Der Verräter - Jonathan Holt - E-Book

Der Verräter E-Book

Jonathan Holt

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Beschreibung

Fremde. Feinde. Freunde. Traue keinem ...

Der Mann, der am Strand von Venedig tot aufgefunden wurde, starb durch einen Stich ins Herz. Anschließend wurde er grausam verstümmelt, und alles deutet auf einen Ritualmord durch Freimaurer hin. Zum ersten Mal ermittelt Capitano Katerina Tapo eigenverantwortlich in einem Mordfall, doch die mächtigen Männer der Loge weigern sich, sie zu unterstützen, sorgen sogar dafür, dass sie von dem Fall abgezogen wird. Kat recherchiert auf eigene Faust weiter – und stößt auf eine politische Verschwörung, die selbst vor Terrorismus nicht zurückschreckt.

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Buch

Er starb in der Dunkelheit, umgeben von Freunden. Man fand ihn bei Sonnenaufgang – mit durchschnittener Kehle und herausgetrennter Zunge …

Der Mann, der am Strand von Venedig tot aufgefunden wurde, starb durch einen Stich ins Herz. Anschließend wurde er grausam verstümmelt, und alles deutet auf einen Ritualmord durch Freimaurer hin. Zum ersten Mal ermittelt Capitano Katerina Tapo eigenverantwortlich in einem Mordfall, doch die mächtigen Männer der Loge weigern sich, sie zu unterstützen, sorgen sogar dafür, dass sie von dem Fall abgezogen wird. Kat recherchiert auf eigene Faust weiter – und stößt auf eine politische Verschwörung, die selbst vor Terrorismus nicht zurückschreckt.

Autor

Jonathan Holt studierte Literatur in Oxford und ist heute Creative Director einer Werbeagentur. Als er das erste Mal nach Venedig reiste, war die Stadt überflutet vom Hochwasser und lag in dichtem Nebel. Diese einzigartige Kombination aus Glanz und Verfall inspirierte ihn zu einem rasanten, modernen Thriller, der in 16 Ländern erscheint.

Von Jonathan Holt bereits erschienenMarter · Folter

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JONATHAN HOLT

DER VERRÄTER

THRILLER

Deutsch von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»The Traitor« bei Head of Zeus Ltd., London.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Jonathan Holt, 2015

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Bernd Stratthaus

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Arcangel Images/Nik Keevil (Mann) und Getty Images/Maurice Alexandre F.P. (Hintergrund)

WR · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19232-7V001www.blanvalet.de

Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.

Epheser 6:12

PROLOG

Der Kandidat befand sich in absoluter Dunkelheit.

Drei Mal hörte er es laut klopfen, als die beiden Männer rechts und links von ihm gegen die schwere Tür schlugen, gefolgt von der Antwort: »Wer kommt hier?« Und kurz darauf vernahm er auch schon die in festem Ton vorgetragene Entgegnung, die rituellen Worte, die seinen beiden Begleitern zeitgleich von den Lippen gingen.

Er wurde von ihren Händen auf seiner Schulter geführt und trat über die Türschwelle in den Raum dahinter. Zwar konnte er nichts sehen, spürte aber, dass das Zimmer groß und kühl war. Er roch geschmolzenes Kerzenwachs, vermischt mit dem Geruch der Politur auf den Fliesen unter seinen nackten Füßen.

»Bruder, tritt zuerst mit dem linken Fuß vor, und setze dann die Ferse des rechten an den Innenrist des linken Fußes«, intonierte eine ruhige, entschlossene Stimme vor ihm.

Er tat, wie ihm geheißen. Diese Anweisung wurde noch zwei Mal wiederholt, ehe die Stimme sagte: »Und jetzt bringe Ferse an Ferse.«

Das Gesicht des Kandidaten zeigte keinerlei Regung, denn er wusste, dass die um ihn herum Versammelten ihn ganz genau beobachten würden. Doch innerlich war er voller Vorfreude. Dass man ihm auftrug, den dritten Schritt zu tun, war ein Zeichen dafür, dass er den höchsten Grad ihrer sogenannten Zunft erreicht hatte. Nun würden ihm alle ihre Geheimnisse offenbar.

Was allerdings noch wichtiger war, es bedeutete, dass er das absolute Vertrauen der schweigenden Beobachter genoss, die jetzt im Kreis um ihn herumstanden. Er konnte um jede Art von Gefallen bitten, und wenn es in ihrer Macht stand, ihm diesen zu erweisen, dann würde er ihm gewährt.

Endlich war er in Sicherheit.

Es war höchste Zeit gewesen. Noch vor Kurzem hatte er das Gefühl gehabt, in einen Abgrund zu blicken, voller Panik und Schrecken. Doch jetzt hatte er endlich etwas, das er denen, die ihn verfolgt hatten, entgegensetzen konnte.

Demütig stand er da, ein raues, grobes Seil um Arm und Schulter geschlungen. »Der Kandidat, ehrwürdiger Meister, ist gehörig vorbereitet und erwartet weiteren Befehl und Begehr Eurerseits«, sagte einer seiner Begleiter, als sie fertig damit waren.

»Lasst ihn auf nackten Knien niederknien«, erwiderte der ehrwürdige Meister.

Der Kandidat sank auf die Knie. Sie waren bloß, weil man ihm die lockere Baumwollhose – das Einzige, was er an Kleidung trug – hochgerollt hatte. Auf dem Boden lag ein Kissen, und als er sich darauf in Position gebracht hatte, streckte er die Hand aus, um sich an dem schweren Eichentisch festzuklammern, von dem er wusste, dass er da war.

»Kandidat, wie bist du hereingekommen?«, erkundigte sich der Meister.

»Weder nackt noch bekleidet, weder beschuht noch barfuß, allen Metalls beraubt und mit verbundenen Augen wurde ich durch die Hand eines Bruders an die Tür der Loge geleitet«, entgegnete er.

»Bist du bereit, die heiligen Verpflichtungen zu erneuern und den feierlichen Eid zu leisten?«

»Ich bin bereit und willens, den Eid abzulegen.«

»So nimm nun deine Hände weg, und küsse das Buch. Lege alsdann dein Gelöbnis ab, im Angesicht des Großen Baumeisters und vor uns allen.«

Als der Kandidat die rituellen Worte des Schwurs sprach, glaubte er, durch einen winzigen Spalt in der antiken Augenbinde, die sein Gesicht bedeckte, die Flamme einer Kerze zu erkennen. In wenigen Augenblicken, so wusste er, würde man ihn fragen, welches sein Begehr sei. »Mehr Licht«, würde seine Antwort lauten. Der Meister würde einen Hebel an der Augenbinde betätigen, und schon würde die mit violettem Samt ausgekleidete Maske aufspringen, und sein Blick würde auf einen Stuhl mit einem menschlichen Totengerippe darauf fallen, dessen alte, ausgeblichene Knochen von den Flammen eines Dutzends silberner Kandelaber beschienen wären. Ein dramatischer theatralischer Akt in diesem rituellen Stück, aber auch eine symbolische Erinnerung daran, welche Konsequenzen der Verrat an den Brüdern haben würde.

Verrat … Für den Kandidaten hatte dieser Begriff keinerlei Bedeutung. Ein Mann musste auf sich selbst achten. Was sollte sonst noch eine Rolle spielen? Doch für den Bruchteil einer Sekunde gewannen die Worte, die er äußerte, Worte, die die exakte Bestrafung für ein solches Verbrechen präzisierten, an Sinn. Unwillkürlich geriet er ins Stocken.

In dem langen Schweigen, das auf sein Bekenntnis folgte, rutschte der Kandidat unruhig auf dem Kissen hin und her. Er musste sich hüten, noch einmal einen derartigen Fehler zu begehen. Doch wenn es einem der Beobachter aufgefallen war, ließ der sich nichts anmerken. Tatsächlich machte keiner von ihnen irgendein Geräusch. Einen Moment lang fragte er sich, wie viele von ihnen überhaupt anwesend waren. Andererseits, warum sollten sie eine Erhebung in den dritten Grad durchführen, ohne dass die gesamte Loge versammelt wäre, um das Ritual zu bezeugen? Er ermahnte sich selbst, sich zu entspannen.

Die Spitze eines scharfen Gegenstandes bohrte sich ihm in die rechte Seite der Brust.

»Bruder«, sagte die Stimme des Meisters, »als du das erste Mal hier eintratst, wurdest du auf der Spitze des Zirkels empfangen, die gegen deine nackte rechte Brust gepresst wurde. Was dies zu bedeuten hat, wurde dir damals erklärt. Als du das zweite Mal hier eintratst, wurdest du auf der Spitze des Winkelmaßes empfangen, welches dir ebenfalls erklärt wurde. Ich empfange dich nun auf beiden Spitzen des Zirkels.«

Der scharfe Gegenstand wurde von seiner Brust weggenommen, dann wiederholte man das Ganze fünfzehn Zentimeter weiter links. Nur dass es sich diesmal schwerer und schärfer anfühlte als die vorangegangenen Male. Er durfte nicht vergessen, später nachzufragen, sobald man in geselliger Runde gemeinsam trank, wie immer nach diesen Aufnahmeritualen. Nichts taten diese Leute lieber, so war ihm aufgefallen, als über die einzelnen Details der Zeremonien und ihre Bedeutungen zu sprechen.

