Folter - Jonathan Holt - E-Book + Hörbuch

Folter E-Book

Jonathan Holt

4,7
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Venedig hat einen neuen Star – Capitano Katerina Tapo ermittelt in ihrem zweiten Fall.

Die 16-jährige Mia Elston, Tochter des Kommandanten einer US-Militärbasis in der Nähe von Venedig, ist verschwunden. Capitano Katerina Tapo von der venezianischen Polizei und Holly Bolland vom US-Militär werden damit beauftragt, das Mädchen zu finden – und ihnen bleibt nicht viel Zeit. Über eine verschlüsselte Website tauchen Videos von Mia auf – auf einem Stuhl sitzend, gefesselt, nackt. Bildunterschriften besagen: »Laut den USA ist der Entzug sensorischer Reize keine Folter. Ist sexuelle Erniedrigung keine Folter. Ist Waterboarding keine Folter. Sehen Sie heute Abend um 21 Uhr, wie Mia Elston NICHT gefoltert wird.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 625

Bewertungen
4,7 (24 Bewertungen)
19
3
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die 16-jährige Mia Elston, Tochter des Kommandanten einer US-Militärbasis in der Nähe von Venedig, ist verschwunden. Capitano Katerina Tapo von der venezianischen Polizei wird damit beauftragt, das Mädchen zu finden. Bei den Ermittlungen stößt Kat auf der verschlüsselten Website Carnivia auf ein Video, das Mia gefesselt zeigt. Untertitelt ist das Video mit Texten aus einem geheimen CIA-Protokoll über Foltermethoden. Kat ist davon überzeugt, dass es den Entführern um etwas anderes geht als um Lösegeld, und bittet US-Lieutenant Holly Boland um Unterstützung. Und den beiden bleibt nicht viel Zeit, das Mädchen zu finden – denn die unbekannten Entführer drohen damit, das Mädchen zu foltern …

Autor

Jonathan Holt studierte Literatur in Oxford und ist heute Creative Director einer Werbeagentur. In seiner Studienzeit verbrachte er einen Sommer lang in Italien und verliebte sich in Land, Leute und das Essen. Seit dieser Zeit kehrt er jedes Jahr nach Italien zurück und bereist das Land. Jonathan Holt lebt in London.

Von Jonathan Holt außerdem erschienenMarter

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

JONATHAN HOLT

THRILLER

Deutsch von Bettina Spangler

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Abduction« bei Head of Zeus Ltd., London.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2015 im Blanvalet Verlag, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Jonathan Holt

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Getty Images / Paolo Gaetano Rocco; Getty Images / I love photography

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

wr · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-14436-4www.blanvalet.de

Für das Vorliegen eines gerechten Kriegs müssen drei Bedingungen zutreffen: die Autorität des Fürsten, gerechter Grund und rechte Absicht.

Thomas von Aquin, Summa Theologiae

PROLOG

Es war die wichtigste Nacht des Jahres, auch wenn man vergebens nach Werbung für das Event gesucht hätte – mit Ausnahme vielleicht von einigen obskuren Internetforen und Websites für besondere Vorlieben, wo man immer noch in ekstatischen Tönen schwärmte von den Erfolgen des Vorjahres. So begeistert wurde in der Regel nur über Finalspiele oder Rockfestivals diskutiert. Ganz gewiss würde man keinerlei Hinweis finden im offiziellen Programmheft des alljährlichen venezianischen Karnevals, auch wenn beides sowohl von der Grundeinstellung her als auch vom Timing in Zusammenhang stand. Viele der Teilnehmer waren eigens angereist; für sie war diese Nacht etwas, das den offiziellen Feierlichkeiten am nächsten kam.

Um Mitternacht war die sich über sechshundert Quadratmeter erstreckende Tanzfläche – und, was noch wichtiger war, die Reihe von schwach beleuchteten Zimmern dahinter – so gut wie leer. Doch bereits eine halbe Stunde später ging die Schlange von Leuten, die für die vom Management in weiser Voraussicht zur Verfügung gestellten Schließfächer anstanden, fast raus bis auf den Parkplatz. Dort glichen Sicherheitsleute im Smoking Namen mit Listen von Eintrittskartenbesitzern ab. Um ein Uhr war die zentrale Tanzfläche brechend voll.

Für jeden, der mit derlei Anlässen nicht vertraut war, musste das Ganze ein verstörendes Bild abgeben. Jeder Teilnehmer trug eine Maske, von der klassischen weißen Volto mit Dreispitz über die aufwendigeren Modelle, die die Strahlen der Sonne zum Vorbild hatten, bis hin zu dem vogelähnlichen Schnabel des mittelalterlichen Pestarztes oder der juwelenbesetzten Maske einer Kurtisane des achtzehnten Jahrhunderts war alles vertreten. Doch bei so gut wie jedem endete die Kostümierung an den Schultern. Von der Brust abwärts waren die Partygäste eher konventionell gekleidet; die Männer in schicken Hosen und teuer wirkenden lockeren Hemden, die Damen in kurzen Röcken und Oberteilen, ganz wie es der strenge Dresscode des Klubs verlangte.

Gegen zwei Uhr war der Grund hierfür endlich offensichtlich. Nach und nach wurden die Kleidungsstücke nun abgelegt. Frauen tanzten bis auf ihre Masken oben ohne. Männer tendierten in der Regel dazu, mehr anzubehalten, zumindest so lange, bis sie sich in die Menge der Leute einreihten, die in die kleineren Räume strömten. Dort hinten gab es noch weitere Bars, an denen man mit anderen Paaren ins Gespräch kommen konnte, ehe man seine Wahl traf. Der Großteil allerdings strebte direkt in die Spielzimmer, deren schwaches Licht farblich codiert war, um zu signalisieren, welchem besonderen Vergnügen man sich darin jeweils hingab. In einigen von ihnen kopulierten ganze Knäuel von Körpern, wieder und wieder, die Masken an Ort und Stelle. In anderen wiederum verhinderten die Masken die erhofften Freuden und wurden deshalb abgelegt.

In jedem der Zimmer standen stapelweise Handtücher und Schalen mit Kondomen in verschiedenen Geschmacksrichtungen sowie Pfefferminzbonbons bereit und erfüllten somit das Versprechen auf der Klub-Website, dass man tadellose Hygienestandards sowie die beste Musik, Beleuchtung und Atmosphäre in ganz Europa garantiere.

Die weibliche Gestalt mit der goldenen Colombina-Maske stand zögernd an der Tür zu einem der Spielzimmer. Darin vereinigten sich etwa ein halbes Dutzend Paare, die ganze Szene beleuchtet vom abgehackten Blitzlicht eines Stroboskops. Hinter der gefiederten Maske hatte sie die Augen weit aufgerissen und beobachtete das Geschehen.

Eine amüsierte Stimme flüsterte ihr ins Ohr: »Sollen wir uns zu ihnen gesellen?«

Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: »Das kannst du ruhig tun, wenn du möchtest. Ich werde bloß zusehen.«

Der Mann griff nach dem Saum ihres T-Shirts. »Dann nehmen wir doch wenigstens das hier ab.«

»Nein«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine, um ihm Einhalt zu gebieten. »Hab du nur deinen Spaß, wenn du willst. Aber nicht mit mir. So war die Abmachung, schon vergessen?«

Ohne einen einzigen Blick zurück machte sie sich auf den Weg zum nächsten Zimmer. In dem zitronengelben Licht knieten zwei Frauen in der Mitte eines Kreises von männlichen maskierten Gestalten. Das Mädchen sah eine Weile zu, dann ging es weiter.

Wieder ein anderer Raum lag vollkommen im Dunkeln: Ein Schild an der Tür lud diejenigen, die eintraten, dazu ein, ihre Kleidung abzulegen und sich ganz ihrem Tastsinn hinzugeben. Fast schon bedauernd wandte sie sich ab. An einer kleineren Bar blieb sie stehen und beobachtete eine langbeinige Blondine, die rücklings auf einem niedrigen Tisch lag, an dessen beiden Enden jeweils ein Mann saß. Einige Paare standen außen herum und sahen mit Drinks in den Händen zu.

