Der verratene Planet - D. Nolan Clark - E-Book

Der verratene Planet E-Book

D. Nolan Clark

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Beschreibung

Die Menschheit hat das All besiedelt – nur um sich jahrhundertelang zu bekriegen. Jetzt, endlich, herrscht Frieden. Bis eines Tages plötzlich eine Armada fremder Schiffe in der Nähe eines kleinen, abgelegenen Planeten auftaucht und die Siedler dort begreifen müssen: sie sind nicht allein. Allein sieben ehemalige Kampfpiloten stehen nun zwischen den Aliens und dem Untergang der Menschheit …

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Seitenzahl: 968

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Das Buch

Die Menschheit hat das All besiedelt. Nachdem man das Netzwerk aus Wurmlöchern entdeckt hatte, haben die Menschen unzählige Planeten überall in der Galaxis erforscht. Doch mit der Ausbeutung der Rohstoffe durch die MegaKons kamen auch die Habgier und der Krieg zu den Planeten, bis ein hundertjähriger Bürgerkrieg beinahe die Erde vernichtet und der Menschheit den Garaus gemacht hätte. Nun aber herrscht Frieden – zum äußeren Schein zumindest. Bis der verzweifelte Hilferuf eines kleinen, abgelegenen Planeten namens Niraya bei dem Bergbaukonzern CentroCor eingeht. Einige Siedlungen wurden angegriffen, Menschen sind umgekommen. Niemand beim MegaKon und bei der Raumflotte will etwas damit zu tun haben: zu unlukrativ ist der Planet, zu kostspielig wäre eine Rettungsmission. Beinahe hätten Nirayas Abgesandte die Hoffnung aufgegeben, doch dann treffen sie auf Aleister Lenoe – seines Zeichens der berühmteste Jagdpilot der gesamten Flotte. Und weil Lenoe niemals einfach aufgibt, ruft er kurzerhand sein altes Geschwader zusammen, um den Bewohnern von Niraya zu helfen. Allerdings hat nichts und niemand Lanoe und sein Team auf das vorbereiten können, was sie auf Niraya entdecken …

Der Autor

Hinter dem Pseudonym D. Nolan Clark verbirgt sich der Bestsellerautor Daniel Wellington.

D. Nolan Clark

Der

verratene Planet

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Julian Haefs

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe FORSAKEN SKIES – THE SILENCE 1

Copyright © 2016 by David Wellington

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Werner Bauer

Covergestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von Denis Tabler/Shutterstock und tsuneomp/Shutterstock

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

ISBN 978-3-641-20180-7V002

www.heyne.de

Für Jennifer

I

HEISSER JUPITER

1 Ein Wurmloch zu durchfliegen war in etwa das gleiche Gefühl, wie sich mitten ins Zentrum eines Tornados zu stürzen – eines Tornados von solcher Wucht, dass man sich schon bei der kleinsten Berührung der Seitenwände sofort in eine Wolke subatomarer Teilchen verwandelte, noch bevor man überhaupt begriffen hatte, was geschah.

Mit dieser Geschwindigkeit durch ein Wurmloch zu rasen war glatter Selbstmord. Aber der Junge wollte einfach nicht bremsen.

Lanoe drückte einen Knopf auf seinem Armaturenbrett und bestrich das Heck der Raumjacht mit seinem Kommunikationslaser. Sofort tauchte in seinem Augenwinkel eine grüne Perle auf, daneben Angaben zur aktuellen Signalstärke. »Thom«, rief er. »Thom, du kannst nicht so weitermachen. Ich weiß ja, dass du Angst hast. Ich weiß …«

»Ich hab ihn umgebracht! Ich kann nicht mehr zurück!«

Lanoe schaltete die Verbindung stumm und konzentrierte sich einen Moment lang darauf, sich nicht selbst umzubringen. Vor ihm wölbte und drehte sich das Wurmloch, beschrieb einen weiten Bogen unter einer großen Gravitationsquelle. Wahrscheinlich ein Stern. Auf allen Seiten öffneten sich verzerrte Abzweigungen durch die gebeugte Raumzeit. Lanoe hatte längst aus den Augen verloren, wo im Realraum sie sich derzeit befanden – die Jagd hatte auf Xibalbá begonnen, aber seitdem konnten sie Hunderte Lichtjahre zurückgelegt haben. Der Wurmraum hielt sich nicht an die newtonschen Gesetze. Sie konnten überall sein. Vielleicht befanden sie sich schon am falschen Ende des Universums.

Die Jacht vor ihm beschleunigte noch immer. Die schlanke, dunkle Spindel hob sich deutlich vom unwirklichen Licht der Tunnelwände ab, die glatte Hülle aus schwarzer Kohlefaser nur von einer Gruppe flacher Stummelflügel rings um das Triebwerk durchbrochen. In der Schule hatte Thom sich einen Ruf als hitzköpfiger Rennpilot erarbeitet, und sogar die Qualifikation für den Erdenpokal im folgenden Jahr gemeistert – beim Versuch, den Jungen einzufangen, hatte Lanoe aus erster Hand erlebt, was für ein talentierter Pilot er war. Trotzdem war er überrascht, als Thom plötzlich seine Flugachse verlagerte, die Manövrierdüsen zündete und seine Jacht halsbrecherisch um die Ecke in einen der Seitenstränge steuerte.

Vielleicht glaubte er wirklich, auf diese Weise entkommen zu können.

Aber auch das große Talent dieses Burschen konnte mit Lanoes langjähriger Erfahrung im Dienst der Flotte schwerlich mithalten. Er kannte eine Menge Tricks, die zivilen Piloten nicht beigebracht wurden. Folglich schaltete er erst mal die Kompensatoren aus, die sein Triebwerk vor Überlastung schützten, und flog eine Rechtskurve, enger noch als die Brieftasche eines Großkonzerns. Trotz der Trägheitsdämpfer wurde er so hart in den Sitz gedrückt, dass er die Augen zusammenkneifen musste, und als er sie wieder aufriss, klebte er wie gehabt direkt hinter der Jacht. Abermals betätigte er den Kommunikationslaser, und als die grüne Perle aufleuchtete, sagte er: »Thom, du kannst mich nicht abschütteln. Also lass uns darüber reden. Ja, dein Vater ist tot, aber wir müssen jetzt überlegen, wie es weitergeht. Vielleicht sagst du mir erst mal, warum du das getan hast …«

Die grüne Perle war jedoch schon wieder erloschen. Thom hatte den nächsten Kurswechsel eingelegt und jagte vorneweg. Er hatte den Irrgarten des Wurmraums verlassen und war direkt hinter der nächsten Raumzeitkurve in den Realraum zurückgekehrt.

Lanoe holte alles aus seinem Antrieb heraus und folgte. Dann brach er aus dem Schlund des Wurmlochs hervor und wurde in sengend rotes Licht gehüllt, das ihm beinahe die Augen in den Höhlen geschmolzen hätte.

*

CentroCor-Frachtkahn 4519 auf Einflugvektor 7,4,-32.

WilsCon-Bergbauschiff Angie B, Sie weichen um .02 von Ihrem Kurs ab. Warnung.

Flugsicherung, hier Angie B, haben verstanden. Korrekturschub wird ausgeführt.

Die Stimmen der autonomen Hafenkontrolle plätscherten durch Valks Bewusstsein, ohne viel Eindruck zu hinterlassen.

Die orbitale Flugsicherung war kein allzu anspruchsvoller Job. Wurde auch nicht besonders gut bezahlt, doch das war Valk nicht so wichtig, denn es gab ansprechende Zusatzleistungen. Zum einen hatte er den vollgestopften Arbeitsplatz ganz für sich allein. Er legte viel Wert auf Privatsphäre. Zum anderen gab es hier oben, am Scheitelpunkt zwischen zwei Auslegern des Hexus, keine Schwerkraft. Das half zumindest ein Stück weit gegen die Schmerzen.

Valk litt schon seit siebzehn Jahren ununterbrochen unter starken Schmerzen, seit jener Begebenheit, die er stets nur als seinen »Unfall« bezeichnete. Allerdings hatte das Ganze mit einem Unfall herzlich wenig zu tun gehabt. Er hatte am ganzen Körper schwerste Verbrennungen erlitten. Selbst jetzt, so viele Jahre später, war schon der kleinste Druck auf seiner Haut kaum zu ertragen.

Seine Arme schwebten vor ihm in der Luft, die Finger huschten über virtuelle Tastaturen – die Bewegungen seiner Hände wurden von Lasern erfasst und in Daten umgerechnet. Sein gesamtes Blickfeld war von Bildschirmen ausgefüllt, die ihn mit Informationen überhäuften, endlose Zahlenreihen und kleine grafische Anzeigen, die er weitgehend ignorieren konnte.

Man hatte den Hexus am Boden eines tiefen Gravitationskegels errichtet, an dem Dutzende Wurmlöcher zusammenliefen, die alle dreiundzwanzig bewohnten Welten des lokalen Sektors verbanden. Jeden Tag passierten tausend Schiffe den Hexus, um Ladung zu löschen, Reparaturen vorzunehmen oder der Besatzung einfach eine Möglichkeit zu geben, sich unterwegs ein bisschen die Beine zu vertreten. All diese Schiffe davon abzuhalten, zu kollidieren beziehungsweise sie den richtigen Liegeplätzen zuzuweisen – das war eine Aufgabe, für die Computer wie gemacht waren, und die autonomen Systeme des Hexus leisteten ausgezeichnete Arbeit. Valk saß dort lediglich für den Fall, dass doch etwas Unvorhergesehenes passierte, bei dem menschliches Urteilsvermögen vonnöten war. Sollte zum Beispiel ein Frachter Vorrecht bei der Wahl des Liegeplatzes beanspruchen, weil er Gefahrgut transportierte. Oder wenn jemand besonders Wichtiges mit Samthandschuhen angefasst werden wollte. Was zum Glück nur selten vorkam.

