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In Val McDermids neuem Roman "Der Verrat" muss die Schriftstellerin Stephanie Harker am Flughafen von Chicago hilflos mit ansehen, wie ihr fünfjähriger Adoptivsohn Jimmy von einem Unbekannten entführt wird. Als sie, außer sich vor Verzweiflung, aus der Sicherheitsschleuse ausbricht, wird sie für eine Attentäterin gehalten und von der Security überwältigt. Erst die FBI-Agentin Vivian McKuras glaubt ihr. Doch da ist der Entführer mit dem kleinen Jungen schon längst verschwunden ...
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Seitenzahl: 678
Val McDermid
Thriller
Aus dem Englischen von Doris Styron
Knaur eBooks
Während sie auf dem Flughafen von Chicago eine Sicherheitsschleuse passiert, muss die Schriftstellerin Stephanie Harker hilflos mit ansehen, wie ihr fünfjähriger Adoptivsohn Jimmy von einem Unbekannten entführt wird. Als sie, außer sich vor Verzweiflung, aus der Kabine ausbricht, wird sie für eine Attentäterin gehalten und von der Security überwältigt. Erst die FBI-Agentin Vivian McKuras glaubt ihr. Doch da ist der Entführer mit dem kleinen Jungen schon längst verschwunden …
Widmung
Motto
Erster Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Zweiter Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
Dritter Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Danksagung
Leseprobe »Das Mädchen,das denWeihnachtsmannumbrachte«
Denen gewidmet, die von uns gegangen sind,
während ich an diesem Buch schrieb:
Davina McDermid, Sue Carroll und Reginald Hill.
Ohne euch, die ihr mir, jeder auf seine
ganz eigene Weise, eine Hilfe wart,
hätte ich es nie so weit gebracht.
Ihr fehlt mir und seid doch immer da.
If you come to fame not knowing who you are,
it will define you.
Kommt man zu Ruhm, ohne zu wissen, wer man ist,
wird man davon geprägt.
Oprah Winfrey
Flucht
Stephanie Harker konnte sich noch erinnern, dass das Fliegen früher einmal eine aufregende Sache gewesen war. Sie schaute auf den fünfjährigen Jungen hinunter, der an dem Absperrband herumspielte, das zwischen den Ständern gespannt war; dahinter begann die lange Schlange der auf die Sicherheitskontrolle Wartenden. Jimmy würde jenes prickelnde Gefühl nie kennenlernen. Er würde damit aufwachsen, dass er Fliegen mit Langeweile und mit dem zunehmenden Missvergnügen verband, das einem Leute verursachten, die teilnahmslos, desinteressiert oder einfach unhöflich waren. Jimmy schien zu spüren, dass ihr Blick auf ihm ruhte, und schaute mit einem zaghaften und skeptischen Ausdruck nach oben. »Können wir heute Abend schwimmen gehen?«, fragte er in einem Tonfall, in dem die Erwartung einer abschlägigen Antwort mitschwang.
»Na klar können wir das«, beruhigte ihn Stephanie.
»Auch wenn das Flugzeug Verspätung hat?« Ihre Antwort hatte seine Befürchtungen wohl nicht zerstreut.
»Auch wenn das Flugzeug Verspätung hat. Zu dem Haus gehört ein Pool. Gleich vor dem Wohnzimmer. Es ist egal, wie spät wir ankommen, du kannst noch schwimmen gehen.«
Er zog die Stirn kraus, sann über ihre Antwort nach und nickte. »Okay.«
Sie schoben sich ein paar Schritte weiter. Diese Prozedur des Umsteigens von einem Flieger in den anderen reizte Stephanie bis zur Weißglut. Wenn man in den USA mit dem Flugzeug ankam, war man ja schon mindestens einmal durch die Sicherheitskontrolle geschleust worden. Zuweilen zweimal. In den meisten anderen Ländern musste man sich vor einem Anschlussflug nicht noch einmal einer zweiten Kontrolle unterziehen. Man befand sich ja schon im Vorfeldbereich, war durch die Behörden überprüft und für ungefährlich befunden worden. Da gab es doch keine Notwendigkeit, das ganze Theater noch mal durchzuziehen.
Aber Amerika war eben anders. Amerika war immer anders. Sie hatte den Verdacht, dass man in Amerika keinem anderen Land auf dem Planeten zutraute, eine anständige Flughafensicherheit garantieren zu können. Wenn man also in den Vereinigten Staaten landete und umsteigen musste, war man gezwungen, vom Vorfeldbereich zum Abfertigungsbereich zu gehen, und – na toll! – sich noch einmal der gleichen Prozedur zu unterziehen, die man bereits hinter sich gebracht hatte, bevor man den ersten verdammten Flieger hatte besteigen dürfen. Manchmal wurde einem dabei sogar die erstklassige, extra günstige Flasche Wodka aus dem Duty-free-Shop wieder abgenommen, weil man vergessen hatte, dass noch eine zweite Sicherheitskontrolle bevorstand. Sogar Flüssigkeiten, die man in einem verflixten Flughafen gekauft hatte, kassierten sie dann wieder ein! Die Mistkerle!
Als wäre das nicht schon ärgerlich genug, kam die neueste amerikanische Version des Abtastens bei der Sicherheitskontrolle schon ziemlich nah an das heran, was Stephanie als sexuelle Belästigung empfand. Wegen der Schrauben und der Platte, die seit zehn Jahren ihr linkes Bein zusammenhielten, kannte sie sich inzwischen gut aus mit der Gründlichkeit des Personals bei der Sicherheitskontrolle. Das Vorgehen der Frauen, die sich nach dem Piepsen und Blinken des Metalldetektors an ihr zu schaffen machten, war in keiner Weise logisch und konsequent. Das eine Extrem – wie vor einigen Jahren in Madrid – war, dass man sie weder abgetastet noch mit dem Scanner überprüft hatte. In Rom war man oberflächlich gewesen, in Berlin effizient. Aber in den USA grenzte die Gründlichkeit an Anstößigkeit; Handrücken strichen über den Busen und knufften gegen die Scham wie ein tolpatschiger Jüngling. Es war peinlich und demütigend.
Wieder ein paar Schritte weiter. Aber jetzt bewegten sich die Wartenden stetig voran. Langsam, aber stetig. Jimmy duckte sich an dem Punkt, wo sich die Schlange um die Markierung herumwand, unter dem Absperrband durch und hüpfte auf den Platz vor ihr. »Ich bin vor dir dran«, sagte er.
»Na dann.« Stephanie ließ das Handgepäck einen Moment los und verstrubbelte sein dichtes schwarzes Haar. Zumindest lenkten die Unannehmlichkeiten der Reise sie von den Sorgen ab, die sie sich wegen der Ferien mit ihrem Sohn machte. Nervös blähten sich ihre Nasenflügel, als ihr dieser ungewohnte Ausdruck durch den Kopf ging. Ferien mit ihrem Sohn. Wie lange würde es dauern, bis das nicht mehr seltsam, fremdartig und unmöglich klang? In Kalifornien würden sie unter normalen Familien sein. Dabei waren Jimmy und sie alles andere als eine normale Familie. Und sie hatte nie erwartet, diese Reise zu machen. Bitte, lass es nicht schiefgehen.
»Darf ich wieder am Fenster sitzen?« Jimmy stupste sie am Ellbogen. »Darf ich, Steph?«
»Wenn du versprichst, es unterwegs nicht aufzumachen.«
Er schaute sie argwöhnisch an, dann grinste er. »Würde ich in den Weltraum rausfliegen?«
»Ja. Du wärst der Junge im Mond.« Sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung weiter. Jetzt kamen sie schneller voran und waren fast so weit, dass sie ihr Bordgepäck und alles, was sie in den Hosentaschen bei sich hatten, in eine Plastikwanne legen mussten, damit es am Röntgenscanner vorbeigeschleust werden konnte. Stephanies Blick fiel auf eine große Plexiglas-Kabine hinter dem Metalldetektor, und sie presste die Lippen aufeinander. »Denk dran, was ich dir gesagt habe, Jimmy«, schärfte sie ihm ein. »Du weißt, dass bei mir der Alarm angeht, und dann muss ich in der Glaskabine bleiben, bis mich jemand kontrolliert. Du darfst nicht zusammen mit mir rein.«
Er schmollte. »Warum nicht?«
»Es ist Vorschrift. Du brauchst keine Angst zu haben«, fügte sie hinzu, als sie den bekümmerten Ausdruck seiner Augen sah. »Mir passiert schon nichts. Du wartest beim Gepäckband, ja? Geh nicht weg, warte einfach, bis ich auf der anderen Seite rauskomme. Hast du verstanden?«
Jetzt hatte er den Blick abgewendet. Vielleicht fand er, dass sie von oben herab mit ihm redete. Es war so schwer, den richtigen Ton zu treffen. »Ich pass auf die Taschen auf«, sagte er. »Damit sie niemand klauen kann.«
»Sehr gut.«
Der Mann, der vor ihnen in der Schlange stand, streifte sein Jackett ab und legte es zusammengefaltet in eine Wanne, zog die Schuhe aus, dann den Gürtel. Danach öffnete er seine Laptoptasche, nahm seinen Computer heraus und legte ihn in eine zweite Wanne. Er nickte ihnen zu, um ihnen zu bedeuten, dass er fertig sei. »Das Reisen ist würdelos heutzutage«, sagte er grimmig lächelnd.
