Der verschollene Schlüssel - Karsten Hoff - E-Book

Der verschollene Schlüssel E-Book

Karsten Hoff

4,8

Beschreibung

In der niedersächsischen Stadt Lüneburg geschieht ein versuchtes Tötungsdelikt. Was steckt dahinter? Die örtliche Kriminalpolzei ermittelt und kommt erst einmal nicht weiter. Das Opfer ist ein junger Mann aus Ghana. Der ermittelnde Beamte erfährt, dass eine abenteuerliche Flucht durch den halben afrikanischen Kontinent dahinter steckt. Der lange Weg nach Europa ist für den jungen Flüchtling durch Tod, Ausbeutung und Misshandlung gezeichnet. Selbst für einen erfahrenen Ermittler sind die Schilderungen kaum zu begreifen.

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In dem beschaulichen Lüneburg wurde Addae, ein junger Afrikaner aus Ghana, Opfer eines versuchten Tötungsdeliktes.

Erste Ermittlungen ergaben, dass es sich um immer wiederkehrende Auseinandersetzungen zwischen jungen Afrikanern handelte, die gefrustet in der niedersächsischen Kleinstadt gestrandet sind.

Aber was waren die tatsächlichen Hintergründe?

Der junge Mann aus Ghana nahm über Monate große Strapazen auf sich und ging teilweise durch die Hölle. Er verließ sein Heimatdorf, Yendi, um das gelobte Europa und letztendlich Deutschland zu erreichen. Allerdings war die Enttäuschung sehr groß. Nichts bewahrheitete sich von den Träumen, die man ihm ins Ohr gesäuselt hatte.

Als aber dann noch der Schlüssel zu seinem alten Leben verloren ging, war eine Rückkehr nicht mehr möglich.

Autor

Der Autor, Karsten Hoff, wurde 1961 in Hamburg geboren. Die Kindheit verbrachte er in Lübeck. Er kehrte allerdings berufsbedingt in seine Geburtsstadt zurück, wo er als Polizist arbeitet. Dieses ist nun bereits sein dritter Roman.

Ein Fremder ist ein guter Freund, den man noch nicht kennt.

Dichter Nebel lag über der kleinen Siedlung Ebensberg bei Lüneburg. Die Binnenschiffer auf dem nahegelegenen Elb-Seitenkanal konnte man noch deutlicher als sonst hören. Es war ein wenig gespenstisch, wenn lediglich diese Geräuschkulisse den Morgen erfüllte, während das Umfeld von einer weißen Dunstwolke umhüllt wurde.

Seit Jahren lebte Kriminaloberkommissar Kurt Bernhard in dieser Siedlung und fast jeder aus der Nachbarschaft kannte ihn mittlerweile. Auch sein Beruf war vielen kein Geheimnis mehr. So wurde Kurt auf der Straße oft entsprechend begrüßt – so auch an diesem Morgen: „Na, Herr Kommissar, wieder auf der Pirsch?“

„Jaja, kann man so sehen“, entgegnete der Kripobeamte etwas missmutig mit seiner kräftigen Stimme. Er war auf dem Weg zur Arbeit. Manchmal waren ihm diese Sprüche schon ein wenig lästig, denn es lief stets auf das Gleiche hinaus und so richtig sinnvoll kamen ihm diese Ansprachen auch nicht vor.

Insbesondere heute störte es ihn, da er in Gedanken mit einem interessanten Fall beschäftigt war. Noch ahnte er nicht, was alles daraus werden sollte und eigentlich war dieses Delikt der versuchten Tötung nicht komplizierter als die meisten anderen Verbrechen, die der über Jahrzehnte erfahrene Beamte schon auf seinem Schreibtisch liegen gehabt hatte. Aber dennoch spürte Kurt, dass dieser Fall brisanter sein sollte als die üblichen Kriminalfälle.

Mühselig schwang er sich auf seinen alten Drahtesel und arbeitete sich durch den Nebel in Richtung Polizeiinspektion. Der Weg durch den Wald war etwas anstrengend und Tage mit derartig mystischer Witterung drückten ihm immer aufs Gemüt. Kurt war kein besonders sportlicher Typ, wenngleich seine täglichen Radtouren den Anschein erwecken mochten – er war sogar vielmehr ein Anti-Sportler. Seine kräftige Statur lud auch nicht gerade zum Sport ein. Er war eher der gemütliche und herzliche Typ und es brachte ihn so leicht nichts aus der Ruhe.