»Sowie sich die meisten Lebensteile des Menschen zwischen der linken und rechten Brust befinden, so sind auch die wertvollsten Lehren unserer Zunft zwischen den beiden Spitzen des Zirkels enthalten – nämlich Verschwiegenheit und Ehre«, dröhnte der Meister.

Der scharfe Gegenstand wurde wieder entfernt. Der Kandidat spannte sich ein wenig an. Denn als Nächstes, so wusste er, würde die Spitze des Zirkels so fest gegen seine Brust gepresst, dass Blut austrat. Damit wäre das Ritual fast an seinem Ende angelangt.

Was er allerdings nicht erwartet hatte, war die lange, scharfe Klinge, die sich nun mit überraschender Gewalt zwischen seine Rippen bohrte. Mit einem erstickten Keuchen kippte er nach hinten. Doch die abwartenden Arme nahmen ihn in Empfang und richteten ihn wieder auf. Er legte die Hand an die Brust und spürte den Griff des Messers, dessen Schneide tief in ihm versenkt war; er spürte, dass das Blut bereits über seine Haut rann, Blut, das in einem jähen, stoßweisen Strahl aus seinem Herzen gepumpt wurde. Er versuchte die Hand nach oben zu strecken, um die Maske abzuziehen, doch sie wollte ihm nicht länger gehorchen.

Und noch viel erschreckender war, dass er dann spürte, wie der Strahl versiegte, und er wusste, dass man ihm sein Herz genommen hatte.

1

Es würde ein weiterer wunderschöner Tag werden. Obwohl es noch nicht mal neun Uhr war, brannte die Sonne bereits von einem wolkenlosen Himmel herab. Nur etwas weiter im Norden hingen vereinzelt Wolkenschleier über den Dolomiten. Kat Tapo genoss die kühle Gischt, die ihr ins Gesicht sprühte, als das Boot der Carabinieri auf eine Welle niederkrachte. Sie jagte den Motor gleich noch weiter hoch.

Hinten am Heck gab Sottotenente Bagnasco ein überraschtes Keuchen von sich, als ihr das eisige Meerwasser ins Gesicht klatschte. Sie stolperte nach vorn hinters einigermaßen geschützte Cockpit. Kat entging nicht, dass ihre Kollegin nicht nur klitschnass, sondern auch noch grün im Gesicht war. So hatte sie schon ausgesehen, als sie sich der »Bocca di Lido« näherten, jener schmalen Öffnung zwischen der Reihe von Sandbänken und kleineren Inseln, welche die ruhigeren Gewässer der Lagune von dem kabbeligeren offenen Wasser der Adria trennte.

»Wie lange sind Sie schon in Venedig, Sottotenente?«, rief Kat über den Lärm des Motors hinweg.

»Einen Monat«, antwortete die andere Frau pflichtschuldig, obwohl sie den Anschein machte, als fiele ihr das Sprechen im Moment eher schwer.

»Und da werden Sie immer noch seekrank? Selbst an ruhigen Tagen wie heute?«, fragte Kat verwundert.

Bagnasco antwortete nicht. Es war nicht so sehr der starke Wellengang, der ihr Übelkeit bereitete, als vielmehr die irrwitzig engen Kurven, die ihre Vorgesetzte fuhr, um sich an den Booten und Schiffen vorbeizudrängen und zwischen ihnen durchzuschlängeln, die auf der Schifffahrtsstraße nach San Marco unterwegs waren. Doch war ihr klar, dass es nichts nutzen würde, Kat das zu sagen. Capitano Tapo genoss es ganz offensichtlich, das Blaulicht an der Barkasse anzustellen und so richtig Gas zu geben. Das war schon losgegangen, als sie den Anleger am Rio dei Greci, gleich beim Hauptgebäude der Carabinieri am Campo San Zaccaria, hinter sich gelassen hatten: Kat war aufs Boot gesprungen, so sicher auf den Füßen wie einer von den Gondolieri, und hatte den Motor angelassen, während Bagnasco noch vorsichtig die Stufen hinabstieg.

Die Barkasse steuerte scharf nach links und schoss an der künstlich geschaffenen Insel inmitten der Bocca vorbei. Das kleine Eiland war erst jüngst angelegt worden, es war Teil eines Systems von gigantischen Unterwasserschleusen, bekannt geworden unter der Bezeichnung MOSE. Wollte man den Politikern Glauben schenken, würde es die Stadt vor Überflutungen schützen, die durch die stetig steigenden Meeresspiegel verursacht wurden. Wie so viele Venezianer war Kat in der Hinsicht skeptisch. Bislang waren insgesamt vierzehn Personen, die mit dem Baukonsortium in Verbindung standen, aufgrund von Korruptionsvorwürfen festgenommen worden, darunter der Bürgermeister von Venedig. Infolgedessen fiel man mit dem Projekt weit hinter den Zeitplan zurück und überzog das Budget um Milliarden.

Als sie die Bocca hinter sich gelassen hatten, beschrieb das Boot einen Bogen, bis sie parallel zum langgestreckten sandigen Ufer des Lido fuhren. Kat suchte mit dem Blick den Strand ab, während sie die Barkasse steuerte. Auch wenn sie nur wenige Kilometer von Venedig entfernt waren, strahlte der Lido in diesen späten Augusttagen die beschauliche Atmosphäre eines Badeorts aus einem vergangenen Jahrhundert aus. Da war Nicelli, der winzige Flugplatz, auf dem Mussolini einst Hitler in Italien empfing. Mittlerweile wurde er nur noch von Superreichen mit Helikoptern und Leichtflugzeugen angeflogen. Da war auch das überdimensionale Kino aus der Zeit des Faschismus, das errichtet wurde, um den vom italienischen Diktator so geliebten Filmfestspielen eine Heimat zu geben. Vor dem Gebäude konnte sie eine Ansammlung winziger Gestalten erkennen; doch wie man einen solch wundervollen Morgen mit einem Kinobesuch verschwenden konnte, war ihr schleierhaft. Dann kamen die endlosen Reihen von Sonnenliegen, dicht an dicht gedrängt, wie die Gräber auf einem Friedhof, und darauf Körper in allen Farbschattierungen, von Madenweiß bis Hummerrot. Und dort war auch die elegante Jugendstilfassade des Hôtel des Bains, einst Venedigs berühmtestes Hotel, in dem Winston Churchill jeden Morgen damit begann, dass er im Bademantel runter ans Meer spazierte und Pfeife rauchend eins seiner Aquarelle malte. Mittlerweile war das Hotel geschlossen und in eine Wohnanlage umgebaut, ein weiteres Opfer der globalen Rezession, während der einst so exklusive Strand vollgestellt war mit weiteren Liegestühlen. Die zum Hotel gehörigen capanne da spiaggia, die gestreiften edwardianischen Umkleidekabinen, zwischen denen Visconti einst die letzten Szenen seines Meisterwerks Tod in Venedig filmte, standen immer noch im hinteren Strandabschnitt, nur musste man heutzutage schon Millionär sein, um sich eine von ihnen für eine Saison zu mieten.

Tod in Venedig … Wie aufs Stichwort entdeckte Kat nun das weiße Zelt, das nur unwesentlich größer war als die capanne, jedoch nicht an den Strand zu gehören schien. Ein weiträumiges Gebiet war mit blauem Band abgesperrt, von einer Lahnung zur nächsten. Während Kat den Strand im Auge behielt, erhob sich plötzlich eine Gestalt im weißen Ganzkörperanzug mit Maske und Kapuze, streckte sich und ging dann wieder in die Hocke.

»Da sind die von der Gerichtsmedizin«, sagte Kat. Sie steuerte das Motorboot auf einen nahen Anleger zu und drosselte die Geschwindigkeit. Dr. Hapadi, das wusste sie, würde es nicht zu schätzen wissen, wenn sie seine sorgfältige Arbeit zunichtemachte, indem sie allzu hohe Wellen erzeugte.

Es war weniger als dreißig Minuten her, dass Generale Saito sie an ihrem Schreibtisch angerufen hatte. »Wie beschäftigt sind Sie, Capitano?«, hatte er ohne große Umschweife gefragt.

»Colonnello Piola und ich schließen gerade den Papierkram zu den Untersuchungen im Muranofall ab«, erwiderte sie vorsichtig. »Schätzungsweise noch zwei bis drei Tage Arbeit.« Ein absolut öder Job und vermutlich sogar sinnlos. Seit Monaten schon tauchte billiges Glas aus China in den Touristenläden auf der traditionsreichen Glasbläserinsel Murano auf, versehen mit gefälschten »Made in Venice«-Aufklebern, die den Wert der Ware vervierfachten. Bei einer Razzia der Carabinieri in einem Lager in Mestre waren ihnen mehr als fünfzigtausend Stücke ins Netz gegangen, und dort hatten auch eine halbe Million Aufkleber auf ihren zukünftigen Einsatz gewartet. Man brauchte wohl nicht zu erwähnen, dass die Glasbläserfamilien, die diese importierten Produkte zum Kauf anboten, ein »administratives Versehen« dafür verantwortlich machten.

»Das ist bereits geregelt. Ich habe mit Colonnello Piola gesprochen, er meinte, er bringt das auch gern ohne Sie zu Ende. Tatsächlich war es der Staatsanwalt, der Sie vorgeschlagen hat. Doch der Colonnello und ich sind uns darin einig, dass Sie so weit sind, auf eigene Faust größere Ermittlungen zu leiten.«

»Darf ich fragen, worum es geht, Sir?«, hatte sie sich erkundigt und war darum bemüht gewesen, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.