»Hey, du Schöne.« Ein Mann mit dem kräftigen Oberkörper eines Bodybuilders, der ungewöhnlich braun gebrannt war für diese Jahreszeit, sprach sie in gebrochenem Englisch an. »Meine Ehefrau findet dich scharf.«

Mit einem knappen bedauernden Lächeln schüttelte sie den Kopf und machte sich auf den Weg zurück zur Tanzfläche. An einem Ende gab es ein Podest, auf dem zwei professionelle Tänzer, ein Mann und eine Frau, ununterbrochen ihre Show ablieferten. Ihre Körper glänzten von Öl und Schweiß. Die Brust des männlichen Tänzers war dürr wie bei einem Rockstar, doch zeichneten sich deutlich Muskeln ab. Sie sah ihm eine Weile zu und imitierte seine Bewegungen, während sie sich ganz dem pulsierenden Beat hingab.

»Hi.« Ein maskiertes Mädchen, das gerade mal ein paar Jahre älter war als sie, lächelte ihr zu. »Und, hast du Spaß?«, fragte sie.

»Und wie.«

Das Mädchen beugte sich näher zu ihr. »Brauchst du irgendwas Bestimmtes? Pillen, Koks, billige Zigaretten …«

»Hm, vielleicht ein paar Zigaretten.«

»Dann sprich mit ihm.« Das Mädchen deutete auf einen jungen Mann mit auffälligen blonden Dreadlocks und einer Trifaccia-Maske, der ein klein wenig abseits stand. »Was immer du brauchst. Der ist cool.«

Das Mädchen mit der gefiederten Colombina-Maske bedankte sich mit einem Nicken und machte sich dann auf den Weg zu dem jungen Mann. »Hey«, sagte sie ganz cool.

Er sah sich rasch um, öffnete eine Feuerschutztür und bedeutete ihr, nach draußen zu gehen. Sie tat, wie ihr geheißen, und als die kalte, neblige Luft sie traf, zitterte sie. »Wie ich höre«, setzte sie an, doch die Worte waren kaum über ihre Lippen, da packten sie auch schon zwei kräftige Arme von hinten und hielten sie fest. Die Karnevalsmaske wurde ihr vom Gesicht gerissen, und stattdessen stülpte man ihr eine Art Sack aus schwerem Stoff über den Kopf. Noch mehr Hände schlossen sich um ihre Waden, dann hob das zweiköpfige Team sie mit einer Leichtigkeit in die Höhe, als wäre sie eine Schaufensterpuppe, die man nur eben in ein anderes Fenster stellte. Sie spürte, wie sie vorwärtsgetragen und dann auf eine harte Unterlage gelegt wurde, die unter dem Gewicht ihrer Angreifer nachgab, als sie neben ihr hochkletterten und ihre Arme und Beine rasch mit etwas fixierten, das sich wie Plastikbänder anfühlte. Ich befinde mich im Inneren eines Vans, dachte sie. Sie haben mich in einen Van gesteckt. Das muss die Polizei sein. Dann, Sekunden später, traf sie die Erkenntnis, dass die italienische Polizei ihr niemals einen Sack über den Kopf gestülpt hätte. »Dad?«, fragte sie zögernd, ehe man ihr einen breiten Streifen Klebeband um Mund und Sack wickelte, sodass es selbst den spitzen Schrei erstickte, der ihr nun etwas verspätet entfuhr. Schreck und Panik durchzuckten ihre Glieder, doch obwohl sie wild um sich schlug und verzweifelt zappelte wie ein gestrandeter Fisch, war sie zu fest gefesselt, um sich befreien zu können.

Sie hörte Türen schlagen, dann setzte der Van sich in Bewegung. Das Ganze hatte weniger als dreißig Sekunden gedauert.

Eine Hand hielt sie fest, dann hörte sie eine männliche Stimme ganz nahe an ihrem Ohr, die ein paar Worte auf Italienisch sprach, ehe sie zu Englisch mit starkem Akzent wechselte.

»Halt still, Mia. Halt still, und ich verspreche dir, dir wird nichts geschehen.«

Er kennt meinen Namen, dachte sie, und diese Erkenntnis war noch weit erschreckender als alles, was bisher geschehen war. Sie spürte, wie ihre Eingeweide sich zusammenkrampften und wieder entspannten, und sie kämpfte erfolglos darum, die Kontrolle über ihre Blase zu behalten. Dann durchnässte eine süßlich riechende Flüssigkeit den Sack um ihre Nase herum, und sie spürte, wie die Dunkelheit sie umfing.

TAG EINS

1

Colonnello Aldo Piola von den Carabinieri in Venedig schreckte aus dem Schlaf hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Ganz in der Nähe flackerte im Dunkeln ein weißer Bildschirm, und über einen blechernen Lautsprecher war ein Popsong zu hören. Er erkannte die Melodie als eins von den Stücken, die sein neunjähriger Sohn in letzter Zeit hörte, ein Song von der amerikanischen Sängerin Pink, und sofort stimmte es ihn verdrießlich. Claudio musste zum Spaß seinen Klingelton geändert haben, oder aber – was viel wahrscheinlicher war, so dachte er, und sofort trat anstelle seiner Verärgerung ein Gefühl der Zuneigung und der Schuld – er hatte gehofft, so die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich zu lenken, wenn er arbeiten war.

Beim Sofa war kein Licht, daher nahm er den Anruf tastend im Dunkeln entgegen. »Pronto?«

»Colonnello, hier spricht Saito. Verzeihen Sie die Störung zu solch unpassender Stunde.«

Piola hatte keinen Schimmer, wie viel Uhr es war, doch wenn eine Sache ernst genug war, dass er einen Anruf von seinem Generale di Brigata erhielt, spielte die Zeit kaum eine Rolle. Daher sagte er nur: »Kein Problem.«

»Wir wurden gebeten, die Ermittlungen in einem Fall in Vicenza zu überwachen. Es wurden menschliche Überreste auf dem Gelände dieser neuen amerikanischen Militärbasis gefunden, die sich derzeit im Bau befindet.«

Piola entging keineswegs die sonderbare Verwendung der Worte »menschliche Überreste« anstelle von »Leichnam«. »Wer hat sie gefunden?«

»Ein Junge aus der Gegend, der sich bei irgendwelchen Protestaktionen beteiligt hat. Daher die unchristliche Zeit. Bedauerlicherweise steht denen da drüben niemand von Ihrem Rang zur Verfügung – Serti ist auf Fortbildung, und Lombardo ist anderweitig verpflichtet.« Saito zögerte. »Man ist der Ansicht, es sollte jemand Erfahrenerer sein, damit klar ist, dass wir die Sache ernst nehmen.«

Aha: Es ging also um eine politische Angelegenheit. Wenn das US-Militär involviert war, dann war es ja nicht weiter überraschend. »Und da wir schon bei Verpflichtungen sind, Ihnen ist vermutlich bekannt, dass ich derzeit mit einigen administrativen Angelegenheiten beschäftigt bin, die meine eigene Zeit in Anspruch nehmen.« Piola durchquerte den Raum und schaltete das Licht an, während er weitersprach. Sein Blick fiel auf das Sofa und die Bettdecke mit dem alten AC-Mailand-Bezug von seinem Sohn, auf einer der Lehnen stand der Wecker. Es war vier Uhr zweiunddreißig. Er griff nach seiner Hose, das Handy hatte er zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

»Ja, in der Tat. Um ehrlich zu sein, Aldo, deswegen dachte ich auch gleich an Sie. Ein schneller, professioneller Abschluss der Ermittlungen, taktvoll gehandhabt von einem erfahrenen Beamten, das ist es, was wir in dem Fall brauchen. Das Ganze sollte nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Und es würde nicht schaden, wenn die Amerikaner beim Dezernat für Interne Ermittlungen ein gutes Wort einlegen würden.«

»Verstehe. Vielen Dank.« Durch die geöffnete Tür bemerkte Piola eine Bewegung auf der anderen Seite des Flurs, ein Nachthemd, das sich hinter einem Türrahmen verbarg. Es war Gilda, seine Frau, die versuchte, sein Gespräch zu belauschen. »Generale«, fügte er hinzu, um klarzustellen, dass es um die Arbeit ging. Das Nachthemd verschwand wieder.