Flugsicherung, hier Angie B. Nehmen Kurs auf Gehinnom. Danke für die Hilfe.

Zivile Drohne in Schutzzone eingeflogen. Wird umgeleitet.

CentroCor-Frachtkahn 4519 noch zweitausend Kilometer entfernt, fliegt die Vairside-Docks an.

Vairside-Docks melden Vollbelegung. Eingehenden Verkehr bis 18:22 umleiten.

Baffininsel-Docks melden sechs verbleibende Liegeplätze. Aufnahme bis 18:49.

Nicht identifiziertes Fahrzeug verlässt Wurmloch-Schlund. Keine Antwort auf Ping.

Nicht identifiziertes Fahrzeug verlässt Wurmloch-Schlund. Keine Antwort auf Ping.

Vielleicht war es nur die Wiederholung, die dafür sorgte, dass Valk sich in seinem engen Arbeitsraum um die eigene Achse drehte. Er rief ein neues Display mit aktuellen Bildern des 30 Millionen Kilometer entfernten Wurmloch-Schlunds auf. Der Schlund selbst sah aus wie eine Kugel aus makellosem Glas, die das Licht dahinterliegender Sterne krümmte. Ein Schwarm von Kontrollbojen mit Flutlichtbänken und Sensoren umringte den Schlund in sicherem Abstand. Die Neuankömmlinge waren so klein, dass Valk ein, zwei Sekunden brauchte, um sie überhaupt auszumachen.

Aber da – das vordere Schiff war ein dunkler Fleck, nahezu unsichtbar, wenn es nicht gerade eines der Lichter im Hintergrund verdeckte. Ein ziviles Schiff, dem Aussehen nach rein auf Schnelligkeit ausgelegt. Und direkt dahinter – da …

»Ach«, sagte Valk. Ein kurzer, erstaunter Schnaufer. Es war tatsächlich ein FA.2-Raumjäger, Kataphrakt-Klasse. Der zigarrenförmige Rumpf endete vorn in einem unterteilten Karbonglas-Cockpit, hinten in einem einzigen, massiven Triebwerk. Auch die doppelten Tragflächen waren ihm wohlbekannt.

Bis zu seinem Unfall war Valk selbst Kampfpilot gewesen. Er kannte die Silhouetten sämtlicher Kataphrakte, Träger-Spähboote und Langstrecken-Aufklärer, die jemals eingesetzt worden waren. Es hatte eine Zeit gegeben, in der man die FA.2 überall gesehen hatte, als sie noch der Lieblingsjäger der Flotte für sämtliche Kampfeinsätze gewesen war. Aber das war über ein Jahrhundert her. Wer bitte flog heutzutage mit so einem Museumsstück herum?

Valk tippte den Bildschirm an und zoomte hinein – da erst sah er die roten Lämpchen, die überall auf seinem Hauptschirm blinkten. Die beiden Neuankömmlinge waren schnell unterwegs, mit einem Gutteil Lichtgeschwindigkeit aus dem Schlund geschossen.

Und rasten direkt auf den Hexus zu.

Valk rief ein Nachrichtenpult auf und funkte sie eilig an.

*

Licht und Hitze brachen über Lanoes Cockpit herein, und sofort war er schweißgebadet. Den Großteil der Nässe fing sein Anzug automatisch ein, konnte aber schlecht alle Tropfen erwischen, die ihm auf der Stirn ausbrachen. Er wischte über eins der virtuellen Schaltpulte neben seinem Ellbogen. Die Sichtscheibe polarisierte und wechselte auf beinahe blickdichtes Schwarz. Es reichte immer noch nicht.

Es gab einen überaus guten Grund dafür, Wurmlöcher nicht mit einem derartigen Affenzahn zu verlassen: Ihre Ausgänge lagen für gewöhnlich ziemlich nah an ziemlich großen Sternen.

Er konnte kaum etwas sehen – die Nachbilder der gleißenden Sonne hatten sich über sämtliche Armaturen gelegt. Schemenhaft glaubte er, dicht vor sich einen großen Planeten auszumachen, konnte aber keinerlei Details erkennen. Also schaltete er seine Displays hastig der Reihe nach durch, um zumindest mithilfe der Telemetrie irgendwie herauszufinden, wo genau er sich befand.

Dann sah er direkt vor sich den Hexus wachsen. Ein riesiges, sechseckiges Bauwerk aus Beton und Spritzstahl hing dort, mit 50 Kilometern Durchmesser wie ein gewaltiger, schmutziger Benzolring. Geryon, dachte er sofort. Der Hexus umkreiste einen Planeten namens Geryon, einen aufgeblähten Gasriesen, der wiederum in dichtem Orbit um einen Roten Riesen lag. Das erklärte zumindest all das Licht und die Hitze.

Er versuchte erneut, Thom mit seinem Kommunikationslaser zu erwischen, aber die grüne Perle im Augenwinkel wollte nicht mehr auftauchen. Dafür bemerkte er schwache grüne Blitze im anderen Auge und stellte fest, dass der Hexus ihn anfunkte. Mit einem schnellen Handgriff verschickte er seine Identifikationsnummer, verlor aber keine Zeit damit, sich persönlich zu melden.

Der Hexus wuchs immer noch weiter und war mittlerweile gefährlich nah. »Thom«, rief er, ob der Bursche ihn nun hören konnte oder nicht, »du musst abdrehen! Du kannst da nicht einfach durchfliegen, Thom! Das ist Wahnsinn!«

Mittlerweile hatten sich seine Augen so weit erholt, dass er auch den kleinen schwarzen Fleck der Jacht wieder sah, der sich jetzt zunehmend von der hellen Haut der Raumstation abhob. Thom hatte offenbar wirklich vor, mitten durch den Hexus zu fliegen. Auf den ersten Blick mochte man durchaus glauben, der Platz reiche dafür allemal – das Sechseck stand in der Mitte weit offen. Aber der ganze Innenraum war erfüllt von Frachtern und Linienschiffen und Drohnen, ein verwirrend komplexes Geflecht sorgsam errechneter Flugrouten. Schiffe rangelten um Liegeplätze, erreichten oder verließen soeben die großen Docks, wurden gerade von Versorgungsschiffen betankt, und dazwischen unzählige Drohnen, die Hitzeschilde warteten oder verkrustete Rückstände aus Triebwerken kratzten. Da mitten hineinzufliegen war in etwa so sicher, wie eine Pistole direkt auf eine Menschenmenge abzufeuern.

Lanoe fluchte lautlos und machte seine Waffen scharf.

*

CentroCor-Frachtkahn 4519 erbittet Liegeplatz in den Vairside-Docks.

Vairside-Docks melden Vollbelegung. Eingehenden Verkehr bis 18:22 umleiten.

Valk sperrte die flüsternden Stimmen aus. Er hatte jetzt ein wesentlich ernsteres Problem.

In exakt neunundzwanzig Sekunden würden die beiden nicht identifizierten Schiffe mit solcher Geschwindigkeit das Zentrum des Hexus durchfliegen, dass sie alles in ihrem Weg vernichten mussten. Sollte es tatsächlich zu einer Kollision kommen, hätte die resultierende Trümmerwolke genug Energie, um die ganze Station auseinanderzureißen. Hunderttausende Menschenleben standen auf dem Spiel.

Valk arbeitete sich in Windeseile durch seine virtuellen Armaturen, schaltete manche Displays ab und neue hinzu. Sein größter Schirm zeigte ein Diagramm sämtlicher Bewegungen im Zentrum des Hexus, überlagert von der genauen Flugbahn der beiden Neuankömmlinge. Neben jedem Objekt schwebten Angaben zu Relativgeschwindigkeit, Masse und Trägheitsmoment, sowie Kollisionswahrscheinlichkeiten.

Letztere waren rot glühend hervorgehoben. Valk musste es irgendwie anstellen, jedes dieser Symbole grün oder wenigstens gelb erstrahlen zu lassen, bevor die Neuankömmlinge mitten durch den Hexus rasten. Was bedeutete, dass er jedes Schiff, jede Drohne einzeln bewegen, einen neuen Kurs für jedes Vehikel programmieren musste, einen Kurs, der keinem anderen in die Quere kam.

Die autonomen Systeme waren dieser Aufgabe ganz einfach nicht gewachsen. Genau für solche Extremfälle hatte man hier immer noch einen Menschen wie Valk sitzen.

Wenn er das Linienschiff nach da verschob – diesen Drohnenschwarm zur Außenseite des Hexus bugsierte – diesen Frachter anwies, einen Korrekturschub von vierzehn Millisekunden vorzunehmen – dieses Bergbauschiff einmal um die eigene Achse drehte …

Endlich reagierte einer der Neuankömmlinge auf seine Kennungsanfrage, jetzt hatte er aber keine Zeit mehr, sich damit zu befassen. Mit einer Hand wischte er die Mitteilung weg, während er mit der anderen den nächsten Frachter anwies, die Manövrierdüsen zu zünden.

Zivile Drohne in Schutzzone eingeflogen. Wird umgeleitet.

CentroCor-Frachtkahn 4519 erbittet Liegeplatz in den Vairside-Docks.

Die synthetischen Stimmen waren wie lästige Fliegen, die Valk durch den Schädel summten. Dieser Frachtkahn ging ihm langsam gewaltig auf den Sack – er war momentan mit Abstand das größte Gefährt, das sich noch innerhalb des Rings befand, und somit auch das Schiff, das der heranrauschenden Jacht am ehesten im Weg liegen würde.