»Ein Tötungsdelikt«, erwiderte Saito angespannt. Das war an sich schon überraschend – in einem solch frühen Stadium einer Untersuchung schickte man derartigen Begriffen in der Regel »möglich« oder »angeblich« voraus. »Über Budget und Einsatzkräfte unterhalten wir uns später, fest steht allerdings, dass es ein gewichtiger und komplexer Fall wird. Bis dahin teile ich Ihnen Sottotenente Bagnasco als Ihre Assistentin zu. Sie kommt mit den besten Empfehlungen, doch angesichts der Tatsache, dass sie neu ist im Team, halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, wie sie sich macht, in Ordnung?«

»Selbstverständlich, Sir.« Kat fragte sich, ob es unpassend war, sich zu bedanken. »Und vielen Dank auch. Ich freue mich sehr, dass ich diese Chance bekomme.«

Es entstand eine kurze Pause. »Ich bezweifle, dass Sie mir für diesen Fall dankbar sein werden, Capitano«, erklärte Saito düster. Und dann legte er auf, ehe sie ihm noch weitere Fragen stellen konnte.

Sie steuerte das Boot an den Steg heran und stellte den Motor ab. Die meisten jungen Offiziere wären wohl gleich rausgesprungen, um beim Anlegen behilflich zu sein, indem sie ein Seil festzurrten, doch Bagnasco war offenbar immer noch viel zu übel. Erst als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schien sie sich einigermaßen zu fangen.

Fast hatte man den Eindruck, als würde sich jeder Einzelne der Sonnenanbeter am Strand auf die Ellbogen hochstemmen, um die beiden Frauen zu beobachten, wie sie auf das blaue Absperrband zugingen. Kat war es gewohnt, dass man sie anstarrte – auch heute noch waren weibliche Offiziere bei den Carabinieri eine Seltenheit. Doch es fühlte sich sonderbar an, inmitten all der nackten Haut hier vollständig bekleidet herumzulaufen, und noch dazu in Uniform. Sonne und ein Mord: Da überraschte es kaum, dass sich an diesem Morgen keiner für seine Strandlektüre interessierte.

An der Absperrung blieben sie kurz stehen, um Schutzanzüge, Handschuhe und Masken anzulegen, damit sie den Tatort nicht mit ihrer DNA in Form von Haaren oder Ähnlichem kontaminierten. Drei Beamte der Carabinieri waren am Absperrband postiert, um die neugierige Menge fernzuhalten. Kat erkannte einen von ihnen, einen Maresciallo aus dem Revier an der Lagunenseite des Lido an der Riviera San Nicolò. Sie begrüßte ihn mit einem Nicken und tauchte dann unter der Absperrung durch. Anschließend ging sie über den Strand auf das Zelt der Spurensicherung zu.

Dort drinnen war es unerträglich heiß. Die Kombination aus sengender Sonne, Zelt mit Plastikdach, hoher Luftfeuchtigkeit und Ganzkörperanzügen weckte in ihr sofort die Sehnsucht nach der leichten Brise, die vom Meer herangeweht war. Sie spürte, wie der Schweiß ihre Wirbelsäule hinabrann, ermahnte sich aber dazu, sich zu konzentrieren.

Als er sie bemerkte, erhob Dr. Hapadi, der Gerichtsmediziner, sich von der Stelle, an der er gekauert hatte, damit sie besser sehen konnte. Der Leichnam lag auf dem Rücken, zur Hälfte im Wasser, genau dort, wo die Wellen an den Strand spülten. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, bekleidet mit einer blutbefleckten Baumwollhose, die bis über die Knie hochgerollt war, so als wäre er durchs Wasser gewatet. Sein Oberkörper war nackt, und er hatte ein Stück Seil um die Schulter geschlungen. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, von einem Schlüsselbein zum anderen – der Kopf war in einem seltsamen Winkel zur Seite verdreht und ruhte auf einem Ohr, was dafür sorgte, dass die Wunde auf fast schon obszöne Weise weit aufklaffte: Sie konnte den durchtrennten weißlichen Strang der Speiseröhre erkennen, geriffelt wie der Schlauch eines Staubsaugers und bereits zur Hälfte mit Sand von der zurückweichenden Flut gefüllt. Doch so schockierend der Anblick sein mochte, es war das, womit das Gesicht des Mannes bedeckt war, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Unterhalb des triefenden, bereits leicht angegrauten Haarschopfs trug er eine merkwürdige Maske aus Leder und Stoff, ein bisschen wie die Motorradbrillen aus der Vorkriegszeit, nur mit soliden Metallschalen, wo eigentlich die Gläser hätten sein müssen.

Auf der einen Seite lag auf einer Plastikplane ein sandiges Objekt von der Größe eines Tennisballs. Das war es, was Dr. Hapadi mit der Zahnsonde in der behandschuhten Hand untersucht hatte.

»Was ist das denn für eine Maske?« Kats Stimme klang gedämpft durch die Maske, die sie selbst vor dem Gesicht trug.

»Sieht aus wie eine typische antike Blendvorrichtung«, erklärte Hapadi. Er wirkte heute, auch wenn er sonst immun war gegen den Anblick und den Geruch des Todes, fast ein wenig benommen. Doch ob es an der sengenden Hitze oder an dem Zustand des Leichnams lag, hätte sie nicht sagen können. »Eine Art Augenbinde. Hier.«

Er streckte die Hand danach aus und drückte auf einen kleinen Hebel oberhalb der Augenschalen, die daraufhin aufsprangen. Bagnasco, die hinter Kat stand, schreckte auf, als die stechend grauen Augen des Toten sie unvermittelt anstarrten.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der jüngere der beiden Männer da, glaube ich.« Hapadi deutete mit einem Kopfnicken auf einen gut aussehenden Mann um die zwanzig hinter dem Absperrband, der sich mit einem der örtlichen Carabinieri unterhielt. Auch er wirkte ziemlich blass. Neben ihm stand ein älterer Herr und hatte die Hand schützend auf die Schulter des Jüngeren gelegt. Unter dem anderen Arm trug er einen kleinen Schoßhund, eine Art Dackel. Auf Kat machten sie den Eindruck, als könnten sie ein Paar sein. Doch das war nicht weiter überraschend: Der Lido galt schon seit Langem als die schwulenfreundlichste Gegend Venedigs. »Er hat seinen Hund spazieren geführt. Das Tier fand das hier und brachte es seinem Herrchen.« Damit deutete er auf das Objekt im Sand.

Kat kam immer noch nicht drauf, was es sein könnte. »Was ist das?«

Hapadi ging in die Hocke und rollte das Ding mit der Spitze seiner Zahnsonde auseinander. »Die Zunge des Opfers«, sagte er leise. »Sie wurde herausgerissen, vermutlich mit einer Zange.«

Kat vernahm ein ersticktes Geräusch in ihrem Rücken. Sie drehte sich um und sah, wie eine Flüssigkeit seitlich aus Bagnascos Schutzmaske austrat. In dem Moment riss die Assistentin sich das Ding vom Gesicht und krümmte sich würgend vornüber. Erbrochenes ergoss sich ins Meer.

»Sie werden Dr. Hapadi eine DNA-Probe dalassen müssen«, meinte Kat, als Bagnasco anscheinend fertig war. »Damit er gewisse Spuren ausschließen kann.«

»So ist es«, sagte Hapadi resigniert. Er deutete auf die Stelle, wo Bagnascos Frühstück im feuchten Sand gelandet war. »Ich nehme mir was davon, solange es noch frisch ist.«

»Tut mir leid«, flüsterte Bagnasco. »Ich war nur …«

»Ist heiß hier drinnen. Gehen Sie, und schnappen Sie etwas frische Luft«, wies Kat sie an.

Als Bagnasco gegangen war, wandte sie sich wieder dem Gerichtsmediziner zu. »Ich muss mich entschuldigen. Schätze, es ist ihr erstes Mal.« Sie wies auf den Leichnam. »Es deutet also alles darauf hin, dass er woanders getötet und dann in einem Boot hierhergebracht worden ist? Und dass man die Zunge absichtlich neben den Leichnam gelegt hat?« Das würde erklären, weshalb seine Hose blutbefleckt war, der Sand allerdings nicht. »Aber wenn man ihn schon in ein Boot verfrachtet, warum ihn dann nicht gleich an einer tiefen Stelle über Bord werfen und sich so aller Beweise entledigen? Warum bringt man ihn den weiten Weg hierher an den Strand, wo einen locker irgendwer dabei beobachten könnte?«

»Wegen des Eides«, erklärte Hapadi ruhig.