»Danke. Ein Wagen ist bereits auf dem Weg zu Ihnen. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, ja?«

Als Piola auflegte, war seine Frau bereits wieder ins Bett gegangen, die Tür fest hinter sich verschlossen. Sachte klopfte er an. »Ich muss weg«, sprach er durch die geschlossene Tür. »Wir sehen uns heute Abend, okay?«

Doch er erhielt keine Antwort.

Um seine Familie nicht weiter zu stören, ging er nach draußen und wartete auf der Straße, in der Hoffnung, der Fahrer hätte so viel Verstand, nicht mit heulenden Sirenen angefahren zu kommen. Der caìgo, jener Nebel, der Venedig und die umliegende Region Venetien um diese Jahreszeit in den meisten Nächten heimsuchte, war heute besonders dicht. Er war am Tag zuvor vom Meer her nach Venedig getrieben worden und dann die Kanäle und ihre kleineren Brüder, die rii, hochgekrochen; er war über Bürgersteige geglitten und über Türschwellen hinein in Kreuzgänge und Innenhöfe. Was um vier Uhr morgens als nichts weiter als ein schwacher Dunst begonnen hatte, verwandelte sich mit Einbruch der Dämmerung in ein dichtes Miasma wie aus einer anderen Welt, das den Klang der Kirchturmglocken dämpfte und sämtlichen Straßenlaternen einen diesigen Schleier verlieh. Gleichzeitig trat eine salzige, beklemmende Kälte auf, typisch für die Lagune, weshalb Piola den Reißverschluss an seiner Jacke fest verschlossen hielt. Normalerweise trug er bei Ermittlungen ganz gewöhnliche Kleidung, doch da er in diesem Fall mit dem US-Militär zu tun hatte, hatte er sich für die Arbeitsuniform der Carabinieri entschieden, bestehend aus dunkler Bundfaltenhose, perfekt polierten schwarzen Schuhen und dunkelblauer Windjacke. An den Schulterklappen trug er drei silberne Sterne über einem dreitürmigen Schloss. Nicht dass die Amerikaner beeindruckt sein würden von seinem Rang, aber es würde auch nicht schaden, den Amerikanern ins Gedächtnis zu rufen, dass die Carabinieri wie sie selbst eine militärische Organisation waren. Er klemmte sich seine Mütze unter den Arm und machte sich eine geistige Notiz, sie nicht zu vergessen, wenn er sie ablegte, so wie sonst immer.

Er hatte Glück: Der Wagen kam mit Blaulicht an, aber ohne Sirenen. Der Fahrer, Adelmio, war sogar so vorausschauend gewesen, Kaffee mitzubringen. Als Piola sich den Inhalt des winzigen Bechers in die Kehle goss, stellte er zu seiner Freude fest, dass es sich um einen corretto handelte, der mit einem ordentlichen Schuss Grappa versetzt war.

»Wer ist denn schon alles da?«, erkundigte er sich, während sie losfuhren.

»Dr. Hapadi, Colonnello. Er war in Bereitschaft. Und ein paar von unseren Leuten – ich glaub, es sind die ortsansässigen Jungs.«

»Wissen Sie irgendwas darüber?«

Adelmio zuckte mit der Schulter. »Nicht viel. Ein Skelett, wie ich gehört habe. Aber das lag auf der Baustelle, und es waren Demonstranten, die es gefunden haben, daher …«

Piola nickte zum Zeichen, dass er verstand. Die neue amerikanische Militärbasis, die derzeit auf dem Dal-Molin-Flugplatz entstand, war nur wenige Meilen von dem bereits existierenden Stützpunkt Caserma Ederle oder Camp Ederle entfernt. Es handelte sich um eines der größten Bauprojekte in Norditalien, das lediglich von den Sperrwerken in der venezianischen Lagune übertroffen wurde. Beide Projekte waren höchst umstritten, doch im Falle von Dal Molin war aus der anfänglichen Kontroverse rasch weit mehr geworden.

Viele Ortsansässige waren bereits alarmiert gewesen angesichts der hohen Anzahl an US-Militär-Einrichtungen rund um die Stadt, von den unterirdischen Raketenbunkern bis hin zu diversen Fahrzeughallen. Andere wiederum waren aufgebracht wegen der Tatsache, dass die Amerikaner es offenbar geschafft hatten, in der Planungsphase die üblichen Prozeduren zu umgehen, und auch weil sich ihre Präsenz allein auf geheime Abkommen stützte, die bereits während des Zweiten Weltkriegs getroffen worden waren. Im Jahr 2007 hatten hundertfünfzigtausend Menschen sich die Hände gereicht und eine symbolische Mauer um Vicenza gebildet – jene Stadt, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählte –, um zu demonstrieren, dass man sie verteidigen würde. Der Vorschlag, über die neue Basis ein Referendum abzuhalten, war mysteriöserweise in letzter Minute vom zuständigen Gericht zurückgewiesen worden. Dennoch ließen die Bürger von Vicenza sich dadurch nicht abschrecken und schworen, unbeirrt weiterzuprotestieren. Man wollte sogar ein dauerhaftes »Friedenslager« gleich neben der Baustelle errichten. Dies schien keinerlei Einfluss zu haben auf die Bauarbeiten, die den örtlichen Zeitungen zufolge in Rekordgeschwindigkeit zum Abschluss gebracht werden würden. Piola allerdings zweifelte nicht daran, dass man eine Untersuchung durch die Carabinieri auf beiden Seiten als bedeutendes Ereignis betrachten würde.

Wenn es sich tatsächlich um ein Skelett handelte – und dass Saito von »menschlichen Überresten« gesprochen hatte, deutete darauf hin –, dann konnte es genauso gut schon sehr alt sein, und in dem Fall wäre keine kriminaltechnische Untersuchung erforderlich. Derlei Skelette tauchten bei Grabungen in Venetien nicht eben selten auf, da die Gegend bereits vor der Zeit des Römischen Reiches dicht besiedelt war. Doch war Piola auch klar, dass ein Leichnam, den man im feuchten Boden dieses Landstrichs vergrub, sich binnen weniger Monate bis auf die Kochen zersetzen konnte. Daher betrachtete man bei der Mafia Baustellen schon seit Langem als bequeme Lösung, wenn man sich eines Opfers entledigen wollte. Und deshalb war es ratsam, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Die Fahrt dauerte an die vierzig Minuten. Sie verließen die menschenleere Autobahn A4 an der Ausfahrt Vicenza-West, dann rasten sie die Viale del Sole entlang.

Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, je weiter landeinwärts sie gekommen waren, daher konnte Piola ein paar Blicke auf den alten Flugplatz erhaschen, während sie sich ihm näherten. Das Gelände war so gut wie komplett mit Brettern umzäunt, die nur dazu einluden, mit Plakatanschlägen und Graffiti versehen zu werden. Antiamerikanische Slogans wie »Vicenza Libera!«, »No Dal Molin!« oder »Fuori Dalle Balle!« waren zum Teil überklebt mit Bannern, auf denen breit lächelnde Männer in smarten schwarzen Anzügen zu sehen waren. Es standen Wahlen an für das Regionalparlament, und diese Männer mit Gesichtern wie von Showmastern waren die Kandidaten. Doch Zufahrtstore und Abschnitte, die nur durch Ketten abgetrennt waren, erlaubten den gelegentlichen Blick auf das, was hinter der Abgrenzung lag. Gefurchte schlammige Pfützen, die aussahen wie gefrorene Meereswellen, waren Beweis dafür, dass die Bauarbeiten rasch voranschritten, genau wie die Gruppen von Metallkränen, die sich in den Nebel streckten. Doch was am meisten ins Auge stach, war der farbige Rauch in Grün, Weiß und Rot, der spiralförmig in den Himmel emporstieg und den Nebel selbst in eine riesige, leuchtende italienische Flagge verwandelte.