»Bist du so weit, Jimmy?« Stephanie ging weiter und griff sich eine Plastikwanne. »Es ist wichtig, dass du gut aufpasst.« Sie legte ihre Sachen zurecht, überprüfte Jimmys Taschen und schubste ihn dann in Richtung Metalldetektor vor sich her. Er drehte sich um und beobachtete, wie das Gerät piepste, die roten Lämpchen aufleuchteten und der bullige Angestellte von der Flughafensicherheit auf die durchsichtige Kabine wies.
»Eine von den Damen zur Untersuchung, bitte«, rief er, und sein Doppelkinn schwabbelte genauso wie sein Bauch. »Warten Sie bitte in der Kabine, Ma’am.« Er zeigte auf den etwa zwei Meter langen und einen Meter breiten Kasten. Auf den Boden waren zwei Füße aufgemalt. Ein Plastikstuhl stand an der einen Wand. In einer Halterung aus Holz steckte ein Metalldetektor. Jimmys Augen weiteten sich, als Stephanie die Kabine betrat. Sie winkte ihm, er solle zum Laufband gehen, wo ihr Handgepäck langsam am Scanner vorbeizog.
»Warte auf mich«, sagte sie, ohne dass er es hören konnte, und reckte den Daumen hoch.
Jimmy drehte sich um, ging ans Ende des Laufbands und bewachte ihre Plastikwannen. Stephanie schaute sich ungeduldig um. Drei oder vier weibliche Angestellte der Flughafensicherheit standen irgendwo herum, aber keine schien darauf aus, sich mit ihr zu beschäftigen. Gott sei Dank waren sie und Jimmy nicht in Eile wegen ihres Anschlussflugs. Da sie wusste, wie es in den USA heutzutage beim Umsteigen zuging, hatte sie wohlweislich genug Zeit zwischen ihren Flügen eingeplant.
Sie schaute wieder zu Jimmy hinüber. Einer der Sicherheitsleute schien mit ihm zu sprechen. Ein hochgewachsener Mann in einer schwarzen Uniformhose und blauem Hemd. Aber irgendwie stimmte etwas mit ihm nicht. Stephanie runzelte die Stirn. Er trug eine Mütze, das war’s! Keiner der anderen Angestellten des Sicherheitsdienstes trug eine Kopfbedeckung. Während sie hinblickte, griff der Mann nach Jimmys Hand.
Einen Bruchteil einer Sekunde konnte Stephanie gar nicht glauben, was sie da sah. Der Mann führte den fügsamen Jimmy vom Kontrollbereich weg auf den Terminal zu, wo Dutzende Menschen herumgingen und -standen. Beide warfen nicht einmal einen Blick zurück.
»Jimmy«, rief sie. »Jimmy, komm zurück, komm hierher.« Ihre Stimme klang schrill, wurde aber durch die Glasscheiben gedämpft. Weder der Mann noch das Kind blieben stehen. Jetzt war Stephanie wirklich beunruhigt, hämmerte an die Seitenwände der Kabine und deutete in Richtung Terminal. »Mein Kind«, schrie sie. »Jemand hat mein Kind entführt!«
Ihre Worte schienen nichts zu bewirken, ihr Hämmern aber schon. Zwei Sicherheitsleute kamen auf die Kabine zu, kümmerten sich jedoch nicht um Jimmy. Alles, was hinter ihnen geschah, beeindruckte sie nicht. Außer sich vor Sorge, verdrängte Stephanie die Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, sie sei übergeschnappt, und rannte los.
Sie war gerade mal aus der Kabine heraus, als einer der Männer vom Sicherheitspersonal sie am Arm packte und etwas sagte, das sie nicht verstand. Sein fester Griff bremste sie, konnte sie aber nicht aufhalten. Die Aussicht, Jimmy zu verlieren, verlieh ihr außergewöhnliche Energie. Der Mann grapschte mit der anderen Hand nach ihr, und ohne nachzudenken wirbelte Stephanie herum und versetzte ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht. »Da entführt einer mein Kind!«, schrie sie.
Der Sicherheitsmann blutete aus der Nase, ließ sie aber nicht los.
Jetzt konnte Stephanie nur noch die Mütze des Entführers sehen. Jimmy war in der Menge verschwunden. Die panische Angst gab ihr Kraft, und sie zog den Sicherheitsmann hinter sich her. Vage nahm sie wahr, dass andere Sicherheitsangestellte ihre Waffe zogen und sie anschrien, aber sie blieb vollkommen konzentriert und rief: »Jimmy!«
Inzwischen hatte ein weiterer Sicherheitsangestellter sie um die Taille gefasst und versuchte, sie zu Boden zu reißen. »Auf den Boden«, brüllte er. »Sofort auf den Boden.« Sie trat nach ihm und schrammte mit ihrem Absatz an seinem Schienbein entlang.
Als sich ein dritter Mann des Sicherheitspersonals in die Schlacht einmischte und sich auf ihren Rücken warf, wurde aus dem Geschrei ein unverständliches Stimmengewirr. Stephanies Knie gaben nach, und sie sackte zu Boden. »Mein Junge«, murmelte sie und griff in die Tasche, in die sie ihre Bordkarten gesteckt hatte. Plötzlich lösten sich die Personen, die sie festhielten, von ihr, und sie war frei. Verwirrt, aber erleichtert, dass man ihr endlich zuhören wollte, stemmte sich Stephanie mit einer Hand hoch auf die Knie.
Das war der Moment, in dem sie den Elektroschocker einsetzten.
Alles geschah gleichzeitig. Ein entsetzlicher Schmerz raste an ihren Nervenbahnen entlang, tanzende Synapsen schickten verheerende Signale an die Muskeln. Stephanie brach sofort zusammen, es war ein kompletter Kollaps, wie wenn ein Schalter umgelegt wird. Ihre verwirrten Gedanken rasten und konnten nichts anfangen mit dem Schmerz und dem totalen Kontrollverlust über ihren Körper. Der einzige Impuls, der dabei nicht unterging, war ihr Bedürfnis, mitzuteilen, was geschehen war.
Sie war sich ganz sicher, Jimmys Namen zu rufen, während sie hart auf dem Boden aufschlug. Aber was sie hörte, waren nur unverständliche, abgehackte Laute, so etwas wie das Lallen eines Schläfers, der von einem Alptraum geplagt wird.
So plötzlich, wie der Schmerz gekommen war, verschwand er auch wieder. Stephanie hob verblüfft den Kopf. Sie kümmerte sich nicht um die Angestellten der Flughafensicherheit, die in gebotener Entfernung um sie herum standen. Sie merkte nichts von den gaffenden Fluggästen, ihren Ausrufen oder den gezückten Fotohandys. Verzweifelt versuchte sie, irgendwo Jimmy zu entdecken, und erhaschte tatsächlich einen Blick auf sein leuchtend rotes Arsenal-Trikot neben der schwarzblauen Uniform der Flughafensicherheit. Die beiden bogen von der Haupthalle ab und verschwanden. Stephanie ignorierte den nachklingenden Schmerz in ihren Muskeln, stemmte sich hoch und stürmte in die entsprechende Richtung, wobei etwas wie ein Urschrei aus ihrer Kehle drang.
Aber sie schaffte nicht einmal den ersten Schritt. Diesmal war der Taserschock länger und die Lähmung gründlicher.
Nach dem ersten betäubenden Stromstoß blieb sie weiterhin orientierungslos und schwach. Zwei Männer zogen sie hoch, bis sie auf die Beine kam, und zerrten sie durch den Terminal, aber in entgegengesetzter Richtung der Stelle, wo sie Jimmy zuletzt gesehen hatte. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft versuchte Stephanie, sich zu befreien.
»Geben Sie auf«, schrie sie einer der Männer an, die sie festhielten.
»Handschellen«, rief eine zweite, energischere Stimme.
Stephanies Arme wurden nach hinten gezerrt, und sie spürte, wie sich die metallenen Handschellen wie kalte Armbänder um ihre Handgelenke schlossen. Jetzt ging es schneller voran, sie wurde durch einen Seitenflur und eine Tür geschubst. Man ließ sie auf einen Plastikstuhl plumpsen, wo ihre Arme unangenehm über die Lehne nach hinten gestreckt waren. In ihrem Kopf fühlte es sich an, als würden die Rädchen nicht mehr richtig ineinandergreifen. Sie konnte keinen Gedanken fassen.
Eine stämmige Frau lateinamerikanischer Herkunft in der Uniform des Sicherheitsdienstes trat vor sie hin. Ihr Gesichtsausdruck war knallhart und grimmig, aber die Augen schauten mitfühlend. »Sie werden sich eine Weile verwirrt fühlen. Das geht vorbei. Sie sterben nicht daran. Sie sind nicht einmal verletzt. Anders als bei meinem Kollegen mit der lädierten Nase. Versuchen Sie nicht, diesen Raum zu verlassen. Sie werden daran gehindert werden, sollten Sie es doch versuchen.«
»Jemand hat meinen Sohn entführt.« Die Worte kamen rauh und undeutlich heraus. Sogar sie selbst fand, sie klänge betrunken und vernuschelt. Sie konnte sich nicht einmal genug konzentrieren, um das Namensschildchen der Frau zu lesen.
»Ich bin bald wieder zurück, um Sie zu vernehmen«, sagte die Frau und folgte ihren Kollegen zur Tür.
»Warten Sie«, rief Stephanie. »Mein Junge. Jemand hat meinen Jungen mitgenommen.«
Die Frau geriet auf ihrem Weg aus dem Raum nicht einmal aus dem Tritt.