»Eid? Welcher Eid?«

Der Gerichtsmediziner wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »›Ich beschwöre feierlich und aufrichtig‹«, rezitierte er behäbig, »›ohne die geringste Zweideutigkeit, ohne allen Gedankenvorbehalt oder Selbstausflucht in der Seele, und verpflichte mich dazu unter keiner geringern Strafe, als dass mein Mund von Ohr zu Ohr aufgeschnitten, meine Zunge von der Wurzel ausgerissen und mein Körper in dem rohen Sand des Meeres auf Taulänge von der Küste, bei niedrigem Wasserstand, wo die Woge zwei Mal in vierundzwanzig Stunden ebbt und flutet, begraben werde, dass ich niemals offenbaren will die Mysterien, die ich innerhalb dieser Bruderschaft empfangen werde.‹« Dann sah er Kat an, und ihr entging nicht, dass er beunruhigt wirkte. »Ich kann nicht sagen, wer dieser Mann ist, Capitano, aber ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er ein Freimaurer war.«

2

Daniele Barbo trat hinaus auf den Balkon des Dogenpalasts. Unter ihm, auf der Piazza San Marco, blickten Tausende maskierter Gesichter erwartungsvoll zu ihm auf. Viele weitere, so wusste er, würden ihm überall auf der Welt auf Computern und Tablets zusehen. Noch nie zuvor in der Geschichte von Carnivia war der Gründer dieser Plattform öffentlich in Erscheinung getreten, geschweige denn mit einer Rede: Die letzten beiden Tage, seit er seine Absicht kundgetan hatte, sich direkt an die Benutzer der Website zu wenden, hatten in der Blogosphäre zahlreiche Spekulationen über die Gründe die Runde gemacht.

Viele waren überzeugt, dass Daniele nun doch den Verkauf von Carnivia bekanntgeben würde. Sowohl Google als auch Facebook machten kein Geheimnis daraus, dass sie die Seite gern kaufen wollten. Analysten sprachen schon von einem möglichen Kaufpreis in Höhe von etwa einer halben Milliarde Dollar und wiesen darauf hin, dass das Fehlen stetiger Einnahmen eher auf die Eigenheiten des Gründers von Carnivia zurückzuführen sei und nicht auf den Mangel an kommerzieller Vermarktbarkeit, auch wenn auf der Seite derzeit keine Werbung gezeigt wurde. Außerdem seien die dort angewandten Algorithmen zur Verschlüsselung für die Rüstungsindustrie ein kleineres Vermögen wert.

Andere gingen davon aus, dass Daniele Einschränkungen an ebenjenem Aspekt plante, der die Seite ausmachte: ihrer Anonymität. Jede der maskierten Gestalten auf dem Platz unter ihm war nichts weiter als ein Avatar, jenes virtuelle Ebenbild des individuellen Nutzers, dessen wahre Identität und wirklicher Aufenthaltsort jedem außer ihm selbst verborgen blieb. Allerdings war diese Anonymität einseitig – denn Carnivia selbst konnte auf sämtliche Kontaktdaten zugreifen, sodass die User mit Facebookfreunden, Nachbarn, Schulkameraden und Kollegen interagieren konnten, ohne dass diese wussten, wer man war. Da überraschte es kaum, dass ebendies bisweilen für Kontroversen sorgte. Erst neulich hatte ein vierzehnjähriges Mädchen Selbstmord begangen, nachdem sie von einer anonymen Gang aus Cyberbullys bedrängt worden war. In ähnlichen Situationen gaben die meisten anderen Seitenbetreiber Informationen an die Strafverfolgungsbehörden weiter. Lediglich bei Carnivia behauptete man beharrlich, niemand, nicht einmal der Eigner der Seite, Daniele Barbo, habe Zugriff auf diese Daten.

Als er vom Balkon aus nach unten blickte – eine exakte Nachbildung des Balkons am wirklichen Dogenpalast, die bis ins kleinste Detail herausgebröckelten Gesteins stimmte –, zögerte Daniele. Er hatte sich genau überlegt, was er sagen wollte, hatte jedoch keinen Gedanken daran verschwendet, wie er anfangen sollte. Natürlich war ihm klar, dass man eine solche Ansprache üblicherweise mit einer Art Begrüßung eröffnete. Doch wie sollte die aussehen? »Liebe Mitbürger Carnivias« schien ihm nicht ganz passend. Ein schlichtes »Hi« hingegen klang ihm zu salopp.

Genau solche Schwierigkeiten waren der Grund, weshalb ihn viele als sozial gestört bezeichneten. Das war ihm nicht entgangen.

Die Stille zog sich in die Länge.

Hallo Welt, sagte er schließlich.

Eine Welle der Erheiterung ging durchs Publikum und breitete sich in Form von Tweets, Emoticons und »Gemurmel« aus, wie sich die interne Kommunikationsform von Carnivia nannte. Für Insider hatte Daniele Barbo soeben einen genialen Witz gemacht. Denn mithilfe eines Hallo-Welt-Programms erbringt ein Hacker in Bezug auf einen Code den Nachweis, dass dieser funktioniert. Indem er sich exakt dieser Worte bediente, erinnerte Daniele Barbo seine Zuhörer nicht nur daran, dass alles um sie herum sein Werk war, er signalisierte ihnen auch, dass er sie für gebildet genug hielt, um diese Anspielung zu verstehen.

Von oben auf dem Balkon erhaschte Daniele einen kurzen Blick auf die Reaktionen, die über den Bildschirm gingen. Er seufzte. Natürlich war das nicht beabsichtigt gewesen. Doch wenigstens der Anfang war gemacht. Den schwierigsten Teil hatte er hinter sich.

Wie viele von euch sicher wissen, nahm diese Website ihren Ursprung in einem mathematischen Modell, das mir helfen sollte, gewisse Aspekte der Komplexität von Berechnungen zu verstehen. Doch mit den Jahren ist sie zu etwas herangereift, das ich niemals erwartet hatte, sagte er.

Genau genommen saß er vor einem Computermonitor und tippte die Worte viel eher, als dass er sie sprach. Doch eines der besonderen Merkmale von Carnivia war es, dass man dies als Nutzer sehr schnell vergaß. Das Gemurmel verebbte, als die Zuhörer sich wieder auf seine Ansprache konzentrierten.

Soll heißen, Carnivia ist zu einer Gemeinschaft geworden.

Vor zehn Jahren, als er die Seite entworfen hatte, hatten nur wenige den Sinn hinter der ausgetüftelten Verschlüsselung gesehen. War das Internet nicht schon anonym genug? Doch in jüngerer Zeit hatten wachsende Bedenken hinsichtlich Datensicherheit und Online-Überwachung dazu geführt, dass Carnivia nicht länger als sicherer Hafen für Hacker, Cypherpunks und Krypto-Anarchisten galt. Die Seite hatte mittlerweile weit über drei Millionen regelmäßige User, eine Zahl, die stetig stieg.

Dafür, dass diese Gemeinschaft weiterhin unabhängig, friedlich und sicher vor der Einmischung von Regierungen und Behörden bleibt, opfere ich einen Großteil meiner Zeit, fuhr er fort. Zu viel Zeit, um ehrlich zu sein. Seit über zehn Jahren habe ich keine sinnvolle Arbeit mehr geleistet.

Infolgedessen habe ich mich entschlossen, die Last, Carnivia zu leiten, auf euch zu übertragen, die User. Ihr werdet entscheiden, welches das richtige Verhältnis ist zwischen der eigenen Privatsphäre und der Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber. Ihr werdet entscheiden, was als angemessenes Verhalten gelten darf und was nicht und wie mit Nutzern zu verfahren ist, die gegen die Regeln verstoßen. Ihr werdet entscheiden, ob in die Seite investiert werden soll, und wenn ja, in welcher Form. Ihr werdet entscheiden – und dies ist eure vordringlichste Aufgabe –, auf welche Weise diese Entscheidungen selbst zu treffen sind, indem ihr euer eigenes Verwaltungssystem wählt, und zwar so, dass es euch allen passend erscheint.

Von heute an werde ich mich an derlei Diskussionen nicht mehr beteiligen.

Er sah hinunter auf die Menge.

Hat irgendwer noch Fragen?

Wie es aussah, gab es gleich mehrere Hundert Leute, auf die das zutraf. Er wählte einen von ihnen aus. Ja?

Sie als der Eigentümer haben aber immer das letzte Wort, oder?

Nein. Die Eigentumsrechte an der Seite und ihren Servern gehen auf die Körperschaft über, für die ihr, die User Carnivias, euch entscheidet. Ich werde keinerlei rechtliche Ansprüche mehr geltend machen können.

Warum? Was werden SIE tun?

Es entstand eine Pause, während der sich Daniele krampfhaft um eine Antwort bemühte. Schließlich sagte er: Neuerdings beschäftige ich mich mit einer Software, die dabei helfen soll, Sitzpläne für Hochzeiten zu erstellen.

Wieder ging eine Woge der Erheiterung durch die Menge, auch wenn die Reaktion diesmal nicht ganz so heftig ausfiel. Danieles Witz war aber auch nicht wirklich zum Lachen.

Werden Sie selbst Carnivia weiter nutzen?

Ich weiß es nicht. Andererseits, auf Carnivia gilt ja von jeher das Prinzip der Anonymität. Sofern ihr das aufrechterhaltet, werdet ihr wohl nie erfahren, ob ich hier bin oder nicht. Was auch immer geschieht, ich werde nicht länger als Administrator fungieren oder irgendwelche besonderen Privilegien für mich beanspruchen.

Sein Publikum schien fast erstaunter über diesen letzten Satz als über alles andere, weil er bewies, dass er es ernst meinte. Zum Carnivia-Administrator zu werden war ein Privileg, von dem die meisten von ihnen nur träumen konnten. Jetzt gab es keine Tweets mehr, kein Gemurmel, nur ein gelegentliches Ausrufezeichen schwebte über die Köpfe der Menge hinweg und verlor sich dann in der schwachen Brise, die das Wasser im Bacino di San Marco kräuselte.