»Ich habe gehört, die Demonstranten lassen Leuchtgeschosse hochgehen«, sagte Adelmio. Er deutete auf ein blinkendes blaues Licht in der Ferne. »Das sind dann wohl unsere Leute.«

Und tatsächlich, an einem mit »Gate G« beschrifteten Durchlass im Bretterzaun trafen sie auf zwei geparkte Fahrzeuge der Carabinieri, eines mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein uniformierter Appuntato salutierte, als Piola aus dem Wagen stieg, doch es war ein Mann in der typischen grau-grünen Kampfmontur der Amerikaner, der sich nun in den Vordergrund drängte und ihn in ganz passablem Italienisch begrüßte.

»Colonnello Piola? Sergeant Pownall, Militärpolizei. Ich werde Sie zu der Stelle eskortieren. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden Sie das hier bitte überziehen?« Er reichte Piola eine leuchtende Sicherheitsweste, einen Schutzhelm und eine laminierte Karte an einem Band. Darauf standen die Worte »Besucher – Temporärer Ausweis«. Piola legte alles kommentarlos an, dann folgte er dem Mann zu einem wartenden Jeep.

Der Sergeant sprach erst wieder, als sie auf dem Weg waren und über den unebenen Untergrund rumpelten. »Es wurde nichts bewegt oder angefasst. Ihre Forensiker sind vor etwa einer Stunde eingetroffen.«

»Wann hat man die Überreste entdeckt?«

»Ungefähr um zwei Uhr dreißig. Es gab einen Sicherheitsverstoß – Demonstranten haben die Vorhängeschlösser an den Zufahrten geknackt und sich gewaltsam Zutritt verschafft. Die Tore sind alarmgesichert, und unsere Kameras verfügen über einen Nachtsichtmodus, daher sind wir für solche Vorfälle bestens gerüstet. Sie ließen diese Leuchtgeschosse hochgehen, wie man sie auch jetzt sieht, sprühten ein paar Graffiti, dann trennten sie sich. Zwei von ihnen haben sich an Kräne gekettet – die bereiten mir am meisten Kopfzerbrechen; wir werden Leute rufen müssen, die sich abseilen lassen, um sie loszuschneiden. Einen von ihnen haben meine Männer zu einem 319D verfolgt – das sind unsere größten Bagger. Bis sie ihn eingeholt hatten, hatte er bereits bei der Polizei angerufen und denen erklärt, er habe ein Skelett im Kipper entdeckt. Einer von ihnen kam dann, um nachzusehen, und wie sich herausstellte, hatte der Typ recht. Zumindest war da tatsächlich ein Skelett.«

Piola entging nicht, was er damit andeuten wollte. »Den Rest seiner Geschichte nehmen Sie ihm also nicht ab?«

»Nun, ich möchte Ihnen in Ihren Ermittlungen ja ungern zuvorkommen. Doch auf den Videoaufzeichnungen war unschwer zu erkennen, dass er zum Zeitpunkt des Einbruchs eine große Reisetasche bei sich trug. Es ist also gut möglich, dass er das Skelett mitgebracht hat, es eigenhändig in den Lastwagen verfrachtete und die Sache dann zur Anzeige brachte, in der Hoffnung, die Bauarbeiten so zu verzögern.« Pownall warf Piola einen Blick zu. »Nichts für ungut, Colonnello, aber die Mühlen der italienischen Bürokratie mahlen bekanntlich äußerst langsam, und es wäre nicht das erste Mal, dass unsere Gegner uns durch Behördenkram auszubremsen versuchen. Daher wollten wir auch sichergehen, dass die Carabinieri die Ermittlungen hier übernehmen und nicht die Staatspolizei. Denn Ihre Leute können am ehesten nachvollziehen, dass wir es hier mit einem militärisch straffen Zeitplan zu tun haben.«

Piola entschied, nicht direkt darauf einzugehen. »Sind die Demonstranten zuvor schon mal eingebrochen?«

»Negativ – dies ist das erste Mal seit Beginn der Transformation.«

»Trasformazione?«, wiederholte Piola auf Italienisch.

Pownall zuckte die Achsel. »So bezeichnet das Konsortium es. Schätze, Sie werden schon noch verstehen, weshalb. Das hier ist weit mehr als ein gewöhnliches Bauprojekt.«

Tatsächlich sah Piola immer noch recht wenig. Während der Fahrt ließen zerfetzte Nebelschwaden das Scheinwerferlicht des Jeeps grau erscheinen. Er glaubte zu ihrer Linken durch eine Lücke im Nebel ein paar Planierraupen zu erkennen, doch er hatte sich offenbar getäuscht: Es dauerte noch mindestens eine Minute, ehe der Jeep neben ihnen anhielt.

Während er Sergeant Pownall zu den Fahrzeugen folgte und sich vorsichtig durch den Matsch kämpfte, um sich seine Schuhe nicht zu ruinieren, wurde ihm klar, weshalb er sich so getäuscht hatte in den Entfernungen. Die Maschinen waren riesig – mindestens zweimal so groß wie gewöhnlich, die Reifen allein waren mannshoch. Auf die Tür des nächstgelegenen Fahrzeugs hatte jemand ein Graffito gesprüht – ein runder Kreis mit einem A in der Mitte, genau wie das Symbol für Anarchie, nur dass zwischen den beiden Schenkeln des Buchstabens sich noch ein D und ein M drängten. Das Graffito war frisch, die schwarze Farbe noch nicht einmal getrocknet in der feuchten Luft.

Der Lastwagen war ebenfalls derart groß, dass Piola auf eine Leiter steigen musste, um in den Kipper hineinsehen zu können. Als er jetzt über den Rand linste, sah er zwei Gestalten in weißen Anzügen, die inmitten eines Schutthaufens kauerten und im Schein einer tragbaren Bogenlampe ein paar Knochen untersuchten. Piola konnte einen Schädel erkennen, der braun geworden war mit der Zeit, darunter die Rippenbögen eines Brustkorbs. Ganz in der Nähe, aber getrennt davon, lag ein Bein, an dem immer noch ein Fuß hing.

»Guten Morgen, Dottore«, grüßte er. Eine der Gestalten blickte auf.

»Ah, Colonnello. Ich nahm schon fast an, wir würden Sie nicht vor dem Frühstück zu Gesicht bekommen.« Hapadis Stimme klang gedämpft hinter der Maske.

»Ich bin mir nicht sicher, was ich hier überhaupt soll«, sagte Piola. »Ich meine, ich verstehe nicht ganz, warum nicht jemand von hier das untersucht. Was haben Sie zu berichten?«

Der Gerichtsmediziner zog die Maske herunter und streckte sich, um seinen steifen Rücken zu lockern. »Ich würde sagen, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, der Größe des Beckens nach zu schließen. Der DNA-Test wird dies bestätigen – wir werden mitochondriale DNA verwenden müssen, da uns nicht genügend Körperfett zur Verfügung steht für eine konventionelle Untersuchung.«

Piola nickte, auch wenn er kaum etwas von diesen kriminaltechnischen Details verstand. »Irgendeine Vorstellung, wie alt es ist?«

Ihnen war beiden klar, dass das die alles entscheidende Frage war, und als Hapadi jetzt antwortete, klang seine Stimme zurückhaltend. »Tja, ich bezweifle, dass es aus vormittelalterlicher Zeit stammt. Doch ist es auch nicht ganz frisch – dafür sind die Verfärbungen zu gleichmäßig. Es gibt ein paar Faserrückstände, die hilfreich sein könnten, möglicherweise von einer Kakijacke, und wir haben da eine interessante Verkrümmung des linken Handgelenks, die auf eine Zeit hindeuten würde, als man noch nicht gegen Polio impfte – dann hätte er im Übrigen eine auffällige Verstümmelung an der linken Hand gehabt. Um ehrlich zu sein, ein Skelett zu datieren, ist eine Aufgabe für Spezialisten. Ich werde jemanden finden müssen, der sich mit den Tests besser auskennt als ich.«

