so viel in mir ausgelöst hat. Ich hoffe, es werden viele Menschen lesen. Unsere Gesellschaft hat es nötig.» Verena Hasel «Anita Blasberg kann so hinreißend erzählen, dass man mitten ins Geschehen geworfen wird und gleichzeitig eine messerscharfe Analyse des Erlebten serviert bekommt.» Anja Reschke, NDR «Anita Blasberg, eine der besten Reporterinnen des Landes, hat ein ebenso wichtiges wie großartiges Buch geschrieben.» Patrick Bauer, SZ-Magazin «Leseempfehlung! Anita Blasberg geht dem gefährlichen Vertrauensverlust gegenüber Politik, Medien und Wissenschaft auf die Spur. Ausgehend von Gesprächen mit ihrer Mutter, doch mit gesamtgesellschaftlichem Blick. Sehr überzeugend.» Gerhard Schick
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Anita Blasberg
Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam
«Meine Mutter hegte schon lange den Verdacht, dass es der Politik nicht mehr um die Menschen ginge, sondern vor allem um die Wirtschaft. Und anstatt auf die Probleme schauten Politiker und Journalisten in ihren Augen lieber auf das problematische Volk. Meine Mutter sah, wie es wahlweise bemitleidet und seine ‹Sorgen und Nöte ernst genommen›, es in anderen Momenten aber beleidigt wurde.»
Anita Blasberg möchte verstehen, was ihre Mutter und so viele andere Menschen entfremdet hat von der Politik. Sie fährt zu ihrer Mutter und begibt sich nach intensiven Gesprächen mit ihr auf eine Reise. Sie trifft Franz Müntefering, den ehemaligen Vizekanzler, Charlotte Nick, eine Hamburger Klinikärztin, Gabriele Gebhardt, eine Baumaschinenzeichnerin aus Halle. Sie spricht mit der Bochumer Stadtkämmerin Eva-Maria Hubbert und Christian Kastrop, jenem Berliner Ministerialbeamten, der die Schuldenbremse erfunden hat. Ihre Geschichten und die aller anderen Protagonisten des Buches offenbaren die tiefer liegenden Gründe dafür, warum sich die Bande zwischen dem Land und seinen Bürgern gelöst haben, warum das Vertrauen schwindet.
Anita Blasberg, 1977 in Düsseldorf geboren, studierte Sozialwissenschaften, Politik, Psychologie und Germanistik. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Redakteurin und Reporterin für DIE ZEIT. Zuletzt entwickelte und leitete sie gemeinsam mit Dorothé́e Stöbener das neue Ressort Entdecken. Sie wurde mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Für die Fernsehreportage «Die Weggeworfenen» erhielt sie u.a. den Prix Italia. Blasberg hat zwei Söhne und lebt mit ihrer Familie bei Hamburg.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
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ISBN 978-3-644-01077-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Prolog
Der Verlust
Womit fing es an, Mama?
The Winner Takes It All
Richard J. Flohr
Kalle Weniger
Gabriele Gebhardt
Richard J. Flohr
Gabriele Gebhardt
Kalle Weniger, Richard J. Flohr, Gabriele Gebhardt
Der Verrat
Franz Müntefering
Sabine Christiansen
Gabriele Gebhardt
Franz Müntefering
Kalle Weniger
Franz Müntefering
«Wir müssen alle die Ärmel hochkrempeln»
Charlotte Nick
Bernard große Broermann
Roland Berger
Charlotte Nick
Bernard große Broermann
Charlotte Nick
Bernard große Broermann
Charlotte Nick
Das Geld der Anderen
Rainer Voss
Gerhard Schick
Rainer Voss
Gerhard Schick
Wutbürger (I)
Daniel Kartmann
Moralische Verletzungen
Heimat
Serpil Unvar
Semiya Şimşek
Serpil Unvar
Die Saat des Zweifels
Marc Morano
Michael Mann
Marc Morano
Michael Mann
Marc Morano
Die schwäbische Hausfrau
Christian Kastrop
Eva-Maria Hubbert
Christian Kastrop
Wutbürger (II)
Marion Stöbbe
Unbeabsichtigte Konsequenzen
Gabriele Gebhardt
Die verlorene Zeit
Stefan Rahmstorf
Ein Business Case wie jeder andere
Die Röhre
Andrij Melnyk
Die Röhre
Andrij Melnyk
Die Röhre
Andrij Melnyk
Wie können wir das Vertrauen zurückholen?
Dank
Literatur
Manchmal hilft es, zu den Affen zu gehen, um die Menschen zu verstehen. Zu den Schimpansen zum Beispiel. Schimpansen sind gesellige Wesen, ganz ähnlich wie wir Menschen. Im Prinzip leben sie so wie wir: arbeitsteilig und in Gruppen. Sie jagen gemeinsam, sie essen gern gemeinsam, und wenn Schimpansen, etwa in der westafrikanischen Steppe, einen kleinen Stummelaffen fangen, ihn gemeinsam zerlegen und teilen, würde man ihnen ihre Zufriedenheit ansehen. Spätestens wenn sie sich auf ihre Hintern hockten und die Beute in ihre Mäuler stopften. Denn jetzt würden sie Oxytocin ausschütten, das Glückshormon, das ihre gegenseitige Bindung festigt.
Wie Menschen bauen Schimpansen stabile Beziehungen auf, denn sie sind aufeinander angewiesen: Sie können nicht nur, sie müssen zusammenarbeiten, damit es jedem Einzelnen gut geht. Schimpansen und Menschen haben eine Sache gemeinsam: Vertrauen ist für sie überlebenswichtig.
Nur in der Gruppe können sie sich gegen Feinde verteidigen, ihre Ernährung sichern. Ein von der Gruppe separiertes Tier könne jederzeit getötet werden, sagt der Affenforscher Roman Wittig.
Seit vielen Jahren beobachtet Wittig, ein Verhaltensbiologe am Max-Planck-Institut, das Sozialleben der Schimpansen in freier Wildbahn. Jedes Jahr verbringt er viele Wochen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste, dem größten noch unberührten Regenwald in Westafrika.
Das Zusammenleben der Schimpansen werde ähnlich wie bei den Menschen von Normen geregelt, sagt Wittig. Schadeten einzelne Tiere anderen zu oft, zerstörten sie das Vertrauen innerhalb ihrer Gruppe. Doch eine Gruppe mit gestörtem Vertrauen werde schwächer. Bis sie am Ende zerfällt.
Wittig sagt: Bei den Schimpansen könne man gut beobachten, was passiert, wenn Vertrauen enttäuscht wird. Würde einer der Affen einem anderen etwas wegnehmen, ginge die ganze Gruppe gegen den Dieb vor. Die Schimpansen achten die Norm der Fairness: Wer zu egoistisch ist, wird gemieden, Schmarotzer können bestraft werden. Bekommt einer der Affen nach der gemeinsamen Jagd nichts von der Beute ab, wirft er sich wütend auf den Boden, scheinbar fassungslos, wie ihm das widerfahren konnte – das Entsetzen ist groß, wenn sich das Vertrauen, das einen eben noch trug, auflöst.
Interessant aber sei, sagt Wittig, was dann passiere: Innerhalb weniger Minuten kämen die anderen Schimpansen herbei und umringten den Zornigen, um sein Fell zu pflegen und ihn ausgiebig zu liebkosen. Als wollten sie sein verletztes Vertrauen heilen. Denn was, wenn der enttäuschte Affe beim nächsten Mal nicht mehr mitjagt? Wenn er mit den anderen Gruppenmitgliedern nicht mehr kooperiert? Die Schimpansen, sagt Wittig, täten alles, was in ihrer Macht steht, um sein Vertrauen zurückzuholen.
Sie scheinen zu wissen, wie wertvoll es für ihr Zusammenleben ist. Menschen können das leicht vergessen. Anders als die Affen leben sie heute meist in ziemlich anonymen Verbänden. Unsere Welt ist immer grenzenloser geworden, immer schneller und komplexer. Kaum einer kann sie mehr überblicken. Unser Leben basiert auf Vertrauen, ohne dass wir es merken. Wir essen Dinge, die in Ländern hergestellt werden, in denen wir noch nie waren. Wir steigen in Flugzeuge, die von Maschinen gesteuert werden, die wir nicht verstehen. Wir vertrauen darauf, dass Geld aus dem Automaten kommt, dass die Spritze einer Impfung wirkt, dass alle Autofahrer bei Rot bremsen.
Ohne Vertrauen, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann, könnte der moderne Mensch gar nicht sein Bett verlassen: «Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn.»[1]
Ohne Vertrauen könnten wir nichts im Internet einkaufen, keine Überweisung im Voraus tätigen. Ohne Vertrauen würden weder der Kapitalismus noch die Demokratie funktionieren.
Mit jedem Kreuz, das wir bei einer Wahl setzen, schenken wir Vertrauen. Die Abgeordneten im Parlament sollen uns und unsere Interessen vertreten. Um diesen Vertrauensvorschuss zu rechtfertigen, sind unserem politischen System Kontrollmechanismen eingebaut worden: Das Parlament kontrolliert die Regierung, der Bundesrat den Bundestag, das Bundesverfassungsgericht und die Medien kontrollieren alle drei. Und wenn wir nach vier Jahren dennoch nicht zufrieden sind, können wir für eine andere Regierung stimmen.
Am 6. Mai 2020, anlässlich der Corona-Pandemie, sprach die damalige Bundeskanzlerin über Vertrauen. Angela Merkel sagte: «Die gesamte Bundesrepublik ist aufgebaut auf Vertrauen.» Was sie wohl meinte: Vertrauen ist ein Fundament. Wenn das wackelt, wackelt der ganze Rest.