Ich wünsche euch viel Glück, fügte er noch hinzu, ehe er zurücktrat. Und als er die Balkontüren schloss, spürte er, wie es unten lauter wurde und man darüber zu debattieren begann, was das wohl alles zu bedeuten hatte.

Im Musikzimmer des realen Palazzo Barbo, in dem die riesigen Server von Carnivia untergebracht waren, schob Daniele seinen Stuhl vom Bildschirm zurück und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Vor ihm klebte eine kurze To-do-Liste an der Wand. Er streckte die Hand danach aus und hakte den ersten Punkt auf ihr mit einer raschen Bewegung ab.

Carnivia verlassen.

Als er sich wieder seinem Computer zuwandte und das Programm schloss, ploppte eine Nachricht auf.

Sind Sie sicher?

Er klickte auf »Ja« und spürte, wie ihm eine schwere Last von den Schultern genommen wurde.

3

»Ich möchte, dass Sie die Aussage des Zeugen aufnehmen, der den Leichnam gefunden hat«, sagte Kat, während sie auf Bagnasco zuging, die sich soeben mit einer Flasche Wasser den Mund ausspülte. »Ich werde dabei sein. Betrachten Sie es als Training.«

»Vielen Dank.« Bagnasco deutete auf das Zelt. »Das da drinnen … tut mir leid. Es wird nicht wieder passieren. Ich war bloß noch ein wenig seekrank von der Fahrt, das ist alles.«

»Vergessen wir das. Doch für die Zukunft merken Sie sich eines: Lieber sagt man, was Sache ist, und verlässt einen Tatort, als dass man sich dort übergibt. Bereit?«

Sie machten sich auf zu der Stelle, wo der junge Mann stand. Bagnasco ging die Angelegenheit recht gut an, wie Kat fand, indem sie ihn in Sicherheit wiegte und gelegentlich auch seinen Partner ins Gespräch mit einbezog. Sie streckte sogar die Hand aus und streichelte den Hund, auch wenn sie dabei unwillkürlich zurückzuckte, als der ihr mit seiner feuchten, sandigen Zunge die Finger lecken wollte.

Der junge Mann, so stellte sich heraus, war Schauspieler und wegen des Filmfests nach Venedig gekommen. Sein Partner war Regisseur, der gerade die Werbetrommel rührte für seinen nächsten Film, um die nötigen Mittel aufzubringen.

»Ich habe diesen Star mit hierhergebracht«, warf der ältere Mann ein und drückte dem jüngeren den Arm.

Der Schauspieler warf ihm einen ergebenen Blick zu, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls konnte ich nicht schlafen, und Dauphin war ebenfalls wach, daher bin ich mit ihm spazieren gegangen.«

»Ich hatte eine Schlaftablette genommen«, warf der Ältere ein. »Ich hab zu David gesagt, warum nimmst du nicht auch eine? Aber er hat was gegen Pillen.«

Der Jüngere nickte. »Sie machen mich ganz groggy. Jedenfalls, als wir zurückkamen, fand Dauphin dieses … dieses Ding da, und da entdeckte ich die Leiche.« Er schauderte, und der ältere Mann tätschelte ihm tröstend die Schulter.

»Um welche Uhrzeit war das?«, erkundigte sich Bagnasco, die alles in ihrem Notizbuch mitschrieb.

Der junge Mann zögerte. »Schwer zu sagen. War wohl recht früh.«

»Und der Leichnam lag noch nicht an der Stelle, als Sie das erste Mal hier vorbeikamen? Erst auf dem Rückweg?«

»Ich denke schon. Ich meine, es wurde ja gerade erst hell.«

Kat wartete ab, bis Bagnasco fertig war, dann fragte sie höflich: »Könnten Sie uns bitte noch Ihre Ausweise aus dem Hotel holen?«

Wie erhofft, sagte der ältere Mann: »Ich hole sie. Hier draußen ist es sowieso viel zu heiß für Dauphin.«

Als er verschwunden war, wandte sie sich an den Jüngeren. »Können Sie uns nun bitte erzählen, was gestern Nacht wirklich passiert ist?«

Er blinzelte verstört. »Wie meinen Sie das?«

»War es tatsächlich nur ein morgendlicher Spaziergang? Oder doch eher ein spätnächtlicher Streifzug?« Bagnasco warf ihr einen verwunderten Seitenblick zu. »Hören Sie, ich weiß genau, was nachts in den Wäldern von Alberoni vor sich geht«, fuhr sie fort. »Das ist alles völlig in Ordnung, nur muss ich unbedingt wissen, um welche Uhrzeit dieser Leichnam tatsächlich hier abgelegt wurde.«

Der junge Mann wirkte beschämt. »Ich hätte es Ihnen schon erzählt, nur ging es nicht, solange Milo zuhörte. Ich dachte, wenn ich den Hund mitnehme, findet er das nie im Leben raus. Und ich wollte sowieso nur für eine Stunde weg. Nur dass dann … viel los war gestern Nacht, und mit einem Mal stellte ich fest, dass es schon nach vier war. Daher lief ich zurück, und da fand Dauphin diese Zunge.«

»Es war also dunkel, als Sie das erste Mal an der Stelle vorbeikamen? Und Sie sind möglicherweise an der Leiche vorbeigelaufen?«

Er nickte.

»Ich danke Ihnen. Ich lasse Ihre Zeugenaussage zu Papier bringen, die Sie mir dann bitte unterschreiben.«

Als sie wieder alleine waren, wandte Kat sich an Bagnasco. »Hat man Ihnen nicht erklärt, dass man Zeugen immer einzeln befragt?«

Die Sottotenente wirkte beschämt. »Ja, schon, aber …«

»Warum haben Sie es dann nicht so gemacht?«

»Ich wollte … Ich meine, ich schätze …«

»Sie wollten zeigen, dass Sie nichts gegen Homosexuelle haben«, stellte Kat fest. »Das wäre dann also das Zweite, was wir heute gelernt haben: Lassen Sie das in Zukunft besser.«

Sie ging rüber zu der Stelle, an der die drei Jungs von den örtlichen Carabinieri die Absperrung bewachten. »Guten Morgen, Leute«, sagte sie fröhlich. »Bitte sagt, dass ihr schon jeden an diesem Strand befragt habt, um mögliche Zeugen ausfindig zu machen.«

Die drei Männer wechselten betretene Blicke.

»Und, wie sieht es aus?«, wollte sie wissen.

Einer von ihnen, der Maresciallo, den sie vorhin schon erkannt hatte, sagte: »Wir haben uns mit den Jungs unterhalten, die die Sonnenliegen aufstellen. Und mit dem Traktorfahrer, der gleich als Erstes in der Früh den Strand säubert. Und den Bauarbeitern, die am Hotel zugange sind.«

»Und?«

»Keiner von ihnen hat was gesehen. Weil keiner von ihnen zu dem Zeitpunkt hier war. Die Jungs mit den Sonnenliegen sind krank. Der Traktorfahrer hatte ein Problem mit dem Motor. Und von den Bauarbeitern hatte keiner Schicht, sie können uns aber auch nicht sagen, wer stattdessen vor Ort war.«

»Was ist mit denen da? War irgendwer von ihnen früh hier?« Sie deutete auf die Sonnenanbeter.

»Das sind alles Touristen«, erklärte der Maresciallo. »Wenn irgendwelche Ortsansässigen hier waren, dann haben sie sich dezent verzogen.«

Als Kat jetzt erneut zu den Sonnenliegen blickte, erkannte sie, wie viele von ihnen tatsächlich leer waren. Und es wurden stetig weitere frei. Wie ein Schwarm Stare vor einem herannahenden Falken ergriff einer nach dem anderen die Flucht. Sie zogen es offenbar vor, auf einen Tag am Strand zu verzichten, statt auch nur im Entferntesten mit dem in Verbindung gebracht zu werden, was hier geschehen war.

Sie seufzte. »Dann versuchen Sie es bitte weiter bei den Bauarbeitern, ja? Und kommen Sie heute Abend noch einmal her, nur für den Fall, dass jemand spät an den Strand geht, der gestern vielleicht auch hier war.«

Bis zum Abend, so vermutete sie, würde sich das Schweigen über den Lido bis hinein nach Venedig ausgebreitet haben. Doch einen Versuch war es wert.

Während die Spurensicherung ihre Arbeit am Tatort zu Ende brachte, fuhren sie und Bagnasco mit dem Boot hinunter zu den Pinienwäldern am südlichen Ende des Lido. Bekannt unter dem Namen Alberoni oder einfach nur »die Dünen«, war dies hier Venedigs inoffizieller Nudistenstrand, aber auch der einzige, an dem Schwule sich trafen. Die exakte Trennlinie zwischen beidem verlief fast ebenso fließend wie der Übergang zwischen Sand und Meer.

Doch auch hier blieben sie erfolglos bei ihrer Suche nach Zeugen. Zu dieser frühen Stunde war es noch recht ruhig in den Wäldern, und der Anblick von zwei uniformierten Offizieren der Carabinieri sorgte dafür, dass die wenigen Anwesenden zwischen die Bäume flohen.