Valk hätte das blöde Ding nur zu gerne mit maximaler Beschleunigung einem fernen Parkorbit zugewiesen. Das Schiff war vollautomatisch gesteuert und hatte nicht einmal einen Piloten an Bord – eigentlich nicht mehr als eine riesige Drohne. Wen interessierte es schon, ob das bisschen Ladung jetzt ein wenig zu spät am Ziel war? Aber aus irgendeinem Grund weigerte sich der Bordcomputer, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Stattdessen pochte er weiter beharrlich darauf, einem Dock zugewiesen zu werden, das nicht einmal für Frachtschiffe konzipiert war.

Er rief ein neues Schaltfeld auf und begann, Überbrückungscodes zu senden.

Der Frachter reagierte sofort.

Angeordnetes Vorgehen bedeutet Gefährdung der Passagiere. Anweisung?

Moment mal. Passagiere?

Was sollte das denn jetzt werden?

*

Vor ihnen im Ring des Hexus gebärdete sich der Verkehr wie in einem Taubenschlag bei Sichtung einer Katze, aber es waren einfach zu viele Schiffe und Drohnen unterwegs, zu viele mögliche Zusammenstöße. Thom hatte seinen Kurs keinen Millimeter geändert. Nur noch wenige Sekunden, dann würde er bei dieser Geschwindigkeit nicht mehr rechtzeitig abdrehen können.

Auf Lanoes Zielerfassungsschirm leuchtete eine Feuerleitlösung auf. Er konnte die Jacht mit einem Disruptor ausschalten – ein Schuss, und das Schiff würde sich in eine Wolke aus Trümmern verwandeln, die zu klein wären, um dem Hexus sonderlich viel Schaden zuzufügen. Sein Daumen schwebte über dem Feuerknopf; aber noch während er sich wappnete, ihn zu drücken, tauchte eine alternative Variante auf dem Schirm auf.

Da hing ein schwerfälliger Frachter genau in der Mitte des Rings. Genau in Thoms Einflugschneise.

Es war ein hässliches Schiff, nur ein Haufen Frachtcontainer, die wie Trauben am Rebstock des zentralen Balkens hingen. An beiden Enden waren klobige Triebwerkseinheiten zu sehen, aber nichts, was auch nur Ähnlichkeiten mit Besatzungsquartieren hatte.

Lanoe hatte genug Feuerkraft in der Hand, um das Ding auseinanderzunehmen.

Er rief ein neues Nachrichtenpult auf und funkte den Hexus an. »Flugsicherung, Sie müssen sofort den Frachter da wegbringen.«

Unverzüglich kam eine Antwort. Na also, immerhin wollte man mit ihm reden. »FA.2, hier Hexus-Flugsicherung. Geht nicht. Haben Sie Kontakt zu der unidentifizierten Jacht? Sagen Sie diesem Idioten, er soll seinen Kurs ändern.«

»Der will nicht hören«, erwiderte Lanoe. Verdammt noch mal. Thom hatte vielleicht noch fünf Sekunden, bevor er als Klecks an diesem hässlichen Schiff endete. »Flugsicherung, bewegen Sie den Frachter, sonst mache ich das für Sie.«

»Negativ! Negativ, FA.2 – da sind Passagiere an Bord!«

Wie bitte? Das war doch Unsinn. So ein Frachtkahn wurde nur von autonomen Systemen gesteuert. Er war nicht für menschliche Besatzung gebaut – eigentlich konnten da drüben nicht einmal einfachste Lebenserhaltungssysteme eingebaut sein.

Ergo konnten auch keine Leute an Bord sein, oder? Trotzdem hatte er keinen Grund zu der Annahme, die Flugsicherung würde ihn anlügen. Deswegen …

Die moralische Rechenmaschine in seinem Kopf lief bereits auf Hochtouren. Passagiere, hatte der Kerl gesagt – also mehr als eine Person.

Wenn er Thom umbrachte, von dem er wusste, dass er ein Mörder war, würde er mehreren Unschuldigen das Leben retten.

Wieder griff er nach dem Feuerknopf.

*

Es musste doch eine Lösung geben. Musste einfach.

Angeordnetes Vorgehen bedeutet Gefährdung der Passagiere. Anweisung?

Valk hatte sechs mögliche Routen vor Augen, den Frachter außer Gefahr zu bringen. Alle setzten voraus, das Schiff hart beschleunigen zu lassen – auf mehrere g.

Wenn er das tat, würden sich mögliche Insassen des Frachters als rotes Gelee an den Wänden verteilen. Anders als Passagierschiffe hatten Frachter normalerweise keine Trägheitsdämpfer. Die Menschen im Innern wären der plötzlichen Beschleunigung schutzlos ausgeliefert.

CentroCor-Frachtkahn 4519 erbittet Liegeplatz in den Vairside-Docks.

Das Schiff war einfach zu dumm, um zu begreifen, dass es sehr bald in Stücke gerissen werden würde. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Valk, all die synthetischen Stimmen einfach abschalten zu können, die ihn permanent mit sinnlosen Informationen überschwemmten. Er rief einen neuen Schirm auf und sah sich den Aufbau des Frachters an. Da waren ein paar Manövrier-Triebwerke, und vorn am Bug noch ein Paar kleine Positionierungsdüsen, die aber auch nicht reichten, um das Schiff rechtzeitig aus dem Weg zu bekommen. Dann noch Notfall-Bremsdüsen an sechs verschiedenen Stellen, und Explosivbolzen für die einzelnen Container …

Ja! Das war es doch. »FA.2«, rief er, während er schon das nächste Schaltpult aufrief. »FA.2, nicht schießen!« Er tippte so schnell, dass ihm die Finger brannten.

Angeordnetes Vorgehen bedeutet Gefährdung der Passagiere. Anweisung?

»Ich weise dich an, die Klappe zu halten und mir zu gehorchen«, teilte Valk dem Frachter mit. Es war bestimmt nicht die Antwort, die der Bordcomputer hören wollte. Valk senkte den Kopf, sah vor sich einen virtuellen grünen Knopf schweben und drückte ihn hastig.

Draußen in der Mitte des Rings zündete der Frachter gleichzeitig sämtliche Explosivbolzen an Backbord. Quälend langsam taumelten die langen Container aus dem Weg, blaue und gelbe und grüne Rechtecke, die sich alle auf unterschiedlichen Flugbahnen entfernten. Ein paar von ihnen krachten in vorbeiziehende Drohnen und ließen kleine Trümmerwolken erblühen. Andere prallten gegen die Arme des Hexus, zerschellten an der Betonhülle und verspritzten ihre vielfarbige Fracht in weitem Bogen.

Vor Valk tauchte ein Bildschirm auf, der das ganze Chaos anschaulich visualisierte. Die kleine schwarze Nadel der Jacht ging in dem Durcheinander aus versprengten Farben und Formen beinahe unter, jagte nahezu unsichtbar weiter auf die Mitte der Station zu. Aber es sollte funktionieren – schon bildete sich eine Öffnung, wo die Jacht sicher hindurchpassen würde, es würde bestimmt …

Natürlich gab es kein Geräusch, trotzdem konnte Valk das Knirschen fast hören, als die Jacht mit dem Rand der Tragfläche einen der Frachtcontainer streifte. Der Container riss entzwei, die Stahlhülle barst wie die Haut einer überreifen Frucht. In einer breiten Wolke wilder Flugbahnen verteilten sich Fässer im Raum. Die Jacht begann sofort, wild zu trudeln, schoss durch den Hexus und auf der anderen Seite heraus.

Einen Sekundenbruchteil später schraubte sich die FA.2 um eins der Fässer und beschleunigte hart, um der Jacht auf ihrem neuen Kurs zu folgen, geradewegs auf den Planeten zu.

2 Lanoe musste sich mit Gewalt in eine enge Kurve legen, um den umherwirbelnden Frachtstücken im Hexus zu entgehen. Trotzdem konnte er ein Lachen kaum unterdrücken, während er seinen Steuerknüppel nach links und rechts warf. Wer auch immer da drüben für die Flugsicherung zuständig war, er war ein Genie.

Sehr schnell verging ihm das Lachen wieder, als er sah, wohin sie ihr Kurs bringen würde. Thom war an einem Frachtstück vorbeigeschrammt, ins Schleudern geraten und fiel jetzt buchstäblich aus dem Himmel. Vor ihnen hing die weite Scheibe von Geryon, einem kochenden Hexenkessel von Planet. Thom hatte die Kontrolle über seine Jacht vollkommen verloren, drehte sich wild um die eigene Achse und konnte dem Sog der Gravitation nicht entkommen. Er würde mitten in dieses Chaos stürzen.

Geryon war ein Gasriese, eine Welt ohne Oberfläche, nur eine nahezu endlose Atmosphäre. Aus der Ferne sah der Planet so aus, als reiße er sich von innen heraus selbst in Stücke. Er war von dunklen, fast schwarzen Stürmen umgeben, die eine tiefere Schicht greller Neonfarben verdeckten. Das rote Licht pulsierte aus jedem Loch in der Wolkendecke hervor, Strahlen unheilvollen Glanzes, die wie Lanzen hinaus in die Leere züngelten.

Lanoe hatte kaum einen Blick auf den Planeten geworfen, da verschwand die Jacht bereits kopfüber in der Atmosphäre. Er jagte hinterher und durchstieß die oberste Wolkendecke. Wieder versuchte er, den Jungen mit seinem Kommunikationslaser zu erreichen, rechnete aber längst nicht mehr mit einer Reaktion. Er bekam auch keine.

Während er so durch die finsteren Wolkenschleier jagte, verlor er Thom endgültig aus den Augen. Dann brach sein Jäger plötzlich aus der Unterseite einer zerfaserten Zirruswolke hervor – und Lanoe befand sich nicht länger im All.

Zu allen Seiten türmten sich wilde Wolken zu gewaltigen Gewitterfronten auf, ganze Türme und Festungen aus Wolken, mit Wällen und Zinnen, die sich in Nebel auflösten, sobald er versuchte, Details auszumachen. Flüsse aus dunkelblauem Methan waberten und schraubten sich um Wellen atmosphärischen Tiefdrucks.