Die meisten Menschen verzichten auf eine egoistische Handlung, wenn sie davon ausgehen, dass die anderen das auch tun. Sie zahlen ihre Steuern, schmeißen den Müll nicht auf die Straße und betrügen nicht bei Ebay. Wer der Gesellschaft um sich herum vertraut, hält sich an Regeln. Auch wer dem Staat vertraut, dass er diese Regeln für alle fair durchsetzt, wird sich an sie halten. Nur wer glaubt, es halte sich ohnehin keiner an die Vorschriften, will nicht der einzige Dumme sein.[2]
In Ländern, in denen sich die Menschen untereinander stark vertrauen wie in Schweden oder Dänemark, sind die Kriminalitätsraten niedriger, gibt es weniger Korruption, dafür mehr ökonomische Stabilität, mehr zivilgesellschaftliches Engagement[3] – und umgekehrt: Fehlt einer Gesellschaft Vertrauen, wie derzeit etwa der US-amerikanischen, steigt die Wahrscheinlichkeit für irrationales Handeln. Für einen kollektiven Schaden.
Vertrauen ist wie ein starkes Netz, das Gruppen verbindet und zusammenhält: Wenn Menschen spüren, dass man ihnen vertraut, erwidern sie das ihnen entgegengebrachte Vertrauen.[4] Wenn wir anderen Menschen, Gruppen oder Institutionen vertrauen, geht es uns gut. Wir müssen dann nicht ständig über ihre Absichten und Motive nachdenken, auch keine Energie aufwenden, um ihnen hinterherzurecherchieren. Wir müssen nicht ständig auf der Hut sein, sondern können uns schöneren oder wichtigeren Dingen widmen.
Wenn wir anderen Gruppen oder der Gesellschaft als Ganzes vertrauen, leben wir nicht nur länger, wir leben auch gesünder.[5] Vertrauen schützt nicht nur die Einzelnen, vor Depressionen zum Beispiel; es schützt auch die Gesellschaft als Ganzes, wie sich in der Corona-Pandemie zeigt: So sind im vertrauensreicheren Kanada bislang in Relation zur Bevölkerung rund dreimal weniger Menschen am Virus gestorben als im zerrissenen Nachbarland USA[6] – obwohl nicht nur die Gesundheitssysteme vergleichbar sind.
In der gesamten Geschichte der Menschheit, schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, blühten stets jene Gesellschaften, in denen ein gegebenes Wort ein Ehrenwort war und «ein Handschlag so viel galt wie eine Unterschrift»[7] – vom indischen Mogulreich bis zum Amerika der Fünfzigerjahre. Je größer das Vertrauen innerhalb der Gruppe, desto größer der Wohlstand[8] – und umgekehrt: Kaum etwas gefährdet den Reichtum eines Landes mehr als innere Konflikte.
Doch Vertrauen lässt sich nicht erzwingen, es lässt sich nicht herbeiwünschen und auch nicht kontrollieren. Über Vertrauen denken wir überhaupt erst nach, wenn es verloren ist. Wir bewohnen ein Klima des Vertrauens, so wie wir in der Atmosphäre leben, schreibt die neuseeländische Philosophin Annette Baier. Wir nehmen es wahr wie die Luft – nämlich erst dann, wenn es knapp wird oder verschmutzt ist.[9]
Wenn Schimpansen das Vertrauen in ihre Artgenossen verlieren, schmeißen sie sich auf den Boden. Wenn Menschen das Vertrauen ineinander verlieren, gehen sie getrennter Wege. Wenn sie das Vertrauen in ihre Regierung verlieren, wählen sie sie ab. Was aber passiert, wenn zu viele gleichzeitig ihr Vertrauen in das gesamte System verlieren?
Begann es mit Kohls Spendenaffäre? Schröders Agenda 2010? Dem Kosovo-Krieg? Ist es nun zwanzig Jahre her, dreißig – oder noch viel länger?
Wann es genau anfing, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Aber ich weiß ziemlich sicher, womit es endete.
Es war im April 2020, die Welt hatte gerade gelernt, das Wort SARS-CoV-2 zu buchstabieren, Deutschland schloss sich zum ersten Mal weg, und ich stand im zaghaft blühenden Garten hinter unserem Haus. Die Vögel zwitscherten. Am Ohr klemmte mein Smartphone.
«Mama, passt ihr auch auf?»
«Ach, Corona!» Ich hörte ein langes Ausatmen. «Können die Medien auch mal über was anderes berichten? Warum wird da jetzt so eine Panik geschürt?»
«Na ja, überall in Europa sterben Menschen…»
Die Stimme in der Leitung klang auf einmal metallisch. «Und wieso wurde nie ein Aufhebens um die 20000 gemacht, die zum Beispiel 2018 an der Grippe starben?»
«Weil das hier ein völlig neues Virus ist, das sich rasend schnell verbreitet und gegen das wir alle keine Immunabwehr haben.»
Schweigen.
Ich holte Luft. «Du glaubst doch nicht etwa auch, das sei alles erfunden?»
«Nein, aber diese Statistiken …»
«Was ist mit den Statistiken?»
«Ich habe da meine Zweifel.»
In meinem Bauch war plötzlich ein Knoten. «Okay», hörte ich mich sagen. «Tragt ihr wenigstens Maske?»
«Müssen wir ja.»
«Vielleicht kommt ja bald die Impfung.»
«Ach, die Impfung!» Wieder Metall. «Du weißt ja, wer davon profitiert …»
«Die Pharmakonzerne?» Der Knoten schnürte mir inzwischen die Luft ab. Ich konzentrierte mich auf die wärmende Frühlingssonne. «Sag mal, Mama, glaubst du eigentlich an gar nichts mehr?»
«Nein, Anita. Ich glaube an fast gar nichts mehr.»
Da war es raus.
Stellen Sie sich eine zierliche Frau vor, einundsiebzig Jahre alt. Die langen Haare fast weiß, um die Augen hat sie Lachfalten, ihre Stimme klingt noch so jung wie früher. Wenn sie Zug fährt, unterhält sie sich mit wildfremden Menschen, und wenn sie aussteigt, stecken in ihrer Tasche Zettel mit Namen und Telefonnummern. In den Siebzigern verehrte sie Helmut Schmidt, in den Achtzigern begeisterte sie sich für die Grünen, es musste doch Fortschritt geben. Sie hat die deutsche Verfassung gelesen und Bundestagsdebatten im Fernsehen verfolgt. Wenn sie über die Wiedervereinigung spricht, kommen ihr heute noch die Tränen. Fünf Jahrzehnte lang wählte diese Frau mit großem Ernst, mal strategisch, mal voller Überzeugung. Heute muss sie sich zur Wahl zwingen. Sie misstraut dem Bundeskanzler ebenso wie den meisten Parteien. Sie hält viele Medien für naiv, die Institutionen für abgehoben.
Dies ist ein Buch über meine Mutter. Und eines über einen großen Verlust.
Vielen Menschen in diesem Land ist ihr Vertrauen abhandengekommen, nicht ein wenig, sondern fundamental. Und dieser Verlust betrifft nicht nur ein paar wenige am Rand der Gesellschaft. Am Ende des Jahres 2021 hat laut einer Studie der Körber-Stiftung fast jeder Dritte hierzulande das Vertrauen in die Demokratie verloren.[1] Nur noch jeder Dritte vertraut der Bundesregierung, gerade noch jeder Fünfte den Parteien.[2] Mehr als ein Drittel der Menschen glaubt, dass es keinen Unterschied mehr mache, wer dieses Land regiert.[3]Nur noch 12 Prozent sind im Jahr 2020 davon überzeugt, dass unser wirtschaftliches System für sie arbeitet.[4] Eine überwältigende Mehrheit fürchtet, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst.[5]
Es scheint fast, als wäre das Vertrauen in diesem einst so vertrauensseligen Land geschmolzen, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Als hätte es sich davongestohlen wie das Wählscheibentelefon, der Trabant oder die Vorherrschaft des Westens.
Doch nicht nur bei uns, überall auf der Welt ist das Vertrauen erodiert, bis weit in die Mitte der westlichen Gesellschaften hinein. Nicht nur ein paar Durchgeknallte haben Donald Trump zum Präsidenten gewählt, sondern 62 Millionen Amerikaner. Die Hälfte der britischen Wähler hat sich für den Brexit entschieden. Und nicht nur ein paar Rassisten haben für Jair Bolsonaro gestimmt, sondern 55 Prozent der Brasilianer, darunter nicht wenige Schwarze.
Die Saat der Populisten war aufgegangen – nicht weil sie so überzeugende Konzepte gehabt hätten, sondern weil immer mehr Menschen ihren Glauben an das bestehende System eingebüßt hatten.
Der Rohstoff des Vertrauens war von Jahr zu Jahr knapper geworden – selten erschien die Welt gespaltener als heute. Die Reichen misstrauen den Armen, die Alteingesessenen den Neuhinzugekommenen, die Menschen auf dem Land jenen in der Hauptstadt – und jeweils umgekehrt. Doch der Riss verläuft nicht nur innerhalb staatlicher Grenzen. In seiner existenziellen Dimension lässt sich der Vertrauensverlust wohl kaum besser erfassen als mit Russlands völkerrechtswidrigem Krieg gegen die Ukraine. Im Jahr 1994 noch – zu Beginn einer zuversichtlichen Epoche – hatte die Ukraine sämtliche Atomwaffen freiwillig abgegeben und den Sicherheitsgarantien der beiden Großmächte Glauben geschenkt. 28 Jahre später wurde sie von der einen überfallen und von der anderen nicht beschützt. Konnte man Vertrauen radikaler zerstören?
Heute ist die Welt konfrontiert mit einer Multikrise – bestehend aus Krieg und Klimawandel, heraufziehender Inflation und Energieknappheit, Ungleichheit und Autokratisierung. Das internationale System: geprägt von zerfallender Ordnung und Misstrauen.
