Die vergessenen Welten - D. Nolan Clark - E-Book

Die vergessenen Welten E-Book

D. Nolan Clark

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Beschreibung

Aleister Lanoe und seine Crew haben einen fulminanten Sieg über die feindliche Alien-Armada errungen, die den Planeten Niraya bedrohte. Dennoch ist Lanoes Mission noch nicht zu Ende. Getrieben vom brennenden Wunsch nach Rache kennt er nur ein Ziel: den Heimatplaneten der Aliens zu finden und zu zerstören. Doch dann werden seine Pläne durchkreuzt, denn das Schicksal der Erde selbst steht auf Messers Schneide ...

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Das Buch

Aleister Lanoe und seine Crew haben einen fulminanten Sieg über die feindliche Alien-Armada errungen, die den Planeten Niraya bedrohte. Dennoch ist Lanoes Mission noch nicht zu Ende, denn diese Armada war eine von unzähligen Flotten, die auf der Suche nach fremden Zivilisationen die Galaxis durchstreifen. Lanoe kennt daher nur ein Ziel: Er muss unbedingt den Heimatplaneten der Aliens mit dem selben Namen Blau-Blau-Weiß finden, um den Angriffen ein für allemal ein Ende zu bereiten und zu zerstören. Doch gerade, als Lanoe von unverhoffter Seite Unterstützung erfährt, werden seine Pläne durchkreuzt, und das Schicksal der Erde selbst, der Wiege der Menschheit, steht plötzlich auf Messers Schneide …

Erster Roman: Der verratene Planet

Zweiter Roman: Die vergessenen Welten

Der Autor

Hinter dem Pseudonym D. Nolan Clark verbirgt sich der Bestsellerautor David Wellington.

D. NOLAN CLARK

DIEVERGESSENENWELTEN

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Julian Haefs

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der Originalausgabe FORGOTTEN WORLDS – THE SILENCE 2

Deutsche Erstausgabe 5/2018

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2017 by David Wellington

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von Nixx Photography/Shutterstock und tsuneomp/Shutterstock

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

ISBN 978-3-641-20208-8V002

www.penguin.de

Für Fred

I

ZIRKUMBINÄR

1Jenseits der Mauern des Alls erstreckte sich das Netzwerk der Wurmlöcher, die alle Sterne miteinander verbanden. Ein furchterregend trostloses Labyrinth von Tunneln, die selbst an den breitesten Stellen nur wenige Hundert Meter durchmaßen. Die Wände waren von einem ständigen und geisterhaften Leuchten erfüllt, dem lumineszierenden Rauch kollidierender Teilchen. Das spukhafte Licht verbreitete ein wenig Helligkeit, jedoch kaum Wärme.

Auch wenn die Menschheit seit weit über einem Jahrhundert regen Gebrauch von diesem Geflecht verborgener Passagen machte, um Personen und Güter von Stern zu Stern zu transportieren, war dieser Irrgarten jenseits der Raumzeit so komplex und verwinkelt, dass Schiffe einander in den stillen Röhren nur selten begegneten. Noch seltener kam es vor, dachte sich Aleister Lanoe, auf gleich vier Kataphrakt-Jäger zu treffen, die einem den Weg versperrten. Selten genug, dass es sich unmöglich um einen Zufall handeln konnte.

»Die gehören nicht zur Flotte«, sagte Valk, Lanoes Kopilot, der sich gegenwärtig in der Beobachtungskuppel an der Unterseite des Schiffs befand. »Da, die Sechsecke auf der Verkleidung. Definitiv CentroCor-Miliz.«

Lanoe hatte sofort erkannt, um welche Sorte Jäger es sich handelte – die Yk.64er waren billige Kopien besserer Flottenmodelle mit großen rundlichen Cockpits. Er war schon einer Menge Schiffe dieser Machart begegnet und wusste, dass sie zwar mit teureren Modellen nicht mithalten konnten, man sie aber dennoch keineswegs unterschätzen durfte.

»Hmm«, sagte er.

Sie waren noch mehrere Stunden von ihrem Ziel entfernt. Natürlich konnten sie versuchen, die Formation zu durchbrechen und Reißaus zu nehmen, aber leider war ihr Z.VII-Aufklärer langsamer als die Yk.64er. Sie würden eine lange, unschöne Verfolgungsjagd vor sich haben, die mit ziemlicher Sicherheit kein gutes Ende nähme. Auch Kämpfen war keine aussichtsreiche Alternative. Zwar war die Z.VII mit zwei Partikelstrahl-Geschützen ausgestattet, die der Bewaffnung der CentroCor-Schiffe in nichts nachstanden, dafür waren deren Vektorfelder stärker. Die Yk.64er würden den Großteil des PSG-Feuers einfach schlucken. Eine direkte Konfrontation würden sie kaum überleben.

Lanoe versuchte, die Jäger zu kontaktieren. »CentroCor-Schiffe, wir brauchen ein bisschen mehr Platz. Was dagegen, wenn wir uns an euch vorbeiquetschen?« Als wäre es bloß eine zufällige Begegnung auf einer vielbeflogenen Handelsroute. »Ich wiederhole: CentroCor-Schiffe …«

»Lanoe«, unterbrach Valk ihn, »sie fahren die Waffen hoch.«

Er hatte kaum mit etwas anderem gerechnet.

Vier zu eins unterlegen. Ihr Gegner war schneller und besser bewaffnet. Keine Hilfe in Rufweite. Nun gut, wenn sie schon kämpfen mussten, hatten sie wenigstens einen Vorteil. Die Piloten der Yk.64er waren Milizionäre. Söldner von CentroCor – einem der MegaKons, der großen Monopolisten, die bis auf die Erde sämtliche von Menschen besiedelten Planeten unter sich aufgeteilt hatten. Diese Piloten waren von einem Unternehmen ausgebildet worden. Lanoe war einer der besten Piloten, die je in der Flotte der Erde gedient hatten.

»Festhalten«, sagte er zu Valk. Er riss den Steuerknüppel herum und zündete die seitlichen Manövrierdüsen. Sofort trudelte ihr Schiff in einer wilden Schraube der Wand des Wurmlochs entgegen.

*

Die Trägheitsdämpfer des Langstrecken-Aufklärers drückten Valk fest in den Sitz. Ihm war, als habe sich plötzlich jemand auf seinen Brustkorb gesetzt. Ein unschönes, aber vertrautes Gefühl – ohne Trägheitsdämpfer würde jeder Pilot, der ein solches Manöver vollführte, unweigerlich als violetter Schleim an den Wänden des eigenen Cockpits enden.

Leider erschwerte es die Bedienung der Feuerleitkonsole erheblich. Valk grunzte und stach mit dem Finger auf die virtuelle Tastatur ein. Das Geschütz fuhr sich hoch. Automatisch drehte der Bordcomputer die Beobachtungskuppel um die eigene Achse, um ihm den bestmöglichen Schusswinkel auf die gegnerischen Jäger zu ermöglichen. Somit flog er nun rückwärts, was auch bedeutete, dass er die dräuende Tunnelwand nicht mehr sehen konnte. Das war ihm ganz recht so. Sollten sie die Wand dieser in sich verdrehten Röhre durch die Raumzeit auch nur streifen, würde sich der Langstrecken-Aufklärer im selben Augenblick auflösen, bis nicht einmal Atome, sondern nur noch Quarks zurückblieben.

Valk verließ sich darauf, dass Lanoe dies zu verhindern wusste.

»Feindbeschuss oberhalb sieben Uhr«, rief Valk und drückte eine weitere Taste, um ein virtuelles Zielkreuz aufzurufen. Das feine Raster bündelte sich auf dem Kuppeldach und zeigte ihm an, wo seine Treffer am ehesten landen würden. Es hüpfte wild hin und her, während der Bordrechner vergeblich versuchte, Lanoes Schleuderflug und die Bewegungen der vier feindlichen Jäger sinnvoll auszuwerten. Valk verfluchte das blöde Gerät und schaltete es wieder ab. Er würde doch per Hand zielen müssen. »Ich glaube, die sind sauer«, sagte er.

Wie winzige brennende Kometen jagten gegnerische Partikelstrahlen über die Triebwerksdüsen des Aufklärers. Lanoe ließ das Schiff mit den Positionsdüsen so weit rotieren, dass die meisten Schüsse vorbeizogen. Nur ein paar Streifschüsse schlugen Funken im Vektorfeld.

»Das war ein Warnschuss«, sagte Lanoe. »Glaubst du, die wollen uns lebend zu fassen kriegen?«

»Halt doch kurz an und frag mal«, sagte Valk. Lanoe kicherte.

Knapp vor der Tunnelwand zog er das Schiff hart nach oben und verfiel in einen schlingernden Zickzackkurs, während sie weiterhin feindliches Feuer auf sich zogen. Jetzt begriff Valk auch, warum Lanoe die Wand angesteuert hatte – auf diese Weise konnte ihnen keiner der Jäger in den Rücken fallen. Die Oberseite des Aufklärers war vergleichsweise schwach gepanzert, also wollte Lanoe auch diese vom Feindbeschuss fernhalten. Was natürlich hieß, dass Valk in seiner Beobachtungskuppel direkt in der Schusslinie hing.

War ja nicht das erste Mal. Er fuhr herum, visierte die nächste Yk.64 an und feuerte. Der Partikelstrahl riss eine der Tragflächen ab; allerdings benötigte dieser Bastard sie hier überhaupt nicht – im Vakuum der Wurmlöcher waren Tragflächen verzichtbar. Valk setzte gerade zum nächsten Schuss an, als sein Blickfeld herumwirbelte und er plötzlich keine Gegner mehr vor sich hatte. Lanoe musste das nächste raffinierte Manöver geflogen haben, ohne ihn vorzuwarnen.

»Gib mir wenigstens irgendwas zum Schießen«, rief er.