Erst als er den kleinen dunklen Fleck der Jacht weit vor sich sah, wurde ihm das wahre Ausmaß dieses Anblicks klar. Der schwarze Punkt schoss unter einem weiten Gewölbe aus Dunst entlang, das aber selbst wiederum nur ein winziger Ausläufer eines enormen Sturms war, so groß wie ein irdischer Ozean. Und all das war nur der kleine Ausschnitt, den Lanoe von seinem Raumjäger aus sehen konnte, ein Bruchteil dieser gigantischen Wolkenwelt.

In der endlosen Weite dieser Landschaft wirkte die Jacht vollkommen fehl am Platz, ein Staubkorn im Sturm. Sie taumelte noch immer kopfüber – der Junge hatte sie nicht in den Griff bekommen. Nach und nach lösten sich kleine Bruchstücke von der zerschmetterten Tragfläche, eine fahle Rauchfahne, die das wilde Trudeln der Maschine verdeutlichte. Zum Teufel!

Immerhin hatte die dichte Atmosphäre sie deutlich verlangsamt – vielleicht konnte Lanoe den Jungen jetzt endlich einholen.

Auf einmal flammte überraschend die grüne Perle im Augenwinkel wieder auf. Der Kommunikationslaser hatte eine Verbindung aufgebaut.

»Thom«, rief Lanoe. »Thom, bist du da? Alles in Ordnung?«

Als der Junge antwortete, war der Schrecken in seiner Stimme nicht zu überhören. Er atmete schwer, die Tonlage war definitiv zu hoch. »Ich … ich lebe noch.«

»Verdammt noch mal, Thom«, sagte Lanoe. »Was sollte das eben werden? Der Frachter da hatte Menschen an Bord. Du hättest sie umbringen können.«

Es dauerte lange, bis Thom antwortete. Vielleicht versuchte er einfach verbissen, die Kreiselbewegung seiner Jacht zu verringern. Lanoe sah die Positionsdüsen feuern, dampfende Strahlen, die sich sofort zwischen den dunklen Wolken verloren.

Als Thom wieder sprach, klang er nicht nur ruhiger, sondern auch bedrückt. »Das hab ich nicht gewusst.«

Lanoe konnte nicht anders, als Mitleid mit dem Knaben zu haben. Als Thom alles auf eine Karte gesetzt, eine Jacht gestohlen und Reißaus in Richtung des nächstbesten Wurmlochs genommen hatte, war Lanoe ihm sofort gefolgt, weil er geglaubt hatte, ihm vielleicht irgendwie helfen zu können. Für den Jungen musste es natürlich so ausgesehen haben, als habe sich ein Höllenhund an seine Fersen geheftet. »Bring dein Schiff unter Kontrolle«, sagte Lanoe. Obwohl es ganz danach aussah, als hätte Thom das bereits bewerkstelligt. Trotz der beschädigten Tragfläche hatte sich der Kurs der Jacht wieder stabilisiert. Der Junge hatte wirklich Talent, dachte Lanoe, ja, der hatte das Zeug zu einem außergewöhnlichen Piloten. Falls er die nächsten Minuten überlebte. »Alles klar bei dir?«

»Es geht mir gut.«

»Dann lass uns mal überlegen, wie wir dafür sorgen können, dass das auch so bleibt. Brems bitte ab, dann können wir in Ruhe über alles reden. In Ordnung? Zuallererst müssen wir hier aus der Atmosphäre raus. Lass uns zum Hexus zurückfliegen. Ich kann zwar nicht versprechen, dass sich die Leute da über deinen Anblick freuen, aber …«

»Ich komme nicht zurück«, sagte Thom. »Ich komme nie mehr zurück.«

*

Es hätte doch längst vorbei sein sollen.

Es hätte alles kurz und schmerzlos gehen sollen. Er hätte diesen Frachter frontal treffen müssen, dann wäre alles vorbei gewesen.

Thom stellte fest, dass er die Augen geschlossen hatte. Das war dumm. Man machte nicht einfach die Augen zu, wenn man flog – man musste immer alles um sich herum im Blick haben. Er öffnete die Augen und lachte.

Da draußen gab es sowieso nichts zu sehen. Schwarze Nebelschwaden wälzten sich über seine Kanzel. Sämtliche Armaturen blinkten rot, aber was sollte ihn das jetzt noch kümmern? Darum ging es doch, oder nicht?

Einfach in der Dunkelheit verschwinden.

Wenn Lanoe nur endlich den Mund halten und ihn in Ruhe lassen würde.

»Hier geht’s nicht weiter, Thom. Und wenn ich dich anschießen muss, um diese idiotische Verfolgungsjagd zu beenden, kannst du das haben. Dreh um.«

»Warum sollte ich?«, fragte Thom.

»Weil ich im Moment der einzige Freund bin, den du noch hast.«

»Du warst doch bloß ein Handlanger von meinem Vater. Ich weiß genau, dass du mich dorthin zurückbringst, wenn ich dir die Gelegenheit biete.«

»Das stimmt nicht, Thom. Ich will dir nur helfen.«

Thom lehnte sich in seinem Drucksessel zurück und versuchte, sich ganz auf seine Atemzüge zu konzentrieren.

Rundum: teure Holzvertäfelung; sein gepolsterter Pilotensitz war aus echtem Leder. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass die Jacht immerhin einen luxuriösen Sarg abgeben würde.

Thom war der Sohn des planetaren Gouverneurs von Xibalbá – gewesen. Er war immer an ein Mindestmaß an Luxus gewöhnt gewesen. Jetzt begriff er allmählich, wie sehr er das alles als selbstverständlich hingenommen hatte. Sein ganzes Leben lang war ihm nie etwas versagt geblieben.

Niemand hatte ihn in der Schule je schikaniert – die Leibwächter seines Vaters hatten das schon verhindert. So lange er zurückdenken konnte, hatte nie jemand Nein zu ihm gesagt. Aber Lanoe wollte einfach nicht lockerlassen. Wollte ihn einfach nicht in Frieden lassen.

Es machte ihn wütend.

Thom fragte sich, warum er nicht einfach sein Funkgerät abschaltete. Lanoes Nachrichten blockierte. Vielleicht, dachte er, will ich einfach eine menschliche Stimme hören, bevor ich sterbe.

Selbst wenn er nicht hören wollte, was Lanoe ihm zu sagen hatte.

»Ich bin für deinen Vater lediglich als Geleitschutz unterwegs gewesen, Thom. Ich bin dir nicht hinterher geflogen, um ihn zu rächen. Die Flotte hat mich abgestellt, um für ihn zu arbeiten, aber es war nur ein Arbeitsplatz. Ich hab ihn nicht mal leiden können.«

»Ich hab ihn so gehasst«, sagte Thom, ehe er sich stoppen konnte. Vielleicht wollte er seine Tat doch noch rechtfertigen. »Ich hab ihn immer gehasst.«

»Na ja, das ist jetzt wohl vorbei«, sagte Lanoe. »Genau wie mein Job – jetzt, wo er tot ist, bin ich ihm nichts mehr schuldig. Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin hinter dir her, weil ich dich mag. Mehr nicht. Bitte glaub mir.«

»Kann ich nicht«, sagte Thom. »Tut mir leid, Lanoe, aber ich kann niemandem mehr vertrauen.«

Er hörte Lanoe frustriert schnaufen. »Warum hast du das überhaupt getan?«, fragte er. »Warum ihn töten? Noch ein Jahr, und du wärst sowieso auf der Uni gewesen. Weg von ihm.«

»Glaubst du das im Ernst?«, fragte Thom. »Du hast doch keine Ahnung, Lanoe.«

»Dann kläre mich auf.«

Thom grinste den schwarzen Nebel an, der ihn umgab. Er sah keinen Grund, noch zu lügen. Jetzt nicht mehr. »Ich wäre nie auf die Uni gekommen. Ich wäre nirgendwo hingegangen. Er war krank. Der ganze Stress von diesem Hochleistungs-Amt hat an seinem Herzen gefressen. Weißt du, was die machen, wenn du so wichtig bist und dein Körper den Geist aufgibt? Sie beschaffen dir ’nen neuen.«

»Also hätte er noch ein bisschen länger gelebt …«

»Du kapierst es immer noch nicht, oder? Ich bin nicht geboren worden, um sein Erbe zu werden.«

Wenn man reich und mächtig war, musste man sich keine Sorgen um Krankheiten machen. Man musste sich auch nicht mit einer künstlichen Pumpe zufriedengeben, die im Brustkorb vor sich hin tickte, oder bis ans Lebensende Immunsuppressiva nehmen. Man musste nicht einmal damit leben, alt zu werden.

Nein, nicht, wenn man ein wenig vorausschauend plante. Nicht, wenn man es sich leisten konnte, Kinder zu kriegen – Kinder, deren Nervenstruktur der eigenen bis ins kleinste Detail glich.

Der Alte hätte für Thom problemlos einen Unfall arrangieren können, der ihn hirntot zurückgelassen hätte. Dann hätte er sein Bewusstsein in Thoms jugendlichen, gesunden Körper verpflanzt. In der Führungsschicht passierte so etwas andauernd. Rein legal gesehen eine durchaus fragwürdige Praktik, aber planetare Gouverneure mussten sich nur an die wenigsten Regeln halten.

»Ich bin entworfen worden«, sagte Thom. »Gebaut worden, um als sein nächster Körper zu dienen.«

Am anderen Ende der Leitung gab es eine lange Pause. »Das wusste ich nicht«, sagte Lanoe.