Jetzt wurde sie von der kalten Angst in ihrer Brust überwältigt. Egal, was der Taser mit ihrem Körper und ihrem Kopf gemacht hatte. In diesem Moment nahm sie nur den Schrecken wahr. Ihre anfängliche Panik hatte sich verändert, und mit ihr war der dringende Wunsch, zu fliehen oder zurückzuschlagen, verflogen. Jetzt fühlte sich die Sorge wie ein kalter Knoten in der Brust an, der auf ihr Herz drückte und das Atmen erschwerte.
Während Gedanken und Gefühle in ihrem Inneren durcheinandergingen, konzentrierte sich Stephanie mit aller Macht auf die eine wesentliche Tatsache. Jemand war mit Jimmy aus dem Sicherheitsbereich weggegangen. Ein Fremder hatte ihn mitgenommen, ohne dass im alltäglichen Gang der Dinge überhaupt etwas bemerkt worden war. Wie hatte das passieren können? Und warum schenkte ihr niemand Gehör?
Sie musste hier raus, musste jemandem in einer höheren Position erklären, dass etwas Schreckliches geschehen war und in diesem Moment immer noch geschah. Stephanie presste sich gegen die Stuhllehne und versuchte, die Arme frei zu bekommen. Aber je mehr sie gegen die steife Plastikfläche ankämpfte, desto unmöglicher erschien ihr jede Bewegung. Schließlich begriff sie, dass die Konstruktion des Stuhls ihr nicht erlaubte, die Arme so weit nach hinten zu strecken, dass sie sie über die Lehne hochziehen konnte. Und weil er am Boden befestigt war, konnte sie nicht einmal aufstehen und ihn wie einen merkwürdigen Schildkrötenpanzer mit sich herumtragen.
Als sie mit ihren Überlegungen bei diesem Endergebnis angekommen war, betrat die Frau, die mit ihr gesprochen hatte, wieder den Raum. Sie war in Begleitung eines hoch aufgeschossenen Mannes mittleren Alters in der jetzt schon vertrauten Uniform des Sicherheitsdienstes, der sich grußlos Stephanie gegenübersetzte. Der präzise Bürstenschnitt seines schon ergrauenden dunklen Haars ließ sein Gesicht wie eine Serie von Mulden und Kanten erscheinen, als hätte ein Kind mit einem Modellbaukasten diese Formen zusammengefügt. Seine Augen waren kalt, Mund und Kinn wirkten zu weich für das von ihm angestrebte Image. Auf seinem Namensschild stand Randall Parton, und auf der Schulterklappe seines blauen Hemdes waren zwei Goldstreifen. Stephanie war erleichtert, dass ihr das, was sie jetzt sah, einen Sinn zu ergeben schien.
»Jemand hat meinen Jungen entführt«, rief sie und verhaspelte sich dabei vor lauter Eile. »Sie müssen Alarm auslösen, die Polizei rufen. Was immer Sie tun, wenn ein Fremder ein Kind mitnimmt.«
An Partons versteinerter Miene änderte sich nichts. »Wie heißen Sie?«, fragte er. Stephanie erkannte den näselnden Akzent Neuenglands.
»Wie ich heiße? Stephanie Harker. Aber das ist unwichtig. Wichtig ist …«
»Hier bestimmen wir, was wichtig ist.« Parton straffte die Schultern unter seinem ordentlich gebügelten Hemd. »Und jetzt ist wesentlich, dass Sie ein Sicherheitsrisiko darstellen.«
»Das ist ja verrückt. Ich bin doch das Opfer.«
»So wie ich das sehe, ist mein Mitarbeiter das Opfer. Der Mann, den Sie angriffen, weil Sie sich aus dem Sicherheitskontrollbereich entfernen wollten, bevor man Sie überprüfen konnte. Nachdem der Metalldetektor gepiepst hatte.« Stephanie sah, dass die Frau hinter ihm von einem Fuß auf den anderen trat, als sei ihr nicht recht wohl.
»Der Metalldetektor hat sich gemeldet, weil ich eine Metallplatte und drei Schrauben im linken Bein habe. Ich war vor zehn Jahren in einen schlimmen Autounfall verwickelt. Die Detektoren schlagen bei mir immer Alarm.«
»Und im Moment haben wir keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob Sie die Wahrheit sagen. Bevor wir irgendetwas veranlassen, müssen wir einwandfrei feststellen, dass Sie kein Risiko für mein Land oder mein Team sind. Wir verlangen, dass Sie sich einer gründlichen Untersuchung unterziehen.«
Stephanie spürte, wie sich in ihrem Kopf immer mehr Druck aufbaute, als ob hinter ihren Augen gleich ein Blutgefäß platzen werde. »Aber das ist verrückt. Welche Rechte habe ich?«
»Es ist nicht meine Aufgabe, Sie über Ihre Rechte zu informieren. Mein Auftrag ist es, die Sicherheit auf dem Flughafen aufrechtzuerhalten.«
»Warum suchen Sie dann nicht nach dem Entführer, der meinen Sohn mitgenommen hat? Herrgott noch mal!«
»Fluchen Sie hier nicht so herum! Die Geschichte von der Entführung könnte genauso gut ein raffinierter Trick sein. Ich warte immer noch auf Ihre Bestätigung, dass Sie sich zu einer gründlichen Leibesvisitation bereit erklären.«
»Ich bestätige gar nichts, bis Sie sich endlich mit dem befassen, was mit Jimmy passiert ist, Sie Idiot. Wo ist Ihr Chef? Ich will mit einem Vorgesetzten sprechen. Nehmen Sie mir die Handschellen ab. Ich möchte einen Anwalt.«
Parton presste die Lippen zu einem angespannten Lächeln zusammen, das überhaupt nichts mit Humor zu tun hatte. »Ausländer, die wir einer längeren Befragung unterziehen möchten, haben im Allgemeinen kein Anrecht auf einen Anwalt.« Seiner Stimme war die Genugtuung deutlich anzuhören.
Die Sicherheitsangestellte räusperte sich und machte einen Schritt nach vorn. Lia Lopez, so hieß sie laut ihrem Namensschild. »Randall, sie spricht hier von einer Kindesentführung. Sie hat ein Recht auf einen Anwalt, wenn wir sie wegen irgendetwas anderem als wegen der Einwanderungserlaubnis oder Gefährdung der Sicherheit befragen.«
Parton drehte unheildrohend den Kopf herum, als sei der so schwer wie eine Bowlingkugel. »Was wir im Moment ja nicht tun, Lopez.« Er hielt ihrem Blick eine ganze Weile stand und wandte sich dann wieder Stephanie zu. »Sie müssen Ihre Zustimmung geben«, wiederholte er.
»Bin ich nach dem Gesetz verpflichtet, mich durchsuchen zu lassen?« Es war Stephanie klargeworden, dass sie, wenn dieser Idiot sie nicht anhörte, zu jemandem durchdringen musste, der das tun würde. Und zwar schnell.
»Sie weigern sich also, Ihre Zustimmung zu geben?«
»Nein, ich möchte nur Klarheit haben. Bin ich nach dem Gesetz verpflichtet, mich einer Durchsuchung zu unterziehen? Oder kann ich ablehnen?«
»So tun Sie sich keinen Gefallen.« Auf Partons Wangen erschien eine blasse Rötung, als wäre er einem kalten Wind ausgesetzt gewesen.
»Ich kenne mich mit den Gesetzen hier nicht aus. Wie Sie ja bemerkt haben, bin ich keine US-Bürgerin. Ich möchte nur abklären, welche Rechte ich in dieser Situation habe.«
Partons Kopf ruckte nach vorn wie der eines aggressiven Farmgockels. »Sie weigern sich also, Ihre Zustimmung zu einer Durchsuchung zu geben? Stimmt’s?«
»Kennen Sie eigentlich das Gesetz? Wissen Sie überhaupt, welche Rechte ich habe? Ich möchte mit einem Vorgesetzten sprechen, jemandem, der sich auskennt.«
»Hören Sie mal, Lady. Wenn Sie mir schlau kommen wollen, da mach ich nicht mit. Wenn Sie mir keine Auskunft auf die Fragen geben, die ich Ihnen stelle, dann können Sie mit jemand vom FBI reden. Und das ist ’ne ganz andere Liga.« Er stieß sich vom Tisch ab und wandte sich an Lopez. »Was wissen wir über ihre Personalien?«
Lopez murmelte etwas in ihr Funkgerät und wandte sich ab. Parton redete weiter, und das andere Gespräch war deshalb nicht zu hören. »Wie gesagt, Sie tun sich damit keinen Gefallen. Sie haben einen meiner Mitarbeiter angegriffen. Das ist alles, was wir wissen. Niemand hat irgendeinen Vorfall mitbekommen. Niemand hat gemeldet, dass ein Kind entführt wurde. Ich weiß nur, dass Sie plötzlich ausgeflippt sind. Warum, verflixt noch mal, sind Sie denn aus der Kabine rausgestürmt? Warum haben Sie den Sicherheitsmann angegriffen?«
Es hatte nichts gebracht, dass sie diese Frage bereits beantwortet hatte. Und es war kaum anzunehmen, dass eine Wiederholung der Gründe sie weiterbringen würde. Hätte Stephanie gekonnt, dann hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt. Mit ihrer Körpersprache konnte sie aber im Moment nicht ausdrücken, dass es ihr reichte. Sie verdrängte ihre Panik, neigte den Kopf nach hinten und schaute ihm in die Augen. »Bin ich nach dem Gesetz verpflichtet, diese Frage zu beantworten?«
Entnervt schlug Parton mit beiden Handflächen auf den Tisch. Lopez kam näher und sagte: »Sie hat die USA vor einer halben Stunde hier in Chicago betreten. Sie kam mit einem Flug von London-Heathrow.« Sie räusperte sich. »Sie hatte ein minderjähriges Kind bei sich.«
Schweigen breitete sich im Raum aus. Mit wütender, eiskalter Stimme sagte Stephanie: »Kann jetzt mal ein richtiger Polizeibeamter herkommen?«
Nach Lopez’ Auskunft fiel Partons angeberisches Getue in sich zusammen. Er ordnete an, Stephanie die Handschellen abzunehmen, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, sie anzublaffen: »Lassen Sie die Hände aus den Taschen. Und telefonieren Sie nicht.«
»Ich habe mein Handy nicht. Es ist mit allen anderen Sachen, die durchleuchtet worden sind, in einem Plastikbehälter. Und vermutlich ist da auch Jimmys Rucksack dabei. Um zu überprüfen, ob meine Angaben wahrheitsgemäß sind, hätten Sie sich nur anzuschauen brauchen, was auf dem Transportband lag.« Stephanie versuchte nicht, ihre Geringschätzung zu verbergen.