Dabei war Vertrauen noch nie so wichtig wie heute: Denn wie anders als mit internationaler Kooperation ließen sich die globalen Probleme der Gegenwart lösen? Wie anders ließe sich das Völkerrecht gegen seine Angreifer verteidigen? Wie anders der Klimawandel bekämpfen, die Flucht in Steueroasen oder eine grenzüberschreitende Pandemie?
Die Mitgliedsstaaten der Nato müssen einander vertrauen, dass sie sich im Falle eines Angriffs beistehen. Regierungen und Bürger müssen Virologen und Klimawissenschaftlern ihre Vorhersagen glauben, um angemessen handeln zu können. Auch um sich impfen zu lassen, müssen Menschen vertrauen: den Informationen der Medien, den Absichten der Regierung, der Redlichkeit der Impfstoffhersteller. Und wenn Politiker den CO2-Ausstoß in ihren Ländern drosseln sollen, um die Erderwärmung zu bremsen, dann müssen sie imstande sein zu glauben, dass die anderen Länder der Erde dies ebenso tun werden.
Keine Staatsform auf der Welt ist dabei mehr auf Vertrauen angewiesen als die repräsentative Demokratie. Denn anders als die autokratische Herrschaft basiert sie auf dem Finden eines Kompromisses. Eine Gruppe gibt heute nach, im Vertrauen darauf, dass die andere es morgen tut.
Wenn Menschen in einer Kirche ihren Glauben verlieren, fällt die Kirche in sich zusammen, schreibt der amerikanische Journalist David Brooks. Wenn Menschen in einem Staat das Vertrauen in ihre Institutionen und ineinander verlieren, fällt der Staat in sich zusammen.[6]
Vertrauen ist leicht zu zerstören, aber schwer wieder zu gewinnen. Wie also konnte uns das passieren?
Meine Mutter sagt: «Wir werden als Bürger nicht ernst genommen.» Sie glaubt, es gelte nur noch das Recht des Stärkeren. Sie fragt: «Wie viele Sondersendungen gab es über den Klimawandel, über die viel zu schlechten Arbeitsbedingungen von Krankenschwestern? Und was hat sich geändert? Genau.»
Meine Mutter zählt sich nicht zu den Querdenkern, sie hat noch nie mit der AfD sympathisiert. Sie war immer eine ziemlich typische Deutsche: um 20 Uhr die Tagesschau, im Sommer ein längerer Urlaub, alle vier Jahre ein Kreuz. Eine Arbeiterkindheit im zerbombten Ruhrgebiet, Ausbildung zur Sekretärin, zwei Kinder, ein Mittelschichtsleben ohne existenzielle Bedrohung. Erst profitierte sie vom Wiederaufbau der Fünfziger-, dann vom Wirtschaftswachstum der Sechziger-, schließlich vom sich ausweitenden Sozialstaat der Siebzigerjahre, als Angehörige einer Generation, für die es immer nur aufwärts zu gehen schien. Heute lebt sie von einer ausreichenden Rente.
Meine Mutter ist eine verlässliche Staatsbürgerin, sie hält sich an alle Regeln. Sie hatte ziemlich oft die SPD gewählt, jetzt las sie im Internet, wie deren Chefin Menschen, die wie sie dachten, «Covidioten» nannte.
Jetzt dürfe man nicht mal mehr Kritik äußern, sagt meine Mutter. Dabei hatte sie im Jahr 2020 vor allem Fragen: Ist es noch ein funktionierendes System, wenn es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland nicht gelingt, die Intensivstationen mit genügend Personal auszustatten? Warum konnte die Regierung einen Reisekonzern mit Milliarden retten, es aber nicht schaffen, die Alten in den Pflegeheimen zu schützen? Warum zwingen die Behörden Erstklässler, selbst auf dem Pausenhof Masken zu tragen, aber lassen die Firmen in ihren Großraumbüros gewähren?
Meine Mutter hat ihr Vertrauen in das gute Wollen der Politik nicht nur verloren, sie befürchtet inzwischen, dass sie ihr Böses will. Sie sagt: «Ich werde das Gefühl nicht los, dass man die Bevölkerung künftig kontrollieren möchte.»
Seit ich denken kann, hinterfragt meine Mutter die Welt. Wann aber schlug ihre Kritik um in Misstrauen? Wann hörte sie auf, an den großen Konsens zu glauben, der eine Demokratie zusammenhält: dass die Regierung zum Wohle der Vielen handelt, dass die Gewählten ihre Wählerinnen und Wähler vertreten?
Ich hatte das nicht erwartet. Meine Mutter war immer eine zuversichtliche Frau, lebensfroh und zäh. Sie ließ sich mit Ende dreißig scheiden und schulterte allein einen großen Kredit, damit ihre Kinder weiter in einem Haus mit Garten leben konnten. Sie besaß nie ein Auto und trug ihre Einkaufstüten drei Kilometer zu Fuß nach Hause. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals darüber jammern gehört zu haben. Sie ermöglichte es meinem Bruder und mir, aufs Gymnasium zu gehen und zu studieren. Aber irgendwann, ich war längst in eine entfernte Stadt gezogen, dann in eine noch entferntere, fing es an. Ich hörte ihrer Stimme Frust an, immer häufiger Wut. Sie machte sich Luft: über die Globalisierung, die Politik, das Schlechterwerden der Welt. Unsere Gespräche begannen, sich zu verhaken. Sie endeten immer öfter im Streit.
«Es ist doch nicht alles schlecht», hörte ich mich sagen. «Du solltest dir vielleicht auch so ein Smartphone kaufen, du könntest selbst mal nach Amerika fliegen, nicht alle Vorurteile stimmen.» Ich fiel ihr ins Wort, wenn sie mit dem anhob, was ich als ihre Leier betrachtete und glaubte, in- und auswendig zu kennen. Ich überzog sie mit Gegenargumenten, oft unwirsch, zu müde, um zuzuhören. Und wohin sollte es auch führen?
Meine Mutter saß damals oft auf diesem gelben gepolsterten Stuhl in ihrem Wohnzimmer, sie war inzwischen in Rente. Sie hörte Musik, nicht selten bis spätabends, dachte nach, und manchmal, wenn wir telefonierten, klang ihre Stimme melancholisch. «Die Welt ist, wie sie ist.» Solche Sätze hatten meine Mutter immer erbost. Sie glaubte fest an die Möglichkeit der Veränderung. Sie glaubte immer daran, dass man Probleme mit Nachdenken lösen kann. Jetzt scheiterte sie.
Im Juli 2019 hatte sie sich an ihren Computer gesetzt und einen Brief geschrieben. Sie wollte ihn an alle großen Redaktionen Deutschlands schicken, aber weil der Mut sie verließ, mailte sie ihn nur an ein Internetportal. Sie schrieb: «Sehr geehrte Redaktion, ich bin ein Mensch aus der großen Masse der Menschen in Deutschland. Seit Jahren falle ich angesichts der rasant fortschreitenden Entmenschlichung der führenden Eliten von einer inneren Erschütterung in die nächste, steigert sich die empfundene Ohnmacht, mich nicht verteidigen zu können, ins Unermessliche.» Ob es Schicksal sei, wenn Menschen in einem reichen Land wie Deutschland hart arbeiteten, aber von dem verdienten Geld nicht leben könnten. Nichts zurücklegen könnten, weil sie überteuerte Mieten und Energiepreise zahlten. Weil sie mit allem, was sie zum Leben benötigten und dessen Erwerb automatisch die Gewinne der Wirtschaft finanzierten. «Diese aber nie den Hals vollkriegt, weil internationale Investmentfonds, die die Wirtschaft beherrschen, ihre Profite immer weiter steigern wollen. Profite, die im Nirwana von Steueroasen verschwinden, anstatt in den Kreislauf aller Volkswirtschaften zurückzufließen.»
Sie empfinde Wut und Zorn, fuhr sie fort. «Wir kleinen Menschen sind diesem Treiben schutzlos ausgeliefert, weil die von uns gewählten Politiker ihre Schutzfunktion uns gegenüber durch die Macht einiger Weniger eingebüßt oder aufgegeben haben.» Etwas schüchtern ließ sie mir ihre Veröffentlichung zukommen, «schau mal, was du davon hältst», sehr wahrscheinlich in Erwartung meines Augenrollens.
Ich beobachtete ihr Ringen mit der Demokratie jetzt schon seit einigen Jahren, ihr wachsender Pessimismus (sie würde sagen: ihre Klarsicht) hatte mich oft genervt, bis ich begriff: Sie rang mit diesem Land, gerade weil es ihr etwas bedeutete. Es nervte mich dann zwar immer noch, aber vor allem machte es mich traurig. Meine Mutter war immer eine Idealistin, und ich sah dabei zu, wie diese Idealistin enttäuscht, wie der lebendigste Mensch, den ich kenne, bitterer wurde.
«Geh doch selbst in die Politik», riet ich ihr. «Du hast doch jetzt Zeit, dich zu engagieren», rief ich ihr hilflos zu, weil ich glaubte, dass es ihr besser ginge, wenn sie sich weniger ohnmächtig fühlte. Wenn sie von der Zuschauerin zur Handelnden würde. Ich glitt in dieser Zeit häufig in Schnellzügen durchs Land, als Journalistin unterwegs zu Terminen, Ministerinnen und Unternehmenschefs beantworteten meine Fragen. Ich fuhr den Ereignissen entgegen – zu meiner Mutter kamen sie durch den Fernseher. Ich war damit beschäftigt, mich im Beruf zu verwirklichen, sie suchte nach einem Plan für ihre Rente. Mein Leben beschleunigte, ihres bremste ab. Unsere Rollen hatten sich mittlerweile verkehrt: Früher warnte sie mich vor überschießenden Urteilen, vor zu viel Rage, heute habe ich Angst vor ihrer Entschiedenheit.