»Er musste sterben«, sagte Thom. Im Geiste sah er alles noch einmal ablaufen. Sah sich die antike Duellpistole von der Wand nehmen. Fühlte, wie sie in seiner Hand bockte. Der alte Mann hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, überrascht zu gucken. »Begreifst du das jetzt? Ich bin erst zwanzig Jahre alt, und er wollte meinen Körper klauen und meinen Verstand einfach wegschmeißen. Mich töten. Also musste ich ihn töten, wenn ich überleben wollte. Und jetzt muss ich weiter fliehen. Noch sechsunddreißig Stunden.«

»Sechsunddreißig Stunden?«

»Die Ärzte haben sein Gehirn sicher stabilisiert, selbst wenn sein Körper tot ist. So lange können sie sein Bewusstsein am Leben erhalten. Wenn sie mich zu fassen kriegen, bevor sein Hirn endgültig abstirbt, können sie die Auswechslung immer noch vollziehen.«

»Dann lass mich dir helfen«, sagte Lanoe.

Thom machte die Augen wieder zu. Niemand konnte ihm jetzt noch helfen.

Er lehnte sich gegen den Steuerknüppel. Drehte den Bug der Jacht nach unten, bis er direkt auf den Kern des Planeten zeigte. Gab Vollgas.

Die Jacht sauste hinunter in die nächste dunkle Wolkenbank – eine Mauer aus Rauch, dicht genug, um die Verbindung zu Lanoe zu unterbrechen.

Jetzt würde es bald vorbei sein.

*

Als Lanoe den Jäger direkt hinunter in den Druck und die Hitze von Geryons tiefer Atmosphäre lenkte, prasselte ein Regenschauer aus feinem Ruß gegen sein Kabinendach. Die letzten Wolkenfetzen zischten an ihm vorbei, dann starrte ihm die gleißend rote Neonschicht entgegen.

Er konnte die Jacht nicht mehr sehen – sie war hinter der feurigen Wand verschwunden. Kurz nahm er sich die Zeit, seine Instrumente zu überprüfen, um festzustellen, wie schlimm es da draußen wirklich war. Über 1700 Grad. Der Druck der Atmosphäre war stark genug, um sein Schiff in Sekundenbruchteilen zu zerquetschen. Zum Glück war das magnetische Vektorfeld des Jägers stark genug, um die tödlichen Luftmassen zurückzuhalten. Trotzdem hatte Lanoe fast das Gefühl, spüren zu können, wie die Karbonglas-Kanzel unter der Anstrengung knisterte und sich der Rumpf des Schiffs langsam um ihn zusammenzog. Der Jäger bockte und rüttelte in den wilden Strömungen, nur die Trägheitsdämpfer hielten ihn noch in seinem Pilotensitz.

Wenn sein Raumjäger schon solche Probleme hatte, wie sollte der Junge hier dann noch heil herauskommen? Lanoe hatte keine Ahnung, über welche Defensivkapazitäten die Jacht verfügte. Gut möglich, dass Thom, wenn er ihn das nächste Mal sah, bereits zu einem kleinen Kohlenstoff-Ball zerdrückt worden war, der langsam dem Zentrum des Planeten entgegenfiel.

Als er aber auf seinen Tragflächen ratternd und zischend durch die Neonschicht hindurchgetragen wurde, sah er die Jacht direkt vor sich – noch immer intakt, aber weiterhin auf einem Kurs, der kein gutes Ende nehmen würde. Da unten gab es nur noch trübe Düsternis, nichts als reinen Wasserstoff unter so hohem Druck, dass er aufhörte, sich länger wie ein Gas zu verhalten, sondern die Eigenschaften flüssigen Metalls annahm. Kein Schiff, dass je erbaut worden war, konnte in einer solchen Umgebung für mehr als ein paar Minuten bestehen.

Lanoe wusste nicht, ob sein Kommunikationslaser das dunkle, wabernde Chaos noch durchdringen konnte, aber dann tauchte die grüne Perle sofort auf, und die Verbindung stand wieder. »Thom«, sagte er. »Thom – ist das wirklich das, was du willst? Sind wir nur bis hier gekommen, damit du Selbstmord begehen kannst?«

Er bekam keine Antwort.

Rote Warnlichter tanzten über Lanoes Armaturen. Er konnte hier nicht mehr lange bleiben, hatte außerdem immer noch die Hoffnung, wieder heil ins All zurückzukehren.

Er biss die Zähne zusammen und nahm die Verfolgung wieder auf.

*

Alles stöhnte und ächzte und schüttelte sich. Die Holzvertäfelung der vorderen Steuerkonsole knirschte und zersplitterte der Länge nach, ein zerklüfteter Spalt zog sich durch seine Bildschirme. Nicht mehr lange.

Die Karbonhülle der Jacht konnte weder solchen Druck noch solche Hitze ertragen. Lediglich die Vektorfelder des Schiffs hielten Thom noch am Leben. Sobald sie versagten – oder er sie abschaltete –, würde es so schnell vorbei sein, dass er es nicht einmal mitbekam. Das Schiff würde sich um ihn zusammenfalten, sein Fleisch und seine Knochen zerdrücken. Sein Blut würde kochen und dann schnell verdunsten. Seine Augen würden …

Ein plötzlicher lauter Knall ließ Thom überrascht und verängstigt aufschreien. Glassplitter verteilten sich über die Sichtfenster, leicht gelbliche Flüssigkeit tropfte am Visier seines Helms herunter. Verdammt aber auch, so ging es also los? War das schon seine Rückenmarksflüssigkeit? Wurde sein Schädel gerade zerdrückt?

Nein. Nein – diese perlende Flüssigkeit auf seinem Visier war Champagner!

Hinter dem Pilotensitz hatte eine kleine Vitrine gestanden. Darin hatte eine Flasche Champagner geruht, von den Dienern seines Vaters für den prospektiven Sieg beim nächsten Rennen dort hinterlegt. Wein aus Trauben, die tatsächlich in echtem Mutterboden von der Erde gewachsen waren. Die Flasche war beinahe so teuer gewesen wie die Jacht selbst.

Natürlich hatte die Flasche bereits unter Druck gestanden – der zusätzliche Schraubstock von Geryons Atmosphäre war zu viel für sie gewesen.

Thom fühlte einen Lachanfall in sich aufsteigen, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Er beugte sich über die Armaturen und schüttelte sich, bis sich der Anzug genötigt sah, ihm die Tränen aus den Augen zu wischen. Er hatte sich vor einer explodierenden Champagnerflasche gefürchtet. Das war seit frühen Kindestagen nicht mehr passiert.

Gefürchtet.

Furcht – das war natürlich komisch. Er hatte nicht damit gerechnet, an diesem Punkt noch Angst zu haben. Thom war kein Feigling. Aber jetzt schlug sein Herz wie wild – er spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen.

Er hatte nicht erwartet, sich zu fürchten.

Durch die schmutzigen Sichtfenster sah er hinaus in das dunkle Wabern, in den Kern des Planeten. Alles war so riesig. Jenseits seiner Vorstellungskraft.

Plötzlich konnte er nicht mehr atmen.

*

»Lanoe«, sagte der Junge. »Ich glaube, ich hab einen Fehler gemacht, Lanoe.«

Lanoe kniff die Augen zu. Bis auf das Heck der Jacht gab es sowieso nichts zu sehen. »Ach was? Das fällt dir jetzt auf?«

»Tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen hab«, sagte Thom. Die Übertragung war voller Störgeräusche und das Signal so weit komprimiert, dass der Kleine wie eine Maschine klang. »Irgendwas ist schiefgelaufen, Lanoe – Ich dachte, ich könnte das durchziehen. Aber jetzt …«

»Das ist dein Selbsterhaltungstrieb, der endlich wach wird. Kapiert? Nicht dagegen ankämpfen, Thom. Den hat man nicht ohne Grund.«

»Ich fürchte, es ist vielleicht schon zu spät. Teufel auch.«

Lanoe schüttelte den Kopf. Der Junge hatte ganz schön Mumm, überhaupt so weit gekommen zu sein, aber was war er doch für ein verdammter Schwachkopf! »Zieh hoch. Komm schon, Thom, zieh einfach hoch und lass uns hier verschwinden.«

»Ich kann nichts mehr sehen – ich weiß nicht mal, wo’s langgeht!«

»Der Hexus. Such nach dem Hexus. Selbst hier sollten die Positionssignale für deine Navigationsgeräte nicht zu übersehen sein – halt dich an die. Zieh hoch, Thom, na komm schon! Auf keinen Fall noch tiefer gehen.«

»Ich versuch’s ja … meine Steuerung ist ganz schwerfällig. Lanoe …!«

Die grüne Perle in Lanoes Augenwinkel rotierte und spuckte Zahlenreihen aus. Die Verbindung war unterbrochen worden. Der Junge war einfach verstummt.

»Verdammt«, sagte Lanoe. Langsam legte er die Hand an den Schaltknüppel, öffnete die Treibstoffzufuhr der Bremstriebwerke und Positionsdüsen, und bereitete sich darauf vor, den Jäger herumzureißen und auf Fluchtgeschwindigkeit zu gehen.

Aber dann meldete sich der Bursche wieder.

»Ich will doch nicht sterben«, sagte Thom.

Lanoe hatte die Jacht noch immer direkt vor sich. Der Bug hatte sich leicht zur Seite geneigt. Offenbar tat der Kleine sein Bestes. Mit kurzen, flackernden Schüben aus sämtlichen Manövrierdüsen versuchte er, die Fallgeschwindigkeit zu verringern. Wenn er es schaffte, das Heck nach unten zu ziehen, konnte er den Hauptantrieb zünden und wieder den Weltraum ansteuern.

Aber der Bug drehte sich viel zu langsam.

Lanoe wusste auch sofort, warum. Es lag an der zerstörten Tragfläche, mit der er den Frachtcontainer gerammt hatte. Im All waren Tragflächen nur unnützer Ballast, beim Flug innerhalb der Atmosphäre allerdings unverzichtbar, und Thom hatte eine zu wenig. Es würde ihn, da war er sicher, unweigerlich umbringen.