»Keine Sorge«, sagte Lanoe. »Du kriegst schon noch was zu tun.«

*

Lanoe saß in seinem Cockpit am Bug des Aufklärers und bediente die Kontrollen mit einer Hand, während die andere fest um den Steuerknüppel gekrallt blieb. Auf seinem Zweitdisplay sah er die dreidimensionale Karte der vier Miliz-Jäger, deren prognostizierte Bahnen wie Bänder aus Glas vor ihnen durch das Wurmloch schwebten. Alle vier rauschten ein gutes Stück hinter ihm weiter oberhalb dahin, immer noch aufgereiht in einer Formation wie aus dem Lehrbuch. So hatten sie ihn aus einer Entfernung eingekesselt, die ihnen nicht erlauben würde, nahe genug heranzukommen, um einen wirklich gefährlichen Schuss abzugeben. Trotzdem war es eine grundsolide Taktik – sie blieben auf Abstand, weil sie genau wussten, dass sie mehr als genug Zeit hatten. Sie konnten es sich leisten, den Aufklärer so lange mit Fernschüssen zu überziehen, bis sie einen Glückstreffer erzielten.

Er konnte sie nicht abschütteln. Und wenn er versuchte, sich zurückfallen zu lassen, würden sie lediglich die Lücke schließen und ihn auseinandernehmen oder schlicht gegen die Tunnelwand abdrängen. Keine schönen Aussichten.

Im Allgemeinen gaben Milizionäre keine besonders talentierten Piloten ab. Viele von ihnen waren ehemalige Kadetten der Flottenakademie, die nach ihrem vorzeitigen Rausschmiss nur noch für einen der Konzerne fliegen konnten. Andere wurden direkt aus der Zivilbevölkerung rekrutiert, kaum zehn Stunden in einen Flugsimulator gesteckt und dann ausgeschickt, um irgendwie klarzukommen. Dieses Grüppchen hier war allerdings ganz offensichtlich eine Ecke besser – umsichtig, anpassungsfähig. Und geduldig.

Er wünschte inständig, zu wissen, wer sie geschickt hatte. Und warum man ihn so dringend einfangen wollte.

Wollten sie dieser Falle entkommen, musste er sich etwas Waghalsiges einfallen lassen. »Valk«, rief er. »Ich weiß, dass du gerne knauserig mit deiner Munition umgehst. Ich muss dich bitten, jetzt gleich geradezu verschwenderisch auszuteilen. Für meinen nächsten Trick hältst du bitte den Abzug so lange durchgedrückt, bis die Waffe überhitzt, alles klar?«

»Moment mal«, sagte Valk. »Was hast du vor?«

Lanoe verschwendete keine Zeit mit einer Antwort, sondern programmierte eine komplizierte Sequenz schneller Zündungen ins Triebwerk, zog den Steuerknüppel hart an sich und öffnete im selben Moment die Drosselklappe.

Grundsätzlich war die Z.VII zur Langstrecken-Aufklärung konstruiert worden. Sie bot ein beachtliches Rundum-Paket moderner Sensoren und ein äußerst energieeffizientes Fusionstriebwerk. Leider machte die Menge der verbauten Ausrüstung das Schiff relativ klobig und verringerte die Reaktionszeit merklich. Für diese Art Kampf auf engem Raum war es nicht geschaffen, von Lanoes artistischen Einlagen ganz zu schweigen. Bei der komplexen Abfolge schneller Manöver, die er gerade initiiert hatte, konnte er froh sein, wenn sich der Rumpf nicht rettungslos verknotete. Das Schiff drehte sich einmal um die Längsachse, und Lanoe hörte den Rahmen bedenklich ächzen. Sofort wurden die Geräusche noch schlimmer, als Dutzende von Miniaturdüsen an Bug und Flanken in die vieltönige Kaskade einstimmten. Mit etwas Pech hätten sich bei dieser Belastung etliche der kleinen Antriebseinheiten direkt aus der Verankerung reißen können.

Stattdessen hatte er – wie so oft – das Glück auf seiner Seite. Alles hielt. Für den Gegner musste es aussehen, als habe er vollkommen die Kontrolle verloren und das Schiff zu einer wilden vertikalen Schleuderbewegung verdammt.

Die Z.VII trudelte kopfüber, kopfunter der Flugbahn der vier Milizionäre entgegen. Lanoe musste ihnen zugutehalten, dass sie solide Piloten waren und sofort reagierten, die Formation lösten und einer drohenden Kollision problemlos entgingen. Solide, aber nicht gut genug. In einem großen Funkenregen miteinander ringender Vektorfelder touchierte einer von ihnen den Flügelmann. Der dritte wich zurück und versuchte, Lanoes wirbelndes Schiff ins Visier zu nehmen. Auf die Entfernung hätte er kaum vorbeischießen können, und der Treffer wäre fraglos direkt durch ihr Vektorfeld gefahren und hätte den Aufklärer sauber zerteilt.

Wenn Valk zu diesem Zeitpunkt nicht schon den Abzug durchgedrückt hätte. Er hatte Lanoes Anweisung Folge geleistet und deckte so den Nahraum mit einem Feuerwerk aus Partikelstrahlen ein, das sich auch über das Kanzeldach der Yk.64 ergoss. Wahrscheinlich hatte der Pilot nicht einmal Zeit zu schreien. Der Treffer riss die Yk.64 in Stücke, und die drei verbliebenen Jäger mussten hastig ausweichen, um der Wolke sonnenheißer Trümmerteile zu entgehen.

Lanoe riss den Aufklärer aus der Kreiselbewegung und ging kaum zehn Meter vor der Tunnelwand wieder auf einen geraden Kurs. Noch war die Sache nicht überstanden. Er drehte den Antrieb ganz auf und jagte mit maximaler Beschleunigung in die falsche Richtung davon.

2Valk ließ die Beobachtungskuppel um hundertachtzig Grad rotieren. Durch den Feuerdunst ihres Triebwerks sah er die drei Jäger hart beidrehen und neu formiert die Verfolgung aufnehmen.

»Du weißt schon, dass es zur Admiralität in die andere Richtung geht, oder?«, fragte er.

»Die werden uns nicht zur Admiralität durchlassen«, sagte Lanoe. »Das wird heute nichts.«

Valk schaltete die Sprechanlage aus, damit Lanoe ihn nicht fluchen hörte. Er versuchte, sich auf die Verfolger zu konzentrieren und einen Fernschuss anzubringen, aber es hatte keinen Zweck. Er schaltete die Sprechanlage wieder ein. »Lanoe, du hast es mir versprochen. Du hast gesagt, wir fliegen zur Admiralität, laden das ganze Zeug aus meinem Kopf runter, und dann kann ich …«

»Habe ich nicht vergessen«, sagte Lanoe.

Valk wusste, dass die Diskussion überflüssig war. Er sah schließlich selbst, wie die Dinge standen. Sie waren nur so nah dran gewesen – so nah. »Ich hab nichts gesagt«, sagte er. »Gibt’s einen neuen Plan?«

»Ja, und zwar heil hier rauszukommen. Falls möglich. Hör mal, wir haben uns etwa fünfzehn Sekunden Vorsprung verschafft. Wir können sie aber auf keinen Fall abhängen. Du musst sie unbedingt aus der Ruhe bringen – heiz ihnen ein, sobald sie zu nah rankommen, sorg dafür, dass sie uns nicht anständig in die Zange nehmen können. Alles klar?«

»Jap«, sagte Valk. Er aktivierte die Feuerleitkonsole. Das PSG hatte noch mehr als genug Munition. Er überprüfte die restlichen Anzeigen und nickte. »Was dagegen, wenn ich mich kreativ austobe? Ich hätte da vielleicht die eine oder andere Überraschung für unsere Freunde parat.«

»Meinen Segen hast du«, sagte Lanoe.

Valk machte sich über seine virtuelle Tastatur her. Das würde durchaus interessant werden, dachte er sich. Falls sie lange genug am Leben blieben, um das Resultat genießen zu können.

*

Das Wurmloch breitete sich vor Lanoe aus, schlängelte sich hierhin und dorthin, die Wände von geisterhaftem Feuer erfüllt. Er legte sich einen Bildschirm ins Sichtfeld, der die Aufnahmen der Heckkamera zeigte. Die gegnerischen Piloten waren von seinem verrückten Manöver sichtlich überrumpelt worden und hatten sich noch immer nicht vollständig sortiert.

Trotzdem blieb ihnen nur wenig Zeit. Schon hatte einer der Piloten einen perfekten Halbkreis hingelegt – ein Manöver, das im Vakuum wesentlich schwerer zu vollziehen war als innerhalb einer Atmosphäre. Die anderen beiden drehten sich ein und wendeten – etwas langsamer, dafür aber ungefährlicher. Hinter ihnen flackerten immer wieder kurze Blitze auf, als die Trümmer des vierten Jägers auf die Wände des Wurmlochs trafen. Selbst solche kleinen Kollisionen setzten eine Menge Gammastrahlung frei, und dennoch war die Hoffnung vergebens, einer der Gegner könnte von einem Blitz geröstet werden.

Die vorderste Yk.64 war sofort auf Höchstbeschleunigung gegangen, und Lanoe konnte die breite Ionenspur hinter ihrem Triebwerk sehen, als stünde der Jäger zu Häupten einer Flammensäule. Valk gab ein paar hilflose Schüsse auf Bug und Tragflächen ab, aber der Gegner gab sich keine Mühe, auszuweichen.

Schnell verringerte das kräftige Triebwerk des Jägers die Distanz. In wenigen Sekunden würde der Milizionär wieder nah genug sein, um Lanoes zentrale Triebwerkdüse wunderbar ins Visier nehmen zu können – ein Treffer genügte. Lanoe ging verschiedene trickreiche Ausweichmanöver im Kopf durch; allerdings würde jede Abweichung die Z.VII zusätzlich verlangsamen, und er hatte noch an die beiden anderen Verfolger zu denken. Sie waren nicht viel weiter weg.

»Valk«, rief er, »falls du dir was überlegt hast …«

»Mach die Augen zu«, sagte Valk.