»Irgendeine Idee, wie es hierhergekommen sein könnte?«

»Sieht so aus, als hätte es jemand hier reingeworfen – die Knochen liegen oben auf dem Erdaushub und nicht darunter. Die Wucht des Aufpralls hat dann dafür gesorgt, dass sich der Oberschenkelknochen vom Becken gelöst hat, wie ich annehme.«

»Es könnte also erst vor wenigen Stunden hier reingeworfen worden sein?«

»Möglich. Mir ist klar, dass so die aktuelle Hypothese aussieht.« Piola entging nicht die Erschöpfung in der Stimme des Mediziners. »Doch das sollte sich recht einfach nachweisen lassen.«

»Und wie, Dottore?«

Hapadi ging wieder in die Hocke. »Sehen Sie hier, wie die Erde in die Beckenhöhle eingedrungen ist? Wenn man das Skelett hierhergetragen hätte, wäre ein Teil davon herausgefallen. Man hätte eine Spur an Krümeln hinterlassen. Wie bei Hänsel und Gretel.«

»Vielen Dank, das hilft uns schon weiter.«

Als Piola die Leiter wieder hinabstieg, fügte Hapadi noch hinzu: »Sie haben sich gar nicht nach der Todesursache erkundigt.«

Piola hielt inne. »Das liegt daran, dass ich nicht erwartet hatte, dass Sie mir das sagen würden können.«

»Unter normalen Umständen vielleicht nicht. Aber in diesem Fall ist das nicht weiter schwer.« Der Mediziner hob mit seinen weißbehandschuhten Händen den Schädel hoch und drehte ihn herum, sodass Piola das kreisrunde Loch sehen konnte, das direkt hinter der Stelle lag, an der das Ohr gewesen wäre. »Deshalb weiß ich auch, dass es nicht aus dem Mittelalter stammt, Colonnello. Solche Löcher gab es nicht, ehe Patronen erfunden wurden.«

2

Mia erwachte hinter einem warmen, angenehmen Schleier, der sofort zurückwich, kaum strömten die Erinnerungen an das Geschehene wieder auf sie ein. So ging das nun schon eine Weile, dass sie dank der Drogen, die sie ihr gaben, einschlief, dann erwachte, und ihre Panik durch den Nebel in ihrem Gehirn wieder an die Oberfläche trat, ehe sie zurück ins Vergessen sank. Wie lange das jetzt schon andauerte, konnte sie nicht sagen.

Sie erinnerte sich vage an einen fahrenden Van und daran, dass sie gespürt hatte, wie er von einer ebenen Schnellstraße auf eine holprige Landstraße abgebogen war. So wie es ihren Körper von einer Seite auf die andere geschleudert hatte, hatte sie angenommen, dass sie hoch in die Berge gefahren waren. Schließlich waren sie gewechselt auf etwas, das sich wie ein Feldweg anfühlte, da sie über Schlaglöcher gekrochen waren.

Sie war erneut weggedämmert und erst wieder aufgewacht, als der Van schließlich angehalten hatte. Türen schlugen, dann strömte kalte Luft herein, die sie an den Füßen spürte. Eine männliche Stimme sagte etwas, doch der italienische Dialekt war zu ausgeprägt, und derjenige sprach zu schnell, als dass sie seine Worte verstehen hätte können.

Ein zweiter Mann antwortete unmittelbar neben ihr – er musste die ganze Zeit hinten bei ihr gewesen sein. Hände hoben sie hoch, dann schoben die beiden Männer sie raus und trugen sie zwischen sich. Sie hörte, wie sie sich leise unterhielten – »lentamente«, »attenzione alla porta« –, fast so, als würden sie lediglich ein Möbelstück verrücken oder einen zusammengerollten Teppich tragen. Dann fand sie sich in einem kleinen Raum wieder, in dem es stark hallte. Die Stiefel der Männer schlurften über groben Boden, dann legte man sie auf einer Matratze ab.

Ein stechender Schmerz im Handgelenk beschwor erneut die Panik in ihr, bis der Schlaf sie aufs Neue übermannte.

Als sie erwachte, musste sie feststellen, dass man den Sack durch eine Brille ersetzt hatte – eine große Brille, fast wie eine Skibrille, nur mit abgedunkelten Gläsern. Sie bewegte ihre Hände. Die steckten in Handschellen. Galle stieg ihr in den Mund.

»Sieht so aus, als wärst du wach, Prinzesschen«, sagte eine Stimme auf Englisch mit starkem Akzent.

Eine Hand schloss sich um ihr Handgelenk – nicht grob, aber sie bewegte sich nicht wieder weg. Bei der Berührung, so zart wie ein Streicheln, zuckte sie zusammen, doch er fühlte lediglich ihren Puls.

»Okay«, sagte dieselbe Stimme schließlich. »Cominciamo.«

Sie sprach nicht viel Italienisch, doch das verstand sie, und vor Schreck war ihr Körper wie erstarrt.

Fangen wir an.

3

Während Piola die Leiter hinabkletterte, hörte er Stimmen laut werden. Er warf einen Blick über die Schulter und sah vier Leute unter der Bogenlampe stehen. Einer war ein junger Carabiniere, den Piola nicht kannte. Neben ihm standen Sergeant Pownall und ein großer, dicklicher Kerl im viel zu engen Businessanzug, zu dem er unpassenderweise ebenfalls eine Sicherheitsweste und einen Bauhelm trug, der ihm ein paar Nummern zu klein war. Die vierte Person war eine Frau.

»… weshalb ich die Überreste in situ untersuchen muss«, äußerte sie gerade mit Nachdruck. »Es gibt ganz klare Vorgehensweisen, wenn man Knochen ausgräbt, und der wichtigste Punkt lautet: nichts anfassen, ehe man alles durchsiebt und aufgezeichnet hat.«

»Tja, die Sache liegt nun in Händen der italienischen Polizei«, erklärte der dicke Kerl gerade.

»Genauer gesagt in denen der Carabinieri«, bestätigte Piola, der sich jetzt zu ihnen gesellte. »Guten Morgen. Ich bin Colonnello Piola.«

Der gedrungene Typ trat einen Schritt vor und streckte ihm die fleischige Hand hin. Seine Leibesfülle setzte er erfolgreich ein, um die Frau abzuschirmen. »Sergio Sagese, Direktor der Transformation.« Auch wenn sein Italienisch fließend war, war da ein leichter Unterton, der Piola verriet, dass er eher daran gewöhnt war, amerikanisches Englisch zu sprechen. »Haben Sie alles, was Sie brauchen? Wir wollen Ihnen und Ihren Leuten für eine rasche Aufklärung mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln behilflich sein.«

»Vielen Dank.« Piola warf über Sageses Schulter hinweg einen Blick zu der Frau, die jetzt noch aufgebrachter wirkte. »Und Sie sind?«

»Dottora Ester Iadanza, forensische Archäologin.« Piola entging nicht der ungewöhnliche Gebrauch der weiblichen Endung auf -a. Üblicherweise nannte eine weibliche Medizinerin sich nämlich »Dottoressa«. Doch wie ihm bereits zu Ohren gekommen war, vermieden einige Feministinnen Letzteres, da man damit traditionell Frauen mit Universitätsabschluss oder Arztfrauen meinte. »Ich wurde diesem Bauprojekt zugeteilt«, fügte sie hinzu. »Zumindest theoretisch.«

»Lediglich in den vorbereitenden Phasen«, warf Sagese dazwischen. »Und wie sich herausstellte, war Ihre Anwesenheit hier gar nie wirklich nötig.«

Dr. Iadanza sprach Piola nun direkt an. »Es war eine der Bedingungen dafür, dass man mit den Arbeiten hier fortfahren durfte, dass man meinem Team Zutritt gewährte. Und da man sich uns gegenüber kein bisschen kooperativ gezeigt hat, haben wir nicht eben viel gefunden, was wohl keinen überrascht.«

»Dachten Sie denn, Sie könnten hier fündig werden?«, erkundigte Piola sich neugierig. »Mir war nicht bewusst, dass diese Gegend hier von besonderem Interesse sein könnte.«

»In der Archäologie geht es nicht ausschließlich um die Frühgeschichte, Colonnello. Dieser Flugplatz wurde während des Zweiten Weltkrieges sowohl von der italienischen als auch von der deutschen Luftwaffe genutzt. Alles, was damit in Zusammenhang steht, könnte für einen Historiker von großem Interesse sein.«

»Und was genau ist es, was Sie sich in diesem Fall erhoffen?«

»Ich würde die Überreste gerne untersuchen und den Boden, in dem sie gefunden wurden, durchsieben, und zwar Quadratmeter für Quadratmeter«, erwiderte sie ohne Umschweife. »Und wenn irgendetwas darauf hindeutet, dass die Knochen von einem anderen Teil des Geländes stammen, will ich dasselbe auch an der Stelle tun.«

»Es gibt aber doch keinerlei Hinweis darauf …«, setzte Sagese an, doch Piola schnitt ihm das Wort ab.