Nein. So einfach wollte Lanoe das nicht hinnehmen.

»Hör zu«, sagte er. »Du kannst das schaffen. Immer mit der Ruhe und keinen Treibstoff vergeuden.«

»Ich versuch’s«, sagte der Junge.

»Du musst nur den Bug hochbekommen, das ist die Hauptsache.«

»Ich weiß, was ich tun muss!«

»Ich sag es dir trotzdem. Zieh den Bug hoch. Komm schon, Kleiner!«

Die Jacht war so weit abgesackt, dass Lanoe sie kaum noch sehen konnte. Wie lange würden ihre Felder noch halten? Sie mussten sämtliche Energie verschlingen, nur um zu verhindern, dass die Jacht sofort zerquetscht wurde. Das bisschen zusätzliche Energie konnte durchaus den Unterschied machen.

»Thom – leite ein wenig Energie vom Vektorfeld in die Triebwerke um.«

»Dann ende ich als Brei«, sagte der Junge.

Wahrscheinlich hatte er recht. Wenn er aber den Bug nicht hochzog, würde er so oder so sterben.

»Mach schon!«, rief Lanoe. »Fünf Prozent umleiten …«

Die ganze rechte Seite der Jacht implodierte. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah Lanoe zu, wie sich die Kohlefaser verbog und zerknitterte.

Aber im gleichen Moment schwang die Jacht komplett herum, und der Bug zeigte direkt nach oben. In einem Feuerball zündete das Haupttriebwerk, und das Schiff schoss an Lanoes Jäger vorbei.

Seine eigenen Vektorfelder beschwerten sich lautstark. Nun, er war an die Warnsignale des Jägers gewöhnt, an all die Pfeifen und Töne und Sirenen. Er ignorierte sie alle, flog eine enge Kurve, bis der eigene Bug direkt nach oben zeigte, und drückte den Antrieb durch.

Vor ihm tauchte die rote Neonwand auf und war sofort wieder verschwunden, ebenso die Wolken aus Ruß und dunkelblauem Methan. Für einen Sekundenbruchteil sah er blauen Himmel über sich, klare, dünne Luft, dann wurde es schwarz und die Sterne erschienen.

Direkt vor ihm stand die Jacht auf dem Heck und schoss direkt in die Nacht hinein.

In der Ferne, jenseits des Bugs der Jacht, konnte Lanoe den Hexus sehen. Wenn sie es nur bis dahin schafften, hatte diese Verfolgungsjagd vielleicht endlich ein Ende. Mit Sicherheit konnte das natürlich niemand sagen, aber vielleicht kamen sie ja doch noch beide heil aus der Sache heraus.

»Thom«, rief er. »Thom, bitte kommen.«

Keine grüne Perle in seinem Augenwinkel. Lanoe ging längs zu der Jacht und sah erst da, wie wenig von dem Schiff noch übrig war. Der ganze vordere Bereich war implodiert, alle Sichtscheiben bis auf die leeren Rahmen zerschmettert.

»Ach, zum Teufel, Thom«, flüsterte Lanoe. »Es tut mir leid. Verdammt noch mal.«

3 Wie üblich musste Valk die Sauerei wieder aufräumen. Und diese hier hatte es in sich.

Schon plapperten ihm unzählige synthetische Stimmen Forderungen und Drohungen ins Ohr. CentroCor gehörte nicht nur der Frachtkahn, den er zweckentfremdet hatte, sondern auch der Hexus selbst. CentroCor war einer der MegaKons – einer der mächtigen, transplanetaren Großkonzerne, dem de facto der ganze Sektor mit all seinen dreiundzwanzig Planeten gehörte. Die hatten ganz andere Sorgen, als sich nach möglichen zivilen Opfern zu erkundigen. Die paar Menschenleben, die Valk gerettet hatte, standen finanziell in keinem Verhältnis zu all den Fässern, die sich gerade in der Leere verloren.

Höchstwahrscheinlich würde er nicht ohne einen Haufen Gerichtsverfahren aus dieser Sache herauskommen. Was ihn allerdings mehr beschäftigte, war der Gedanke, dass man ihn wohl auch feuern würde. Und ohne Arbeit – er wusste nicht recht, was er dann anstellen sollte. Diese Arbeit war alles, was er hatte.

Also schickte er einen Drohnenschwarm los, um die verstreuten Container und so viele Kisten und Fässer wie möglich wieder einzusammeln. Dann schickte er der Wartungsabteilung eine kurze Nachricht, um sicherzugehen, dass der Hexus keine irreparablen Schäden durch umherfliegende Trümmerteile erlitten hatte. Schließlich übergab er den autonomen Systemen die Flugsicherung und meldete sich für den Rest des Tages ab.

Er hatte ein Geheimnis zu lüften, nämlich: Was zur Hölle hatten Leute an Bord eines Frachtkahns verloren?

*

Das Schlimmste war der Lärm. Der Frachtcontainer vibrierte wie eine große Glocke, und immer wieder wurde ohne Vorwarnung plötzlich beschleunigt, sodass sie gegen eine der spärlich gepolsterten Wände gedrückt wurden; mitunter so hart, dass Roan nur noch rote Pünktchen vor Augen sah. Aber der Lärm war noch schlimmer. Dröhnende mechanische Geräusche, die durch den Container hallten und ihr Zahnschmerzen bescherten.

Sie hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was draußen vor sich ging. Irgendwie hatte sich der Container von ihrem Frachtkahn gelöst, und nun taumelten sie hilflos durchs All. Sie hatte schon befürchtet, für immer verloren zu sein, bis die Geräusche angefangen hatten. Das musste eine Drohne oder so etwas sein, die den Container mit ihren mechanischen Armen ergriffen hatte. Ihn wieder zurück in Sicherheit schleppte, wie sie hoffte.

Ganz, ganz langsam. Es war schon mehr als eine Stunde vergangen, und sie wusste nicht, wie lange es noch so weitergehen würde.

Sie beide – Roan und ihre Lehrerin, Älteste McRae – hatten kaum noch Atemluft übrig. Sie hatten sich gerade genug Lebenserhaltung für die zwölftägige Reise leisten können, und der Container hatte bereits zu stinken angefangen, als sie das erste Mal die chemische Toilette benutzt hatten. Während der langsamen Reise nach Geryon hatten sie nichts zu tun gehabt. Sie hatten gerade genug zum Überleben, mehr nicht. Die einzige Lichtquelle im Innern des Containers war ein kleiner Bildschirm, der mit Bauschaum an einer der Wände befestigt war, ein flackernder Lichtbalken, kaum zwei Hand breit. Der Bildschirm zeigte nichts weiter als das sechseckige Firmenlogo von CentroCor, das langsam rotierte, während das Display versuchte, wieder Kontakt zum Bordrechner des Frachters herzustellen. Und es nicht schaffte.

»Wie lange noch?«, fragte Roan, nur um ihre Stimme zu hören.

»Geduld ist keiner der vier ewigen Grundsätze«, erwiderte Älteste McRae. »Vielleicht sollte man das ändern.«

Die Älteste hatte die Augen geschlossen. Kaum eine Regung war auf ihrem faltigen, braunen Gesicht zu sehen, als sie langsam einen flachen Atemzug nahm, dann den nächsten. Roan beneidete sie um so viel Fassung und Disziplin. Jahrelang hatte sie hart daran gearbeitet, dem großen inneren Frieden Stück für Stück näherzukommen, den sie in der Ältesten sehen konnte. Die alte Dame war wie eine zweite Mutter für sie gewesen, und eine hervorragende Lehrerin.

Jetzt gerade konnte Roan ihre blöde Visage allerdings kaum noch ertragen.

Was natürlich umgehend dazu führte, dass sie sich furchtbar schämte und es ihr wahnsinnig leidtat. Sie war drauf und dran, all ihre Disziplin über Bord zu werfen, alles zu vergessen, was sie gelernt hatte …

Der Container rutschte so plötzlich zur Seite, dass sich Roan gerade noch an einem der Nylonringe an der Wand festklammern konnte, um nicht wie ein Kiesel in einer leeren Konservenbüchse hin und her geworfen zu werden. Die Älteste hatte sich natürlich rechtzeitig festgehalten.

Die wilde Bewegung wurde von einer Kaskade neuen Lärms begleitet, jedes Geräusch noch lauter und ohrenbetäubender als das vorherige. Ein heftiger Schlag fuhr durch die Wände, dann spürte Roan, dass sie sich nicht mehr bewegten. Vielleicht hatten sie endlich ihr Ziel erreicht, dachte sie.

Dann drehte sich der ganze Container immer schneller um die eigene Achse, und Roan schoss das Blut in den Kopf. Sie war davon überzeugt, sich gleich übergeben zu müssen.

*

Der Hexus hatte sechs gewaltige Arme, die alle separat entlang der Hauptachse rotierten, um künstliche Schwerkraft zu erzeugen. Seine Flugsicherungs-Station befand sich am Scheitelpunkt zwischen zwei Armen, wo Valk einfach schweben konnte und die Beine nicht benutzen musste.

Einen der Arme zu betreten – irgendeinen Ort mit Gravitation zu betreten – bereitete ihm Qualen. Leider war der einzige Weg, den Container zu öffnen und die blinden Passagiere herauszuholen, sie erst einmal an Bord der Station zu bringen, wo es Wärme und Luft gab. Und da Valk dringend sehen wollte, wer sich da versteckt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig.

Er wies die Drohnen an, den Container zu einer der großen Drehschleusen zu bringen, der enormen Trommel am oberen Ende von Vairside, einem der sechs Arme des Hexus. Zusammen mit dem Container schwebte er hinein, und die Trommel wurde langsam mit Sauerstoff gefüllt. Die Wände drehten sich, dann setzten Valk und der Container beinahe sanft auf dem Boden auf. Es dauerte drei Minuten, bis sich die Schleuse der Rotationsbewegung von Vairside angepasst hatte. Drei Minuten, in denen sich Valk immer schwerer und schwerer werden fühlte.