Bei dem dichten Nebel, der besser zum schottischen Hochland gepasst hätte, kamen Kurt die Passanten wie aus dem Nichts entgegen: Erst kurz vor ihm tauchten sie unvermittelt auf. Einige von ihnen traf er jeden Tag fast an derselben Stelle. Dann kam auch schon mal ein gegenseitiges typisch norddeutsches „Moin“ über die Lippen.

An der Dienststelle angekommen, begrüßten ihn Kollegen auf dem Flur schon mit aktuellen Neuigkeiten zu seinem Fall: „Kurt, dein Opfer im Krankenhaus ist aufgewacht und ansprechbar.“

„Na, das ist ja mal was“, war seine prompte und kurze Antwort.

Nach der allmorgendlichen Besprechung seiner Abteilung machte Kurt Bernhard sich dann auch umgehend auf den Weg ins städtische Krankenhaus.

„Kann ich den Kombi nehmen oder ist der bereits belegt?“, fragte er seinen Abteilungsleiter.

„Nö, ist schon in Ordnung. Bist ja ohnehin bald wieder da, reden wird er wohl kaum. Wird ja sicherlich ’ne Routinesache“, kam brummelnd aus dem Büro.

Das Krankenhaus war nicht weit von der Inspektion entfernt; mit dem Auto gerade einmal fünf Minuten, aber die Parkplatzsuche würde vermutlich länger dauern. Kurt geriet dann auch noch in die morgendliche Rushhour und da in Lüneburg das Verkehrskonzept eher für die Radfahrer entwickelt wurde, schalteten die Ampeln an den Kreuzungen gegen seinen Zeitplan. Kurz vor dem Ziel musste der versierte Autofahrer dann auch noch einem querenden Eichhörnchen ausweichen.

„Mein lieber Mann, bist du lebensmüde oder was?“, pöbelte der Kommissar.

Der kleine Nager war allerdings schon verspielt an einem Baum hochgeklettert und schaute frech zu Kurt herunter, dann verschwand er schnell im Blattwerk.

Heute hatte der Beamte immerhin auf dem Krankenhausparkplatz Glück: Unmittelbar vor ihm fuhr gerade jemand aus einer Lücke, die er unverzüglich nutzte.

Das Krankenhaus lag direkt neben der Lüneburger Salztherme, einem beliebten Schwimmbad für Groß und Klein. Auf dem Parkplatz durchströmte die salzhaltige, aber zugleich mit Chlor versetzte Luft Kurts Nase. Das hatte so etwas von Wellness und er entspannte sich ein wenig – allerdings wurde er sofort beim Betreten der Klinik in die Realität zurückgeholt: Der penetrante Geruch nach Desinfektionsmitteln und das Bewusstsein, von Krankheit umgeben zu sein, ließen Betroffenheit und Beklemmung in ihm aufkommen.

Nach kurzer Befragung des Rezeptionspersonals fand der Oberkommissar zügig das Patientenzimmer seines Opfers. Es lag im fünften Stockwerk des architektonisch eher unästhetischen Betonklotzes. Allerdings war die Aussicht von dort über die Lüneburger Altstadt hervorragend – was den aus Ghana stammenden Addae Kwame zu diesem Zeitpunkt aber sicherlich nicht interessierte. Er war erst zwei Tage zuvor in die Notaufnahme eingeliefert und sogleich notoperiert worden.

Am Ufer der Ilmenau hatten Landsleute ihn aus unerklärlichen Gründen mit Stichen in den Bauchraum niedergestreckt. Zu seinem Glück war Addae kurz darauf von Passanten gefunden worden, die geistesgegenwärtig reagiert hatten. Das waren die einzigen Informationen, die Kurt bis zu diesem Zeitpunkt hatte – nun wollte er mehr wissen. Viel Hoffnung machte er sich nicht, aber in diesem Fall sollte es nun doch ganz anders kommen als erwartet.

„Guten Tag, Herr Kwame. Ich bin Kriminaloberkommissar Bernhard von der hiesigen Polizeiinspektion in Lüneburg. Ich bearbeite Ihren Fall“, begann Kurt förmlich das Gespräch. „Wie geht es Ihnen? Können Sie mich verstehen?“

Der schwerverletzte Mann aus Ghana sprach überraschend gut Deutsch und war zudem auch sehr gesprächig. Er begann mit seiner Geschichte von Anfang an.

*

Addae Kwame stammte aus dem Nordosten von Ghana. Die Stadt Yendi, in der er geboren und aufgewachsen war, hatte bis zum Jahr 2002 eine ganz besondere Stellung besessen: Sie war Hauptstadt der Dagomba gewesen, die noch heute eine große Autorität in Ghana besitzen. In Yendi befand sich auch der Königspalast – bis im Jahr 2002 etwas Schreckliches geschah.