Parton schwieg und verließ den Raum. Lopez lächelte ihr beschämt zu.
»Holt er jetzt jemanden, der sich damit befassen kann, dass mein Kind entführt worden ist?«, fragte Stephanie fordernd und rieb sich die Handgelenke.
Lopez wandte den Blick ab, denn die Tür ging auf. Ein Angestellter vom Sicherheitsdienst brachte zwei graue Plastikbehälter in den Raum und stellte sie ab. Stephanie erblickte in dem einen Behälter ihre Reisetasche, in dem anderen waren ihre Jacke, Schuhe, Toilettenartikel und Verschiedenes aus den Taschen ihrer Kleidung in durchsichtigen Plastiktüten, damit man es leicht überprüfen konnte. »Warten Sie«, sagte sie. »Da müsste noch ein Behälter sein, mit Jimmys Rucksack und seinem Kapuzenpulli.«
Der Mann zuckte mit der Schulter. »Sonst ist nichts da.« Er schloss die Tür hinter sich.
Dass Jimmys Sachen nicht da waren, ließ Stephanie erneut vor Angst erzittern. Das deutete doch auf kaltblütige Planung hin, auf eine gezielte Aktion statt eines spontanen Zugriffs auf ein beliebiges Opfer. Noch nie hatte sie das Verstreichen der Zeit als so quälend langsam empfunden. »Hat irgendjemand hier schon mal davon gehört, dass etwas dringend sein könnte?«, fragte sie. »Haben Sie Kinder? Würden Sie nicht verrückt werden, wenn jemand Ihr Kind mitnähme und niemand kümmerte sich darum?«
Lopez war peinlich berührt. »Sie müssen Geduld haben. Wir haben hier eine Aufgabe, die nur mit einem kleinen Teilbereich zu tun hat. Wir müssen innerhalb der uns gesteckten Grenzen operieren. Und dabei sollte ich nicht einmal mit Ihnen reden.«
Stephanie verbarg das Gesicht in den Händen. »In jeder Minute, die verstreicht, ist Jimmy in Gefahr. Ich habe versprochen … ich hab doch versprochen …« Ihre Stimme versagte. Angst und Wut konnten ihren Adrenalinspiegel nicht unbegrenzt lange aufrechterhalten. Jetzt ließ ihr Gefühl zu scheitern sie verstummen. Sie hatte doch ihr Wort gegeben. Und jetzt sah es so aus, als sei ihr Wort nichts wert.
Dass sie in den Außendienst der Einwanderungsbehörde versetzt worden war, hatte Special Agent Vivian McKuras zunächst als eine Beförderung interpretiert. Aber seit sie als permanente Ansprechpartnerin im Büro am Chicagoer Flughafen saß, war ihr klargeworden, dass sie in Wirklichkeit für die Sünden ihres früheren Chefs bestraft wurde. Jeff saß jetzt wegen der kreativen Methoden, mit denen er seine Spielsucht finanziert hatte, in einer Haftanstalt. Sie hatte gewusst, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, aber geglaubt, es hätte etwas mit seiner Ehe zu tun, nicht mit einem komplizenhaften Verhältnis zu den kriminellen Elementen der Stadt. Da hatte sie sich ja als wahre Spürnase bewiesen.
Von außen gesehen, mochte sich die Stelle am Flughafen wie ein toller Job ausnehmen, man war in vorderster Front und kämpfte gegen Terroristen, die den American Way of Life unterminieren wollten. Der perfekte Ort für eine Polizeibeamtin, um sich zu rehabilitieren und zu zeigen, dass sie wirklich ein Ass war. Aber die Wirklichkeit war denkbar ernüchternd. Die meisten Personen, die das Sicherheitspersonal aus den Wartenden aussonderte, waren ungefähr so gefährliche Terroristen wie ihre Großmutter. Genau besehen war dieser Vergleich allerdings nicht besonders treffend. Ihre Großmutter konnte dieser Tage in Sachen schottische Unabhängigkeit fuchsteufelswild werden. Auch wenn sie Rutherglen bereits im Alter von fünf Monaten verlassen hatte.
Vivian McKuras’ Problem war Langeweile. Jede Vernehmung, die sie nach einer Festnahme durch den Sicherheitsdienst durchgeführt hatte, war vollkommen zwecklos gewesen. Meistens hatte sie schon nach drei Minuten gewusst, dass die Männer, Frauen oder Kinder, die man festhielt, damit sie sich mit ihnen befasste, für die Sicherheit des Landes völlig irrelevant waren. Körperbehinderte Veteranen, inkontinente Senioren und der Sikh mit seiner Kopie eines Prunksäbels aus schwarzem Plastik würden kein Flugzeug entführen oder den Flughafen dem Erdboden gleichmachen. Und in den wenigen Fällen, in denen ihrer Meinung nach eine weitere Untersuchung nötig gewesen war, hatten die Vorschriften verlangt, dass sie das Chicagoer Büro beteiligte. Ihr potenzieller Verdächtiger wurde sofort weggebracht, damit er von Kollegen befragt werden konnte, deren Laufbahn weniger unschöne Flecken aufwies als ihre.
Die Langeweile brachte sie schier um. So oft schon hatte sie sich unter der Dusche ihren Kündigungsbrief ausgedacht. Aber dann drängten sich ihr immer die praktischen Probleme auf. Wie konnte sie sonst ihren Lebensunterhalt verdienen? Zurzeit steckte das Land in einer Rezession. Niemand stellte neue Leute ein. Und besonders keine Leute ohne Fachausbildung. Fünf Jahre beim FBI waren lediglich eine Qualifikation für eine weitere solche Arbeit. Und weiter die gleiche Arbeit zu machen, das war genau das, was sie nicht wollte.
Und um ihren Tag vollends zu ruinieren, betrat jetzt auch noch Randall Parton ihr Büro. Vivian hatte zu vermeiden versucht, dass ihre instinktive Abneigung gegen Parton sich störend auf ihre berufliche Beziehung auswirkte. Aber bei seiner unübersehbaren Arroganz und Dummheit, die sich gleich bei ihrer ersten Begegnung – und auch bei jeder weiteren – gezeigt hatte, war das schwierig.
»Agentin McKuras«, sagte er und nickte knapp zum Gruß. Er schaffte es immer, deutlich zu machen, dass der Mangel an Respekt auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Was soll ich heute für Sie tun, Officer Parton?« Vivian lächelte zuckersüß, denn sie wusste, es brachte ihn fast um, dass die Macht, mehr zu veranlassen, als einen Passagier am Besteigen des Flugzeugs zu hindern, in ihrer Hand lag.
Parton betrachtete den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch und war wie immer hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Platz zu nehmen – obwohl er wusste, dass die Aufforderung dazu erfahrungsgemäß nicht zu erwarten war –, und dem Verlangen, sie wie ein Riese zu überragen. »Wir haben drüben eine Verrückte. Der Metalldetektor schlug an, sie wurde in die Kabine gebracht, wo sie auf eine Mitarbeiterin warten sollte. Wir kamen nicht gleich dazu, Sie wissen ja, wie viel um diese Zeit los ist.«
»Ich weiß«, sagte Vivian und wünschte, es wäre nicht so. Wünschte, dieser Flughafen und alle internen Abläufe wären ihr ein Geheimnis.
»Aus heiterem Himmel bricht sie aus der Kabine aus.« Parton klang defensiv wie jemand, der erwartete, früher oder später herauszufinden, dass er sich getäuscht hatte. »Die Mitarbeiter versuchen sie aufzuhalten, aber das lässt sie nicht zu. Schließlich hat einer meiner Männer ’ne blutige Nase, überall Blut, und sie macht immer noch weiter, schreit irgendwas, das keiner von meinen Leuten kapiert.«
»Sie spricht nicht Englisch?«
Partons Mund zuckte, um seinen Widerwillen auszudrücken. »Engländerin ist sie schon, aber niemand hat ’ne Ahnung, was sie da schreit. Also tasert man sie, wie es vorgeschrieben ist, wenn man auf gewalttätigen Widerstand stößt. Sie geht zu Boden, steht aber gleich wieder auf. Wie eine Verrückte. Also tasern sie sie mit einem längeren Schock, und diesmal bleibt sie liegen, bis man ihr Handschellen angelegt hat. Lopez hat sie dann in den Verhörraum gebracht.«
Vivian verspürte Erleichterung. Lia Lopez war Parton zwar untergeordnet, aber sie hatte mehr Verstand als alle anderen Kollegen ihrer Schicht zusammengenommen. »Gut gemacht«, sagte sie.