Sobald seine Füße den Boden berührten, fing es an. Erst die Krämpfe in dem, was noch von seinen Füßen übrig war. Dann begannen die Muskeln in seinen Schenkeln zu pulsieren. Er spürte die Form der Knochen in seinen Beinen viel zu deutlich, musste ertragen, wie die Kniescheiben knirschend einrasteten.

Sein Anzug wusste, was zu tun war. Er massierte Valks Waden mit den speziell dafür angefertigten Gleitrollen. Die Heizelemente in den Schuhen wärmten sein geschundenes Fleisch. Im linken Augenwinkel tauchte eine weiße Perle auf, die ihm Schmerzmittel offerierte.

Er blinzelte sie weg.

Nach seinem Unfall vor siebzehn Jahren hatte ihm die Klinik diesen Spezialanzug überreicht. Seitdem hatte er ihn nie wieder abgelegt. Jeden Tag gab es ein Dutzend Anlässe für die weiße Perle, erneut aufzutauchen, um ihm Medikamente anzubieten. Man hatte ihm versichert, dass sie nicht suchterzeugend seien. Chemische Abhängigkeit war ausgeschlossen. Sie würden seine Leistungsfähigkeit in keiner Weise beeinträchtigen.

Aber Valk wusste, wenn er die weiße Perle einmal annahm, würde er nicht mehr aufhören. Warum auch, wenn der Schmerz doch nie verging? Die Perle fortzublinzeln war nach ein paar Jahren einfach zur Gewohnheit geworden. Mittlerweile hatte er das Gefühl, mit jedem Blinzeln einen kleinen Sieg zu erringen. Kleine Siege waren das Größte, woran er dieser Tage noch zu glauben wagte.

Er biss die Zähne zusammen und wartete, bis ihn die Schmerzen ganz erfüllten, einfach zu einem Teil seiner selbst wurden. Im Lauf der Jahre hatte er sich so sehr daran gewöhnt, dass er sie, wenn auch nicht ignorieren, so wenigstens stoisch ertragen konnte.

Schließlich hatte die Rotationsschleuse den richtigen Drehimpuls erreicht, und die großen Torflügel glitten auseinander. Mit knirschenden Gelenkarmen hoben die Drohnen den plötzlich schweren Container wieder an und bugsierten ihn in die weite, offene Eingangshalle des Vairside-Arms. Hier warteten bereits klobige Arbeitsdrohnen, die den Container öffnen sollten, ohne den Inhalt zu beschädigen.

CentroCor wollte nichts dem Zufall überlassen. Sollten die Insassen an Bord des Hexus sterben, konnte man den Konzern möglicherweise der widerrechtlichen Tötung anklagen. Was natürlich niemals geschehen würde. CentroCor beschäftigte mehr Anwälte als die Flotte Kampfpiloten. Trotzdem war Valk sich ziemlich sicher, dass man nicht zu einem Monopolisten multiplanetarer Erschließungen wurde, indem man unnötige Risiken einging.

Während sich die Drohnen über die schmale Frontseite des Containers hermachten, positionierte sich Valk so, dass er einen guten Blick hineinwerfen konnte. Die Montagedrohnen lösten den Stahl in blubbernden Schaum auf, dann schwebte eine kleinere Drohne mit Flutlichtscheinwerfer heran, um das Innere auszuleuchten.

Es gab nicht viel zu sehen. Die Innenwände des Containers waren mit weichem Kunststoff ausgekleidet, dazwischen die typischen Nylon-Schlaufen, die in Umgebungen mit Mikrogravitation allgegenwärtig als Haltegriffe eingesetzt wurden. Ansonsten war das geräumige Innere bis auf ein paar Lebenserhaltungssysteme und Sanitäranlagen vollkommen kahl.

Dann traten die blinden Passagiere vor. Eine alte Frau und ein junges Mädchen, beide in farblose, aber saubere Kittel und Hosen gekleidet.

*

Eine faustgroße Kunststoffdrohne mit Mantelpropellern surrte Roan direkt vors Gesicht. An der Unterseite hingen mehrere bewegliche Ärmchen mit Greifwerkzeugen und Sensoren. Sie sprach Roan in einer Stimme an, der jede menschliche Regung fehlte.

Willkommen auf dem Hexus von CentroCor.

Dann tauchte eine baugleiche Drohne neben der ersten auf, und noch eine, bis Roans Kopf von einem ganzen Schwarm umgeben war. Alle redeten durcheinander.

Bitte nicht bewegen, bis Sie fertig abgetastet wurden.

Sie haben gewisse Rechtsansprüche, von denen Sie einige bereits aufgegeben haben könnten.

Wie können wir Ihnen dabei behilflich sein, Vairside zu erleben?

Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.

Bitte nennen Sie Ihre bevorzugte Verkehrssprache, damit wir fortfahren können.

Bitte füllen Sie diese Formulare aus. Sie sind unerlässlich zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit.

Möglicherweise sind Sie verhaftet. Die Behörden werden sich in Kürze um Sie kümmern.

Bitte jetzt Ihr Passwort für den CentroCor-Vorteilsclub nennen oder eingeben.

Roan war restlos überfordert und wich verängstigt zurück. Sie stieß mit Ältester McRae zusammen, die ihr beruhigend eine Hand auf den Arm legte; aber die Lehrerin schaute ebenfalls verwirrt und unsicher drein.

Ein Riese in klobigem Raumanzug schritt auf sie zu und verscheuchte fuchtelnd die Wolke der Drohnen. Eine nach der anderen zogen sie sich zurück und hielten Abstand zu dem mächtigen Mann. Er musste mindestens zweieinhalb Meter groß sein – einen so großen Menschen hatte Roan noch nie gesehen. Durch den Anzug wurden die ohnehin breiten Schultern noch massiger. Der Helm war geschlossen, das Visier glänzend schwarz polarisiert. Sie wartete darauf, dass er den Helm abnahm und ihnen sein Gesicht zeigte, aber das tat er nicht.

»Sie müssen einfach entschlossen auftreten, dann geben die schon Ruhe«, sagte er und schubste die letzte Drohne gegen die nächste Wand. Sie ließ ein kurzes, verärgertes Jaulen hören und verstummte. »Tut mir leid«, sagte er.

»Wer sind Sie?«, fragte Roan.

»Tannis Valk. Ich bin hier für die Flugsicherung zuständig. Und jetzt habe ich ein paar Fragen an Sie.« Er beugte sich tiefer in den Container hinein. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte er.

»Wie bitte?«, fragte sie. Die Sache gefiel Roan ganz und gar nicht. Warum wollte der Mann sein Gesicht nicht zeigen? »Stehen wir unter Quarantäne oder so?«

»Hmm, was?«, fragte Valk. »Nein. Also wirk… Ich meine, wo kommen Sie beide her?«

Das war alles zu viel. Roan wollte einfach in den Container zurückweichen, dem fremden Riesen und den Drohnen entfliehen.

»Warum können wir Ihr Gesicht nicht sehen?«, fragte sie.

»Ich hatte vor geraumer Zeit einen Unfall«, sagte Valk. »Verlassen Sie sich drauf – Sie wollen nicht sehen, was hinter dem Visier steckt. Hören Sie, ich brauche wirklich ein paar Antworten. Wie lange waren Sie hier drin?«

»Zwölf Tage«, sagte Roan. Die Älteste zwickte sie sanft in den Arm, aber sie ignorierte es. »Wir kommen von Niraya.«

»Sie haben den ganzen Weg hier drin zurückgelegt?«, fragte Valk. »In einem Frachtcontainer? Ein Wunder, dass Sie überhaupt noch leben! Frachtkähne wie dieser haben nicht mal einen menschlichen Piloten. Das Schiff war sich kaum darüber im Klaren, dass es lebende Passagiere befördert. Aber das war wohl auch der Sinn der Sache, wie? Sie müssen gewusst haben, dass es illegal ist, so zu reisen.«

»Wenn man kein Geld hat«, sagte Roan, »muss man eben …«

Abermals ergriff die Hand der Ältesten ihren Arm. Dieses Mal zwickte sie hart genug, um Roan verstummen zu lassen.

»M. Valk«, sagte die Älteste und trat vor. »Stehen wir unter Arrest?«

Der Riese zuckte mit den Schultern. Zumindest hoben sich die massiven Schulterplatten des Anzugs – und fielen dann wieder herunter. Es war ein übertriebenes Schulterzucken, wie die Geste einer Comicfigur. »Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Im Prinzip haben Sie sich strafbar gemacht, indem Sie sich so eingeschifft haben. CentroCors Hauptanliegen dürfte sich in diesem Fall allerdings darin erschöpfen, bloß keine Haftung übernehmen zu müssen, also werden die Ihnen wahrscheinlich keinen Prozess aufs Auge drücken wollen. Wenn Sie mir einfach erklären würden, warum Sie hergekommen sind und was Sie …«

Die Älteste räusperte sich demonstrativ und richtete sich zu voller Größe auf – womit sie noch immer gute anderthalb Köpfe kleiner war als Valk. Aber sie hatte diesen bestimmten Gesichtsausdruck aufgesetzt, den sie stets zeigte, wenn Roan störrisch war und eine Lektion einfach nicht lernen wollte.

Roan hatte Todesangst vor diesem Blick.

»Haben Sie vor, uns hier festzuhalten, M. Valk? Wir haben noch geschäftlich zu tun. Dringende Geschäfte.«

»Ich hab nicht die Befugnis, Sie festzusetzen«, sagte Valk. »Ich kann Ihnen versichern, dass man Sie auf Schritt und Tritt überwachen wird, bis die Angelegenheit geklärt ist. Ihre Bewegungen werden gespeichert, und Sie können den Hexus nicht verlassen.«

»Das klingt akzeptabel«, sagte die Älteste.