»Ich muss unsere Mühle fliegen«, sagte Lanoe mit Nachdruck.

Valk streckte die Hand nach seinem Sensor-Display aus. Sein Finger verharrte über einer virtuellen Taste.

»Zum Teufel, Lanoe – mach die Augen zu, verdammt.«

Er hieb auf die Taste.

Die Z.VII hatte eine Menge ausgefeilter Sensorik und Kommunikationstechnik an Bord. Teil des Gesamtpakets waren einige Hundert Mikrodrohnen – im Grunde nichts als einfache, daumengroße Satelliten. Sie bestanden aus einer Kamera, einer Antenne und einem simplen Triebwerk, für alles andere war kein Platz. Normalerweise wurden sie wie eine Spur aus Brotkrumen nacheinander ausgesetzt, während der Aufklärer seine Langstrecken-Patrouille durch ein Schlachtfeld oder ein System absolvierte. Gemeinsam bildeten sie ein dezentrales Kommunikations- und Bildverarbeitungsnetzwerk, das die umfassende Beobachtung eines ausladenden Bereichs des Alls ermöglichte.

Valk setzte sie alle auf einmal frei. Sie schossen aus der Verschalung des Aufklärers hervor und jagten mit kleinen Stichflammen in sämtliche Richtungen davon, eine ganze Wolke zuckender Täuschkörper. Für einen kurzen Moment würden sie die Zielerfassung der Verfolger durcheinanderbringen, bis die gegnerischen Bordcomputer die Situation ausgewertet hatten. Aber darum ging es Valk gar nicht.

Er hegte auch nicht die Hoffnung, ihr Verfolger würde die Mikrodrohnen rammen. Dafür gaben sie viel zu lausige Projektile ab – sie waren zu klein und zu langsam, um wirklichen Schaden zu verursachen, das Vektorfeld würde sie mühelos aus dem Weg räumen.

Nein, Valk hatte die Drohnen aus einem anderen Grund starten lassen. Er hatte ihre Standardprogrammierung abgeschaltet, genauer gesagt die Algorithmen zur Kollisionsvermeidung. In großer Zahl strebten sie aus der Z.VII direkt den Tunnelwänden entgegen.

Sie wurden auf der Stelle vernichtet, zerfetzt und in reine Energie umgewandelt. Hunderte von Entladungen in unter einer halben Sekunde, von denen jede einzelne so viel Helligkeit und Strahlung erzeugte wie eine kleine Kernwaffe.

»Was zur Hölle!«, schrie Lanoe. Seine Formulierung entsprach auf jeden Fall dem Anblick, ob er das nun so gemeint hatte oder nicht. »Valk – das war auch mit geschlossenen Augen deutlich zu sehen. Was hast du gemacht?«

Anders als Lanoe hatte der vorderste gegnerische Pilot keine Vorwarnung bekommen, die Augen zu schließen.

Aber die Yk.64 war eine intelligente Maschine. Eine Mikrosekunde nach der ersten Kollision hatte sich das Cockpit polarisiert, war vollkommen undurchlässig geworden und hatte all das schreckliche Licht ferngehalten.

Schwer zu sagen, ob die Reaktionszeit gereicht hatte, um den Piloten nicht permanent erblinden zu lassen. Eine theoretische Frage – mit verdunkeltem Cockpit konnte er so oder so nichts sehen. Auf jeden Fall aber würde er fast neun Zehntel einer Sekunde lang blind fliegen müssen.

Mehr als genug Zeit für Valk, um selbst auf diese Distanz einen satten Treffer zu erzielen. Natürlich hatte er direkt in Richtung der Kollisionen gesehen, nur benötigte er anders als Lanoe oder ihre Gegner keine Augen für die folgende Aktion. Er griff direkt in den nackten Programmcode der Sensorik und formulierte die Einsen und Nullen zu einer makellosen Feuerleitlösung. Er musste seine Hand nicht sehen, um den Abzug zu drücken.

Der Partikelstrahl traf die Yk.64 direkt in den Bug und durchschlug das Vektorfeld. Der Jäger wurde in Stücke gerissen, Tragflächen und Waffensysteme und Triebwerk trudelten in unterschiedliche Richtungen davon.

»Hab noch einen erwischt«, sagte Valk.

»Sobald ich durch die ganzen Punkte wieder was sehen kann«, sagte Lanoe, »würde ich zu gerne wissen, was du da angestellt hast. Starke Nummer.«

»Tja«, sagte Valk, »zu schade, dass ich sie nur einmal abziehen kann.«

*

Lanoe blinzelte und zwinkerte und schüttelte den Kopf, um die Tränen loszuwerden. Der Tunnel vor ihm wand sich wie ein knorriger alter Baum, und sie jagten mit maximaler Beschleunigung hindurch. Wenn er nicht extrem achtgab, würden sie eine Wand berühren und ihren Verfolgern die Arbeit abnehmen.

Nicht, dass diese die Hilfe wirklich nötig hatten. Die beiden verbleibenden Jäger kamen rasch näher. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt – na ja, Lanoe hatte das Glück gehabt, dass Valk am Bordgeschütz saß –, aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung war ihnen ebenso schnell auf den Fersen wie die zwei Jäger, die jetzt blind das Feuer eröffnet hatten und eine Menge Distanzschüsse abgaben. Sie hatten kaum Gelegenheit, die Z.VII in den Windungen des Wurmlochs zu erfassen, aber irgendwann mussten sie einen Zufallstreffer landen.

»Ein Stück weiter hinten gab es eine Abzweigung«, sagte Lanoe. »Erinnerst du dich?«

»Nein«, sagte Valk.

Lanoe lachte. »Na gut, ändert nichts an der Tatsache. Keine Ahnung, wohin die führt, aber wenn wir irgendwie zurück in den freien Realraum kommen, können wir wenigstens etwas besser manövrieren. Ich drehe gleich hart bei. Könnte ein bisschen wehtun.«

»Ich werd’s überleben«, sagte Valk.

Lanoe nickte. Da hatte der große Kerl zweifellos recht. Valk konnte schließlich bedeutend mehr Andruck verkraften als er selbst.

Trotzdem würde es unangenehm werden.

Die meisten Leute stellten sich das Netzwerk der Wurmlöcher als eine Art Autobahnsystem vor, ein Straßennetz, das alle Sterne der menschlichen Einflusssphäre miteinander verband. Jeder Pilot wusste es besser. Das ganze Geflecht war so chaotisch wie das Wurzelwerk eines gewaltigen Baums oder das Höhlensystem eines Bodenwühlers – Wurmlöcher bildeten zahllose Kreuzungen, spalteten Sackgassen ab oder lange Schleifen, die letztlich wieder am gleichen Ort endeten. Um alles noch schlimmer zu machen, gab es auch kein verlässliches Kartenwerk des kompletten Netzes, denn es war in ständigem Wandel begriffen – nur die breitesten, meistbeflogenen Routen blieben über längere Zeit konstant, und selbst diese verknoteten und verzogen sich, sobald gerade niemand hinsah.

Man kam andauernd an Kreuzungen und neuen Tunneln vorbei. Jedem Piloten wurde eingebläut, nicht auf eigene Faust Erkundungen anzustellen, um nicht in Sackgassen oder – schlimmer noch – Seitengängen zu enden, die sich immer weiter verjüngten, bis selbst für einen Jäger wie die Z.VII kein Platz mehr war.

Natürlich musste man manchmal einfach etwas riskieren.

Die beiden Yk.64er hatten sie fast eingeholt. Valk entfesselte Salve um Salve, aber die Angreifer konnten mit ihrer Geschwindigkeit haushalten – sie vollführten genug Tänze und Schleifen, um keine einfachen Ziele abzugeben. Lanoe starrte in den Tunnel und suchte nach der Abzweigung, an die er sich noch vage erinnerte. Falls sie doch weiter zurücklag, als er glaubte …

Nein. Da war sie. Der gespenstische Nebel aus den Tunnelwänden wurde dichter, bildete fast eine Wolke. Das untrügliche Zeichen einer Kreuzung. Lanoe rief das Antriebsdisplay auf und ging das Menü für die Gyroskopie-Einstellungen durch. Er musste zweimal bestätigen, dass er die Kompensatoren des Rotationstriebwerks wirklich ausschalten wollte.

Ja, wollte er.

»Festhalten!«, rief er und hieb auf die Taste.

Innerhalb weniger Millisekunden wurde der Aufklärer um neunzig Grad herumgerissen. Der Rumpf stöhnte auf, als sich das Triebwerk aus der eigenen Verankerung brechen wollte. Es gab überaus gute Gründe dafür, ein solches Manöver zweimal bestätigen zu müssen – die Möglichkeit war durchaus gegeben, das Schiff damit in Stücke zu reißen.

Viel schlimmer war die potenzielle Auswirkung auf einen weichen menschlichen Körper. Wie von einem großen Hammer wurde Lanoe von den Trägheitsdämpfern krachend in den Sitz geschmettert. Er konnte nicht mehr atmen. Die Blutzirkulation setzte aus, und für einen kurzen Augenblick stand sein Herz still. Selbst seine Sehkraft erstarb zu einer grauen Suppe, als die Augäpfel in den Höhlen platt gedrückt wurden.

Dann griffen die Kompensatoren. Das Cockpit füllte sich mit gellenden Warnsignalen, sein Herzschlag setzte donnernd wieder ein. Mit einem schrecklich röchelnden Keuchen blies sich die Lunge wieder auf.

Lanoe sah die Abzweigung direkt vor sich. Sie war nicht allzu lang. Er zündete den Hauptantrieb, und die Z.VII jagte in den Seitentunnel hinein. Um Haaresbreite wich er mehreren Biegungen aus.

»Valk, alles klar da hinten?«, rief er.

Keine Antwort.

Direkt hinter ihnen kopierten die beiden Yk.64er das Manöver fehlerfrei. Sie schlugen nicht einmal merklich zur Seite aus, sondern nahmen sofort wieder die Verfolgung auf.