»Da werde ich dazugerufen. Und jetzt wird’s kompliziert.«
»Wie kompliziert?«
»Erstens mal ist sie ’ne Klugscheißerin. Jedes Mal, wenn ich ihr eine Frage stelle, kommt sie mir ständig damit, ob sie überhaupt verpflichtet sei zu antworten. Ich komm nicht weiter mit ihr. Und dann fängt sie damit an, dass ihr Kind entführt worden wäre. Aber es gibt im ganzen Bereich keinen Alarmruf. Niemand hat gesehen, dass ein Kind mitgenommen wurde. Diese verflixte ausgeflippte Frau, die aus der Kabine ausgebrochen ist, war heute Nachmittag in meinem Arbeitsbereich das einzig Ungewöhnliche. Deshalb fand ich, ich sollte sie nicht ernst nehmen. Ich dachte, sie hätte es darauf angelegt, uns von der Durchsuchung abzubringen, die wir durchführen wollten.« Jetzt streckte er das Kinn vor, voller Selbstgerechtigkeit.
»Ich kann verstehen, dass Sie das dachten.« Wenn Sie ein Vollidiot wären. »Wie steht’s also jetzt? Möchten Sie, dass ich mit ihr rede? Damit sie sich bereit erklärt, die Durchsuchung zuzulassen?«
Parton verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Sache ist inzwischen komplizierter. Lopez hat ihren Namen in ihrem Pass nachgeschaut und beim Einreiseschalter nachgefragt. Nun stellt sich heraus, dass sie bei der Ankunft tatsächlich ein Kind dabeihatte.«
»Und jetzt ist das Kind verschwunden?« Augenblicklich hatte er Vivians ungeteilte Aufmerksamkeit. Worum immer es hier ging, es war keine der alltäglichen Kleinigkeiten, mit denen sie sich ständig herumschlagen musste.
Parton nickte. »Sieht so aus, ja.« Sein Mund zuckte wieder ironisch. »Und Folgendes: Sie ist nicht die Mutter. Sie ist zusammen mit dem Kind eingeflogen und hat britische Unterlagen vom Gericht vorgelegt, die sie berechtigen, mit ihm zu reisen. Also, wer weiß, was da los ist, verdammt noch mal.«
Der plötzliche Adrenalinstoß rüttelte Vivian wach, wie nichts es seit Monaten vermocht hatte. »Herrgott, Parton. Wir werden einen Code-Adam-Alarm auslösen müssen.« Sie griff nach dem Telefonhörer und fragte sich, wen sie zuerst anrufen sollte, wenn es darum ging, den verkehrsreichsten Flughafen der Welt zu schließen.
Betreten wandte Parton den Kopf zur Seite. »Es ist zu spät, um alles abzuriegeln. Wir haben nicht schnell genug begriffen, was los war. Der Entführer wird längst weg sein. Sie können die Videobänder überprüfen, wenn Sie mir nicht glauben. Aber einen Code Adam sollten Sie wirklich nicht ausrufen, wenn Sie nicht sicher sind, dass sie noch hier auf dem Gelände sind.«
Vivian begriff, was er meinte. Das würde zu einem schnellen Ende ihrer Karriere führen. Sie stieß einen kurzen, durchdringenden Seufzer aus und drückte auf die selten genutzte Wahltaste für die Videoüberwachungszentrale. Parton schien beleidigt, wollte etwas sagen, aber sie hob den Finger, damit er still war. »Hi«, sagte sie, als sich der Controller meldete. »Hier ist Special Agent McKuras vom FBI. Bitte schicken Sie mir das Material für die letzte Stunde von …«
»Sicherheitsbereich zwei, Terminal drei«, steuerte Parton jetzt eifrig bei, weil er das Gefühl hatte, Vivians Maßnahmen könnten ihm aus einer ungünstigen Situation heraushelfen.
Vivian wiederholte die Angaben und gab dem Controller zur Sicherheit ihre Netzwerk-Adresse. Sie legte auf, und ihre Finger huschten geschickt und schnell über die Tastatur. Genau genommen müsste sie eigentlich einen ihrer Kollegen bitten, die Aufnahmen gemeinsam mit ihr anzuschauen. Aber die beiden Männer, mit denen sie sich den Posten am Flughafen teilte, saßen in einem winzigen Büro im internationalen Terminal. Sie wollte nicht warten, bis sich einer von ihnen herbequemt hatte. Wenn es eine Kindesentführung gegeben hatte, war jede Minute kostbar, besonders da sie nicht schnell genug reagiert hatten, um einen Code Adam auszurufen. Außerdem hatte sie ja einen einsatzbereiten Zeugen bei sich im Büro, wie wenig sie ihn auch schätzen mochte.
Sie schaute zu Parton hoch. »Wir werden bald eine klarere Vorstellung davon haben, was hier los ist. Ziehen Sie doch einen Stuhl ran, damit Sie auf meinen Bildschirm schauen können. Zwei Paar Augen sind besser als eins.«
Parton packte den Stuhl und stellte ihn schräg zum Schreibtisch, damit er den Monitor sehen konnte. Er setzte sich, streckte seine langen Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Hauch von Waschmittel und Bratengeruch kam Vivian entgegen, und ohne zu überlegen, rückte sie von ihm ab. Er bemerkte ihre Bewegung und brummte, zog aber seine Beine unter den Stuhl, damit er nicht so viel Platz einnahm. »Es ist ein großartiges System«, sagte er. »Wenn es funktioniert.«
»Hoffen wir, dass es heute einen guten Tag hat«, murmelte Vivian und öffnete mit einem Mausklick ein neues Fenster. Sie hatte die Wahl zwischen drei Kameras, die den Sicherheitsbereich filmten. »Welche?«
Parton beugte sich vor und streckte einen langen knochigen Finger aus. »Die hier. Die mittlere.«
Vivian schaute auf die Uhr. »Wie lange ist es her?«
»Ungefähr zwanzig Minuten.«
Sie öffnete den Stream mit den Aufnahmen der Kamera und scrollte zwanzig Minuten zurück, dann ließ sie ihn durchlaufen. Zwei Minuten sahen sie schweigend zu. Dann kamen eine Frau und ein Kind in Sicht, die die Plastikbehälter vor dem Metalldetektor beluden. »Das ist sie«, sagte Parton.
»Und der Junge gehört auf jeden Fall zu ihr.« Vivian hielt die Aufnahme an und betrachtete die beiden genau. Die Frau schien von überdurchschnittlicher Größe zu sein. Etwa 1,85 vielleicht. Mittelbraunes Haar mit einem nicht besonders gepflegten mittellangen Schnitt. Apartes Aussehen mit hohen Wangenknochen, einem kantigen Kinn, der große Mund lächelte, während sie den Jungen anschaute. Sie sah aus, als hätte sie den typisch englischen frischen Teint, rosiger Schimmer auf heller Haut. Der Junge hatte einen dichten Schopf schwarzer Haare, bräunliche Haut, die Wangen leicht aprikosenfarben. Er hatte schlaksige Arme und Beine, war drahtig und unbeholfen wie ein Fohlen in einem dieser sentimentalen Filme über Rennpferde. Er sah nicht aus, als sei er blutsverwandt mit ihr. Und doch ließ es sich nicht leugnen. »Sie gehören zusammen, Parton.«
»Scheiße.«
Sie beobachteten, wie der Junge den Metalldetektor passierte und weiter an der Durchleuchtungseinheit vorbeiging, hinter der ihre Sachen wieder auf dem Laufband erscheinen würden. Über die Schulter schaute er zu der Frau hin, die lächelnd den Daumen hochreckte, während sie die Kabine betrat, um auf eine weibliche Angestellte zu warten, die sie durchsuchen würde. So weit, so gut. Vivian merkte, dass sie die Luft anhielt, als sehe sie sich einen Thriller an.
Ein paar Sekunden verstrichen. Der Junge ging langsam weiter, die Frau sah ihm zu. Dann näherte sich ein Mann, scheinbar mit einem Uniformhemd des Sicherheitsdienstes und schwarzer Hose bekleidet, von der Halle her und ging auf den Jungen zu. Kurz bevor er bei ihm anlangte, hielt Vivian das Video an. »Was stimmt nicht mit diesem Bild?«
»Er trägt eine Baseballmütze«, sagte Parton, ohne zu zögern. »Die gehört nicht zur regulären Uniform. Wir tragen keine Kopfbedeckung.«
»Und er trägt genau die Art von Kopfbedeckung, die garantiert das Gesicht verbirgt, wenn man mit hoch hängenden Kameras aufgenommen wird.« Vivian ließ die Aufnahme weiterlaufen.
»Er gehört nicht zu meinem Team. Ausgeschlossen.« Parton nahm die Arme herunter und ballte die Fäuste.
Der Mann ging geradewegs auf den Jungen zu und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Der Junge schaute zu ihm hoch und nickte. Der Mann in der Uniform nahm den Rucksack aus einem der Plastikbehälter und führte dann den Jungen weg vom Laufband und auf die Halle zu. Die Szene elektrisierte die Frau geradezu. Sobald der Mann den Jungen berührte, stürmte sie los. Die beiden waren kaum am Ende des Laufbands angelangt, als sie schon außerhalb der Kabine war.