Spätestens ab Mitte der Zehnerjahre kam es mir vor, als triebe sie immer weiter davon. Wir fingen an, bestimmte Themen zu meiden. Ich schenkte ihr Romane, die sie nicht las, sie empfahl mir Sachbücher, die ich nicht las. Ich schenkte ihr ein Abo der ZEIT, für die ich arbeite, aber sie vertraute inzwischen vor allem Blogs wie den Nachdenkseiten, für die Journalisten wie ich zum verblendeten Mainstream gehören. Wenn wir uns jetzt über Politik unterhielten, fiel es uns manchmal schwer, uns auch nur auf die Fakten zu einigen.
Es war im Juni 2020, als ich ihr einen ZEIT-Artikel über Corona empfahl; die Tagesschau schaltete sie da schon längst nicht mehr ein. «Ach!», rief sie nur durchs Telefon, «den habe ich ungelesen ins Altpapier geworfen. Ich ertrage es nicht mehr.» In der Leitung war es still, für den Artikel hatten zwei geschätzte Kollegen wochenlang recherchiert.
Meine Stimme klang seltsam, als ich mich sagen hörte: «Ist es so weit gekommen?» Halb Frage, halb Feststellung. Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir reden müssen.
Sieben Monate später saß ich im Zug nach Hause. In meinem Koffer steckte ein Haufen Papier, eng beschrieben mit Fragen. Als ich meine Mutter gefragt hatte, ob ich sie für dieses Buch interviewen dürfe, hatte sie spontan Ja gesagt. Ein Akt des bedingungslosen Vertrauens. Dieses Mal, hatte ich mir vorgenommen, würde ich einfach nur zuhören. Je näher ich der Kleinstadt kam, in der ich aufgewachsen war, desto nervöser wurde ich, ob mir das gelingen würde.
Es gibt diesen Satz: Wir müssen nach vorn schauen, um uns vorzustellen, wer wir sein wollen, aber wir müssen zurückblicken, um zu verstehen, wer wir sind.
Zuletzt ist viel darüber diskutiert worden, was sich in dieser Gesellschaft ändern muss – ich möchte verstehen, was sich verändert hat: Was ist in den letzten dreißig Jahren passiert, was das Vertrauen meiner Mutter und so vieler anderer Menschen in diesem Land schwinden ließ? Und warum hat niemand diesen Prozess aufgehalten?
Vier Tage habe ich zu Hause bei meiner Mutter verbracht. Von morgens bis spätabends haben wir geredet, und wenn wir nicht an ihrem Wohnzimmertisch saßen, gingen wir spazieren. Ich wollte begreifen, in welchen Momenten ihr Vertrauen gelitten hatte, wovon es besonders strapaziert worden war, warum es schließlich umgeschlagen war in Misstrauen. Ich suchte die neuralgischen Punkte. Und dann begann meine Reise.
Ich ließ mich leiten von den Stationen ihres Verlusts: die Abwicklung der DDR, die Hartz-Gesetze, die Finanzkrise. Die Spur ihrer wachsenden Zweifel lotste mich durchs Land: zum Investmentbanker Rainer Voss nach Frankfurt und nach Berlin zum früheren Vizekanzler Franz Müntefering, zum zurückgetretenen Volksvertreter Gerhard Schick und zu einem Rekordverkäufer ostdeutscher Firmen nach der Wende. Ich sprach mit dem Erfinder der Schuldenbremse ebenso wie mit der Stadtkämmererin von Bochum. Im Wendland ließ ich mir die Geschichte der Klinikärztin Charlotte Nick erzählen, auf einer Datsche in Jena die der Baumaschinenzeichnerin Gabriele Gebhardt, in einer Küche in Stuttgart die des Demonstranten Daniel Kartmann. Die Fernsehmoderatorin Sabine Christiansen und der Klinikeigentümer Bernard große Broermann werden in diesem Buch eine Rolle spielen ebenso wie der Unternehmensberater Roland Berger und zwei berühmte Klimaforscher, die mit einem Washingtoner PR-Berater einen Krieg um die Wahrheit führten.
Auch wenn man es nicht sieht, so wird unser Land von einem großen Netz des Vertrauens zusammengehalten. Einige dieser Menschen rissen Löcher in sein Gewebe, andere fielen hinein, manche versuchten verzweifelt, die Löcher zu flicken, andere sahen nur zu. Dies ist der Versuch, ihre Geschichten zusammenzufügen. Um den Verlust zu verstehen. Aber auch um zu begreifen: Was müsste eigentlich geschehen, um das Vertrauen wiederherzustellen?
Seltsam, wie jedes Haus seinen Geruch behauptet. Man kann ihn mit Raumsprays oder Zigarettenqualm bekämpfen, mit duftenden Putzmitteln, viel Lüften, aber am Ende setzt er sich doch durch. Wenn man darin wohnt, fällt er einem meist nicht auf, erst wenn man lange weg war, erinnert sich die Nase sofort.
Meine Mutter hat Gulasch gekocht. Wir sitzen an dem schweren alten Holztisch, an dem mein Bruder und ich schon als Kinder saßen. An dem wir unsere Weihnachtsfeste feierten, als Teenager das Zigarettendrehen übten und erfuhren, dass Opa gestorben war. Eine neue, die sogenannte brasilianische Mutante des Coronavirus ist im Januar 2021 zum ersten Mal am Frankfurter Flughafen aufgetaucht, ein wütender Mob hat das Kapitol in Washington gestürmt, Elon Musk löst Jeff Bezos mit 190 Milliarden Dollar als reichster Mann der Welt ab, und draußen vor dem Fenster beruhigt der Schnee alles mit seiner weißen kalten Watte.
Ein Reihenhaus in einer ruhigen Wohnstraße, eine Pferdekoppel gegenüber, nicht weit entfernt der Waldrand. Vielleicht zweimal im Jahr bin ich hier, und immer, wenn ich zurückkehre, kommt mir die Siedlung kleiner vor, das Haus enger. Als hätten die Jahre in der Großstadt meine Maßstäbe verschoben – oder ist es das zunehmende Alter? In den Neunzigern waren wir hier eingezogen, ab und an hatte es eine neue Couch gegeben, einen neuen Anstrich, im Wesentlichen aber ist alles geblieben, wie es war. Vor dem Wohnzimmer der Garten, im Setzkasten die Milchzähne, der Weihnachtsbaum trägt noch dieselben Kugeln wie 1992.
Die Regierung hat in diesen Januartagen die Verlängerung der Verlängerung des Shutdowns verkündet, die Novemberhilfen für Selbstständige sind immer noch nicht vollständig eingetroffen, die TUIbekommt noch eine Milliarde. Die Wanduhr tickt. Und meine Mutter schäumt. «Seit wann ist denn ein Reiseveranstalter systemrelevant? Und wieso haben wir hunderte Millionen für die Erforschung eines Impfstoffs ausgegeben – wenn wir ihn jetzt zu einem heillos überteuerten Preis wieder einkaufen müssen?» Sie macht eine kurze Pause. «Was glaubst du, Anita, warum der Dax ein Rekordhoch feiert?»
Ich drücke den Aufnahmeknopf meines Smartphones und bemühe mich, professionell zu klingen. «Lass uns von vorn beginnen, Mama», sage ich ruhig. «Wie hast du eigentlich gemerkt, dass dein Vertrauen in die Politik aufgebraucht ist?»
Meine Mutter schüttelt den Kopf. «Ich habe das Vertrauen als Gefühl ja nicht gespürt. Es war einfach da. Und dass es dann verschwand, war ein schleichender Prozess.»
Wie war das?
«Ich habe registriert, dass ich mich als Bürgerin nicht mehr wahrgenommen fühle, mit meinen Interessen, meinen Gefühlen. Dass ich mich jetzt, am Ende, sogar bedroht fühle und fürchte, dass wir am Beginn einer noch viel größeren Krise stehen.»
Hast du Angela Merkel je vertraut?
«Nein, ich glaube nicht. Ich konnte sie nie einschätzen.»
Kannst du dich daran erinnern, jemals einem Politiker vertraut zu haben?
Ich merke, wie meine Mutter die Interviewsituation entspannt. Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Stimme wird weich. Kennedy habe sie in den Sechzigern ganz toll gefunden, sagt sie, in den Achtzigern Gorbatschow – «ein Idealist und Visionär, der als guter Mensch leider etwas zu gutgläubig war. Und natürlich Brandt, den mochte ich, dem habe ich geglaubt».
Wieso?
«Seine Ostpolitik war ein Herzensanliegen, der wollte tatsächlich nie wieder Krieg. Er war authentisch und – anders als etwa Kiesinger – nie ein Nazi gewesen.»
Dem Kanzler Schmidt habe sie erst mal skeptisch gegenübergestanden, «bis ich begriff, dass es bei ihm kein Gegensatz war, die Wirtschaft zu fördern und Sozialdemokrat zu sein. Er hatte das Gemeinwohl im Blick und versuchte sich an einem echten Ausgleich aller Interessen.» Meine Mutter schätzte Schmidts Geradlinigkeit, seine geschliffene Rhetorik, «sachlich, aber messerscharf». Wegen ihm drehte sie die Beatles leiser und hörte sich im Radio politische Debatten an: Nato-Doppelbeschluss, 38-Stunden-Woche, die Einführung der Gesamtschule. Meine Mutter lächelt. «Es ging eigentlich ständig darum, wie die Dinge besser werden könnten. Es ging um Argumente. Wegen Schmidt habe ich angefangen, den Wirtschaftsteil zu lesen.»
Hast du Schmidt vertraut?
«Aber ja. Er war ein Machtmensch, doch dank ihm habe ich verstanden, dass ein Politiker seine Macht einsetzen können muss. Schmidt war weniger sensibel als Brandt, der konnte das. Es war brillant, wie er die Flutkatastrophe in Norddeutschland gemanagt hat.»