Mistkerle.

Um Valk würde er sich später Gedanken machen müssen. Im Moment konnte er nicht mehr tun, als so schnell wie möglich zu fliegen. Damit kannte er sich immerhin bestens aus.

Ein Stück weiter vorne endete der Tunnel in einer Linse aus reiner Raumzeit. Sie sah aus wie eine Glaskugel, hinter der nichts als Schwärze lag. Ein Wurmloch-Schlund – ein Ausgang aus dem Labyrinth. Lanoe hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie jenseits der Öffnung erwartete. Vielleicht ein Stern mit ein paar netten Planeten, hinter denen man sich verstecken konnte, vielleicht verlorene Einöde im interstellaren Leerraum, Lichtjahre entfernt von – allem. Oder der Schlund endete im Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs.

Er würde es einfach wagen müssen. Der Aufklärer durchstach die Linse – und wurde in blauweißes Licht gehüllt. Seine Augen passten sich an, und er sah Sterne, überall Sterne. Weiße Flecken auf echtem, schwarzem Hintergrund.

Normaler, realer Weltraum, aus dem der Großteil des Universums bestand. Die Leere.

Freier Flug durch die Weite des Alls war für einen Kampfpiloten wie Lanoe das, was einem Gefühl von Zuhause am nächsten kam.

Nur war er noch nicht in Sicherheit. Direkt hinter ihm schossen die beiden Yk.64er Seite an Seite aus dem Schlund. Auf dem Infrarotschirm waren ihre Waffensysteme noch immer als glühende Punkte zu sehen. In einem klassischen Zangenmanöver kamen sie von zwei Seiten näher und …

Ließen urplötzlich von ihm ab. Eine Sekunde lang hingen sie einfach regungslos im All, kurz davor, ihn in Stücke zu schießen. Dann wandten sie sich ab und jagten durch den Schlund ins Wurmloch zurück.

Eine weitere Sekunde verging, bis Lanoe den Grund dafür erkannte. In seinem Augenwinkel tauchte die grüne Perle auf, über die sein Anzug ihm mitteilte, dass er angefunkt wurde.

»Langstrecken-Aufklärer, bitte identifizieren Sie sich. Dies ist eine Einrichtung der Flotte, Zugang für Unbefugte verboten. Wiederhole, Langstrecken-Aufklärer, bitte identifizieren Sie sich. Dies ist …«

Einige der funkelnden Lichter waren doch keine Sterne. Lanoes Bildschirm vergrößerte und zeigte Dutzende von Militärschiffen – Patrouillenboote, Kommandoschiffe, Zerstörer, Kreuzer. Dazwischen glitzerten eine Menge Kataphrakte, jeder einzelne mit dem dreiköpfigen Adler der Flotte versehen. Wer auch immer die Verfolger gewesen sein mochten, sie hatten offensichtlich nicht vor, sich mit einer derartigen Übermacht anzulegen.

Lanoe konnte sich nicht entsinnen, wann er sich das letzte Mal so überschwänglich über den Anblick seiner Leute gefreut hatte.

3Es gab nicht genug Sauerstoff.

Der Planet war unbewohnbar, zumindest nach zivilisierten Maßstäben. Kaum Wasser, wenig Infrastruktur. Die Luft war so dünn, dass Ashlay Bullam immer wieder an ihrem Sauerstoffröhrchen nippen musste, um nicht von Schwindel geplagt zu werden.

Eine staubige kleine Welt im Orbit um einen trüben kleinen Stern. An die hunderttausend Menschen lebten hier auf Niraya, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum.

Für alle Details ihres leiblichen Wohls hatte sie selbst Sorge tragen müssen. Auf dem Tisch in ihrer Kabine lagen verschiedene Speisen ausgebreitet, zwischen denen sie wählen konnte. »Die da«, sagte sie und deutete mit einem goldumhüllten Finger auf ein Tablett mit Kanapees. Fleisch aus lokaler Produktion, umhüllt von Salatblättern, die von anderen Planeten eingeflogen werden mussten, denn auf Niraya war natürlich kaum richtiger Ackerbau möglich. Na ja, diese Häppchen waren zumindest nicht völlig ungenießbar. Die Drohne schwirrte davon, und Bullam betrat das offene Sonnendeck ihrer Jacht, wo der Besuch auf sie wartete.

Niraya hatte keine funktionierende Regierung. Keine Bürokratie, mit der man anständig arbeiten, kein regionaler Warlord, dem man schmeicheln oder drohen konnte. Somit waren die Leiter der Religionsgemeinschaften das, was auf diesem Hinterwäldlerplaneten am ehesten als Führungspersonal durchging, und Bullam demnach dazu gezwungen, mit dieser Frau namens McRae zu verhandeln, die mit den Transzendentalisten die größte Gruppe repräsentierte. Mit solchen Leuten übereinzukommen war nie einfach, aber Bullam verstand eine Menge von ihrem Geschäft.

Die Älteste lehnte an der hölzernen Reling und schaute nach unten. Im Moment schwebte die Jacht träge etwa zwanzig Meter über der einzigen richtigen Stadt des Planeten, einem Ort namens Walden-Krater. Das passte zu den Nirayanern, ihre Hauptstadt nach einem Erdloch zu benennen.

»Älteste McRae«, sagte Bullam und setzte die Sorte Lächeln auf, die hochoffizielle Ehrerbietung signalisierte. »Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie meine Einladung zu einem Treffen angenommen haben. Um Vergebung – umarmt man sich auf Niraya, oder gibt man sich die Hand? So viele Planeten haben ihre ganz eigenen Gepflogenheiten, müssen Sie wissen. Ich würde ungern gegen die Etikette verstoßen.«

Die alte Frau drehte sich um und sah Bullam ohne erkennbare Gefühlsregung an. Sie trug einen einfachen Kittel mit langem Rock und hätte ebenso tausend wie sechzig Jahre alt sein können. Die Würdenträgerin eines Ordens, der jegliche Form von kosmetischer Therapie ablehnte. Auf vielen Welten hätte dieses zerfurchte, faltige Gesicht als Kinderschreck gedient, hier betrachtete man es offenbar als Zeichen von Weisheit und Askese.

Bullam fragte sich, wie sie wohl auf die Älteste wirken musste, mit ihrem Kleid aus Fraktalspitze und den goldenen Fingerlingen. Sie hatte ihre Gesichtszüge sorgsam formen lassen, um nie von ihrem Idealbild im Alter von fünfundzwanzig Jahren abzuweichen. Ihr Haar war mit weißen und blauen Strähnen durchsetzt. Wahrscheinlich wirkte sie auf die Älteste wie eine dekadente Plutokratin. Nun, sollte die Frau sie unterschätzen, würde Bullam sich das zunutze machen.

»Ich hätte erwartet«, sagte die Älteste, »dass man Sie entsprechend instruiert, bevor man Sie herschickt. Wir geben uns die Hand.«

Bullam lachte und streckte ihre Rechte aus. Die Älteste ergriff sie für einen Moment und ließ sie wieder los. »Natürlich, aber manchmal reicht die Zeit einfach nicht. Ich hatte so viel vorzubereiten, dass ich es leider nicht ganz durch die Akte über Niraya geschafft habe. Abgesehen davon gab es Kapitel, die mich weitaus mehr fasziniert haben. Nicht jeder Planet, den ich bereise, wurde vorher von Aliens angegriffen.«

Die Älteste schüttelte den Kopf. »Nur von ihren Drohnen. Da gibt es einen Unterschied.«

»Sicher. Möchten Sie sich vielleicht setzen und eine kleine Stärkung zu sich nehmen?« Bullam brachte die Älteste zu einem flachen Tisch am Bug der Jacht. Gemeinsam ließen sie sich auf den Kissen nieder, genehmigten sich aromatisiertes Wasser und ein paar Häppchen. Die Älteste aß nur wenig. »Sie wundern sich wohl, weshalb ich Sie um ein Treffen gebeten habe.«

»Ich habe eine ziemlich eindeutige Vermutung. Sie gehören zum Management von CentroCor. Kundenbetreuung?«

Bullam senkte das Kinn und zögerte. »Mein Stellenprofil ist etwas fließender als das. Wenn Sie so wollen, bin ich die leitende Problemlöserin unseres MegaKon. Ich habe viele verschiedene Aufgaben, und heute bin ich als Repräsentantin unseres Kundendiensts hier. CentroCor ist sehr daran gelegen, dass es Ihnen gut geht.«

»CentroCor hat das Monopson auf sämtliche Ressourcen und Erzeugnisse dieses Planeten. Ihr Konzern hat uns viele Jahre lang als unrentable Investition von wenig Wert oder Bedeutung abgetan.«

»Moment«, sagte Bullam. »Wir haben Sie mit allem beliefert, was Sie für das Terraforming Ihrer Heimat benötigen. Wir haben Nahrungsmittel geschickt, als Sie nicht genug eigene anbauen konnten, haben Ihnen Baumaschinen zur Verfügung gestellt, um Ihre Infrastruktur zu verbessern …«

»… da wir rechtlich dazu verpflichtet sind, all diese Dinge ausschließlich von Ihnen zu erwerben. Wie dem auch sei«, sagte die Älteste und hob beschwichtigend eine Hand. »Die Ökonomie interstellarer Handelsbeziehungen interessiert mich nicht. Das ist Ihre Aufgabe. Worum es hier geht, ist, dass CentroCor plötzlich wieder sehr reges Interesse an Niraya zeigt, da hier vor ein paar Monaten eine Flotte unbekannter Drohnen aufgetaucht ist. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir auf eine andere intelligente Lebensform gestoßen. Sie sind hergekommen, um zu eruieren, inwiefern Ihr Konzern daraus Profit schlagen kann.«