»Sprechen Sie mit Dr. Hapadi. Er hat bereits den Wunsch geäußert, in diesem Fall einen Experten zurate zu ziehen. Wenn er nichts dagegen hat, soll es mir recht sein.«

»Vielen Dank. Dann ziehe ich meinen Overall über.« Sie wandte sich ab und eilte durch den Nebel davon.

Sagese räusperte sich, obwohl das Geräusch, das aus seiner Kehle kam, eher wie ein Knurren klang. »Das wird doch keine Auswirkungen auf die Bauarbeiten haben, Colonnello, nicht wahr?«

»In welcher Hinsicht?«, hakte Piola nach.

Sagese riss den Arm hoch, um auf die Uhr an seinem wulstigen Handgelenk zu sehen. »In exakt fünfundsiebzig Minuten kommt die nächste Schicht aufs Gelände. Ich will nur sichergehen, dass kein Hindernis meine Männer davon abhalten wird, wie gewohnt ihrer täglichen Arbeit nachzugehen.« Bei dem Wort »Hindernis« lächelte er verächtlich.

In Sageses Augen, so nahm Piola an, war gewiss jegliche Ermittlungsarbeit der Carabinieri, die länger als wenige Minuten dauerte, ein ebensolches störendes Hindernis. »Vorerst wird sich nicht vermeiden lassen, dass sie dem Gelände fernbleiben«, erklärte er deshalb nun höflich. »Sobald ich mir selbst ein besseres Bild gemacht habe, werde ich es Sie wissen lassen, wie bald Ihre Leute die Arbeit wieder aufnehmen können.«

Sagese schüttelte entrüstet den Kopf. »Lassen Sie mich Ihnen nur kurz erläutern, womit wir es hier zu tun haben, Colonnello. Dieses Projekt umfasst den Bau von über vierhundert Gebäuden auf einem Gelände von mehr als fünfzig Hektar. Die Gebäude im östlichen Teil werden derzeit fertiggestellt, während wir hier im westlichen Teil mit den Fundamenten beginnen. Und jeder Tag, an dem die Arbeiten stillstehen, kostet uns eine halbe Million Dollar an Fixkosten und Strafen – die nicht zuletzt die italienische Regierung treffen, die das Projekt mitfinanziert und auf höchster Ebene in regelmäßigen Abständen auf den neusten Stand gebracht wird. Die Arbeit jetzt niederzulegen ist völlig indiskutabel.«

Angesichts des Tons, den der Mann anschlug, stieg in Piola die Wut hoch, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich dies nicht anmerken zu lassen. »Wir werden das so schnell erledigen, wie es uns möglich ist.«

»Was zum Teufel soll das heißen? Eine Stunde? Ein Vormittag? Ein Tag?«, wollte Sagese wissen, der jetzt sein Handy hervorzog und damit drohte wie mit einem Messer.

»Es ist zu früh, um das sagen zu können. Einstweilen möchte ich, dass Sie und all Ihre Leute das Feld hier räumen. Wer immer dieses Skelett auf den Kipper geworfen hat, könnte überall auf dem Boden Spuren hinterlassen haben, und die zertrampeln wir gerade.«

Als Sagese davonstapfte und bereits die erste Nummer ins Handy tippte, wandte Piola sich an den Carabiniere, der bis jetzt keinen Ton gesagt hatte. »Wie lautet Ihr Name, Sottotenente?«

»Panicucci.«

»Wissen Sie, wie man einen Tatort sichert, Panicucci?«

»Ja, Colonnello.«

»Dann übernehmen Sie das bitte. Hundert Meter Absperrband in beide Richtungen, und nur einen einzigen Durchlass. Carabinieri-Wachleute auf zwei Seiten, vorne und hinten. Jeder autorisierte Besucher muss sich an- und wieder abmelden, und gehen Sie sicher, dass jeder von ihnen einen Mikrofaser-Overall bekommt. Ganz gleich, ob diese Überreste nun neueren Datums sind oder nicht, sie sind nicht von allein in diesen Kipper geklettert. Und jetzt«, sagte er, wobei er sich zu Pownall umwandte, »möchte ich mich mit dem Demonstranten unterhalten, der die Sache zur Meldung gebracht hat.«

Das Wachhäuschen auf dem Gelände glich jedem anderen Wachhäuschen, in dem Piola je gewesen war – es war viel zu stark beheizt, und es roch nach Mikrowellenessen. Doch der Verhörraum, in dem der Demonstrant festgehalten wurde, schien gut ausgestattet, mit einem Tisch und Stühlen, die fest mit dem Boden verschraubt waren, dicken, massiven Eisenstäben vor den Fenstern sowie einer Überwachungskamera, die hinter einem Schutzgitter montiert war. Offensichtlich machte die US-Militärpolizei keine halben Sachen.

»Bringen Sie mir seine Tasche«, gab Piola Anweisung. »Und alles, was er sonst noch bei sich hatte.«

Der amerikanische Wachmann zögerte, ließ ihn dann aber ganz wie von Piola beabsichtigt mit dem Demonstranten allein.

»Luca Marchesin?« Der junge Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß, nickte. »Ich muss Ihre Personalien überprüfen.«

Er notierte sich alles auf seinem Notizblock. Das Geburtsdatum lag zu seiner Verblüffung gar nicht so lange zurück, er war nur neun Jahre jünger als sein eigener Sohn. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist, Luca.«

Luca zuckte die Schulter und tat ganz tapfer, auch wenn Piola so den Verdacht hatte, dass er sich nach den vielen Stunden, die er nun schon von den Männern in amerikanischer Uniform festgehalten wurde, gar nicht mehr so stark fühlte. »Fünf von uns sind um kurz nach zwei in der Nacht eingebrochen. Wir hatten alle verschiedene Aufgaben – meine war es, direkt ins Zentrum des Geländes vorzudringen und ein Zeichen zu hinterlassen, dass wir hier waren. Ich musste schnell sein – die von der Militärpolizei waren binnen Sekunden hinter uns her. Ich stieß auf den großen Bagger, daher kletterte ich die Stufen hoch, um die Tür zu besprühen. Und da sah ich es.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Ein Skelett, das in dem Kipper lag. Daher verständigte ich den Notruf.«

»Sie haben die Überreste nicht angefasst oder sie in irgendeiner Weise bewegt, oder?«

Für die forensische Untersuchung war es zwingend nötig herauszufinden, ob Luca irgendeinen Kontakt mit den Knochen hatte. Doch der Junge schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin nicht mal in die Nähe gekommen. Überprüfen Sie den Film auf meiner GoPro, wenn Sie möchten.«

Der Soldat war mit einer schwarzen Tasche und einem Tablett mit den Sachen des Jungen zurückgekehrt: eine Uhr, ein iPhone und eine kleine Videokamera an einem elastischen Band, ähnlich denen, wie Snowboarder sie trugen. Piola griff nach der Kamera. Sie war vollständig zerstört, das Gehäuse war fast komplett in zwei Hälften zerbrochen, und das Innenleben quoll heraus.