Meine Mutter antwortet jetzt hoch konzentriert. Sie vertraute damals nicht nur Schmidt, sie vertraute dem System als Ganzem. «Die Menschen standen im Mittelpunkt», sagt sie, «das war eine der Lehren aus dem Krieg. Nie wieder sollte der Kapitalismus so mächtig werden, dass er in den Faschismus führt. Und so dachte nicht nur die SPD, so dachten alle. Dass die Gewinne der Wirtschaft gerecht verteilt wurden, war eine Selbstverständlichkeit.»
Kein Unternehmen, kein Mensch solle mehr die Macht erlangen, die Politik oder einzelne Märkte zu dominieren, so hatte das die CDU 1947 in ihrem Ahlener Programm formuliert. Das Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung könne «nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein»[1].
Meine Mutter als Nachkriegskind hatte das inhaliert.
Mülheim an der Ruhr, 1951. Einen Monat zu früh wurde sie geboren, Carmen, benannt nach der berühmten Oper, ein Bündel von knapp vier Pfund. Das zweite von fünf Kindern. Der Vater, den Kriegswirren aus Rumänien ins Ruhrgebiet verschlagen hatten, verdiente das Geld als Straßenbahnfahrer.
Sechs Jahre waren vergangen, seitdem die letzte Bombe gefallen war, die Familie lebte auf zwei Zimmern, in der Küche ein Kohleofen, die Toilette im Flur teilten sie mit den Nachbarn.
Die Mutter: eine stolze Berlinerin, die allein geflohen war. Der Vater: ein temperamentvoller Siebenbürger Sachse mit unüberhörbarem Akzent. Fremd waren sie in Mülheim beide.
Nach der Geburt des vierten Kindes zogen sie in eine der eilig nach dem Krieg hochgezogenen Sozialsiedlungen, Teppichstangen im Hof, gespielt wurde draußen. Rollschuhlaufen, Räuber und Gendarm, eine Kindheit im Kollektiv. Carmens Lieblingsessen: Brote mit Butter und Zucker. Sie waren arm, aber sie waren viele: überall Tanten und Onkels, überall Nachbarn und Freunde.
Ihr Vater machte morgens singend das Frühstück, und wenn wieder mal irgendwo ein Fest anstand, buk er, der gelernte Konditor, singend Torten. Wenn Carmen ausriss und zu ihm in die Straßenbahn stieg, durfte sie sich ganz vorn neben seinen Fahrersitz setzen. Später deckte er sie vor ihrer Mutter, einer Frau, geplagt von der Melancholie einer Entwurzelten, deren Lebenspläne der Krieg zerstört hatte.
1961. Carmen war zehn, als sie ihre Mutter vor dem Fernseher weinen sah. In Berlin zogen Arbeiter Betonplatten hoch, eine neben der anderen, und drüben im Osten wohnte Carmens Tante. Die Teilung Europas teilte jetzt auch ihre Familie: die einen in der DDR, in Rumänien und Ungarn, die anderen im Westen.
«Ich sah, wie einige noch die Flucht über den Maschendraht wagten, sogar ein Soldat mit seinem Gewehr über der Schulter», erinnert sich meine Mutter. «Ich sah, wie Arbeiter seelenruhig Stein auf Stein schichteten, wie sie Fenster in Mauernähe zumauerten, fassungslose Menschen diesseits und jenseits.» Mutter und Tochter kuschelten sich eng aneinander. «Wahrscheinlich wurde meiner Mutter in diesem Moment klar, dass sie von nun an für immer von ihrer Schwester getrennt sein würde.»
Carmen war sensibel und hautlos, alles drang in sie ein. Zwei Lungenentzündungen hatte sie überstanden, aber der Arzt fand sie immer noch zu klein und schmächtig. Und während ihr Vater neben seiner Arbeit bei den Mülheimer Verkehrsbetrieben begann, zusätzlich als Gärtner zu arbeiten, entdeckte Carmen das Lesen. Trotzkopf, Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Als erstes Kind der Familie wechselte sie aufs Gymnasium. Und lernte dort, dass ihre Eltern Arbeiter waren.
Mit der Straßenbahn fuhr sie bis ans andere Ende der Stadt, in den vornehmen Teil Mülheims, und als für den Fahrschein kein Geld mehr da war, lief sie eine Stunde zu Fuß zur Schule. «Mit Angst und riesengroßem Respekt», erinnert sie sich. Die anderen wohnten in Villen, ihre Väter waren Ärzte, leiteten Banken, und Carmen, starr vor Ehrfurcht, traute sich kaum zu sprechen. Den anderen gelangen die Dinge scheinbar mühelos – Carmen bekam Probleme in Mathe. Wenn sie daheim ihre Hausaufgaben machte, spielten ihre Geschwister im Raum, klingelte Besuch. Und wen sollte sie auch um Hilfe bitten? Ihre Eltern hatten nur die Volksschule besucht. Die Mitschülerinnen waren freundlich, luden sie sogar zu Geburtstagen ein, aber während sie neue Kleider trugen, trug Carmen die alten von Bekannten auf. Zum ersten Mal spürte sie die unsichtbaren Mauern, die Geld errichten kann.
So oft sie konnte, floh sie in den Leichtathletikverein, im Dauerlauf war sie am besten. Erst als ihr Vater sich mit einem GartenbauUnternehmen selbstständig machte, war plötzlich ein Tanzschulkurs drin. Wiener Walzer auf Parkett. Mülheims singender Gartengestalter hatte die Auftragsbücher voll. Sie konnten sich jetzt Besuche bei den Verwandten in der DDR leisten, fünf Westmark pro Tag und Person. Die Mutter trug im Winter Persianer, der Vater fuhr Opel Kapitän. Kennedy wurde erschossen, und Carmen saß mit der Familie gebannt vor dem neuen Fernseher.
1965, der erste Familienurlaub ihres Lebens, Odenwald. Die ersten Seidenstrümpfe. Mit fünfzehn der erste Kuss. «I Want to Hold Your Hand», sangen die Beatles aus dem Küchenradio, und die Verwandtschaft tröpfelte langsam in den Westen, erst Tante Olga und Onkel Denes, Cousine Edith und ihr gehörloser Mann Vassy, dann Opa Ladislaus, ein Kunstschreiner aus Budapest. Jeder männliche Verwandte, der eine Schaufel halten konnte, wurde im Betrieb ihres Vaters eingestellt.
Mit sechzehn musste Carmen das Gymnasium verlassen, neben der Fünf in Mathe brach eine Fünf in Handarbeit ihr das Genick – sie hatte als Einzige keine Nähmaschine. Die Stones brüllten «I Can’t Get No Satisfaction», in Berlin erschoss ein Polizist den demonstrierenden Studenten Benno Ohnesorg, und Carmen begann eine Lehre bei den Thyssen-Röhrenwerken in Mülheim-Ruhr. Eine solide Adresse, fanden ihre Eltern. Carmen lernte Stenografie und Ablage, und in den Pausen begann sie, den Spiegel zu lesen, mit einem aufgeschlagenen Fremdwörterbuch auf dem Schoß.
Eines Tages hatte sie einen Auszubildenden aus der Düsseldorfer Zentrale am Apparat. Er sollte zu ihnen wechseln, als einer der Wenigen hatte er Abitur und schon ein Auto. Der Ruf eines Playboys eilte ihm voraus, am Telefon scherzte er mit ihr, und als er seinen ersten Arbeitstag in Mülheim antrat, zog Carmen ihr bestes Kleid an, das hellblaue mit dem Reißverschluss.
Als sie ihn im Büro ihres Chefs begrüßte, stand er da in einem braunen Tweedanzug, einem weißen Hemd mit Manschettenknöpfen und einer schwarz geränderten Pilotenbrille. Er wirkte wie ein Professor, dachte Carmen, nicht wie ein Auszubildender. In der Stimme ihres Chefs hörte sie Respekt.
Es war das Jahr 1968, meine Mutter war siebzehn und verliebt. Bei ihrem neuen Freund, der mein Vater werden sollte, entdeckte sie ein Buch über die Russische Revolution, sie sog es auf, «weil es mir endlich den Kalten Krieg erklärte», und in den Universitäten probten sie den Aufstand. «The old get old», sang Jim Morrison selbstbewusst, «and the young get stronger.»[2]
Die Augen meiner Mutter leuchten, wenn sie sich an diese Zeit erinnert. Wenn sie Dutschke zuhörte, war sie elektrisiert. Eine Jugendliche, die tagsüber Buchführung lernte und sich abends eine neue Welt erschloss. Sie las jetzt Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Siegmund Freud, Das Unbewusste. Mit ihrem Freund zog sie nach Münster, wo er nun studierte. 1970, mit neunzehn sah meine Mutter im Fernsehen den Kniefall von Willy Brandt, «da bekam ich eine Gänsehaut».
Ich hatte mich schon oft gefragt, wie meine Mutter zu ihren vielen Büchern gekommen, wie sie so politisch geworden war. Eine Arbeitertochter aus dem Ruhrgebiet. Ich weiß, dass sie es immer bedauert hat, kein Abitur gemacht zu haben. Und wie gern hätte sie studiert!
«Was hat dich eigentlich politisiert, Mama?», frage ich sie jetzt zum ersten Mal.
«Ganz klar der Holocaust», sagt sie. «Mit zwölf zu erfahren, dass es in unserem Land Konzentrationslager gab. Und in diesen Lagern hatten vielleicht die gleichen Leute Dienst getan, die meine Lehrer waren oder mir die Wurst verkauften. Das hat mich zutiefst schockiert. Geprägt hat mich auch der Mauerbau.»
Sie war fünfzehn, als sie zu einem Staffelwettkampf nach West-Berlin fuhr, «da wurden wir an der Grenze mit vorgehaltener Maschinenpistole aufgefordert, unsere Ausweise zu zeigen und alle Bravo-Heftchen abzugeben. Neben uns lag der Todesstreifen, und mir wurde klar: Da werden Menschen erschossen.»