In Ghana haben Hühner eine mystische Bedeutung. In vielen traditionellen Regionen, insbesondere im Norden des Landes, beantwortet das Orakel die großen Fragen des Lebens – häufig in Form eines Huhnes: Landet das Federvieh, wenn es geschlachtet wird, auf dem Bauch, so steht dies für ein „Ja“ und bleibt das Tier auf dem Rücken liegen, dann bedeutet dies ein „Nein“.

An jenem Tag, es war der 25. März 2002, kam der Vater des damals neunzehnjährigen Addae mit einem Huhn nach Hause, das an den Füßen und Flügeln zusammengebunden war.

„Woher hast du diesen Braten?“, fragte der grazil gewachsene junge Mann seinen Vater.

„Der König hatte Besuch von einem Missionar, der mit dem Tier und der Tradition nichts anfangen konnte, und so drückte er mir das Tier in die Hand“, kam als Antwort.

Es dauerte dann auch nicht mehr lange und das Huhn wurde geschlachtet. Ob das Tier nun auf dem Bauch oder Rücken verstarb, ist heute unbekannt, aber auf jeden Fall scheint das Schicksal dieses royalen Federviehs kein gutes Omen gewesen zu sein.

Nur wenige Tage später wurde der Palast in Yendi gestürmt, der König wurde geköpft und seine Familie wie auch seine Gefolgsleute wurden getötet. Darunter befand sich auch Addaes Vater, der ein Wächter des Regenten gewesen war. Die meisten Menschen aus dem Umfeld des getöteten Königs flohen aus der Stadt, nur wenige wagten den Schritt ins Ungewisse nicht. Darunter waren auch Addae und seine Familie. Bislang hatte der Name Kwame in Yendi Bedeutung gehabt, aber mit der Ermordung des Königs änderte sich dies schlagartig: Das Ansehen der Familie war dahin und die Meinung innerhalb der Familie zum Verbleib in der Region, wo der Frieden täglich auf kippeligen Beinen stand, sehr unterschiedlich. Insbesondere Addae dachte oft darüber nach, das Dorf zu verlassen, um sein Glück woanders zu suchen.

Seine Mutter dachte darüber aber anders und machte dies ihrem Sohn auch immer wieder unmissverständlich deutlich.

„Willst du das in dieser Situation wirklich deiner Familie antun?“

„Ich halte das hier nicht mehr aus! Dies ist nicht mehr meine Heimat. Es hat sich so viel verändert. Wir sind nicht mehr die angesehene Familie Kwame und es vergeht kaum ein Tag, an dem meine Geschwister nicht mit Häme bedacht werden.“

„Ja, wie stellst du es dir denn vor, wenn du nicht mehr hier bist? Wer soll denn dann noch auf deine Brüder und Schwestern aufpassen?“, entgegnete seine Mutter.

Addae blickte verschämt auf den Boden und malte mit seinem Fuß einen Kreis in den Sandboden. Erst nach einer kurzen Denkpause konnte er auf die Fragen seiner Mutter antworten: „Was kann ich denn hier noch ausrichten? Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt, die ganze Welt steht mir offen – soll ich für den Rest meiner Tage das Kindermädchen spielen?“

Er wusste, dass er seiner Mutter mit diesen Worten wehtat und sie mitten ins Herz traf, aber er sah nicht mehr ein, nur für seine Familie zu leben. Dafür identifizierte er sich viel zu wenig mit seiner Kultur. In der Mission hörte er einiges über weit entfernte Länder in Europa, die ihnen technisch und kulturell weit voraus sein sollten. Eine Entwicklungshelferin aus Deutschland brachte Addae ein wenig Deutsch bei und ließ ihn einige Bildbände über ihr Land durchblättern. Diese Eindrücke ließen ihn seitdem nicht mehr los.

Seine Mutter wandte sich wortlos von ihrem Sohn ab und ließ ihn traurigen Blickes mit seinen Gedanken alleine. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass zwischen ihnen ein Gedankenaustausch stattfand.

Gerade wollte er sich wieder zur Hütte begeben, da kam der Wachhund der Familie ihm mit wedelndem Schwanz entgegen. Er präsentierte in seiner Schnauze stolz ein von ihm erbeutetes Kaninchen und legte es Addae zu Füßen, als wolle er seinem Herrchen freudig ein Geschenk zum Zeichen seiner Zuneigung darbieten.