»Sieht so aus, als wäre Ihre Kamera ruiniert«, erklärte Piola in neutralem Ton.

Der junge Mann lachte hohl. »Sieht so aus, ja.«

Dann zog Piola den Reißverschluss der Tasche auf. Da drinnen fanden sich vier Sprühdosen, doch ansonsten war sie leer. Außerdem war sie absolut sauber, da waren keine Erdbrocken zu sehen, wie sie Hapadi zufolge aus dem Skelett herausfallen hätten müssen, wenn man es darin bewegt hätte.

»Dieses Graffito, das Sie da hingesprüht haben. ›ADM‹ – worum geht es da genau?«, erkundigte er sich, während er das Innenfutter nach außen stülpte, um es sich genauer anzusehen.

»Azione Dal Molin.« Luca warf ihm einen trotzigen Blick zu. »Unsere eben erst gegründete Gruppe. Das Einzige, was die Amerikaner wirklich verstehen, ist direktes Handeln. Und das ist es, was wir tun wollen.«

»Direktes Handeln? Einbruch und Sabotage meinen Sie? Was ist denn falsch an den legalen Formen des Protestes?«

Der junge Mann schnaubte verächtlich. »Protestmärsche, Petitionen, Demonstrationen – das hatten wir doch alles schon. Der Beschluss, dieses Land den Amerikanern zu überlassen, wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, von Berlusconi und seinen Kumpanen. Warum sollen wir das Gesetz respektieren, wenn unsere eigene Regierung es mit Füßen tritt?«

Piola sah den jungen Mann nachdenklich an. »Sie machen es mir ziemlich schwer, Luca. Einerseits behaupten Sie, nichts Falsches getan zu haben. Andererseits geben Sie zu, hier auf der Baustelle eingedrungen zu sein mit der ausdrücklichen Absicht, gegen das Gesetz zu verstoßen.«

»Ich hab es Ihnen doch gesagt. Sehen Sie sich meine Filmaufnahmen an.«

»Und ich habe Ihnen bereits erklärt«, sagte Piola und deutete auf die Kamera, »dass das nicht mehr möglich zu sein scheint.«

Auf Lucas Gesicht trat ein Lächeln. »Das dachten die Leute, die sie zerstört haben, wohl auch. Doch das hier ist keine gewöhnliche Videokamera, Colonnello. Dieses Teil lässt sich nämlich direkt mit dem Internet verbinden, über den persönlichen Hotspot auf meinem iPhone. Von der Sekunde an, da ich auf dem Gelände war, habe ich den Film auf der Facebook-Seite unserer Gruppe gestreamt.«

Von den technischen Details verstand Piola nichts, doch die Kernaussage war klar. »Können Sie mir das zeigen? Auf Ihrem Handy zum Beispiel?«

»Sicher.« Luca gab ein Passwort ein, dann legte er das Handy vor Piola hin und drehte seinen Kopf seitlich, um selbst sehen zu können. »Schon neunzigmal angeklickt. Nicht schlecht.«

Das Filmmaterial war immer wieder mal verschwommen, weil Luca, den man hinter der Kamera nicht sah, über Hindernisse kletterte, doch der Abschnitt, der sich bei dem Bagger abspielte, war deutlich genug. Ebenso deutlich wurde, mit welcher Gewalt man den Jungen zu Boden gezwungen hatte. Und auch der Teil, in dem eine bullige Gestalt – Piola war sich nicht sicher, doch er nahm an, dass es sich um Sergeant Pownall handelte – Luca die Kamera vom Kopf riss, sie auf den Boden legte und dann den linken Fuß mit dem schweren Stiefel hob, um draufzutreten, sodass das Bild zu einem flackernden visuellen Brei wurde. Das Ganze wirkte fast schon komisch. Es war genau die Sorte Film, die sich wie ein Lauffeuer im Internet verbreitete. Zumindest nahm Piola das an.

»Okay«, sagte er. »Bleiben Sie hier. Und versuchen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit, sich mit niemandem anzulegen.«

Dann ging er und suchte nach Sagese und Pownall.

»Nun? Hat der Junge schon gestanden?«, wollte Sagese wissen.

»Ich muss noch etwas überprüfen«, erklärte Piola. »Können Sie in der Zwischenzeit denjenigen herzitieren, der den Bagger gestern bedient hat? Und besorgen Sie mir auch seine Papiere, zusammen mit einem Plan, aus dem hervorgeht, wo er gearbeitet hat?«

Es entstand eine kurze Pause, ehe Pownall antwortete: »Selbstverständlich.«

»Gut. Ich erwarte Sie in etwa zwanzig Minuten zurück.«

Das Friedenscamp lag etwa fünf Minuten Fußmarsch entfernt, auf einem Stück Brachland weiter nördlich: Ein halbes Dutzend Wohncontainer war um drei Zelte herum gruppiert, die mit Regenbogenflaggen sowie Bannern mit der Aufschrift »No-Dal-Molin« dekoriert waren. Piola betrat das größte Zelt und traf dort auf das übliche Durcheinander, das mit langfristigen Protesten einherging – eine zusammengeschusterte Bühne, Poster, ein großer Industriekochtopf, in dem eine muskulöse Frau mit einem Nasenpiercing herumrührte. Doch war das Ganze auch ziemlich ordentlich und sauber, es gab sogar verschiedene Mülltonnen, die der Beschriftung nach für alle Arten von Recyclingmüll gedacht waren. Tische, die so aussahen, als hätte man sie aus einer Schule oder einem College stibitzt, beherbergten Laptops, Drucker und ein Gewirr an Kabeln. Trotz der frühen Stunde waren bereits einige Leute um die Computer versammelt.

»Guten Morgen«, sagte Piola an niemand Bestimmten gerichtet. Misstrauische Gesichter wandten sich ihm zu. »Ich würde gerne mit dem Verantwortlichen hier sprechen.«

»Hier ist keiner verantwortlich.« Die Stimme gehörte einem Mann mit Pferdeschwanz um die dreißig, auf dessen Schoß ein Mädchen saß.

»Dann unterhalte ich mich eben mit Ihnen«, sagte Piola. »Ihr Name?«

Der Mann kratzte sich am Ohr und entblößte so ein verblichenes Betty-Boop-Tattoo auf dem Unterarm. »Eins nach dem anderen. Ehe ich irgendwas sage, möchte ich gern Ihren Ausweis sehen, Colonnello. Falls es Ihnen nämlich entfallen sein sollte, Sie arbeiten für uns, nicht umgekehrt.« Ein paar der Beistehenden grinsten.

Piola bezweifelte stark, dass der Typ mit dem Pferdeschwanz je viel an Steuern beigetragen hatte, um die laufenden Kosten der Carabinieri zu decken, doch er senkte höflich den Kopf und zog seine Brieftasche hervor. »Gewiss.«

Der Mann schob das Mädchen von seinem Schoß herunter und notierte gewissenhaft Piolas Daten, ehe er seine eigenen Papiere zum Vorschein brachte. Daraus war zu ersehen, dass er Ettore Mazzanti hieß, dass er studierte und zweiunddreißig Jahre alt war.

»Recht alt für einen Studenten«, meinte Piola.