Valk nickte, indem er den Helm vor und zurück wippen ließ. Es wirkte wie eine pantomimische Darstellung menschlicher Gesten. »Hören Sie«, sagte er. »Wenn Sie mir einfach verraten, was hier los ist, mir genug Details nennen, um einen vollständigen Bericht zu verfassen, können wir bestimmt vermeiden …«

»Falls wir nicht verhaftet sind, müssen wir jetzt los«, teilte ihm die Älteste mit. Sie packte Roan am Ellbogen und schob sie durch das Ende des Containers in die große Halle hinaus.

Ein Stück weiter vorn öffnete sich ein breites Tor in Richtung Licht und Lärm und wahnsinnig verlockender Düfte frisch gekochter Speisen. Über dem Torbogen hing ein vier Meter breites Transparent: WILLKOMMENINVAIRSIDE. ESGILTDIEÜBLICHEZIVILORDNUNG.

Roan warf verstohlen einen Blick über die Schulter und sah Valk noch immer im Container stehen. Mit einem seiner großen Finger fuhr er sachte über die weiche Kunststoffbeschichtung der Innenwände. Dann steuerte die Älteste sie durch den Torbogen, hinein in den Schmelztiegel der Sinneseindrücke, und Roan konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

*

Sauber.

Alles viel zu sauber.

Vor dem Lebenserhaltungssystem, das die blinden Passagiere zurückgelassen hatten, ging Valk in die Hocke. Die altbekannten Schmerzen in den Knien flammten auf, und er musste einen Moment warten, bis sich der rote Schleier der Qual wieder aus seinem Sichtfeld verzog. Dann untersuchte er das kleine Gerät, als handle es sich um ein archäologisches Fundstück.

Valk konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen so primitiven Wasseraufbereiter gesehen hatte – wie es aussah, lief dieses Ding tatsächlich mit Batterien. Der Luftfilter wies überall Schweißnähte und pappige Klebstreifen auf, als hätte ihn jemand aus Einzelteilen zusammengehämmert.

Als er die Filtereinheit öffnete, entpuppte sie sich allerdings als makellos, als sei sie erst vor Kurzem gründlich gereinigt worden.

Entschlossen gab Valk seinem Anzug einen Befehl. Im Fließglas seines Helms entstand ein Raster winziger Löcher, gerade genug, um ein wenig Luft hindurch zu lassen. Es stank. Na ja, hier hatten zwei Leute zwölf Tage lang gehaust. Auch hatte er schon mal chemische Toiletten in besserem Zustand gesehen. Wahrscheinlich hatten sie daran nicht viel ändern können – aber ansonsten war im Innern des Containers alles, was man säubern konnte, gesäubert worden. Gewissenhaft.

Er ging zu dem Display, das in eine Wand eingelassen war, und rief das Protokoll auf. Die wenigen Einträge waren sämtlich alltägliches Zeug. Sie hatten das Display benutzt, um mit dem autonomen Piloten des Frachtkahns zu kommunizieren. Einmal, um ihn wissen zu lassen, dass sie am Leben waren und er vorsichtig fliegen sollte. Danach hatten sie sich nur noch hin und wieder eingeloggt, um sich über die verbleibende Flugzeit zu informieren.

Es gab keine Unterhaltungsprogramme auf dem Display. Keine Spiele oder Filme oder überhaupt irgendetwas, um sich die Zeit zu vertreiben.

Sie mussten den Großteil der zwölf Tage damit verbracht haben, alles sauber zu halten und zwischendurch etwas zu reparieren. Hatten sich einfach nur am Leben gehalten. Wie hatten Sie es geschafft, in dem Dämmerlicht und ohne jegliche Ablenkung nicht verrückt zu werden?

Niraya. Das Mädchen hatte gesagt, dass sie von Niraya gekommen waren. Valk hatte von dem Planeten nur beiläufig gehört. Es war eine der Welten, die vom Hexus versorgt wurden, aber in die Richtung gab es kaum Verkehr. Er verband den Rechner seines Anzugs mit dem Display und rief den Planeten auf.

Der Bildschirm füllte sich mit Text und bot ihm viel mehr Informationen, als er hatte haben wollen – Klimadaten, historische Ereignisse, Finanzberichte. Er schaltete kurzerhand auf eine knappe Zusammenfassung um. Sofort sah er, warum er über diesen Ort nur wenig wusste. Kaum ein menschlicher Planet lag weiter von der Erde entfernt, Hunderte von Lichtjahren in Richtung des galaktischen Zentrums. Er war während der Grenzkriege von irgendeiner religiösen Splittergruppe kolonisiert worden. CentroCor hatte sich um den weiteren Ausbau der Kolonie gekümmert, und niemand hatte den Anspruch je infrage gestellt. Anscheinend war kein anderer MegaKon der Meinung gewesen, der Planet habe genug zu bieten, um darüber Streit anzufangen. Zum Ausgleich für ihre selbstlose Schirmherrschaft hatte CentroCor ein örtliches Bergbauunternehmen errichtet – allerdings war dessen Betrieb nie besonders profitabel gewesen. Weder Iridium noch Kobalt waren sonderlich gefragt. Der Planet Niraya war bettelarm; dermaßen abgebrannt, dass nicht einmal das Terraforming abgeschlossen worden war. Selbst jetzt, mehr als hundert Jahre nach seiner Besiedelung, war dort menschliches Leben kaum möglich.

Also gut, die ärmlichen Verhältnisse mochten eine Erklärung dafür sein, dass sich die beiden lieber in einem Frachtcontainer eingenistet hatten, statt sich Karten für ein richtiges Passagierschiff zu organisieren. Und wenn sie Anhänger einer strikten religiösen Gemeinschaft waren, konnte das auch die fanatische Sauberkeit erklären. Der Kleidung nach zu urteilen waren sie zumindest keine Minenarbeiter.

Aber was zum Henker wollten solche Leute auf dem Hexus?

Er verließ den Container und ging zum Torbogen hinüber, der zu den zweifelhaften Freuden von Vairside führte. Was auch immer man an Lastern und Macken sein Eigen nannte, hier konnte einem abgeholfen werden. Besatzungen von Schiffen auf der Durchreise und Flottenpersonal auf Landgang kamen her, um Dampf abzulassen, ihre Heuer zu verzocken und einfach allgemein die Sau rauszulassen. Es war wirklich der letzte Ort in der Galaxis, von dem Valk sich vorstellen konnte, dass religiöse Leute ihn freiwillig aufsuchen wollten.

Das gefiel ihm alles überhaupt nicht. Er mochte keine Rätsel, hatte sie noch nie leiden können.

Was bedeutete, dass das hier eindeutig nicht sein Tag war. Während er noch dastand und durch das Tor starrte, als könne er die blinden Passagiere vielleicht in der Menge ausmachen, meldete sich sein Anzug. Im Augenwinkel tauchte eine blaue Perle auf, die ihm mitteilte, er habe eine Nachricht von der autonomen Flugsicherung erhalten.

Die FA.2 – der Raumjäger, den er hinunter in Geryons Atmosphäre hatte rasen sehen – war zurück und bat um Landeerlaubnis im Hexus. Von der Jacht, die er verfolgt hatte, fehlte jede Spur.

Rätsel über Rätsel, verdammt. Um wenigstens ein paar Antworten zu erhalten, würde er noch viel mehr Zeit auf den Beinen verbringen müssen.

Als hätte sie seinen Missmut gespürt, tauchte die weiße Perle mit ihrer Verheißung von Medikation schon wieder auf. Er blinzelte sie fort. Wie gehabt.

*

Lichter.

So viele Lichter!

Der Hexus musste unglaubliche Mengen an Energie haben, die man einfach so verschwenden konnte. Die schmalen Straßen von Vairside waren von Lampen an hohen Masten gesäumt, die alles in schummriges Licht hüllten. Jedes Geschäft und jedes Restaurant war mit freundlichen Kugeln erhellt. Große, gleißende Reklametafeln schwebten über den Straßen und boten Produkte feil, die Roan sich kaum ausmalen konnte. Selbst die kleinen Drohnen, die überall herumflitzten, hatten alle kleine Scheinwerfer, die über die Köpfe der Menge huschten …

Diese Massen! So viele Menschen verstopften jede verschlungene Seitengasse, ergossen sich in Strömen aus Eingängen oder standen grüppchenweise in den kleinen Parks herum, die lediglich durch schmiedeeiserne Zäune von der Straße getrennt waren. Mit rollendem Donner fuhr auf den erhöhten Gleisen ein Zug ein und spuckte noch mehr Menschen aus, als wären die Straßen noch nicht belebt genug. Hundert verschiedene Kleidungsstile prallten aufeinander: Overalls, Fliegerjacken, Hosenanzüge aus Papier und lange Mäntel, die die Absätze hochglanzpolierter Schuhe umspielten. Manche Menschen trugen lediglich kurze Hosen, andere waren fast komplett nackt, Männer wie Frauen. So viele Leute, die in Dutzenden Sprachen durcheinander schnatterten und in solch bizarr verzierter Vielfalt herumliefen. Manche hatten sich Metallschmuck durch Nasen oder Wangen gebohrt, einige hatten ganze Arme voller Narbenmuster, viele trugen ihre Haare in den wildesten, unnatürlichsten Farben. Aus dem hintersten Abteil drängten noch mehr Leute heraus, alle fielen übereinander und hielten sich aneinander fest. Sie trugen Raumanzüge mit bunt bemalten Schultern – Flottenpersonal, dachte sich Roan. Sie hatte davon gehört, dass für diese Leute die Raumanzüge gleichzeitig auch Uniform waren, und sie sie niemals ablegten. Alle lachten und starrten sie an, einige warfen ihr Blicke zu, die sie erröten ließen.