Doch dann sah Kat tief im Wald etwas Rotes aufblitzen. Ein Zelt. Campen war nicht gestattet außerhalb des offiziellen Campingplatzes von San Nicolò, doch es wunderte sie nicht, dass es jemanden gab, der sich nicht an die Bestimmungen hielt. Als sie darauf zuging, rief sie: »Jemand da?«

Nach wenigen Augenblicken ging der Reißverschluss am Zelt auf. Ein gräuliches Gesicht blickte zu ihr auf.

»Carabinieri«, sagte sie überflüssigerweise. »Würde es Ihnen was ausmachen rauszukommen?«

Als der Mann ihrem Wunsch nachkam, fügte sie hinzu: »Allerdings würde ich Sie bitten, etwas anzuziehen.«

»Warum?«, kam die patzige Antwort.

Es lag Kat schon auf der Zunge, zu sagen, er verstoße gegen die Sittsamkeit und zeige darüber hinaus Respektlosigkeit gegenüber der Uniform eines Beamten, doch sie beschloss, das Ganze anders anzugehen. »Fühlen Sie sich so wohler?«

»Ja. Und?«

»Na, dann sehen wir mal, wie es läuft«, antwortete sie in zuckersüßem Ton. »Uns interessiert, was für Boote heute in den frühen Morgenstunden hier in der Gegend unterwegs waren. So gegen vier Uhr?«

Der Mann dachte kurz nach. »Zufällig war ich tatsächlich früh wach heute Morgen. Da war ein großes Kreuzfahrtschiff, aber das hielt sich ein Stück weiter draußen. Und dann war da noch ein motoscafo.«

»Ein Wassertaxi? Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher. War eins von diesen alten Motorbooten, diese hübschen aus Holz mit einem Cockpit und langem Rumpf.«

»Irgendwelche Flaggen? Beschriftungen?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Tja, wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie an. Hier haben Sie meine Nummer.« Kat reichte ihm ihre Karte. Dann kam ihr noch ein Gedanke. »Das Kreuzfahrtschiff – in welche Richtung fuhr es?«

»Dort lang.« Er deutete nach Norden.

Kat blickte hinaus aufs Meer. Dort draußen im Schifffahrtskanal befanden sich zwei oder drei Schiffe. Ansonsten war bis zum Horizont nichts zu sehen.

Zum ersten Mal, seit sie ihren Schreibtisch verlassen hatte, spürte sie die enormen Ausmaße dessen, womit sie hier konfrontiert war. Ein Mann war kaltblütig und brutal ermordet worden. Doch es war mehr als das. So wie der Leichnam am Strand abgelegt worden war, sollte ganz offensichtlich eine Botschaft übermittelt werden. Wer auch immer diese Leute waren, die Mörder glaubten, sie könnten ungestraft davonkommen.

… verpflichte mich dazu unter keiner geringern Strafe, als dass mein Mund von Ohr zu Ohr aufgeschnitten, meine Zunge von der Wurzel ausgerissen und mein Körper in dem rohen Sand des Meeres auf Taulänge von der Küste, bei niedrigem Wasserstand … begraben werde.

Trotz der Hitze spürte sie, wie ihr ein Schauder über den Rücken jagte.

4

Second Lieutenant Holly Boland ließ die Verschlüsse an der alten Truhe ihres Vaters aufschnappen und öffnete den Deckel.

Dort drinnen, unter einer Schicht Schrankpapier, verbarg sich ihre Kindheit.

Das Erste, was sie entdeckte, war die Zeichnung ihrer Lieblingspiazza in Pisa, die sie selbst angefertigt hatte. Die Rede war nicht vom völlig überlaufenen Campo dei Miracoli, wo Touristen sich um den Schiefen Turm scharten, sondern von dem weitaus kleineren Platz am Ende der Straße, in der sie mit ihrer Familie gelebt hatte, in der ihre italienischen Nachbarn regelmäßig beim Einkaufen im Laden ein Pläuschchen gehalten und gegen den Zinktresen der Bar gelehnt Espresso getrunken hatten oder hinten auf geparkten Vesparollern rumgesessen, Eis gegessen und geflirtet hatten, je nach Alter und Geschlecht. Unter der Zeichnung stand: »BUON COMPLEANNO, PAPÀ!!!ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG, IN LIEBE, HOLLY!!!«

Ihr entging nicht, dass sie das Italienische mit ihrer Muttersprache vermischt hatte. Das musste gewesen sein, als sie elf oder zwölf Jahre alt war. Damals hatten sich die beiden Sprachen in ihrem Kopf noch überlappt.

Unter dieser Geburtstagskarte fand sich eine Schulaufgabe in einer Klarsichtfolie, die den Titel trug: »Wie es ist, die Tochter eines amerikanischen Offiziers in Italien zu sein«. Der Aufsatz war illustriert mit einem Foto von ihr und ihren Brüdern bei einem Grillabend im Camp Darby, auf dem sie allesamt Badekleidung trugen. Sie war so mager und drahtig gewesen wie ihre Brüder, schon damals, ihr Haar ein bisschen blonder als das der Jungs, nach Wochen in der italienischen Sommersonne. Hinter ihnen joggte eine Gruppe Marines über den Strand, in Trainingsklamotten und Militärkappen.

»Hi!«, lautete die Überschrift. »Io amo la mia vita in Italia! Ich liebe mein Leben in Italien!«

Lächelnd legte sie den Aufsatz weg und machte weiter. Ein Certificato di Eccellenza von der Scuola Secondaria di Madonna Dell’Acqua bestätigte, dass die Schülerin Signorina Holly Boland achthundert Meter geschwommen war. Noch eine Karte, wieder selbst gemalt, mit den Worten: »Per il miglior papà del mondo! Für den besten Papa der Welt!« Sie war datiert auf den 19. März, marzo 19, das Fest des Heiligen Joseph, jenen Tag, an dem die italienischen Kinder grüne Kleidung trugen und zu Ehren ihrer Väter frittelle buken.

Sie fragte sich, wann sie damit aufgehört hatte, ihm am dritten Sonntag im Juni, dem Vatertag in den USA, Karten zu schenken. War ihr überhaupt bewusst gewesen, dass sie die Traditionen ihrer Heimat nach und nach aufgegeben hatte zugunsten derer des Landes, in dem sie aufwuchs? War ihm das aufgefallen? Und wenn ja, war er stolz gewesen oder eher enttäuscht? Oder ein bisschen von beidem?

Gleichermaßen fasziniert und von Nostalgie ergriffen, wühlte sie weiter in der Kiste. Jede einzelne Karte, die sie je für ihn gebastelt hatte, jede Hausaufgabe, die sie stolz an ihn weitergereicht hatte, jede Auszeichnung, die sie sich verdient hatte, und jede Postkarte, die sie nach Hause geschickt hatte – all das hatte er aufbewahrt. Wie die meisten Militärangestellten war er stets darauf gefasst, kurzfristig umziehen zu müssen, daher bewahrte er seine wertvollsten Besitztümer immer in Truhen und nicht in Schränken oder Schubladen auf. Dass er diese eine Kiste fast ausschließlich für Andenken aus ihrer Kindheit reserviert hatte, rührte sie fast zu Tränen.

Etwas weiter unten stieß sie auf ein Foto, das er von ihr gemacht hatte. Sie saß hinten auf einer Vespa und grinste wie ein Honigkuchenpferd, weil sie gleich mit einem gutaussehenden Jungen mit Sonnenbrille, dessen Zähne in dem olivbraunen Gesicht strahlten, irgendwohin fahren würde. Sie musste so um die fünfzehn gewesen sein. Ihre langen, jugendlichen Beine steckten in ultrakurzen Jeansshorts.

»Wie geht es dir?«

Holly drehte sich um. Ihre Mutter war in die Garage gekommen. »Hey, Mom. Sieh mal, was ich gefunden habe.« Holly zeigte ihr das Foto. »Bin ich damals echt in so einem Aufzug aus dem Haus gegangen? Und du warst damit einverstanden?«

Ihre Mutter lächelte schuldbewusst. »Ich wüsste nicht, dass wir damals eine große Wahl gehabt hätten. Du warst immer so starrsinnig. Und die italienischen Jungs waren ja ziemlich respektvoll.«

»Vielleicht wirkten sie auf dich und Dad so. Aber ich weiß noch gut, dass es da schon die ein oder andere aufdringliche Hand gab. Ein Wunder, dass ich nicht …« Unvermittelt verstummte sie.

Ihre Mutter sagte nichts. Holly hatte ihr oberflächlich von den Ereignissen erzählt, die zu ihrer längeren Beurlaubung von ihrem Posten im Camp Ederle bei Vicenza geführt hatten. Ein US-Colonel hatte sie in einer unterirdischen Militäranlage eingekerkert und gefoltert, so viel wusste sie. Doch ihr war auch bewusst, dass es das Beste war, ihre Tochter nicht wegen Details zu bedrängen, es sei denn, sie wäre in der Stimmung, darüber zu reden.

Holly wandte sich wieder der Truhe zu und nahm den oberen Einsatz heraus. Darunter lag die »Formelle«, die Ausgehuniform ihres Vaters, ein olivgrünes Jackett mit vier Taschen mit Abzeichen und Schulterklappen; dazu eine hellbraune Hose mit einem schwarzen Streifen entlang des Saums und eine bortenbesetzte Schirmmütze. Daneben lag eine kleine Schachtel voller Medaillen. Medaillen für besondere Leistungen und Verdienste, nicht so sehr Kampfauszeichnungen. Ihr Vater war ein gewissenhafter Offizier gewesen, der seinen Job und sein Land liebte und an es glaubte, ohne ein kämpferischer Krieger zu sein.