»Ich schreibe an meiner Doktorarbeit. Zum Thema ›Zersetzung der Zivilrechte durch die Polizei‹.«

Piola beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. »Wie ich hörte, waren Sie an der Protestaktion gestern Nacht beteiligt?«

»Das war ich.«

»Wären Sie wohl so freundlich, mir zu erzählen, worum es dabei ging?«

Mazzanti streckte die Hand nach einem Ordner aus. »Lesen Sie selbst, Colonnello. Unser Einsatzauftrag, Zeitplan, eine Liste von Zielen und Absichtserklärungen von sämtlichen Beteiligten. Oh, und Fotos von jedem von uns, aus denen hervorgeht, dass wir alle wohlauf und unverletzt waren, ehe wir da reingingen.«

Piola nahm den Ordner entgegen und blätterte ihn durch. Es war alles so, wie Mazzanti es beschrieben hatte. Da war sogar ein Brief von einer Anwaltskanzlei, in dem argumentiert wurde, dass der Einbruch in die Kategorie demokratische Protestaktion auf öffentlichem Gelände falle. »Dürfte ich den behalten?«, fragte er, da er zu seiner eigenen Verblüffung beeindruckt war. Dass sie ihre Aktion derart gewissenhaft dokumentiert hatten, schützte sie zwar nicht davor, dass man dem Fall nachging, doch würde es garantiert hilfreich sein, wenn sie sich je vor Gericht zu verantworten hatten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er je einer so gut organisierten Protestgruppierung begegnet war, wie die Azione Dal Molin es allem Anschein nach war.

»Colonnello Piola!«

Piola warf einen Blick über die Schulter. Ein Mann um die vierzig mit grauem Lockenkopf kam auf ihn zu. Piola konnte den Herrn nicht recht einordnen, auch wenn sein Verhalten darauf schließen ließ, dass sie sich schon einmal begegnet waren.

»Raffaele Fallici, Lega della Libertà«, fügte der Mann hinzu.

Jetzt wusste Piola, woher er ihn kannte. Es war kein Bekannter, nein, er hatte ihn im Fernsehen gesehen. Fallici war ein ehemaliger Blogger, der in die Politik gegangen war, ein selbst erklärter Mann des Volkes, der als Mitglied von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung zu einiger Bekanntheit gekommen war. Als er in der Folge seine eigene Partei gründete, verfolgte ihn der Ruf, als Demagoge zu agieren, der sich gegen Eigennutz und Korruption aussprach. Bei diversen Gelegenheiten hatte er darüber hinaus die Inkompetenz der Carabinieri kritisiert.

»Wie ich höre, untersuchen Sie die Schändung der Leiche hier«, sprach Fallici weiter.

»Ich untersuche den Vorfall, ja«, erklärte Piola unverbindlich.

»Haben Sie denn das nötige Personal? Behandeln die Verantwortlichen diesen Fall mit dem nötigen Ernst? Wir müssen sichergehen, dass dieses unglückselige Individuum im Tode den gleichen Respekt erfährt, auf den jeder italienische Staatsbürger ein Anrecht hat.« Fallici wandte sich halb den anderen Anwesenden zu. »Um ehrlich zu sein, war niemand überrascht zu erfahren, dass die für Dal Molin Verantwortlichen derart respektlos mit menschlichen Überresten umgehen«, sagte er etwas lauter. »Sie begegnen allen von uns, den Lebenden wie den Toten, mit Gleichgültigkeit, und zwar seit die Bürger von Vicenza ihre demokratische Opposition zu diesem Projekt deutlich gemacht haben.«

Zustimmendes Nicken, ein paar Fäuste wurden in die Luft gereckt.

»Was kann ich also für Sie tun, Signor Fallici?«, erkundige Piola sich erschöpft. Das Sofa zu Hause war nicht eben das bequemste Bett, deshalb hatte er schon vor Saitos nächtlichem Anruf nicht sonderlich gut geschlafen.

»Ich will nur sichergehen, dass man die ordentlichen Verfahren einhält«, erklärte Fallici mit Nachdruck.

»Natürlich.«

»Und damit meine ich«, fuhr er fort, als hätte Piola kein Wort gesagt, »dass das gesamte Gelände eingehend untersucht werden muss: von Umweltverbänden, Archäologen und Anthropologen, genau wie ursprünglich gefordert. Fragen, die von den Bauträgern bislang abgeschmettert wurden in ihrem ungebührenden Bestreben, möglichst rasch voranzukommen, werden nun vollständig beantwortet werden müssen.«

Jetzt wurde Piola klar, weshalb die örtlichen Carabinieri nicht sonderlich erpicht darauf gewesen waren, sich dieses Falls anzunehmen, und warum Saito jemand Erfahreneren wollte. Es ging nicht allein darum, dem Druck durch die Amerikaner standzuhalten, sondern auch sich ihrer Kritik zu stellen. Die Amerikaner mochten in Rom und Mailand über massiven Einfluss verfügen, doch hier vor Ort hatten sie nicht viele Freunde. Die Demonstranten hingegen waren offenkundig eine Partei, mit der man sich gutstellen sollte.

»Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche Art der Ermittlungen angemessen ist, Signor Fallici«, sagte er. »Aber seien Sie versichert, wir werden tun, was immer notwendig ist.« Zu seiner Erleichterung sah er, wie Panicucci jetzt mit einem Telefon in der Hand auf ihn zukam. »Ja, Sottotenente?«

»Es ist Generale Saito.«

Piola nahm den Hörer entgegen und ging nach draußen.

»Irgendwelche Fortschritte?«, erkundigte sich Saito.

»In gewisser Weise, ja«, erwiderte Piola, der sich fragte, was der Mann nach den wenigen Stunden erwartete. »Soll heißen, es sieht so aus, als hätten die Demonstranten nichts mit der Sache zu tun.«

»Gut. Aldo, ich wurde bereits fünfmal bezüglich dieses Falls angerufen, und dabei habe ich noch nicht einmal gefrühstückt. Ein Anruf kam vom verantwortlichen Kommandanten des Stützpunkts in Vicenza. Einer von unserem eigenen Generale di Divisione. Einer vom Bürgermeister und zwei von Regierungsbeauftragten in Rom, die so unglaublich wichtiggetan haben, dass ich absolut keinen Schimmer habe, wer die sind.«

Piola seufzte innerlich. »Wie Ihnen vermutlich bewusst ist, liegt das Problem darin, dass das Konsortium es überaus eilig hat, ihre Männer wieder an der Arbeit zu sehen. Doch zunächst muss ich feststellen, wie die Überreste in den Kipper gelangt sind. Und das wäre mir offen gestanden weit schneller gelungen, wenn man sich von Anfang an kooperationsbereiter gezeigt hätte, statt die Sache dem Jungen anhängen zu wollen, der sie zur Anzeige gebracht hat.« Er zögerte. »Es gibt da noch etwas, das Sie wissen sollten. Dieser Politiker, Raffaele Fallici, ist hier und redet von umwelttechnischen Untersuchungen, von rechtlichen Schritten …«

»Oh, das war zu erwarten. Wenn es um Wählerstimmen geht, sind die sofort zur Stelle. Und wir stehen wie so oft dazwischen. Halten Sie mich auf dem Laufenden, bitte, ja? Wäre schön, denen in Rom bald von Fortschritten berichten zu können.«

Als Saito aufgelegt hatte, wurde Piola klar, dass sein Vorgesetzter nicht über Fallicis Anwesenheit überrascht gewesen war. Er wurde das seltsame Gefühl nicht los, ein Schauspieler bei der ersten Probe eines Stücks zu sein, wo man ihm Zeile für Zeile vorsagte, ihn genau instruierte, wo er zu stehen hätte und wann er sich bewegen sollte, nur damit man später auf ihn deuten und sagen konnte: »Da. Seht ihr, was er getan hat?« Aber so lief das leider nicht eben selten – die ganz oben kümmerten sich viel eher darum, dass keiner ihnen irgendwelche Verfahrensverstöße anlasten konnte, als das eigentliche Verbrechen zu lösen.

Als er in den Wagen stieg und Schmutzflecken auf dem Teppich hinterließ, wurde ihm außerdem bewusst, dass er es doch tatsächlich geschafft hatte, im Laufe dieses Morgens seine verdammte Mütze zu verlegen.

4

Die Frau schlüpfte aus dem Bett und gab acht, den schlafenden Körper neben ihr nicht zu wecken. Sie ging ins Badezimmer. Mit geübtem Blick musterte sie die vom Hotel zur Verfügung gestellten Kosmetikartikel und griff dann nach einer Flasche Duschgel. Sieh einer an, Thé Vert von Bvlgari. Ihr Begleiter hatte in Bezug auf das Hotelzimmer offenbar keinerlei Kosten gescheut.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!