Bullam zuckte mit den Achseln. Die Frau hatte es im Prinzip auf den Punkt gebracht. »Selbstverständlich sind uns die finanziellen Auswirkungen wichtig, ich habe nicht vor, das zu leugnen. Wir möchten aber darüber hinaus die Bewohner von Niraya unserer tief empfundenen Anteilnahme versichern und dafür sorgen, dass Sie sich von dieser grässlichen Invasion so gut wie möglich erholen. Unsere Kunden sind uns wichtig.«

»Tatsächlich?« Die Älteste stellte ihre Tasse ab. »Als die Aliens unseren Planeten angegriffen haben, mussten wir CentroCor anflehen, für unsere Sicherheit zu sorgen. Und wurden konsequent ignoriert.«

»Ein furchtbares Versehen, das wir überaus …«

Die Älteste würdigte sie keines Blicks. »Da waren wir offenbar nicht wichtig. Sie hätten uns alle sterben lassen.« Keine Spur von Tadel in ihrer Stimme. Es klang eher nach einer nüchternen Feststellung. »Wären Kommandant Lanoe und sein Geschwader nicht gewesen, säßen wir jetzt nicht hier.«

»Ich glaube, Sie sind nur zu bescheiden, um Ihre eigene Rolle bei der Verteidigung Nirayas zu erwähnen«, sagte Bullam. »Wie mir zu Ohren kam, waren Sie durchaus heldenhaft daran beteiligt.«

»Ich habe meinen Teil der Arbeit erledigt, mehr nicht.« Die Älteste legte eine Hand auf die Reling und ließ den Blick über die Stadt zu ihren Füßen schweifen. »Wir sind auf diesem Planeten große Freunde klarer Worte, M. Bullam. Vielleicht könnten Sie mir einfach erklären, warum Sie hier sind.«

»Um zu helfen! Wirklich, deshalb bin ich gekommen. CentroCor weiß, was Sie durchgemacht haben. Wir können eine Menge Dienstleistungen anbieten, von Katastrophenhilfe über Trauerbegleitung bis hin zu …«

»Wir brauchen ein neues Kraftwerk.«

Bullam lächelte. Endlich konnten die Verhandlungen beginnen.

»Eins unserer Kraftwerke ist bei den Kämpfen zerstört worden. Seitdem kommt es immer wieder zu Stromausfällen. Leider fehlen uns die technischen Möglichkeiten, selbst ein neues zu konstruieren.«

»Natürlich. Ich kann schon morgen einen Bautrupp anrücken lassen.«

»Gut. Was wird uns das kosten?«

Bullam holte tief Luft. »Eine Unterschrift. Eine einzige.«

Die Älteste sah sie aufmerksam an und schürzte die Lippen, als läge ihr etwas Säuerliches auf der Zunge. »Erklären Sie das bitte.«

»Wenn es auf diesem Planeten überhaupt so etwas wie eine Person mit Regierungsvollmacht gibt, sind Sie es. Ich würde Sie darum bitten, ein Formular zu unterzeichnen – Standardausführung, nichts Kompliziertes –, das CentroCor von jeglicher Haftbarkeit für die Folgen der Invasion befreit.«

Die Älteste musterte sie ausdruckslos.

Bullam hob die Hand und vollführte eine flatterhaft wegwerfende Geste. »Natürlich können wir Sie nicht davon abhalten, rechtliche Schritte gegen uns einzuleiten. Die Gründungssatzung Ihrer Kolonie sieht diese Möglichkeit eindeutig vor. Sie könnten jede Menge amtliche Anklagepunkte gegen den Konzern einreichen – ob als Individuum oder in Form von Sammelklagen. Natürlich hätten Sie keinerlei Aussicht, je damit durchzukommen. Sie würden Ihre kargen Mittel bereits erschöpfen, um all die nötigen Papiere auszufertigen, und damit nicht einmal anfangen, den juristischen Schutzwall anzukratzen, mit dem sich CentroCor umgibt. Wir haben ein stehendes Juristenheer für genau solche Fälle, und …«

»Es reicht«, sagte die Älteste.

Bullam beschloss, dennoch weiterzureden. »Ich will damit nur sagen, dass Sie durch Klagen nichts erreichen könnten, außer Ihren ohnehin darbenden Planeten in den Bankrott zu treiben. Aber CentroCor ist durchaus bereit, sich großzügig zu zeigen, um beiden Seiten eine Menge Zeit und Ausgaben zu ersparen. Und sollten wir aus dieser Angelegenheit als Freunde hervorgehen … umso besser. Deshalb bin ich befugt, Ihnen zu geben, wonach Sie verlangen – gegen ein einfaches Versprechen.«

»Sie wollen, dass ich meine Leute daran hindere, juristisch gegen Ihren Konzern vorzugehen.« Die Älteste nickte bedächtig. »Für ein neues Kraftwerk ließe sich das einrichten.«

*

Lanoe schloss den Helm und betätigte den Auslöser, der sein Cockpit dem kalten Vakuum preisgab. Das Fließglas des Kanzeldachs schmolz seitlich in den Jäger zurück, bis er hinausklettern und mithilfe der Haltegriffe den Rumpf entlang bis zur Beobachtungskuppel klettern konnte. Im Innern sah er Valk auf dem Sitz des Bordschützen. Zumindest sah er Valks Anzug. Der Helm war in den Kragenring geflossen, der schwere Raumanzug in sich zusammengesackt, ein Arm hing träge ausgestreckt in der Schwerelosigkeit.

Das war schlecht.

Lanoe öffnete die Kuppel, stemmte sich in die Halterung am Rumpf und schob einen Arm hinein. Unter seiner Berührung schwebte Valks Anzug davon. Nur die Sicherheitsgurte hielten ihn davon ab, durch die geöffnete Kuppel ins All zu verschwinden. Lanoe fluchte und streckte sich und bekam schließlich den Kragenring zu fassen. Sein tastender Zeigefinger suchte und fand den versenkten Knopf für die Helmkontrolle.

Wie eine Blase aus schwarzem Seifenschaum erwuchs der Helm aus dem Kragen. Das undurchsichtige Visier kam bei Valk einem Gesicht am nächsten – sobald der Helm geschlossen war, sah er schon wesentlich lebensechter aus. Lanoe wusste, was er zu erwarten hatte, und zog den Arm zurück. Nach einer Sekunde lief ein Ruck durch den Anzug, dann versteifte er sich, und Lanoe hörte über die Helmlautsprecher, wie Valk unter Keuchen und Murmeln wieder zum Leben erwachte.

»Teufel«, flüsterte der mächtige Kerl. »Wie lange war ich weg, Lanoe?«

»Nur ein paar Minuten. Eigentlich wollte ich dir auch ein Päuschen gönnen, aber wir haben leider noch zu tun.«

»Ja. Ja, okay.« Valk klang wie ein Mann, den man aus tiefem Schlummer gerissen hatte. Als hätte ihn der Andruck bei ihrer Flucht aus dem Irrgarten der Wurmlöcher bewusstlos werden lassen, und er käme gerade wieder zu sich.

Tatsächlich hatte Lanoe ihn eher von den Toten auferweckt.

Im Prinzip gab es keinen Tannis Valk. Es hatte einmal einen Mann dieses Namens gegeben, einen Piloten des Aufbaus, des letzten ernst zu nehmenden Gegners der irdischen Flotte. Dieser Mann war vor siebzehn Jahren gestorben, als ein schweres Projektil sein Cockpit durchschlagen und ihn bei lebendigem Leib im Raumanzug geröstet hatte. Irgendwie hatte er es fertiggebracht, zwei feindliche Jäger abzuschießen und zur Basis zurückzukehren, während er bereits in Flammen stand. Hinter vorgehaltener Hand hatten sich die Piloten beider Lager Geschichten über den Mann erzählt, der sich zu sterben weigerte. Sie hatten ihn den Blauen Teufel genannt; ein Kampfname, der ihm bis heute anhaftete. Seine Vorgesetzten hatten in ihm ein dankbares Propagandawerkzeug erkannt und ihn zum Helden, zur Legende gemacht. Zum leuchtenden Beispiel für den eisernen Willen des Aufbaus.

Natürlich war die Wahrheit längst nicht so glamourös. Der Treffer hatte Valk sofort getötet. Kurz davor hatte er seinem Bordcomputer, der die Befehle auch posthum umsetzte, einige Manöver und den Rückflug einprogrammiert. Da sich diese Geschichte nicht gerade dazu eignete, die Moral der Truppe zu heben, wurde sie unterdrückt.

Stattdessen arbeiteten Techniker des Aufbaus in einem Labor fieberhaft daran, Tannis Valks Erinnerungen und Persönlichkeit aus dem verkohlten Schädel zu bergen. Sie speisten alles in einen Computer und schufen eine Künstliche Intelligenz, die genauso dachte und redete wie der verblichene Kriegsheld.

Das ganze Verfahren war unglaublich illegal. KIs waren im gesamten Einzugsgebiet der Menschheit strengstens verboten – in der Vergangenheit hatten Maschinen, die besser und schneller denken konnten als jeder Mensch, viel zu viele Leben gekostet. Der Aufbau hatte dieses Problem umgehen wollen, indem sie Valk nie verrieten, dass er nur eine Maschine war. Siebzehn Jahre lang war er ein leerer Raumanzug gewesen, der dachte, er sei ein Mann. Und all diese Zeit hatte er dank einprogrammierter Phantomschmerzen am ganzen Körper große Qualen gelitten.

Erst in der Schlacht um Niraya hatte er die Wahrheit erfahren. Es hatte die Begegnung mit einer fremdartigen, außerirdischen Maschine gebraucht, um ihm zu zeigen, wer er wirklich war.

Seitdem wollte Valk nur noch sterben. Er war der ewigen Schmerzen müde. Wollte nicht länger das Zerrbild eines Mannes sein, der nie darum gebeten hatte, zum Volksmärchenhelden zu werden. Zu seinem Leidwesen hatte er eine Menge Informationen im Kopf, die zu wichtig waren, um verloren zu gehen. Valk wusste weit mehr über die fremde Spezies als sonst jemand. Die Maschine, die ihm sein wahres Ich eröffnet hatte, hatte ihm auch alles über die Blau-Blau-Weiß erzählt, die einzige intelligente Rasse, auf welche die Menschheit je gestoßen war. Dieses Wissen durfte keinesfalls abhandenkommen.