Unter den Medaillen fand sich eine Schärpe. Holly hob sie aus der Truhe. Sie war so geschnitten, dass sie um den Nacken befestigt wurde wie eine Weste, und sie trug eine Reihe von aufgestickten Symbolen: einen Zirkel, ein Winkelmaß und in der Mitte ein Auge. »Ich wusste ja gar nicht, dass Dad Freimaurer war«, entfuhr es ihr.

Nickend nahm ihre Mom ihr die Schärpe ab. »Oh ja. Er war bei den Oddfellows, ehe wir nach Europa gingen, und als wir dann im Camp Darby stationiert waren, trat er in eine Loge hier in der Nähe ein. Er sagte immer, es sei nur zu eurem Wohl – zu deinem und dem deiner Brüder.«

»Zu unserem Wohl? Warum das denn?«

»Er behauptete, es sei der ideale Weg, um die Einheimischen besser kennenzulernen. Ich glaube aber, dass er in Wirklichkeit einfach bloß gern in der Gesellschaft von Männern und Uniformen war. Als hätte er davon auf dem Stützpunkt nicht schon genug gehabt. Es war sein Freund Signor Boccardo, der ihn da eingeführt hat, glaube ich.«

»Boccardo …« Holly erinnerte sich an einen Nachbarn dieses Namens, einen Apotheker, dessen Tochter mit ihr in einer Klasse gewesen war. »Starb er nicht bei einem Autounfall?«

»Ja, so war es.« Ihre Mutter gab ihr die Schärpe zurück. »Willst du deinen Dad rasieren? Dr. Hammond wird bald hier sein.«

»Klar. Ich mach hier nur kurz fertig.«

An der Garagentür blieb ihre Mutter noch mal kurz stehen und warf einen Blick zurück auf die Stapel von Kisten und Truhen entlang der Wände. »Danke, dass du das tust, Holly. Ich hab nichts angerührt, seit wir wieder zu Hause sind. Ich kann einfach nicht sagen, welche von seinen alten Armysachen wichtig sind und welche man wegwerfen kann.« Sie schwieg einen Augenblick. »Nicht dass irgendwas jetzt noch wichtig wäre, schätze ich.«

Als sie gegangen war, widmete Holly ihre Aufmerksamkeit wieder der Truhe. Unter der Uniform fanden sich weitere Karten und Fotografien, von denen einige noch aus der Zeit vor Pisa stammten, als die Familie quer durch Europa gezogen war, weil ihr Vater alle paar Jahre an einen neuen Stützpunkt versetzt worden war. Sie zog ein Foto von ihren Eltern bei einer Tanzveranstaltung heraus. Sie sahen so jung und sorglos darauf aus. Deutschland, vermutete sie. Dort hatten sie sich kennengelernt.

Sie griff erneut in die Truhe und bemerkte eine leichte Erhebung im Innenfutter aus Baumwolle. Der Stoff war alt und verwittert, und als sie ein zweites Mal tastete, zerriss er. Ihre Finger schlossen sich um einen Packen Papier, und sie fasste tiefer hinein, damit sie ihn herausziehen konnte.

Das Erste, was sie sah, war die Kopie eines Gedichts. Sie glaubte das Schriftbild der klapprigen alten elektrischen IBM-Schreibmaschine ihres Vaters zu erkennen.

Städte und Throne und Mächte

dem Auge der Zeit untersteh’n,

beinahe so lange wie Blumen,

die täglich vergeh’n:

Doch wenn neue Knospen erblüh’n

der glücklichen Menschenherd’

neue Städte ersteh’n

aus verbrauchter, unbedachter Erd’.

Des Frühlings Narzissen

niemals hör’n

welch segreicher Wandel, welch eisiger Kuss

die des vergang’nen Jahres zerstör’n.

Doch mit kecker Kühnheit beseh’n

und in ihrer Unwissenheit

betrachten ihr siebentäg’ges Besteh’n

sie als eine Ewigkeit.

Das Gedicht stammte von Kipling, einem seiner Lieblingsautoren. Ihre Familie und sie verdrehten in der Regel die Augen, wenn er es wieder einmal vortrug, doch das hatte ihn nie davon abgehalten, es dennoch zu tun.

Auf dem nächsten Blatt waren ein paar kurze Paragrafen zu sehen, getippt auf derselben Schreibmaschine.

Betreff: Angehängtes Memorandum

Das vorliegende Memorandum führt Bedenken aus, die von einem italienischen Zivilisten an mich herangetragen wurden, einem Mitbruder der Aristarchus-Loge in Pisa. Diese betreffen die Überreste eines geheimen NATO-Netzwerks mit dem Decknamen »Gladio«.

Da das Netzwerk mit seinen Befehlshierarchien im Jahre 1990 unerwartet aufgelöst wurde, war ich mir nicht sicher, an wen ich mich mit diesem Anliegen wenden sollte. Ich habe das Memorandum daher an einen mir bekannten Offizier des US-Geheimdienstes weitergereicht – dieser war schon zuvor an der Neutralisation terroristischer Organisationen wie den Roten Brigaden beteiligt –, in der Hoffnung, er möge es an diejenigen weiterleiten, die sich der Sache annehmen können.

Diese Kopie lege ich zur Sicherheit hier ab.

Major Edward R. Boland

12. März 1991

Das Memo selbst bestand aus drei zusammengetackerten Seiten. Es war mit einem roten »KOPIE«-Stempel und folgendem Vermerk versehen:

Streng vertraulich.

Sie schlug die erste Seite auf.

Seit der öffentlichen Enthüllung von Operation Gladio im Oktober vergangenen Jahres arbeiten wir, die wir vonseiten der NATO involviert sind, mit Hochdruck daran, das Netzwerk aufzurollen und die operativen Mittel zurück in die Hände der Alliierten zu legen. Nichtsdestotrotz wurde ich erst kürzlich auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass einige ehemalige Gladio-Agenten sich diesem Prozess nicht nur widersetzen, sondern sich möglicherweise sogar neu formieren, indem sie sich in den Schutz von Freimaurerlogen begeben.

»Holly?« Ihre Mutter rief sie vom Haus aus.

»Bin schon unterwegs«, antwortete sie. Sie blätterte weiter zur nächsten Seite, überflog den Text, dann legte sie das Dokument wieder zur Seite. Ihr Vater hatte also mit der berühmt-berüchtigten Operation Gladio zu tun gehabt, einer der seltsamsten und kontroversesten Episoden in der Nachkriegsgeschichte Italiens. Schon in ihrer Jugend war sie sich der Tatsache bewusst gewesen, dass er über gewisse Dinge nicht sprechen konnte, doch war ihr nicht klar gewesen, dass er sich auch mit Geheimdienstangelegenheiten auseinandergesetzt hatte.

Sie ging ins Haus und betrat das Zimmer, das früher als Esszimmer der Familie gedient hatte. »Hi, Dad«, sagte sie. »Stell dir vor, ich habe gerade dieses Memorandum gelesen, das du geschrieben hast, damals vor langer Zeit. Und ich habe sämtliche meiner Urkunden und Auszeichnungen von der Pisa Highschool gefunden.«

Von seinem Bett am Fenster aus sah ihr Vater sie mit düsteren, beunruhigten Augen an. Sie trat ins Zentrum seines Blickfeldes, damit er sie besser sehen konnte.

»Und diese Zeichnung von der Piazza Martraverso hat in mir so viele Erinnerungen geweckt. Weißt du noch, die Eisdiele an der Ecke? Die hatten ein Eis mit Mandarinengeschmack. Ich würde immer noch schwören, dass es das beste war, das ich je gegessen habe.«

Er starrte sie weiter nur schweigend an.

»Ist es okay, wenn ich dich jetzt rasiere?« Sie wartete auf seine Antwort, und als nichts kam, fuhr sie fort: »Ich lass schon mal das Wasser laufen, damit es warm wird.«

Mit dem Rasierer kratzte sie ihm die weißen Barthaare vom Kinn. Das ließ sie an all die Male denken, da sie als Kind sein stoppelig-raues Gesicht geküsst hatte, wenn er nach einem langen Arbeitstag spät nach Hause gekommen war. »Wenn du dich ein bisschen nach rechts drehen würdest …« Sie griff um ihn herum und widmete sich der anderen Gesichtshälfte. »Kein Problem. Wir kriegen das schon hin, stimmt’s?«

»Es ist gut, dass Sie mit ihm reden«, sagte eine leise Stimme in ihrem Rücken.

Sie blickte auf. Dr. Hammond stand in der Tür. Er war jung und hübsch, was sie stets aufs Neue überraschte. Seit wann waren Ärzte denn kaum älter als sie, ganz abgesehen davon, dass er auch noch gut aussah? Aber er war nun schon seit fast fünf Jahren der Hausarzt ihres Vaters.