„Na, was hast du denn da für mich erbeutet, mein Lieber?“, lobte der Hundebesitzer dankbar sein Tier und streichelte über dessen Fell. Erst dann erkannte Addae das völlig verschmutzte Tier.

„Ach, du meine Güte – das ist ja ein Stallkaninchen unseres Nachbarn!“

Verstohlen schaute der junge Mann in alle Richtungen, verschwand dann hinter der Hütte an der Wassertonne und wusch das tote Tier erst einmal ordentlich ab. Danach schlich er, seinen stolzen Hund im Gefolge, zum Stall des Nachbarn und legte das leblose Kaninchen dort vorsichtig wieder in den Verschlag. In der Hoffnung, dass niemand etwas bemerkt hatte, verschwanden Hund und Herrchen wieder in Richtung eigenes Grundstück.

Ein paar Tage später traf Addae seinen Nachbarn auf der Straße und der berichtete ihm von dem Kaninchen: „Ich muss dir etwas Merkwürdiges mitteilen, Addae. Vor ein paar Tagen verstarb eines meiner Kaninchen und ich begrub das tote Tier in einiger Entfernung vom Stall. Nun stell’ dir vor: Gestern finde ich den Kadaver völlig sauber in einem der Kaninchenverschläge wieder. Ist das nicht komisch?“

„Das finde ich aber auch“, war die prompte Antwort, während Addae ein Lachen kaum unterdrücken konnte.

„Na, mach’s gut!“, verabschiedete sich der Nachbar und klopfte seinem Gegenüber auf die Schulter.

Schon vor langer Zeit hatte Addae Kontakt zu einem LKW-Fahrer namens Badu geknüpft, der regelmäßig durch Yendi fuhr, um Schrott von dort in die Hauptstadt Accra zu bringen. In nur wenigen Tagen wollte der junge Mann, der nicht viel älter als Addae war, wieder die Route fahren – und dieses Mal sollte er nicht alleine weiterfahren.

Alles war vorbereitet; das Wenige an Hab und Gut war schnell zu einem handlichen Paket zusammengeschnürt hinter der Hütte verstaut. In eine alte Kiste legte der junge Mann noch einige sehr persönliche Gegenstände und verschloss diese mit einem kleinen Vorhängeschloss. Diesen kleinen Schatz vergrub er unter einem Busch und den Schlüssel hängte er sich um den Hals. Für ihn war dieser Schlüssel ein Sinnbild dafür, dass er endgültig mit diesem Leben abschließen wollte.

Addae war zur großen Kreuzung inmitten von Yendi unterwegs, wo die großen Überlandstraßen aus allen Richtungen zusammenkamen. Dort befand sich ein großer Rastplatz – wobei man sich eine solche Raststätte nicht so vorstellen darf, wie man sie bei uns findet. Es gab dort ein paar wenige Hütten mit alten Stühlen und Trinkwasser, und wenn es gut lief, konnten die Rastsuchenden dort auch etwas zu essen bekommen. Dann und wann konnte man aus Fässern Kraftstoff tanken, aber das war auch nur sehr unregelmäßig möglich. Trotzdem trafen an dieser Kreuzung rund um die Uhr Kraftfahrer aus allen Himmelsrichtungen ein.

Hier strandete regelmäßig auch Badu mit seinem LKW für eine kurze Pause. Addae war schon vor Monaten mit ihm ins Gespräch gekommen und hatte ihm sein Vorhaben mitgeteilt. Seit der Unterredung mit seiner Mutter suchte er nun jeden Tag mehrfach diese Raststätte auf, um nach seiner Mitfahrgelegenheit Ausschau zu halten. Das beobachtete mit großer Sorge seine Schwester Eyram.

„Addae, was hast du vor?“, sprach sie ihren Bruder eines Abends an, als dieser wieder einmal mit seinem kleinen Reisepaket unterwegs war.

„Wie?“ Er fühlte sich ertappt, drehte sich um und schaute in das fragende und zugleich besorgte Gesicht seiner Schwester.

„Na, ich frage mich schon seit Tagen, was du mit deinem geschnürten Päckchen an dem Rastplatz der LKW-Fahrer willst. Eigentlich glaube ich ja die Antwort schon zu kennen, aber meine Hoffnung ist, dass ich mich irre“, erklärte Eyram.

„Ja“, begann Addae stotternd und suchte händeringend nach Worten. „Ich weiß auch nicht, wie ich es dir erklären soll …“ Er schaute in die verständnislosen und traurigen Augen der jungen Frau und bemerkte, dass er sich in einer verzweifelten Zwickmühle befand. Das machte ihn wütend.