Also hatte Lanoe mit Valk eine Abmachung getroffen. Wenn sie es bis zur Admiralität – dem Hauptquartier der Flotte – schafften, sein Wissen herunterladen und den richtigen Leuten übergeben konnten, dürfte er loslassen. Dann dürfte er sterben – gelöscht werden. Den großen Schmerzen endlich entkommen, die seine ständigen Begleiter waren. Und die aufwühlende Erkenntnis hinter sich lassen, dass er kein echter Mensch war.

Aber erst dann.

Valk hatte eingewilligt. Zumindest der Teil von ihm, der sich als Mensch begriff. Die zugrunde liegende Künstliche Intelligenz versuchte dann und wann, wortbrüchig zu werden. Sie schaltete sich einfach ab – manchmal in denkbar ungünstigen Situationen. Dann musste Lanoe sein System wieder hochfahren und Valk der Ruhe des verfrühten Todes entreißen.

Mit jedem Mal hasste er sich selbst ein wenig mehr dafür. Er würde es dennoch weiterhin tun, bis Valks Werk vollbracht war.

»Wo sind wir?«, fragte Valk und drehte sich, um die große Leere zu betrachten. »Ich erkenne keine der Konstellationen wieder.«

»Rishi«, sagte Lanoe. »Hierher hätte es auch keinen Piloten des Aufbaus je verschlagen.« Er streckte den Arm aus und deutete auf einen Schatten, der sich in der Ferne um die eigene Achse drehte. Der Zylinder war groß genug, um einige Sterne zu verdecken. »Das ist ein Flottenstützpunkt – eine Flugschule. Die haben uns fast vom Himmel geholt, bevor ich ihnen mitteilen konnte, wer wir sind. Ich warte gerade noch auf Landeerlaubnis.«

»Flotten …«

Lanoe schüttelte den Kopf. Er wusste, worauf Valk hinauswollte. »Da muss ich dich enttäuschen. Wir sind hier zwar unter Freunden, aber die haben nicht das nötige Equipment, um deine Erinnerungen auszulesen. Beziehungsweise traue ich ihnen nicht genug, das zu tun und die Informationen dann sicher zu verwahren. CentroCor ist uns auf den Fersen. Die könnten hier durchaus Spione haben. Ich kann nicht zulassen, dass irgendwer außer den Admirälen dieses Material in die Finger kriegt, und selbst unter denen gibt es eine ganze Reihe, denen ich nicht wirklich traue.«

»Dann sind wir genauso weit wie vorher«, sagte Valk.

»Nicht ganz. Ich kenne jemanden, der hier arbeitet. Jemanden, der uns helfen kann.«

Lanoe hatte sehr lange in der Flotte gedient. Er kannte eine Menge Leute.

*

Da die alte Frau tatsächlich darauf bestand, die Verzichtserklärung komplett zu lesen, bevor sie unterschrieb, zog sich das Treffen mit der Ältesten McRae immer weiter hin. Als die Verhandlung beendet war, brauchte Bullam dringend Mittagsschlaf. Sie redete sich ein, es liege nur am mangelnden Sauerstoff. Sonst nichts. Sie verabschiedete die Älteste – da es auf Niraya kaum Fluggerät gab, musste sie von den Drohnen der Jacht auf einer Sänfte zum Boden zurückgebracht werden – und zog sich in ihre Kabine zurück, die mit separater Atmosphäre ausgestattet war. Kühle Luft umspülte ihr Gesicht, und eine Drohne schwirrte herbei, um ihr die Stirn mit einem feuchten Tuch abzutupfen, während ihr eine zweite die Schuhe auszog.

Sie stellte leise Musik an und schloss die Augen, fest entschlossen, sich nur ein kurzes Nickerchen zu gönnen, ehe sie sich dem nächsten Programmpunkt widmete. Sie hatte noch sehr viel zu tun, bevor sie Niraya verlassen und wieder zivilisiertere Gefilde aufsuchen konnte. Aber als sie gerade halbwegs abgeschaltet hatte und beinahe eingeschlafen wäre, ertönte ein lautes Trällern von der Zimmerdecke her.

Sie schlug die Augen auf. Diese spezielle Tonlage stand für einen Anruf, den sie nicht ignorieren konnte. Nicht, solange die Lage noch derart heikel war.

»Annehmen«, sagte sie. Das Licht in der Kabine dunkelte sich ab, die Fenster wurden blickdicht – man wusste schließlich nie, wer zusah. Vielleicht Lippenleser. Wenn man für einen MegaKon arbeitete, lauerten überall Spione. Was Bullam nur zu gut wusste – eine ihrer vielen Aufgaben bei CentroCor war die Leitung der Spionageabwehr.

Die Stimme aus dem Lautsprecher war dank großer Distanz und gründlicher Verschlüsselung moduliert und dumpf. Worte aus vielen Lichtjahren Entfernung, weitergeleitet von Relaisstationen an den Schlünden von einem halben Dutzend Wurmlöcher. »Ich habe Neuigkeiten über Maßnahme Drei-Null-Neun-Sechs.« Die Stimme gehörte einem ihrer Untergebenen – wem auch immer. »Zwei Mitarbeiter sind zurückgekehrt und haben Berichte verfasst.«

Zwei? Sie hatten doch vier geschickt. Gut, mit Verlusten war zu rechnen gewesen, aber …

»Die Maßnahme wurde als gescheitert gemeldet. Ziel der Maßnahme wurde zuletzt beim Verlassen des Wurmlochs von Rishi gesehen.«

Bullam setzte sich nicht auf. Sie fluchte nicht. Es hätte nichts gebracht. Die Nachricht kam von so weit weg, dass sie weder in Echtzeit darauf antworten noch Rückfragen stellen konnte. Sie lag still da und wartete auf weitere Informationen, aber die Nachricht war zu Ende.

Sie wusste, was diese kryptische Mitteilung zu bedeuten hatte. Aleister Lanoe war ihnen entwischt. Und jetzt wusste er auch, dass CentroCor hinter ihm her war.

Er wusste mehr als sonst irgendwer über diese Aliens, die Niraya angegriffen hatten. Weit mehr als die Älteste McRae, mehr als die Wissenschaftler der Flotte, die noch immer dabei waren, vor Ort die Wracks der fremdartigen Drohnen zu untersuchen. Dieses Wissen konnte ungeheuer wertvoll sein.

Die Entdeckung intelligenten außerirdischen Lebens würde vielleicht alles verändern – es konnte vollkommen neue Märkte auftun oder das empfindliche politische Gleichgewicht zwischen der Erde und den transplanetaren Großkonzernen gründlich aus der Bahn werfen. Die MegaKons beherrschten jede von Menschen besiedelte Welt außerhalb des Sol-Systems. Die sechs größten Konzerne waren in endlose Konflikte verstrickt, um ihre Wirtschaftsimperien auszuweiten. Immer wieder mischte sich die Flotte der Erde in diese Konflikte ein und schlug sich auf die schwächere Seite, um sicherzugehen, dass kein MegaKon je eine echte Vormachtstellung einnahm. Indem sie die Konzerne gegeneinander ausspielte, garantierte die Flotte die Unabhängigkeit der Erde – konnte aber im Gegenzug den ökonomischen Würgegriff, den die MegaKons auf die ganze Menschheit ausübten, nie brechen. So bestand diese galaktische Pattsituation seit über einem Jahrhundert, während alle Beteiligten pausenlos intrigierten, um die Oberhand zu gewinnen.

Und jetzt stand plötzlich ein neuer Spieler auf dem Feld.

Falls diese Aliens eine ernste Bedrohung darstellten und vorhaben sollten, weitere menschliche Welten anzugreifen, konnte es vielleicht dazu kommen, dass sich deren Bewohner schutzsuchend an die Erde wendeten – weg von den MegaKons. Weg von Bullams Vorgesetzten.

Was auch immer passieren würde, viele Dinge würden sich dramatisch und grundlegend ändern. Um als Sieger aus dieser Umwälzung hervorzugehen oder sie zumindest zu überstehen, brauchte CentroCor dringend Informationen. Und der reichste Quell dieser Informationen war Aleister Lanoe.

Bullam hatte ein unbegrenztes Budget zur Verfügung, um ihn aufzuspüren und zu fassen. Sie hatte sehr hart an ihrem Plan gearbeitet, ihm tief im Netz der Wurmlöcher aufzulauern.

Der soeben empfangenen Nachricht zufolge war dieser Hinterhalt fehlgeschlagen.

Sehr still dachte sie darüber nach, was das bedeutete. Es war ein potenzielles Desaster. Ihr Job könnte in Gefahr sein. Sie könnte alles verlieren.

Ashlay Bullam hatte sehr gute Gründe dafür, an ihrer Stelle festhalten zu wollen.

Noch war die Situation allerdings nicht völlig ausweglos. Ihre Leute hatten ihn davon abgehalten, die Admiralität zu erreichen. Sobald er einmal unter dem Schutz der Führungsetage stand, würde sie ihn nie in die Hände bekommen. Noch war er also im Spiel. Sie konnte einen neuen Plan ausarbeiten, ihn zu schnappen. Und beim zweiten Mal würde sie vorsichtiger zu Werke gehen.

Sie musste sich sofort an die Arbeit machen.

»Antwort auf Nachricht«, sagte sie. Sofort schwebte ihr eine Drohne entgegen, deren Frontseite von einem grünlichen Pulsieren erfüllt war. »Welche Aktiva haben wir auf Rishi? Das System gehört der Flotte, also wohl nicht sehr viel. Ich brauche Optionen. All unsere Entscheidungen sofort als Kopie an die Aufsicht. Sorgt dafür, dass jeder Handgriff protokolliert wird, und haltet euch bereit, die Befehlskette genau zu dokumentieren. Die Aufsicht soll wissen, dass wir nichts zu verbergen haben.«

Wenn man eine Entführung plante, war es unabdingbar, sich zuallererst den eigenen Rücken freizuhalten.