Hattest du damals politische Helden?
«Zuallererst mein Vater, seine Menschlichkeit war mir immer ein Vorbild. Heinrich Böll war für mich ein Mentor in Sachen Freiheit.»
Sie lächelt.
«Weißt du, Anita, meine Generation hat damals im Westen eine der glücklichsten Epochen erleben dürfen. Wir sahen die Gesellschaft aufbrechen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Schwule Pärchen konnten sich plötzlich offen zeigen. Wir sprachen endlich über die Nazidiktatur. Frauen erhoben ihre Stimme, fast jeder konnte studieren.»
Ich merke, wie die Erinnerungen sie beleben. Meine Mutter schwärmt jetzt von der Kreativität, die damals freigesetzt wurde: in den Künsten, der Musik, der Literatur, der Architektur. «Überall Neuerungen, Bahnbrechendes», sagt sie. «Darüber habe ich mein ganzes Leben lang nachgedacht: Ich glaube, es waren diese historisch einmaligen Rahmenbedingungen, die uns beflügelt haben. Dieses Gefühl, dass es aufwärtsgeht, nach vorn.»
Meine Mutter ist ein Kind der Trente Glorieuses, wie der französische Ökonom Jean Fourastié die Jahre zwischen 1945 und 1975 einmal nannte. In diesen drei «glorreichen Jahrzehnten» war so gut wie alles gewachsen: die Wirtschaft und die Löhne, das Bildungsniveau und die Bevölkerung. In dem Land, in dem meine Mutter aufwuchs, war noch rund jeder zweite in der Industrie beschäftigt, es herrschte so gut wie Vollbeschäftigung. Und die Bildungsoffensive der Sozialdemokraten hob immer mehr Menschen in eine immer breitere Mittelschicht empor. Nicht nur meine Mutter, auch ihre vier Geschwister durften sich auch ohne Abitur dazuzählen.
In der Schule lernten die Kinder damals, dass die deutsche Gesellschaft die Form einer Zwiebel hat: ein paar wenige Reiche an der Spitze, dann ein großer Bauch, die Mittelschicht, darunter noch einmal eine kleine Spitze, die ein paar wenige Arme bedeutete. Der Staat schützte nicht nur die Schwächsten, so empfand es meine Mutter, er hatte es sich zum Ziel gesetzt, allen die Teilhabe am politischen und kulturellen Leben zu ermöglichen.
Ein Krieg mit mehr als 60 Millionen Toten hatte in den Parteien des Bundestags die Überzeugung verwurzelt, dass nur ein regulierender Sozialstaat in der Lage wäre, eine erneute Katastrophe zu verhindern. Eine Antwort zu geben auf die systemimmanenten Krisen des Kapitalismus wie jene der Dreißigerjahre, die aus einem in jeder Hinsicht schwachen Staat entstanden war. Neue internationale Organisationen wie die UNO überwachten jetzt Frieden und Handel, man hatte der Welt ein stabiles Währungssystem gegeben, nationale Gewerkschaften verhandelten die Löhne. Die Sechziger- und Siebzigerjahre hatten ihre Probleme, aber in den Erzählungen meiner Mutter glänzt diese Zeit als zukunftsselige Epoche des Aufbruchs.
Die Gesellschaft machte sich auf den Weg. Und meine Mutter mit ihr. Nach ihrer Ausbildung konnte sie sich die Stellen aussuchen. Sie sagt: «Wir alle hatten damals die Möglichkeit, etwas aus unserem Leben zu machen, auch ohne Studium. Und du konntest von deiner Arbeit leben, in Urlaub fahren, vielleicht sogar ein Haus kaufen. Es lag an dir. Und jedes Jahr stiegen die Gehälter, um fünf, manchmal um acht Prozent.»
Zuschüsse zu den Fahrtkosten und zum Mittagessen, vermögenswirksame Leistungen, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld. Was die Unternehmen verdienten, reichten sie zu einem großen Teil weiter, und was noch übrig blieb, zahlte der Staat: Brillen, Zahnersatz, Krankengeld. Wo soll das eigentlich noch hingehen?, fragte meine Mutter sich manchmal.
«Aber das hat», lächelt sie, «uns Jungen auch das Protestieren leichter gemacht.»
Gründe für Protest gab es trotz allem genug: Auch im Bundestag hießen die Kinder amerikanischer GIs noch «Mischlinge», viele Flüsse waren stinkende Kloaken, die Politiker Männer, die nicht selten auch im NS-Regime funktioniert hatten. Und die Frauen? Lösten noch 1970 einen Skandal aus, wenn sie im Hosenanzug ans Rednerpult des Parlaments traten.
«Trotzdem hatten wir damals einen einzigartigen Grad der Selbstbestimmung», schwärmt meine Mutter. «Hatte man dich schlecht behandelt, konntest du dich wehren, ohne Angst vor den Konsequenzen. Du konntest jederzeit kündigen – deine Wohnung genauso wie deinen Job. Du musstest keine Angst vor Arbeitslosigkeit haben, vor teuren Mieten. Du warst frei. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.»
Einmal kündigte sie ihre Sekretärinnenstelle, weil ihr Chef anzüglich wurde, einmal ging sie, weil ihr das Geschäftsmodell eines Maklers nicht gefiel. Und einmal gründete sie bei einer Bauträgergesellschaft einen Betriebsrat. Mit 22. Da war sie schon in der privaten Krankenversicherung. «Als Sekretärin», sagt sie. «Es war der Wahnsinn!»
Sie las jetzt Grass und Adorno. Bis morgens um sechs diskutierten sie im Freundeskreis. Schluss mit der Untertanenmentalität! Konzerte mit Pink Floyd, Deep Purple, Cream. 1973 Heirat. Zwei Jahre später, mit 24, das erste Kind, ein Sohn. Mit 26 das zweite, eine Tochter. Sie nun: Hausfrau. Er: angestellt bei einer großen Firma, nicht mehr ganz so revolutionär. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Shere Hite, Das sexuelle Erleben der Frau. Entwicklungshelfer, so nennt sie ihre Bücher seit damals, Freunde schwarz auf weiß. Ein kreditfinanziertes Haus jetzt, Umzug in die Kleinstadt bei Düsseldorf. Anders als sie früher hatten ihre Kinder ein eigenes Zimmer, Meerschweinchen und einen Garten mit Sandkasten. Aus dem R4 wurde ein Ford Taunus. Und in den großen Ferien übern Brenner. Alassio an der Riviera. Die Grenzen des Wachstums, Club of Rome. Das andere Geschlecht, Simone de Beauvoir. Tagsüber las sie, nachts begann sie, Gedichte zu schreiben. Erkenntnisse gewinnen, Erkenntnisse verarbeiten. Eine Literaturgruppe an der Volkshochschule. Die erste Lesung. Meine Mutter wählte jetzt grün – auch wenn ihr Mann die Chaoten belächelte.
«Wir wussten doch damals schon, dass unsere Art zu leben und zu wirtschaften verantwortungslos ist», sagt sie. Von Helmut Kohl habe sie sich nie vertreten gefühlt, aber da war eine Opposition, die ihr Hoffnung machte: ein furchtloser Joschka Fischer mit Turnschuhen und langen Haaren am Rednerpult, auf den Bänken im Bundestag standen auf einmal Blumen.
Meine Mutter ärgerte sich jetzt zwar über Strauß’ Affären, über Kohls Privatfernsehen, seine Wirtschaftspolitik, aber das «grundsätzliche Gefühl, in einer guten Demokratie zu leben, war noch intakt». Oppositionspolitiker wie Oskar Lafontaine hätten den Kanzler zur besten Sendezeit eingekocht, erklärt sie, Journalisten die Regierung hinterfragt. Und während die Politik weitestgehend in ruhigen Bahnen verlief, kündigten sich im Leben meiner Mutter Turbulenzen an. Sie begann, wieder zu arbeiten. Ihre Ehe zerbrach. Doch dank des damaligen Scheidungsrechts fiel sie 1989 nicht ins Bodenlose. «Das habe ich sehr zu schätzen gewusst, weil ich jemand bin, der für sein Leben Sicherheit braucht.»
Es ist spät geworden. Als mein Stiefvater jetzt den Kopf zur Tür hineinsteckt, um «Gute Nacht» zu sagen, schrecken meine Mutter und ich auf. Beinahe vier Stunden waren wir in der Vergangenheit versunken, und ich habe gemerkt, wie gerne ich ihr zuhöre. Wie mich das entspannt, einfach nur Fragen zu stellen.
Ich schenke uns noch ein Glas Rotwein ein. «Warst du damals zufrieden mit deinem Land?», frage ich sie.
Sie nickt. «Im Großen und Ganzen ja. Ich fühlte mich aufgehoben und als Bürgerin ernst genommen.»
«Du fühltest dich ernst genommen?»
«Ja, das ist für mich das Wichtigste überhaupt. Du wurdest mit Achtung behandelt, auch von der Wirtschaft, du warst auf Augenhöhe. Die Politiker waren alle noch geprägt vom Krieg, die griffen die Gefühle der Bevölkerung auf. Das System hat sich in den Achtzigern noch selbst korrigiert – die Kritik der Medien, der Druck der Bürgerbewegungen: Das alles schlug sich damals in den Programmen nieder.»
Vertrauen, werde ich später lesen, ist nie grundlos. Es ist keine Emotion, nichts Irrationales. Wir vertrauen auf der Basis von Fakten, schreibt der Soziologe Martin Hartmann.[3] Wir vertrauen dem Arzt, der uns operiert, selbst wenn wir ihn nicht kennen – allein weil wir wissen, dass jeder Arzt in Deutschland eine standardisierte Ausbildung durchlaufen hat. Weil wir wissen, dass seine Klinik nur demjenigen die Operation anvertraut, der sie beherrscht.