Vivian beachtete das dramatische Geschehen im Vordergrund nicht, sondern konzentrierte sich auf den Mann und den Jungen. Ein paar Meter waren sie noch zu sehen, aber wo die Halle eine Biegung nach rechts nahm, bogen sie scharf links ab. »Scheiße«, sagte Parton noch einmal.
»Da ist ein Ausgang, oder?«
»Führt zur Landseite«, bestätigte Parton. »Da wäre man innerhalb von einer Minute an der Straße. Und dann könnte man überallhin.«
Vivian hielt das Video wieder an. »Sieht aus, als hätte die Lady die Wahrheit gesagt«, kommentierte sie und klang so trostlos, wie sie sich fühlte. Jemand hatte sich ein Kind geschnappt, und die Sicherheitsbürokratie des Flughafens hatte dem Entführer einen Vorsprung verschafft. »Mein Gott, Parton. Wieso hat niemand auf diese Frau gehört?« Sie griff schon wieder zum Telefon.
»Zuerst verstand niemand, was sie sagte«, antwortete er. »Ich schwör’s.«
»Das wird Sie sicher herausreißen, wenn’s mit den Prozessen losgeht. Aber jetzt müssen Sie mir eine Liste mit allen geben, die heute Nachmittag Dienst hatten. Wir werden alle befragen müssen, um herauszufinden, wer was gesehen hat.«
Parton rührte sich nicht. Die Hand mit dem Telefonhörer schien ihn zu faszinieren. »Parton«, sagte Vivian ungeduldig. »Besorgen Sie mir diese Namensliste.«
Er schaute ihr in die Augen, wirkte aber wie betäubt. »Es wird ihm doch nichts passieren? Dem Jungen? Sie werden ihn finden, nicht wahr?«
Er verdiente es nicht, dass man sich seinetwegen Lügen ausdachte. »Lebend? Wahrscheinlich nicht. Gehen Sie jetzt.« Sie sah, wie er auf dem Weg nach draußen fast über den Stuhl fiel. Dann holte Vivian tief Luft, raffte sich auf und wählte die Nummer ihres Chefs. Der Klingelton würde das Ende ihrer Eigenständigkeit in diesem Fall von Kindesentführung bedeuten.
Der Drang, aufzustehen und hin und her zu gehen, war fast übermächtig. Stephanie hatte schon versucht, sich zu erheben, erreichte damit aber nur, dass Lopez ihr energisch befahl, sie solle sitzen bleiben. »Sonst muss ich Ihnen wieder die Handschellen anlegen«, warnte sie.
»Steht es mir nicht zu, jemanden anzurufen oder so etwas?«, fragte Stephanie. »Ich dachte, ihr Amerikaner legt so viel Wert auf anwaltliche Vertretung?«
Lopez stieß ein freudloses Lachen aus. »Haben Sie noch nie von Guantanamo gehört? Wir legen nicht so großen Wert auf Menschenrechte, wenn es um Leute geht, die uns niedermachen wollen.«
»Aber ich bin keine Terroristin. Ganz offenkundig nicht. Ich bin eine Frau, deren Kind vor ihren eigenen Augen entführt wurde, und Sie behandeln mich, als hätte ich etwas verbrochen. Wann nimmt mich endlich jemand ernst?« Stephanies Stimme wurde lauter, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben. Vor lauter Angst und Sorge war ihr übel, und sie schwitzte. Aber sie musste die Fassung behalten. Jimmy zuliebe. Dem Versprechen zuliebe, das sie gegeben hatte.
Sie hätten diese Urlaubsreise nie unternehmen sollen. Aber sie hatte sich von dem Gedanken an Kalifornien hinreißen lassen. Strände und Brandung, Disneyland und die Universal Studios in Hollywood, Sonne und der Yosemite-Nationalpark. Die Stadt der Swimmingpools hatte ihre Phantasie in Bann geschlagen, seit sie den Song von Joni Mitchell gehört hatte. Sie wollte wissen, wie die Wellen in Malibu klangen. Jimmys Ferien waren nur ein Vorwand dafür, sich ihre eigenen Wünsche zu erfüllen.
Das war unvernünftig gewesen.
Sie hätten nach Spanien fahren sollen. Hätten mit dem Auto per Fähre nach Santander übersetzen und dann zur Costa Brava hinüberfahren oder die französische Atlantikküste bis zur Bretagne hinaufzuckeln sollen. Sie hätten etwas tun sollen, was keine Metalldetektoren und keine Trennung von Jimmy mit sich brachte. Was demjenigen, der sich Jimmy schnappen wollte, keine Steilvorlage lieferte.
Wer würde überhaupt so etwas tun? Wer besäße die Frechheit und hätte auch noch genug Grips, ihn ausgerechnet auf einem Flughafen mit so vielen Menschen zu entführen, der durch Videokameras und einige der strengsten Sicherheitsvorkehrungen der Welt bestmöglich gesichert war? Es war unfassbar.
Schwer zu glauben, dass die Wahl zufällig auf ihn gefallen war, dass es also um eine spontane Entführung ging. Jemand hatte die Sache geplant. Ohne Zweifel war die Person, die Jimmy mitgenommen hatte, keine echte Sicherheitskraft gewesen, andernfalls hätten Parton und Lopez Bescheid gewusst. Das hieß, es war ein Betrüger. Aber man konnte sich nicht unendlich lange in einer falschen Uniform herumtreiben, ohne die Aufmerksamkeit der echten Sicherheitsangestellten zu erregen. Die Schlussfolgerung war nicht von der Hand zu weisen: Jimmy war ganz gezielt ausgewählt worden. Und das hieß: Es war ein Kidnapper, der seine tragische Vorgeschichte kannte. Und natürlich auch ihre Reisepläne.
Bitte, Gott, mach, dass ihm nichts passiert. Der Gedanke, dass Jimmy noch mehr leiden könnte, war ihr unerträglich. Er hatte schon so viel mehr Schlimmes hinter sich, als ein Fünfjähriger erlebt haben sollte. Manchmal, wenn er sich vor dem Schlafengehen an sie schmiegte, hatte sie sich vorgestellt, dass sie seinen Kummer in sich aufsaugte und aufnahm wie Lymphknoten, die Giftstoffe absorbieren. Dass sie Jimmy wie durch magische Heilkraft wieder in einen Zustand zurückversetzte, in dem er keine Spuren dieser tiefen Wunden mit sich herumtragen musste. Welcher Mistkerl würde diese Last an Schmerz und Angst noch vergrößern wollen?
Stephanie verdrängte den Gedanken und wollte sich nicht eingestehen, dass sie irgendeinen Menschen kannte, der sich eine solche Grausamkeit ausdenken könnte. Aber die böse Vorstellung ließ sich nicht unterdrücken.
Sie musste etwas tun, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Gibt es nicht irgendein System, einen Alarm, den man bei Kindesentführung auslöst? Ich bin sicher, dass ich das im Fernsehen gesehen habe. Man gibt den Fahrern auf den Autobahnen Hinweise oder so etwas?«
»Sie meinen den Amber Alert«, sagte Lopez. »Wenn ein Kind entführt wird, gibt man das über die Mautportale an der Autobahn bekannt. Aber es gehört noch viel mehr dazu. Man sendet es im Radio, und die Nachrichtensender im Fernsehen blenden es über Laufbänder ein. Viele Leute haben auch ein SMS-Abo dafür. In vielen Fällen hat es sehr gut funktioniert.«
»Das sollte man für Jimmy machen.« Stephanie vergrub beide Hände in ihrem Haar. »In diesem Moment sollte es bereits laufen.«
»Officer Parton hat die Sache im Griff.« Aber allzu überzeugt klang Lopez nicht.
»Sie haben doch ein Funkgerät hier. Können Sie nicht herausfinden, was los ist? Bitte.«
Lopez war verlegen. »Ich kann nichts tun. Glauben Sie mir, es ist schon alles ins Rollen gebracht.«
»Aber nicht schnell genug«, erwiderte Stephanie ungeduldig. »Irgendwo da draußen ist ein kleiner Junge, der immer mehr Angst bekommt, je länger er von mir getrennt ist. Ich hoffe, Sie können damit leben, Officer Lopez. Denn wenn ich hier rauskomme, wird unter anderen Ihr Name in den Schlagzeilen zu lesen sein. Ich habe Kontakte zu den Medien, da würden Ihnen die Tränen kommen. Und ich werde sie wirksam einzusetzen wissen.«
»Ich glaube, Drohungen sind in der jetzigen Situation nicht ratsam, Ma’am.«
»Aus meiner Sicht sind Drohungen das einzig Ratsame. Weil es nichts bringt, an die Menschlichkeit der Leute hier zu appellieren, oder? Vielleicht sollte ich besser Ihr Eigeninteresse ansprechen. Legen Sie Wert auf eine Fortsetzung Ihrer Karriere, Officer Lopez? Wollen Sie nicht am Ende zu den Guten gehören?«
Lopez ging einen Schritt auf sie zu. Stephanie erwartete Zorn oder Angst, war aber mit etwas ganz anderem konfrontiert. Lopez legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich tu mal so, als hätten Sie das alles nicht gesagt. Sie sind verstört. Das kann ich verstehen. Aber ich rate Ihnen, das mit den Drohungen zu vergessen, bis Sie in einer Situation sind, in der Sie entsprechend handeln können. Diese Organisation braucht keine schwerwiegenden Gründe, um Personen festzuhalten und jeglichen Kontakt nach außen zu unterbinden.«
Oberflächlich betrachtet hörte es sich wie die sanfte Stimme der Vernunft an. Aber auf Stephanie wirkte es wie die kaltblütigste Drohung, die sie sich vorstellen konnte.