»Käme mir respektlos vor, wenn ich es nicht täte. Außerdem haben Sie doch selbst gesagt, dass er möglicherweise mehr versteht, als es den Anschein hat.«

»Die Chance ist minimal«, rief er ihr in Erinnerung. »Es gibt zwar Schlaganfallpatienten, die am Locked-in-Syndrom leiden, doch sind auf den Scans Ihres Vaters erhebliche Gefäßschäden an der rechten Gehirnhälfte zu erkennen. Selbst wenn er einiges von dem, was nach seinem ersten Anfall zu ihm gesagt wurde, mitbekommen haben sollte, ist es unwahrscheinlich, dass dies immer noch der Fall ist.«

»Trotzdem«, beharrte sie. Sie drehte sich wieder zu ihrem Vater um und wischte ihm das Gesicht behutsam mit einem Handtuch ab. »So, fertig. Dr. Hammond kümmert sich jetzt um dich, und danach komme ich wieder, und wir plaudern noch ein bisschen, ja?«

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Als sie sich erhob, sagte sie noch: »Dann überlasse ich Ihnen das Feld.«

Während Dr. Hammond sich an die Arbeit machte, wusch sie den Rasierer unter fließendem Wasser ab. Dabei kam ihr ein Gedanke.

Sie ging in die Küche, wo sie ihre Mutter vorfand. »Dieser Nachbar, von dem du da gesprochen hast – Signor Boccardo, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Wann genau ist das passiert? War das in etwa um die Zeit, als Dad krank wurde?«

»Oh.« Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Diese schreckliche Sache. Ja, das war kurz bevor dein Dad krank wurde. Er war ziemlich aufgewühlt deswegen, soweit ich mich erinnere. Er mochte Signor Boccardo sehr gern.«

Wieder zurück in der Garage, kramte Holly noch einmal das Memorandum ihres Vaters hervor und ging es ein weiteres Mal durch. Nur dass sie es diesmal viel sorgfältiger las auf der Suche nach dem Namen, der ihr zuvor zwar aufgefallen war, den sie aber nur am Rande registriert hatte.

Da war er.

Es war Gianluca Boccardo, ein Nachbar und guter Freund von mir, der mich wegen eines regen Zuflusses neuer Mitglieder zu unserer Loge als Erster ansprach. Er fragte mich, ob ich ihm als amerikanischer Offizier sagen könne, ob irgendwas dran sei an dem, was einige von ihnen behaupteten …

Ein weiterer Gedanke, diesmal ein noch viel schwerwiegenderer, kam ihr in den Sinn und traf sie wie ein Schlag vor den Kopf. Durch die Garagentür sah sie, wie Dr. Hammond auf sein Auto zuging. »Doktor?«, rief sie. »Haben Sie eine Minute für mich?«

»Selbstverständlich, Holly.« Sein Lächeln wirkte freundlich. Zum ersten Mal überhaupt wurde ihr bewusst, dass er vielleicht an ihr interessiert sein könnte, wenn auch nur ein bisschen.

»Beantworten Sie mir doch bitte eine hypothetische Frage, ja? Ist es möglich – also zumindest rein theoretisch –, einen Schlaganfall bei jemandem auszulösen?«

»Tja, wenn ein Mensch trinkt, raucht oder an hohem Blutdruck leidet …«

»Ich rede nicht vom Lebensstil dieser Person«, unterbrach sie ihn. »Aber sagen wir mal, auf jemanden träfen diese Risikofaktoren zu. Gibt es irgendeine Substanz oder ein Medikament, das einen Schlaganfall herbeiführen könnte?«

Er dachte nach. »Warfarin, denke ich. Man benutzt es zur Beseitigung von Ratten, und manchmal wird es Leuten verschrieben, die Probleme mit der Blutgerinnung haben. Doch kein Arzt würde Warfarin einem Patienten verordnen, bei dem die Gefahr einer intrazerebralen Blutung gegeben ist.«

»Weil diese Risikofaktoren in den medizinischen Akten auftauchen, nicht wahr? Man würde sich hüten, derlei Medikamente zu geben.«

Er nickte. »Ganz genau.«

Oder auch nicht, dachte sie.

Denn anhand der ärztlichen Behandlungsunterlagen konnte man jederzeit herausfinden, was einen bestimmten Patienten umbringen würde.

Diese Möglichkeit war unvorstellbar, doch da ihr der Gedanke nun mal gekommen war, ließ er sich nicht mehr leugnen. Ihr Vater und sein Freund waren da über etwas gestolpert, etwas, das ihr Vater als schwerwiegend genug erachtet hatte, um es an seine Vorgesetzten weiterzuleiten. Binnen kürzester Zeit war Boccardo tot gewesen, und ihr Vater hatte einen Schlaganfall erlitten.

Jemand hatte beschlossen, sie beide zum Schweigen zu bringen. Und der Grund dafür war das, was sie hier in Händen hielt.

5

»Die Autopsie werden wir frühestens morgen durchführen können«, erklärte Dr. Hapadi entschuldigend, während er die beiden Beamtinnen der Carabinieri durch die Leichenhalle führte. »Wir hatten vergangene Nacht zwei Todesfälle im Krankenhaus, die haben Priorität.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Kat. »Eigentlich sind wir ja hier, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Dachte ich mir fast«, erwiderte der Pathologe leise. »Gehen wir rein.«

Er führte sie in sein Büro, das direkt neben der Leichenhalle lag und fast genauso kalt war. Durch die gläserne Trennwand konnte Kat sehen, wie Spatz von der Spurensicherung sich eben mit einer Kamera über den Leichnam beugte und Fotos vom Gesicht des Opfers machte. Diese Bilder, so wusste sie, würde man über ein Spezialprogramm auf Google Image Search hochladen, in der Hoffnung, dort einen Treffer zu landen. Das würde ihnen eine offizielle Identifizierung nicht ersparen, wäre aber immerhin ein Anfang.

Hapadi reichte eine Faxseite an Kat weiter. »Ich habe mich vorhin mit unserem ehrwürdigen Meister unterhalten. Das sind die Namen sämtlicher Mitglieder unserer Loge.«

»Wie lange sind Sie schon bei den Freimaurern?«, erkundigte Kat sich, während sie die Liste überflog.

»Bald sieben Jahre. Die Leute machen sich völlig falsche Vorstellungen von uns, wissen Sie. In erster Linie leisten wir nämlich wohltätige Arbeit. Und seit Anselmi ist das auch kein Geheimnis mehr.«

Kat nickte. Das vor etwa zehn Jahren eingeführte Anselmi-Gesetz legte fest, dass jeder Klub und jede Gruppierung auf Verlangen eine Liste sämtlicher Mitglieder vorzuweisen habe. Somit wurden Geheimgesellschaften gewissermaßen illegal.

Ein Name stach ihr ins Auge, dann ein weiterer. »Meine Güte«, sagte sie. »Den kenne ich. Und den auch.« Unter den Mitgliedern waren mindestens ein halbes Dutzend leitende Beamte der Carabinieri. Sie blätterte um. Unter dem Buchstaben »S« war Generale Saito aufgeführt, ihr eigener generale di divisione und der Mann, der sie auf diesen Fall angesetzt hatte.

Hapadi nickte. »Es war Generale Saito, der mich in die Loge eingeführt hat. Major Flavigni war mein Bürge.«

Kat legte die Liste beiseite. »Aber das Opfer kennen Sie nicht?«

Der Pathologe schüttelte den Kopf.

»Gibt es neben Ihrer noch weitere Logen in Venedig?«

»Nicht dass ich wüsste.« Er zögerte. »Zumindest keine offiziellen.«

»Keine offiziellen? Was wollen Sie damit sagen?«

»Das Anselmi-Gesetz … Es kam bei einigen Freimaurern nicht so gut an. Manchmal ist die Rede von sogenannten ›wilden‹ Logen oder Winkellogen – Logen außerhalb des Grand Orient, des offiziellen Dachverbands der Freimaurer. Streng genommen haben sie keinerlei Recht, sich als Freimaurer zu bezeichnen, doch sie rechtfertigen es dadurch, dass sie behaupten, sie hingen einem älteren, strengeren Regelsystem an. Diese Sache von wegen Zunge rausreißen zum Beispiel – das ist schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr Bestandteil des offiziellen Eides.«

»Dass man ihm das angetan hat, deutet also womöglich darauf hin, dass unser Opfer tatsächlich Mitglied einer solchen Winkelloge war?«

»Ich schätze schon, ja«, erwiderte er zögernd.

»Und wie könnte ich eine solche Loge ausfindig machen, wenn es denn eine solche gibt in Venedig?«

Dr. Hapadi schüttelte den Kopf. »Ich wüsste niemanden, der Umgang mit solchen Leuten hätte.«

Einen kurzen Moment glaubte sie, etwas wie Furcht in den Augen des Arztes aufblitzen zu sehen. »Aber Sie haben vielleicht Gerüchte gehört?«, bohrte sie. »Klatsch und Tratsch? Aktuell wäre alles hilfreich.«

Er schien zu einem Entschluss zu kommen. »Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist. Aber es gibt da einen Mann, einen sehr reichen Mann, der sammelt freimaurerische Memorabilien. Wie ich hörte, kann er recht … aufdringlich sein.«

Das war in Kats Augen ein relativ geringfügiges Vergehen, doch da sie den Verdacht hatte, Hapadi könnte diesen Mann aus ganz anderen Gründen erwähnt haben, Gründe, die er lieber nicht preisgab, sagte sie lediglich: »Und wie lautet sein Name?«

»Tignelli. Conte Tignelli, um genau zu sein.«

Kat zog eine Augenbraue hoch. »Derselbe, der La Grazia gekauft hat?«