Aus demselben Grund vertrauen wir all den abstrakten Systemen, die unsere Gesellschaft durchdringen: der Wissenschaft und den Medien, der globalisierten Ökonomie, den Institutionen des Staates und der Demokratie. Wir vertrauen darauf, dass es in all diesen Bereichen sinnvolle Regeln und Standards gibt, die eingehalten werden, und deren Einhaltung überwacht wird. In dem Glauben, dass diese Regeln und Standards im Sinne unserer Interessen und Wünsche wirken – und so im Ergebnis etwa für gesicherte Fakten sorgen, für wirksame Medikamente und funktionierende Bremsen. Nur deshalb können wir einzelne Politiker für korrupt halten, aber trotzdem der Institution des Parlaments vertrauen. Oder der Demokratie als solcher. Weil wir glauben können, dass ihr ein Korrektiv innewohnt, das auf unserer Seite ist.[4]
Meine Mutter vertraute damals dem Spiegel, den sie als demokratische Instanz bewunderte. Sie schaute regelmäßig die Tagesschau, den Internationalen Frühschoppen, der heute Presseclub heißt. «Und da war dann dieser Werner Höfer, und die Bude dampfte, nicht nur wegen Höfers Zigarre, da ging es argumentativ zur Sache, großartig!» Ihre Faust saust auf den Tisch. «Auch Zur Person mit Günter Gaus habe ich gerne gesehen, da bekam ich regelmäßig Anregungen zum Nachdenken.»
Meine Mutter fühlte sich durch die Medien bereichert, sie fühlte sich umfassend informiert: «Ich wusste, was welche Partei will, und konnte meine Position dazu finden.»
Im Jahr 1988 war sie 37 und ich 11 Jahre alt.
Wenn ich die Augen schließe und versuche, mich an meine Mutter in der damaligen Zeit zu erinnern, sehe ich vor mir eine ernste, eine innerlich glühende junge Frau. Sie sitzt konzentriert an ihrem antiken Schreibtisch, versunken in ein Buch, in der Hand einen Stift. Ab und an hält sie inne, notiert etwas, unterstreicht, und ich weiß noch, sie sieht glücklich aus dabei.
1988 gewann Steffi Graf alle Grand-Slam-Turniere, Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow kündigte vor der UN-Vollversammlung in New York einseitige Abrüstungsschritte seines Landes an, und meine Mutter trug am 9. November in der Aula meines Gymnasiums eines ihrer Gedichte vor. Dachaus Nachlass hieß es. Es war der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, und der Stadtrat, der aus diesem Anlass zu einer Sondersitzung geladen hatte, hatte meine Mutter als «engagierte Bürgerin» dazugebeten.
Ich höre zum ersten Mal davon und erschaudere: Konnte man vereinter sein mit seinem Land?
Im Rückblick glaube ich, war die Zuversicht meiner Mutter, dass die Geschicke der Menschheit eine gute Wendung nehmen würden, nie größer als damals. Sie hatte Fritjof Capras Wendezeit und Gorbatschows Perestroika gelesen. Überall roch es nach Fortschritt, nach Freiheit. Und auf den Tag genau ein Jahr nachdem meine Mutter in der Aula ihr Gedicht vorgetragen hatte, am 9. November 1989, saß sie abends in ihrem Wohnzimmer vor dem Fernseher und heulte Rotz und Wasser.
In Berlin hatten Menschen von Osten her die Mauer gestürmt, und niemand machte Anstalten, sie aufzuhalten.
Was dann geschah, erinnert meine Mutter atemlos: Kohl und Gorbatschow im Kaukasus, ein Holztisch. Kohl in Strickjacke, Gorbatschow im Pullover. Alles so freundlich. Und dann bricht ihre Stimme. «Als dieser Mann der Wiedervereinigung zustimmte. Das war für mich … Das war einer der schönsten Momente …» In ihren Augen stehen Tränen. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben würde.»
Das Unvorstellbare war geschehen: Politiker aller beteiligten Länder, Politiker über alle Parteigrenzen hinweg hatten zusammengearbeitet. Sie hatten Ängste überwunden. Sie hatten einander vertraut. Meine Mutter hat sich wieder gefangen. «Das war eine Sternstunde politischer Lösungskraft», sagt sie. «Es war der Höhepunkt meines Lebens als politisch denkender Mensch.»
«Was hat dich am meisten berührt?», will ich wissen.
«Ach, dieser Mut!», schnieft sie. «Diese Großzügigkeit, die Welt ein Stück freier zu machen. Endlich war diese Scheißmauer weg!»
Zu Beginn der Neunzigerjahre, der amerikanische Denker Francis Fukuyama sah bereits das Ende der Geschichte heraufziehen, hoffte meine Mutter auf weltweiten Frieden. Nie war er so greifbar.
Dreißig Jahre später liegt in ihrer Stimme Bitterkeit. Sie sagt: «Ich hätte mich nicht mehr täuschen können.»
Nach unserem Gespräch werde ich noch lange wach liegen. Vertrauen verschwindet nicht einfach so. Es verschwindet auch nicht von heute auf morgen. Es wird strapaziert wie ein starkes Tau, das erst porös wird, dann ausfranst, immer dünner wird, schließlich reißt.
Was, frage ich mich, ist geschehen? Wieso riss dieses Seil, das meine Mutter und die Bundesrepublik Deutschland einst so fest verbunden hatte?
Halle, 1991
Das, was für meine Mutter die Sternstunde ihres politischen Erlebens war, katapultierte Richard Flohr in den Sommer seines Lebens. Auf den Bildern von damals trägt er beste italienische Anzüge, Armani oder Zegna, dazu stets Einstecktuch, Doppelmanschette, ein Auftreten, wie er fand, dem Niveau der Beträge, die er bewegte, angemessen. Er war 29, auf seinem Gesicht glänzte Selbstbewusstsein. Er war es schon immer gewohnt gewesen, Herausforderungen zu meistern, in der Schule hatte er eine Klasse übersprungen, und nachdem Helmut Kohl ihm 1976 auf einem Marktplatz in Goslar die Hand geschüttelt hatte, hatte er die Schülerunion gegründet und im Handumdrehen den linken Schülerrat übernommen. Freiheit statt Sozialismus. Während die anderen Westdeutschen in seinem Alter die dunklen Bars des Prenzlauer Bergs eroberten, stellte er sich in den Dienst der Marktwirtschaft und baute ein Land neu auf. So sah er es.
Im Frühjahr hatte Flohr gerade sein Examen in Betriebswirtschaft in der Tasche und kam aus dem Skiurlaub, als er am Schwarzen Brett seiner Fakultät in Göttingen diesen Aushang der Treuhand sah: Privatisierungsdirektor sucht Assistenten. Eigentlich hatte Flohr promovieren wollen, seine Freundin hoffte, dass er zu ihr nach Düsseldorf zog, alle Welt erwartete, dass sie bald heirateten. Nach seinem Vorstellungsgespräch wollte er schon absagen, als das Fernsehprogramm durch Sondersendungen unterbrochen wurde: Detlev Karsten Rohwedder, der westdeutsche Chef der Treuhand, war mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Die RAF bekannte sich, aber der Mord wurde nie aufgeklärt.
«Jetzt erst recht», hatte Flohr gedacht. Er war 29 – konnte er nicht nur gewinnen?
Die Treuhand, dieser gigantische Apparat, den Helmut Kohl 1990 binnen weniger Wochen hochziehen ließ, war die wohl umstrittenste Behörde der Nachkriegszeit. Gegründet worden war sie bereits in der Spätphase der DDR, um das ostdeutsche Volkseigentum zu verkaufen und den Erlös an die Bürger zurückfließen zu lassen. Die komplette Volkswirtschaft der DDR, rund 8500 staatliche Firmen mit etwa 45000 Betriebsstätten waren beinahe über Nacht in den Besitz der Treuhand übergegangen. Dazu sämtliche Immobilien und Grundstücke der Staatsorgane, Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche. Die Aufgabe der Treuhand war monströs: Ein ganzes Land sollten ihre am Ende 4000 Mitarbeiter innerhalb kürzester Zeit von Plan- auf Marktwirtschaft umstellen, die gesamte ostdeutsche Wirtschaft mussten sie sanieren, verkaufen oder abwickeln. Vier Millionen Arbeitsplätze hingen an ihren Entscheidungen.[1]
Es war eine Mischung aus Abenteuerlust und Patriotismus, die Flohr zum Hörer greifen ließ. Zwei Wochen später trug er seine Koffer ins einzige noch offene Hotel von Halle.
An seinem ersten Arbeitstag fuhr er aus der Innenstadt raus in die Plattenbausiedlung Halle-Neustadt, einst erbaut für die Tausenden Arbeiter der nahen Chemiekombinate. Ein Aufzug trug ihn hoch in den achten Stock eines Achtzehngeschossers, auf den Fluren altes Linoleum, in der Raumluft der alles schwängernde Rauch aus den Schloten. Unten floss die Saale, in der Ferne Bitterfeld, die Magistrale draußen vor dem Fenster zog eine panzerbreite Schneise in Richtung Altstadt.
Die Hallenser Treuhand-Niederlassung war in einer von fünf schmalen hohen Platten untergebracht, im Volksmund nur Scheiben genannt, einst der Stolz der SED. Jetzt erblindeten hier die Fenster, und auf den Parkplätzen verrotteten die Wartburgs und Trabanten, eilig eingetauscht gegen gebrauchte Golfs und Audi Quattros.