*

Im Zentrum des Systems gab es nicht einen Stern, sondern zwei, einen Blauen Riesen und einen Weißen Zwerg, die einander in ewigem Tanz umkreisten. Die Schwerkraftverhältnisse einer solchen Paarung waren derart komplex, dass sich nie Planeten gebildet hatten – stattdessen umgab sie ein breiter Gürtel aus Gas und Staub, der unter winzigen Einschlägen und stellaren Gezeiten unaufhörlich glühte. Weit jenseits davon lag die Rishi-Station und umrundete alles wie eine Murmel, die einen Tellerrand entlangrollte.

Rishi war ursprünglich vom Vereinigten Wirtschaftskonsortium DaoLink erbaut worden, einem der sechs MegaKons. Die Station hatte ein Monument für DaoLinks Erfolg werden sollen – bei Baubeginn wäre sie das größte künstliche Objekt im von Menschen erschlossenen All gewesen. Der ausgehöhlte Tubus war hundert Kilometer lang und maß beinahe fünfzig im Durchmesser, die Wand aus Schaumbeton war einen Kilometer dick. Auf beiden Seiten öffnete sich die Station zum Weltraum, sodass Raumschiffe hindurchfliegen konnten, ohne anhalten zu müssen. Die ganze Konstruktion rotierte so schnell um die eigene Achse, dass auf der Innenseite die Hälfte der irdischen Schwerkraft herrschte. Die atembare Atmosphäre wurde von der Zentrifugalkraft festgehalten und zu beiden Seiten durch einen Ringwall von einem halben Kilometer Höhe am Austreten gehindert.

Es war ein Triumph menschlicher Ingenieurskunst. Denkbar einfach konstruiert und doch gewaltigen Ausmaßes, eine Bach-Fuge in Stein gehauen. Darüber hinaus war das Ganze – wenigstens aus Sicht von DaoLink – ein vollkommenes Debakel. Die Fertigstellung der Station hatte annähernd hundert Jahre gedauert, doppelt so lang wie veranschlagt. Als die Jahre ins Land zogen und immer mehr Planeten terraformt und besiedelt wurden, hatte man zu wenige entdeckt, die Rishi nah genug waren, um die Station wie geplant zur Drehscheibe für Reisen und Handel zu machen. Statt also zum Kronjuwel der Einflusssphäre von DaoLink zu werden, verkam die Station zu einem abgelegenen Provinzposten.

Dann geschah auch noch das Undenkbare. Bevor Rishi überhaupt fertig gebaut war, hatte die ThiessGruppe GmbH, ein anderer MegaKon, ein weit größeres Weltraumhabitat gebaut – einen Ring von fast eintausend Kilometern Durchmesser. Quasi über Nacht war selbst Rishis Nutzen als Eigenwerbungsobjekt gänzlich verpufft.

DaoLink hatte sich nie die Mühe gemacht, die fertige Station in Betrieb zu nehmen. Fünfzig Jahre lang zog Rishi leer, unbenutzt und unbewohnbar seine Kreise. Schließlich vermachte DaoLink gegen nicht näher bezifferte Zugeständnisse die Station der Flotte als Flugakademie. Rishi hätte für Millionen von Menschen Platz zum Leben und Arbeiten geboten. Stattdessen wohnten dort einige Hundert Kadetten und Ausbilder. Als Lanoe seine Steuerdüsen betätigte, um Geschwindigkeit und Rotation des Aufklärers an den gewaltigen Zylinder anzugleichen, sah er deutlich, wie leer und verwahrlost die Liegeplätze waren, wie viel des Innenraums von üppiger Vegetation überwuchert wurde. Er hatte das Gefühl, eine prachtvolle Ruine anzusteuern, einen Ort, den der Rest des Universums vergessen hatte.

Das konnte ihm nur recht sein. Wenn CentroCor wirklich hinter ihm her war, sollte sich Rishi vorzüglich eignen, um eine Weile unterzutauchen. Die MegaKons hatten zu der Station keinen Zutritt, und auch wenn er beileibe nicht jedem in der Flotte vertraute, wusste er, dass er hier wenigstens ein paar Freunde hatte. Menschen, auf deren Hilfe er sich verlassen konnte.

Lanoe ließ Valk den Aufklärer landen, während er sich um die Kommunikation kümmerte. Er musste Marjoram Candless kontaktieren, die in den alten Tagen während des Flächenbrands nach dem Hundert-Jahre-Krieg an seiner Seite geflogen war. Er hatte sie schon gekannt, bevor man ihm sein erstes eigenes Kommando übertragen hatte – und das machte sie zu einer wahrlich alten Bekannten. Er hatte das letzte Mal von ihr gehört, als sie die Stelle als Ausbilderin auf Rishi antrat. Sollte sie noch immer hier sein, wäre sie eine wichtige Verbündete.

Allerdings war es gar nicht so einfach, sie zu finden. Auf ihrem persönlichen Lesegerät ging sie nicht dran, und als er das Büro der Akademie kontaktierte, teilte man ihm lediglich mit, sie sei außer Haus und momentan nicht erreichbar, er könne ihr gerne eine Nachricht hinterlassen. Aber Lanoe wollte seinen Namen nicht angeben. Am Ende musste er über den lokalen Server eine öffentliche Nachricht aufsetzen, was in etwa so effektiv sein würde, wie einen Zettel am Schwarzen Brett in der Schulkantine aufzuhängen. Außerdem konnte er auf diesem Weg keinerlei persönliche Informationen preisgeben, also unterzeichnete er schlicht mit »ein alter Freund aus dem 305ten Jagdgeschwader«. Die Einheit war vor über hundert Jahren aufgelöst worden.

Überraschenderweise funktionierte es so. Keine zehn Minuten, nachdem er die Nachricht veröffentlicht hatte, tauchte in seinem Augenwinkel die grüne Perle auf, die ein eingehendes Gespräch signalisierte. Candless’ Gesicht erschien auf seinem Hauptdisplay. Scharfkantige Züge, durch viele Elastomer-Behandlungen ausgeschliffen. Sie hatte noch immer die lange, ernste Nase, an die er sich erinnerte, und die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengedrückt. Die Haare waren zu einer strengen Schnecke vertäut, die ihre hohe Stirn noch schärfer betonte. Die braunen Augen waren der einzige Teil ihres Gesichts, dem ihr wahres Alter abzulesen war – scharfe, leuchtende Augen, die einem direkt in die Seele sahen und alles durchschauten, was man zu verbergen suchte. Die Augen eines Menschen, der alles gesehen hatte, was das Leben bereithielt, und diese Fülle mit einem gewissen Widerwillen betrachtete. Sie war beinahe zweihundert Jahre alt. Nun gut, er selbst war noch um einiges älter. Die moderne Medizin sorgte dafür, dass Menschen vom Alter nicht länger gebremst wurden, und Candless sah so vital aus wie eh und je. Wahrscheinlich hatte sie sich ebenso stark verändert wie er selbst, aber ihr bloßer Anblick brachte so viele alte Erinnerungen zurück, dass er kaum anders konnte, als in ihr genau dieselbe Frau zu sehen, mit der er Seite an Seite gekämpft hatte.

»Du bist es also tatsächlich«, sagte sie. »Dein Timing ist allerdings leider denkbar ungünstig.«

»Klingt, als würdest du dich wundern, mich zu sehen«, sagte er.

»Meines Wissens nach sind wir beide die einzigen Überlebenden des 305ten. Als ich die Nachricht gelesen habe, dachte ich, vielleicht von einem Geist aus der Vergangenheit heimgesucht zu werden.«

Lanoe lächelte. »Ich bin irgendwo falsch abgebogen. Dachte, ich schau mal vorbei, und wir quatschen ein bisschen, vielleicht bei einem Drink. Hast du gerade Zeit?«

Candless holte tief Luft. »Nicht wirklich. Am Äquator der Station gibt es ein Gästehaus. Treffen wir uns dort. Ich schick dir die Adresse. Wie lange haben wir uns nicht gesehen …? Fünf Jahre? Zehn?« Sie rümpfte die Nase. »Du musstest natürlich ausgerechnet bis jetzt warten.«

»Tut mir leid«, sagte Lanoe. »Du kennst mich doch. Immer auf Abwegen.« Er versuchte es mit einem wärmeren Lächeln. Ihre Miene änderte sich nicht.

»Schaffst du es in einer Stunde dorthin?«, fragte sie.

»Wenn ich mich ranhalte«, sagte er. »Wozu die Eile?«

»Na ja, es könnte gut sein, dass ich heute Nachmittag umgebracht werde. Also wäre ein Mittagessen wohl das Aussichtsreichste.«

*

Bullam hatte ein Dossier aus der Feder ihrer Assistenten auf dem Lesegerät und arbeitete sich Seite um Seite hindurch. Im Prinzip blieb ihnen nur eine Möglichkeit, und die schmeckte ihr ganz und gar nicht, da sie subtilere Mittel bevorzugte. Aber wenn sie Aleister Lanoe kriegen wollten, musste das bald geschehen, also blieb nur noch die Holzhammermethode.

Sie hatte genug gesehen, löschte also die Datei, rollte ihren Leser zusammen und verstaute ihn in der Schreibtischschublade. »Neue Nachricht«, sagte sie. Eine Drohne schwebte herbei und wandte ihr die drei Lichter und das Lautsprechergitter zu, die sie anstelle eines Gesichts zierten.