Vivian McKuras legte so sachte den Hörer auf, als wollte sie ihn nicht provozieren, auf sie loszugehen und sie zu beißen. Sie hatte erwartet, dass ihr Chef ihr die Kindesentführung entreißen und sie verpflichten würde, sich Passagierlisten oder etwas ähnlich Stumpfsinniges vorzunehmen. Stattdessen war sie mitten in etwas hineingeplatzt, das sich nach einer Großaktion anhörte. Er hatte aufgeregt herumgefaselt, sie hätten die glaubhafte Drohung eines Selbstmordattentäters mitbekommen, die sich auf eine unmittelbar bevorstehende politische Kundgebung in Anwesenheit der Präsidentenfamilie bezog. Jeder, der irgendwie abkömmlich war – außer ihr, natürlich –, war unterwegs, um das Risiko einzudämmen, bevor es außer Kontrolle geriet. Normalerweise hätte ein solches Verhalten bei einem Mann, der offenbar bereits in der Highschool Kaltblütigkeit zu seinem Motto gemacht und es seitdem beibehalten hatte, sie verwirrt. Aber heute begrüßte sie es. Denn heute bedeutete es, dass sie volle Kontrolle über ihren ersten großen Fall erhielt. Siebenundzwanzig Jahre alt, und sie hatte einen eigenen wichtigen Fall! Auch wenn ihr Chef ihr gesagt hatte, sie solle ihre am Flughafen stationierten Kollegen mit einbeziehen, damit sie mit ihr zusammen alles organisierten. Sie legte das lieber als Vorschlag aus statt als Anweisung. Dies hier war ihr Fall, ihre Chance, die Wende zu schaffen.
Das Erste, was sie tun musste, war, den Amber Alert, den speziellen Notalarm bei Kindesentführung, vorzubereiten. Sie brauchte eine Beschreibung des Kindes und ein nicht zu altes Foto. Glücklicherweise hatte sie das alles zur Hand. Im wahrsten Sinn des Wortes. Vivian öffnete ihr E-Mail-Postfach und schickte eine dringende Nachricht an ihren Ansprechpartner bei der ICE HSI – der Behörde für sicherheitsrelevante Ermittlungen im Bereich Einwanderung und Zoll.
Hi, Kevin, habe eine Anfrage wegen eines minderjährigen Kindes, dem Ihr Team heute Nachmittag die Einreise gewährte. Kein Einwanderungsproblem, aber es sieht aus, als sei der Junge anschließend entführt worden. Er kam aus Großbritannien, begleitet von Stephanie Jane Harker, britische Staatsbürgerin. Nach meinen Informationen hatte sie britische Gerichtsdokumente, die sie bevollmächtigen, mit dem Kind zu reisen. Wir müssen einen Notfallalarm wegen Kindesentführung vorbereiten, deshalb brauche ich möglichst bald Kopien von allem, was Sie haben, Name des Kindes, Geburtsdatum, Personenbeschreibung. Wenn Sie ein Foto entweder vom Pass oder aus dem Computersystem haben, umso besser. Wir haben Videobilder aus den Überwachungskameras, aber die Auflösung ist ja nie so gut, dass man sie wirklich brauchen kann. Was immer Sie an Informationen oder Anmerkungen haben, könnte uns helfen.
Danke.
Und weil sie eine Frau war, die alles immer doppelt absicherte, schickte sie Kevin eine SMS, um ihn auf die Anfrage hinzuweisen.
Dann holte sie erst mal tief Luft.
Bis sie Informationen hatte, mit denen sie arbeiten konnte, gab es nichts mehr zu tun, um den Alarm in Gang zu setzen. Es war Zeit, mit Stephanie Jane Harker zu sprechen.
Als nicht Randall Parton, sondern eine Frau den Raum betrat, verspürte Stephanie eine ganz unvernünftige Erleichterung. Ihre jahrelange Tätigkeit in einer Branche, wo Frauen einen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit aufs Kreuz legten wie jeder beliebige Mann, hätte ihr solchen geschlechtsbezogenen Optimismus austreiben sollen, aber sie konnte nicht anders. Besonders wenn es um Kinder ging, erwartete sie immer noch ein kleines bisschen Solidarität von einer anderen Frau.
Diese hier sah aus, als sei es ihr ernst. Sie schaute Stephanie an, nahm Lopez dann zur Seite und neigte den Kopf, um leise mit der Sicherheitsangestellten zu sprechen. Wie würde ich sie darstellen, wenn ich über sie schriebe? Das war Stephanies Standardhaltung, wenn sie jemanden kennenlernte. Ihre Kleidung war adrett, aber unauffällig – dunkelgraue Hose, dunkelblauer Blazer, dunkelgrüne Bluse, nur der oberste Knopf offen. Eine Goldkette glänzte am Hals, einfache Goldstecker an den Ohren. Kurzes braunes Haar, um die Ohren und die Stirn fransig geschnitten, um ein Aussehen zu betonen, das elfenhaft hätte sein können, wäre da nicht das kantige Kinn gewesen. Eine eher bequeme Autorin hätte sich mit dem irischen Touch ihrer grünen Augen und dem leichten Hauch von Sommersprossen auf Nase und Wangen zufriedengegeben. Aber obwohl Stephanie wusste, dass sie als Schriftstellerin nicht gerade umwerfend war, war sie doch nie so bequem gewesen. Hier war man in Amerika, dem Land des Schmelztiegels. Da sollte man keine schnellen Hypothesen über Wurzeln und Herkunft aufstellen.
Jetzt wandte ihr die Frau das Gesicht zu und warf ihr ein oberflächliches, unpersönliches Lächeln zu. »Ich bin Special Agent McKuras«, sagte sie, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Vom FBI.«
»Gott sei Dank«, antwortete Stephanie. »Endlich eine richtige Polizistin. Sie werden wahrscheinlich wissen, welche Rechte ich habe?« Sie freute sich über die Überraschung, die kurz in den Augen der Agentin aufleuchtete.
»Soweit ich weiß, Ms Harker, haben Sie vorgebracht, dass ein schweres Verbrechen begangen worden sei. Nur aus diesem Grund interessiere ich mich für Sie. Ich wüsste nicht, warum Sie einen Anwalt brauchen sollten, um eine strafbare Handlung anzuzeigen. Irgendwann werden meine Kollegen von der Flughafensicherheit Sie abtasten wollen, da sich bei der Kontrolle der Metalldetektor gemeldet hat. Aber ich sehe auch nicht ein, dass Sie dafür einen Anwalt brauchen sollten.« Sie öffnete einen Tablet-PC und fuhr ihn hoch. »Was mich betrifft, so ist es jetzt das Vordringlichste, ein verschwundenes Kind zu finden.«
Stephanie spürte, wie ihre Schultern sich ein ganzes Stück senkten. Endlich jemand, der in der Lage war, vernünftig zu reden. »Danke für die Klarstellung«, sagte sie. »Wurde also ein Alarm wegen Jimmy ausgelöst?«
Vivian schaute ihr direkt in die Augen. »Wir sammeln gerade die nötigen Informationen, um genau das zu tun. Ich habe mir die Videoaufnahmen von dem, was im Sicherheitsbereich vorgefallen ist, angeschaut, aber leider können wir das Gesicht des Mannes nicht sehen, der Ihr Kind mitgenommen hat.«
Stephanie schluckte heftig. »Eigentlich ist er nicht mein Sohn.«
Vivian nickte. »Das ist uns klar. Und ich werde Ihnen bald einige Fragen dazu stellen. Aber im Moment sehe ich es als Priorität an, den Alarm zu starten. Erstens, wie heißt der Junge?«
»Jimmy Joshu Higgins.« Sie sah zu, wie Vivian das eingab. »Joshu, ohne ›a‹ am Ende. Nach seinem Vater. Er war DJ.« Stephanie gelang es nicht, einen leicht verächtlichen Tonfall zu unterdrücken.
»Sie halten nicht viel von seinem Vater?«
»Nein.« Dazu gab es mehr zu sagen, aber das konnte warten.
»Okay. Wie groß ist Jimmy?«
»Ungefähr 1,07 m. Ziemlich schlaksig und dünn. Für einen Fünfjährigen wiegt er nicht viel. Nicht ganz drei Stone.« Als sie sah, dass Vivian die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Etwa 19 Kilogramm.«
»Danke. Wir werden eine Beschreibung brauchen, die wir mit einem Foto von Jimmy veröffentlichen können.«
»Er hat dichtes, schwarzes Haar, ziemlich zottelig geschnitten. Haben Sie mal Das Dschungelbuch gesehen?«
Vivian schaute sie an, als sei sie übergeschnappt. »Nein. Ist das ein Film?«
»Ein Zeichentrickfilm. Der Junge in dem Film heißt Mogli. Jimmy sieht ungefähr so aus wie er. Der gleiche Haarschnitt und so ein ähnliches keckes Gesicht. Ich weiß nicht, wie ich ihn sonst beschreiben soll. Googeln Sie Mogli, dann werden Sie sehen, was ich meine.« Frustriert, dass sie nicht fähig war, ein Bild von Jimmy zu vermitteln, dachte Stephanie einen Moment nach. »Haben Sie nicht seinen Pass? Er war im gleichen Behälter wie meiner.«
Vivian wandte sich an Lopez. »Haben wir den, Lia?«
Lopez schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am. Nur Ms Harkers Pass. Von dem Jungen war nichts in dem Behälter. Ich schau noch mal nach, aber …« Sie ging in die Hocke und begann in den Plastikbehältern zu suchen.