Flohrs winziges Büro war womöglich ein Kinderzimmer gewesen, hellgrauer Schlingenteppich, hellgrauer Schreibtisch, zwei Sideboards mit Aktenordnern darin, das war’s. «Das sind Ihre Unternehmen», sagte sein neuer Chef. «Frohes Schaffen!» Als Flohr die Ordner aufschlug, waren die Seiten nahezu weiß: Außen drauf der Name des Betriebs, und wenn er Glück hatte, darin der Name eines Geschäftsführers. Keine Daten, keine Bilanzen.
Flohr wunderte sich. Er war der einzige Betriebswirt, erinnert er sich. Außer ihm saßen hier vor allem Juristen, die meisten aus Göttingen, die meisten jung wie er. Die Einheimischen erkannte er sofort: «Männer in auberginefarbenen Einheitsanzügen, Frauen im Polyesterrock.» Als er abends auf sein Hotelbett fiel, kratzte er sich den Ruß unter den Fingernägeln hervor.
Er war kein Grünschnabel. Zwei Jahre lang war er Vorstandsassistent beim Feinwaagenhersteller Sartorius gewesen. Er hatte sich während des Studiums den Vorsitz der Jungen Union in Göttingen erkämpft, aber das hier war etwas anderes. Hier mussten sie eine implodierte Volkswirtschaft retten.
Einst hatte der Großraum Halle stolze 16 Prozent des Bruttosozialprodukts der DDR erwirtschaftet, jetzt vergammelten im alten Chemie-Dreieck die Buna-Werke, die Leuna-Werke – und sämtliche ihrer Zulieferbetriebe. Technisch veraltet, eine Umweltsünde schon lange, hoffnungslos unrentabel, erinnert sich Flohr. Doch Arbeitgeber für mehr als 100000 Menschen.
Von neuen Betriebskonzepten hatte Flohr geträumt, von Umstrukturierungen, er wollte gestalten, doch nun erfuhr er, dass seine Aufgabe vor allem eine war: Privatisieren. Etliche Milliarden pumpte die Treuhand in die Betriebe, Staatsgeld, um Gehälter, Rechnungen und Maschinen zu bezahlen, nicht im Jahr, sondern im Monat. «Vergessen Sie das mit der Sanierung», hatte sein Chef, ein Jurist aus Karlsruhe, schon am ersten Tag zu ihm gesagt. «Sie sind Verkäufer. Schlagen Sie die Firmen los, möglichst schnell.»
Halle war eine von 15 Treuhand-Niederlassungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Sie alle wurden von einem Westdeutschen geleitet, eilig rekrutiert von Headhuntern oder auf Empfehlung von Parteifreunden. «Profis für die DDR!» war eine Stellenanzeige überschrieben: Es ginge darum, der «DDR-Wirtschaft zu Wettbewerbsfähigkeit nach westlichen Maßstäben zu verhelfen».
Auch in der Berliner Zentrale stammte im Frühjahr 1991 keiner der 46 Direktoren aus dem Osten. Die Behörde am Alexanderplatz, anfangs nicht einmal mit funktionierenden Faxgeräten ausgestattet, füllte sich schnell: Westdeutsche Cowboys heuerten an, angezogen von Tempo und guten Gehältern, ältere One-Dollar-Men, die nur für Spesen aushelfen wollten. Sie mischten sich mit ehrgeizigen Hochschulabsolventen und ehemaligen Staatsangestellten der DDR. «Privatisierungsbauern» nannten sie in der Berliner Zentrale die Kollegen in den Niederlassungen. Weil die sich um das Kleinvieh kümmerten: Betriebe, die außerhalb ihrer Region kaum einer kannte.
Rainer Kronbaum (Name geändert), Flohrs Niederlassungsleiter, war 1991 der wahrscheinlich mächtigste Mann Halles. Kronbaum, ein ehemaliger VW-Manager aus Brasilien, vielsprachig und braun gebrannt, war zwar nur einmal in der Woche vor Ort, aber wenn er kam, sagt Flohr, standen alle stramm. Weil sie keine zuverlässigen Grundbücher hatten, entschied Kronbaum mit seinem Team allein über strittige Grundstücke. Ohne sich mit Berlin abzustimmen, konnte er festlegen, wer den Zuschlag für ein Stück Land bekam.
Sie waren die neuen Herren in der Stadt. Das Vermögen der Region lag in ihren Händen, große Teile eines umkämpften neuen Binnenmarktes, Schätzungen zufolge an die 100 Milliarden DM schwer.
Unten vor den Scheiben übernachteten manche in ihren Mietwagen, um morgens die Ersten zu sein, erinnert sich Flohr. Auf dem Flur vor seinem Büro drängten sich die Interessenten. Westdeutsche Schnäppchenjäger campierten neben ostdeutschen Betriebsleitern, die neue Kredite brauchten. Wenn sie mal etwas essen mussten, sicherten sie sich gegenseitig die Plätze. «Ich suche einen Betrieb – ham Se was?», fragten manche einfach, wenn sie in seinem Zimmer standen. Andere hatten sich bereits von ehemaligen Parteisekretären für Cash durch die Gegend fahren und die Goldminen zeigen lassen. «Es war verrückt», sagt Flohr. Einmal saß ein Interessent mit zwei Geschäftspartnern in seinem Büro, und als Flohr höflich nach einem Konzept für den zu erwerbenden Betrieb fragte, öffnete der Mann nur seinen Aktenkoffer, darin bündelweise Geldscheine. Ein anderer, der eine Autovermietung betrieb, wollte ihm übers Wochenende einen Porsche 928 leihen, 350 PS, einfach so.
Es herrschte Goldgräberstimmung in Halle. Nervosität. Immobilienmakler gaben sich als Treuhandmitarbeiter aus, fuhren in Firmen vor und horchten arglose Angestellte über deren Immobilienbesitz aus. Ein angeblicher Unternehmensberater zog übers Land und bot für 6000 Mark am Tag seine Dienste an. Die überforderten ostdeutschen Sachbearbeiter einer Sparkasse vergaben gutgläubig jeden Kredit, wann immer ein seriös gekleideter Geschäftsmann mit Visitenkarte versprach, in der Region zu investieren.[2] Innerhalb weniger Wochen zahlten sie fast 700 Millionen Mark aus, unter anderem 64 Millionen an Stephan Grzimek, den Sohn des Tierfilmers, der davon drei Boing 737 kaufen wollte, um eine Fluggesellschaft zu gründen, die von einem Flughafen bei Halle aus operieren sollte, den es allerdings noch nicht gab.[3] Fünf Millionen erhielt ein Trinkhallenbetreiber aus dem Ruhrgebiet, um mit dem Geld in Halle einen Fensterbaubetrieb aufzumachen.
Die Stadt war voll von Gangstern und Glücksrittern, von Profis, die ihren Wissensvorsprung zu Geld machen wollten. Fast täglich wurden an der Bar des Interhotel am Thälmann-Platz rauschende Feste gefeiert, mit Prostituierten aus Halle und Champagner aus dem Westen.[4]
Für solche Partys, sagt Flohr, habe er keine Zeit gehabt. Bis Mitternacht saß er oft im Büro, tagsüber navigierte er sich mit verzerrten DDR-Karten über Straßen voller Schlaglöcher, mit dem Ziel, die leeren Seiten in seinen Ordnern zu füllen. Hochbau, Tiefbau, Schleifwerke, Holzfabriken: Mit allem rund um den Bau hatten seine Firmen zu tun. Die meisten hatten keine Computer, nur ein einziges Telefon. Internet und Handys gab es noch nicht. Bewaffnet mit Notizblock und Polaroidkamera ließ er sich herumführen und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen: Arbeitsplätze, Umsatz, Auftragsbestand, Altschulden. Ein 29-Jähriger mit gewachsten Haaren und grellbunten Blumen auf der Krawatte – ihm gegenüber Betriebsleiter in ihren Fünfzigern, deren Staat sich gerade in Luft aufgelöst hatte.
Sie waren freundlich, sie wussten, er war nun Herr über ihre Geschicke. Doch meist notierte Flohr irgendwann auf seiner Liste diesen Posten, der größer war als alle anderen: durch Eigenkapital nicht gedeckter Fehlbetrag. Am Ende erhielten ihre Firmen eine Note von 1 bis 6, das System hatten Unternehmensberater für die Treuhand entwickelt. 1 bis 4 hieß: Geht in die Privatisierung, die 6: Sofort stilllegen. Nicht selten tauchten später verborgene Kassen aus dem Nichts auf, Grundstücke, Ferienheime. «Gibt’s da sonst noch was? Vielleicht etwas, das Sie vergessen haben?» Das wurde Flohrs Standardfrage an die Geschäftsführer. Einmal machte er eine Ostseetour, nur um sich einen Überblick über all die Ferienanlagen zu verschaffen.
Flohr kam in Baubetriebe, die 21 eigene Heizer beschäftigten, aber nicht mal einen Bagger besaßen – «Lichtjahre entfernt vom Weltmarktniveau», aber er bemühte sich, immer das Potential zu sehen. Ihn reizte die sportliche Herausforderung. Hätte eine Verletzung ihn nicht ausgebremst, wäre er Eishockeyprofi geworden. In die Junioren-Nationalmannschaft hatte er es schon geschafft.
Flohr ist heute immer noch ein jungenhafter Typ, sportlich, mit gewinnendem Humor. Er spricht schnell, und er denkt beim Sprechen, aber seine Sätze könnte man trotzdem drucken. Ich bin im Internet auf ihn gestoßen, weil er mal einen Treuhand-Alumni-Klub betrieben hat. Flohr hat sich einen ganzen Tag Zeit genommen, um mir seine Geschichte zu erzählen. Immer wieder muss ich ihn unterbrechen, um mitzukommen – nicht nur, weil mir die Zahlen mit den vielen Nullen so um die Ohren fliegen, sondern auch, weil das alles so unglaublich klingt. So irre. Flohr greift dann in seinen Rucksack und breitet alles vor mir aus: Notizen, Fotos, Verkaufsstatistiken.