»Ausführen«, sagte sie. Mehr war nicht nötig. Ihre Leute würden alles Weitere erledigen. »Kopie an die Aufsicht«, wies sie die Drohne an. »Ich mache mich sofort auf den Rückweg in die Zentrale, werde aber die nächsten … siebenunddreißig Stunden nicht erreichbar sein.« Sie schüttelte den Kopf. Das war eine herbe Funkstille, bis sie erfahren würde, ob ihr Plan Früchte trug. Nicht zum ersten Mal wünschte sie, es gäbe eine schnellere Art interstellarer Reisen. »Sobald ich eintreffe, will ich hören, dass wir Erfolg hatten. Andernfalls rollen die ersten Köpfe.«

Was dann – höchstwahrscheinlich – ihren eigenen einschließen würde.

Sie biss sich auf die Lippe. Überlegte, ob sie noch etwas hinzufügen sollte. Wenn es nur einen besseren Weg gäbe – gab es aber nicht. Auf Rishi waren keine offiziellen CentroCor-Mitarbeiter stationiert, nicht einmal ein anständiger Spion. Natürlich gab es immer Möglichkeiten, sich gewisser Leute zu bedienen, aber manche waren verwerflicher als andere. Und diese hier war ziemlich unschön.

Mit dem sanften Pulsieren eines Lämpchens wies die Drohne darauf hin, dass sie noch immer aufzeichnete.

»Absenden«, sagte sie. Das Lämpchen leuchtete wieder stetig, und die Drohne schwebte davon wie ein Diener, der von seinem Herrn entlassen worden war.

Bullam betrat die Brücke, einen engen Raum voller Displays und Armaturen, deren Handhabung zu lernen sie sich nie die Mühe gemacht hatte. Der Bordcomputer ihrer Jacht war problemlos imstande, das Schiff selbsttätig zu steuern. Es war an der Zeit, nach Hause zu fliegen. Zu ihrer Heimatwelt – und der Firmenzentrale von CentroCor. »Bring mich nach Irkalla«, sagte sie.

Hinter ihr ergoss sich Fließglas aus der hölzernen Reling des Sonnendecks und wuchs in die Höhe, bis es eine luftdichte Kuppel geformt hatte. Die Jacht nahm die Gestalt eines schillernden Käfers mit fest geschlossenen Deckflügeln an. Mit verhaltenem Dröhnen wärmte das Triebwerk vor, dann erhob sich das Schiff auf einer Säule unsichtbarer Ionen in die Atmosphäre Nirayas.

Bullam ging in ihre Kabine zurück. Zeit für ein weiteres Nickerchen. Sie gab sich Mühe, sich einzureden, die Müdigkeit rühre nur daher, dass sie die moralisch fragwürdigen Entscheidungen so erschöpften, die sie ständig zu treffen hatte. Sie hatte nur wenig Erfolg damit. Sie wusste ganz genau, weshalb sie so ausgelaugt war.

Ihre Krankheit war wieder ausgebrochen. Sie spürte förmlich, wie ihre Gelenke anschwollen. Spürte, wie der Druck in Nacken und Hinterkopf anstieg. Sie dämpfte das Licht im Raum und rollte sich auf dem Bett in Embryonalstellung zusammen, wo sie von den Trägheitsdämpfern sanft auf der Matratze fixiert wurde. Offenbar stand ihr ein besonders unangenehmer Anfall bevor, vielleicht sogar der schwerste bis dato.

4Der Großteil von Rishis inwendiger Oberfläche war von einem dichten Dschungel aus mächtigen Bäumen und Büschen überwuchert. Die Flotte nutzte nur einen derart kleinen Teil des vorhandenen Platzes, dass sich die aufwendige Entwaldung schlicht nicht gelohnt hätte. Entlang des Nullmeridians allerdings, in der Region, die von beiden Enden der Station am weitesten entfernt lag, gab es einen breiten Streifen mit Parkanlagen, wo man den Wildwuchs zurückgedrängt und säuberlich gepflegte Rasenflächen kultiviert hatte. Es war auch nötig, diesen Bereich der Station zugänglich zu halten, denn hier befanden sich Rishis gewaltige Wetterturbinen, die ohne konstante Wartung schnell ausfallen und die ganze Station unbewohnbar machen würden.

Leider waren die Turbinen nicht nur laut, sondern auch gefährlich, sodass die Parklandschaft meist ungenutzt blieb. Nicht nur gab es dort viele abgeschiedene Orte, die Turbinen boten auch eine erstklassige Gelegenheit, sich heimlich unerwünschter Leichen zu entledigen – so war die Gegend schnell zu einem beliebten Austragungsort für Duelle zwischen Angehörigen der Flottenakademie geworden.

Im Laufe des Jahrhunderts, seit Rishi die ersten Kadetten erfolgreich in den Flottendienst entlassen hatte, war das strikte Duellverbot zunehmend gelockert worden. Heute waren Duelle längst nicht mehr die verstohlenen Treffen früherer Generationen, als die Flotte noch dringend Piloten gebraucht hatte und dementsprechend jeder, der bei einer solchen Veranstaltung auch nur zusah, öffentlich ausgepeitscht wurde. Dieser Tage fand sich zu den Duellen stets ein ansehnliches Publikum aus Familienangehörigen, Gratulanten und Connaisseuren ein, weshalb es in diesem Park schon seit vielen Jahren ein kleines Gästehaus mit einem netten Café gab. Nicht, dass der Turbinenlärm in der Zwischenzeit abgenommen hätte, aber die Aussicht auf kostenlose Unterhaltung sorgte dafür, dass sich der Betrieb trotzdem rentierte.

Das Gästehaus verlieh nicht nur Pistolen und Säbel, sondern auch eine Auswahl exotischerer Waffengattungen bis hin zu Peitschen und Fangnetzen (die freilich nur dann zum Einsatz kamen, wenn beide Duellanten nach Ansicht der Flotte unentbehrlich waren). Im Aufenthaltsraum liefen Videos berühmter Duelle in Dauerschleife, und einige besonders berüchtigte Souvenirs zierten die Wände ringsum – die Pistole, die Admiral Hu das Leben gekostet hatte, das weiße Halstuch, das beim Duell der Berühmten Geliebten niemals den Boden berührt hatte. Stets war ein Arzt auf Abruf in der Nähe, und ein Drohnen-Quartett schlummerte auf Stand-by, um verwundete Teilnehmer notfalls binnen Kurzem zum sieben Kilometer entfernten Krankenhaus zu fliegen.

Der Menschenmenge vor der Tür und im Aufenthaltsraum nach zu urteilen, machte das Gästehaus auch an diesem Tag sehr guten Umsatz. Lanoe und Valk bahnten sich unter Einsatz ihrer Schultern einen Weg durch verschiedene Grüppchen, die meisten in Galauniform oder schicker Freizeitgarderobe. Sie waren mit Candless im kleinen Café verabredet, hatten aber Mühe, es bei dem Trubel zu finden. »Frag mal das Mädchen an der Rezeption«, sagte Lanoe zu Valk. Wenn man zweieinhalb Meter groß war, machten einem die Leute eher Platz. Valk machte sich gerade auf den Weg zur Rezeption, als Lanoe fast wieder zur Tür hinausgeschoben wurde.

»Verzeihung«, sagte jemand und schlängelte sich unter seinem ausgestreckten Arm durch. Er drehte sich um und sah einen blitzenden roten Haarschopf auf dem Kopf einer zierlichen Frau in einem dünnen Anzug. Er lächelte und wollte laut lachen. Offenbar hatte sie ihn nicht erkannt.

»Zhang«, sagte er. Sie sah genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die roten Haare und …

Nein. Stopp.

Die Frau wandte sich um und warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie hatte ein breites, freundliches Gesicht voller Sommersprossen mit leuchtenden blauen Augen darin. Außerdem war sie höchstens zwanzig Jahre alt, wenn überhaupt. Das war nicht Zhang. Natürlich war sie es nicht. Er hatte die roten Haare gesehen, und irgendetwas in seinem Unterbewusstsein hatte unwillkürlich reagiert.

Er rang sich ein beschämtes Lächeln ab. Selbst wenn er sich für so einen dummen Fehler gerade am liebsten selbst ins Bein geschossen hätte. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.«

Als er Zhang das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Haar von genau dieser Farbe gewesen. Sie war damit nicht geboren worden. Sie hatte mit jemandem den Körper getauscht, der … die …

Zhang. Zhang war …

Zhang war tot. Anscheinend wollte ein Teil von ihm das noch immer nicht wahrhaben. Ihm war klar, dass Menschen mit Trauer unterschiedlich umgingen, aber das hier … das war kein gutes Zeichen.

»Dann hoffe ich, Sie finden sie«, sagte die junge Frau und verschwand in der Menge.

»Lanoe?«, sagte Valk. »Hier lang.«

»Ja«, sagte er. »Okay.«

»Alles in Ordnung?«, fragte Valk und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du siehst etwas blass aus.«

Lanoe stieß einen kleinen Lacher aus, eher ein Druckausgleich als alles andere. »Ja, sicher. Alles gut.«

Valk nickte, stand aber immer noch da, als erwarte er weitere Einzelheiten.

Lanoe presste die Lippen aufeinander und starrte geradeaus. Bald darauf gab Valk sich geschlagen.

Er folgte dem massigen Piloten durch eine Hintertür auf die Terrasse des Cafés. Candless saß bereits da und erwartete sie. Sie hatte Tee und mehrere Teller mit kleineren Gerichten bestellt. Sie erhob sich, gab ihm die Hand und bedachte Valk mit einem Nicken, als er sich vorstellte.

»Ehrlich gesagt«, meinte Lanoe, nachdem sie sich alle gesetzt hatten, »war ich überrascht, dass du dich überhaupt mit mir treffen wolltest. Bist du nicht ein bisschen beschäftigt gerade?«

»Mit meinem Duell, meinst du? Na ja«, sagte Candless, »ist alles fertig vorbereitet. Vielleicht sollte ich mich zurückziehen und meinen Nachlass regeln. Aber das ist wirklich lästige Arbeit.«

Valk lachte. »Du hast mir gar nicht verraten, dass sie so viel Humor hat, Lanoe. Hier sitzt man doch echt nett, oder?«

»Grauenhaft«, sagte Lanoe.