»Und sein Rucksack?«, fragte Stephanie.
»Der Mann, mit dem er weggegangen ist, hat den Rucksack. Er muss sich auch den Pass gegriffen haben.«
»Hier ist nichts«, berichtete Lopez.
»Scheiße«, fluchte Stephanie. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Mein Handy. Ich habe letzte Woche im Park ein paar Fotos von ihm gemacht. Würde das helfen? Mein Handy ist in der Wanne, oder?«
Lopez erhob sich und hielt das Handy hoch. »Hier ist es.« Sie schaute Vivian fragend an, was sie tun sollte. »Geht es in Ordnung, ihr das Handy zu geben?«
»Geben Sie es mir.« Vivian rief schnell die gespeicherten Fotos auf und drückte den Knopf für das letzte Bild. Ein Mann in einem Jeanshemd saß auf einem hohen Hocker, über eine National-Gitarre gebeugt. Das Haar verdeckte den größten Teil seines Gesichts. Jimmy Higgins war das offensichtlich nicht.
»Ein Freund von mir«, erklärte Stephanie. »Gehen Sie ein bisschen weiter zurück.«
Noch ein Schnappschuss von dem Gitarrenspieler, diesmal hatte er den Kopf zurückgeworfen, die Sehnen an Armen und Hals zeichneten sich ab. Dann lächelte ein kleiner Junge in die Kamera, sein Arm zeigte mit einer ausladenden Geste auf eine Schar Enten, die neben ihm herumwatschelten. »Das ist er. Wir haben die Enten gefüttert.« Stephanies Stimme zitterte, und brennend traten ihr die Tränen in die Augen. »Er ist ja noch so klein. Wir müssen ihn finden, bevor ihm etwas Schlimmes zustößt. Bitte.«
Stephanie war nicht sicher, wie die Zuständigkeiten zwischen dem FBI und der TSA, also der Flughafensicherheit, geregelt waren. Aber jetzt, da Vivian McKuras den Fall übernommen hatte, verbesserte sich die Situation eindeutig. Vivian war gegangen, hatte jedoch versprochen, sobald der Alarm eingerichtet sei, werde sie zurückkommen. Dafür hatte Stephanie zugestimmt, sich von Lopez in der vom TSA akzeptierten Weise abtasten zu lassen, was auf jeden Fall eher einem sexuellen Übergriff ähnelte als einem Sicherheitscheck. Lopez gab sich große Mühe, ihr den gebührenden Abstand und ihre Würde zu lassen, aber es war anstrengend.
»Es ist nicht so einfach, wenn Sie die Person, die Sie durchsuchen, kennengelernt haben, oder?«, fragte Stephanie und bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, als sich eine Hand in ihren Hosenbund schob.
»Es dient Ihrer eigenen Sicherheit«, antwortete Lopez. »Sie wären ziemlich unzufrieden, wenn Sie während des Fluges in die Luft gejagt würden, weil ich meine Arbeit nicht richtig gemacht hätte.«
»Sie kommen mir viel zu intelligent vor für diesen Schwachsinn.«
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, bot Lopez an, trat zurück und zog die blauen Nitrilhandschuhe aus.
Es war lächerlich, dass ihr als Reaktion auf eine so banale freundliche Geste fast die Tränen kamen. Aber je länger sie von Jimmy getrennt war, desto verletzlicher fühlte sich Stephanie. Vor der Zeit mit Jimmy hatte sie eine solche Verantwortung, dass ein anderer Mensch vollkommen abhängig von ihr war, überhaupt nicht gekannt. In den neun zurückliegenden Monaten hatte diese Last sie manchmal niedergedrückt. Und dann wieder hatte sie eine unerwartete Beglückung durchzuckt, und das Herz ging ihr auf. Gerade die Bürde ihrer Pflichten machte die Freude umso überwältigender. Sie hätte schwören können, dass es sogar eine körperliche Empfindung war. Und jetzt trieb sie ziellos in dieser öden Leere und fühlte sich verloren. Um wie vieles schlimmer musste es erst für ihn sein.
Die Ironie war, dass ausgerechnet eine Frau so empfand, die den Wunsch, Mutter zu werden, nie verspürt hatte. Aber trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten beglückte sie das Leben mit Jimmy so, dass sie sich kaum noch erinnern konnte, wie es ohne ihn gewesen war. Ihr anfängliches Zögern, ihn zu sich zu nehmen, erschien ihr jetzt unverständlich. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm nach seinem großen Verlust bei der Wiedererlangung seines Lebensglücks zu helfen. Jeder Schritt auf diesem Weg hatte sie mit Freude erfüllt. Und all diese mühsam erreichten Schritte waren nun vielleicht vergebens, jetzt, da er aus seinem wiederhergestellten Leben herausgerissen war.
»Kaffee, das wäre schön«, sagte sie. »Aber haben Sie keine Angst, dass ich abhauen könnte, wenn Sie weggehen?«
Lopez warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Wieso sollten Sie das tun? Wenn Sie nicht etwas verschweigen über den Mann, der Ihr Kind mitgenommen hat.« Während sie die Hand auf den Türgriff legte, wandte sie den Kopf und schaute Stephanie mitleidig an. »Ganz zu schweigen davon, dass vor der Tür jemand Wache hält. Der Typ, der den Elektroschocker gegen Sie eingesetzt hat, wenn Sie es denn wirklich wissen wollen.«
Sie sendet ja ziemlich widersprüchliche Botschaften aus, dachte Stephanie. Lopez war eine Mischung aus gutem Bullen und bösem Bullen im Kombipack. Stephanie fragte sich, ob das wohl auch in ihr Privatleben hineinspielte, und schauderte bei der Erinnerung an ihre eigene vergangene Beziehung. Sie hatte genug von Männern, die ihr wahres Gesicht hinter einer Maske falscher Mildtätigkeit verbargen. Bei dem Gedanken an den Mann mit der Gitarre erlaubte sie sich einen Moment der Zufriedenheit. Mit ihm hatte sie ihre frühere Abhängigkeit abgelegt, davon war sie überzeugt.
Aber Stephanie war klug genug zu wissen, dies bedeutete nicht, dass sie ihre Vergangenheit los war. Und in diesem Moment war die kälteste Angst in ihrem Herzen, dass Jimmy nun zu einem Opfer ihrer Vorgeschichte geworden sein könnte.
Bis Vivian zurückkam, war der letzte Rest des Kaffees eiskalt, und Stephanies Beklemmung hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. »Was ist los?«, fragte sie, sobald die FBI-Agentin den Raum betreten hatte. »Sie sind fast eine ganze Stunde weg gewesen.«
»Ich musste alle verfügbaren Informationen sammeln und dann mit den Leuten vom Notfall-Alarm-System sprechen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich brauchte noch eine Auskunft von der Einwanderungsbehörde, bevor ich grünes Licht geben konnte. Wir gehen auch alle Aufnahmen aus den Überwachungskameras des gesamten Terminals durch. Wir müssen nachvollziehen, wo der Entführer sich vorher aufgehalten hat, um festzustellen, woher er kam. Ob er vor dem Terminal abgesetzt wurde oder ob er mit dem öffentlichen Nahverkehr kam.«
»Was ist mit Spuren? Es muss doch bestimmt Fingerabdrücke oder DNA oder so etwas geben?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Im Sicherheitsbereich können wir nichts Aussagekräftiges finden. Zu viele Menschen kommen da durch. Und weil uns nicht sofort klar war, was sich tat, sind auch nach der Entführung noch Leute durchgegangen. Es tut mir leid, aber das führt nicht weiter.« Sie nahm Platz und stellte ein digitales Aufzeichnungsgerät auf den Tisch. »Jetzt, wo alles läuft, ist es Zeit, dass Sie mir helfen, ein paar Informationslücken zu füllen. Nach den Unterlagen, die Sie bei der Einwanderungsbehörde vorgezeigt haben, ist Jimmy nicht Ihr leiblicher Sohn? Aber Sie sind für ihn verantwortlich?«
»Das stimmt. Ich bin sein Vormund.«
»Wie hängt das zusammen?«
Stephanie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, wonach es als chaotische Wuschellandschaft vom Kopf abstand. »Wie viel Zeit haben Sie?«
Vivian lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wir haben den ganzen Abend. Im Moment können wir nichts weiter tun, als versuchen, herauszufinden, wer hinter der Sache steckt. Möglicherweise liegen die Gründe für diese Tat in den Familienverhältnissen des Jungen, es sei denn, dass es ein vollkommen zufälliger Übergriff war. Und in dieser Hinsicht sind Sie meine einzige Quelle. Sie sollten ganz am Anfang beginnen, es sei denn, Sie haben kluge Ideen zur möglichen Identität des Entführers.«
Als sich plötzlich mit einem Klick die Klimaanlage einschaltete, schrak Stephanie zusammen. Aber ihr Zittern hatte nichts zu tun mit dem kalten Luftzug. Sie konnte den Verdacht, der ihr hartnäckig im Kopf herumging, doch nicht aussprechen. Das würde ihm zu großes Gewicht verleihen. Es war ja verrückt, den Gedanken überhaupt zuzulassen. Sie schlang die Arme um ihren schlanken Oberkörper und blinzelte heftig. »Zunächst müssen Sie erfahren, wer Jimmy ist. Und um das zu verstehen, müssen Sie wissen, wer seine Mutter war.«
Ghostwriter
M