„Was willst du hören?“, platzte Addae heraus. „Ja, verdammt noch mal! Ich hau’ ab. Für mich gibt es hier nichts mehr, was mich noch halten könnte. Dort draußen gibt es doch noch so viel und ich bin hier in Yendi wo sich alle nur um diese verdammte Thronfolge streiten und sich gegenseitig umbringen.“

Eyram schossen die Tränen in die Augen. Einerseits hatte sie Verständnis für ihren Bruder, aber andererseits wusste sie auch, dass sie ihn auf diese Weise für immer verlieren würde. Sie schaute ihn mit ihrem vertrauten Lächeln an, umarmte ihn und flüsterte in sein Ohr: „Ich verstehe dich – auch wenn es mir schwerfällt, dich ziehen zu lassen. Vergiss nie, woher du stammst, mein geliebter Bruder – und nun lass’ dein Glück nicht länger auf dich warten!“

Diese Worte bewegte Addae in seinem Herzen und er sollte sie auf immer in seinen Gedanken behalten. Es fiel ihm schwer, sich von seiner Schwester zu trennen, aber machte ihm auch Mut, dass wenigstens eine aus seiner Familie für ihn Verständnis hatte. Mit diesem Zuspruch setzte der junge Mann seinen Weg zu dem Rastplatz fort und er hatte das Gefühl, zu einem großen Abenteuer aufzubrechen, was ihm nun noch mehr Mut und Stärke verlieh.

An jenem Abend war an der Raststätte besonders viel Getümmel – fast wie auf einem Jahrmarkt. Da die Reisenden aus verschiedenen Regionen kamen, transportierten sie auch die unterschiedlichsten Waren. Viele waren bereits seit Wochen unterwegs und während der eine sich mit einem LKW fortbewegte, war ein anderer mit einer Kamelkarawane dort angekommen. Dementsprechend waren auf diesem Rastplatz auch die unterschiedlichsten Menschen zugange, teilweise auch sehr fremdartige. Und auch wenn alle hier das Ziel hatten, ein wenig zu rasten, schien Addae doch eher eine Aufbruchsstimmung zu verspüren. In diesem riesigen Ameisenhaufen fand Addae nun endlich seinen seit Tagen gesuchten Badu. Er war bereits wieder im Aufbruch begriffen und wollte schon in sein Fahrerhaus steigen, als ihn der junge Weltenbummler gerade noch aufhielt.

„Halt, Badu! Endlich erwische ich dich mal! Fährst du in Richtung Hauptstadt? Ich will mit!“

Der Kraftfahrer drehte sich um und begrüßte den Reisewilligen fröhlich: „Na, dass ich das noch erleben darf! Mit dir habe ich ja gar nicht mehr gerechnet. Bist du dir auch wirklich sicher? Solch eine Reise ist kein Kinderspiel.“

„Auf jeden Fall! Ich war mir noch nie so sicher!“, entgegnete Addae.

„Na, dann los – schwing dich auf den Bock und los geht’s!“

Kaum hatte er dies ausgesprochen, startete Badu auch schon den Motor des alten LKW. Mit großem Rütteln und Schütteln kam die alte Maschine auf Touren und mit viel Handarbeit brachte der Fahrer das Gefährt in Bewegung. Genau so stellte sich Addae auch eine bewegte Schiffsreise vor: Das Gefährt schaukelte von einer Seite auf die andere und drohte in jeder Kurve umzukippen. Obwohl Badus LKW für diese Tour in Richtung zur Hauptstadt Accra nur zur Hälfte beladen war, geriet sein LKW aufgrund der verschlissenen und stark beanspruchten Technik immer wieder reichlich in schlingernde Bewegungen. Hinzu kam, dass die Qualität der Straßen in Ghana kaum die eines Feldweges europäischen Standards überstieg.

„Wie kommt es, dass du dich nun doch zu diesem Schritt hast hinreißen lassen?“, wollte Badu wissen.

„Nun, es gibt in Yendi einfach keine Veränderung mehr und die ständigen Anfeindungen machen mir langsam Angst. Nichts ist mehr übrig geblieben von unserem einstigen Ehrgefühl. Manchmal glaube ich, dass eigentlich niemand mehr weiß, worum es letztendlich geht.“

Addae musste seinen Fahrer regelrecht anschreien, um die lauten Motorengeräusche zu übertönen. Mittlerweile hatten die beiden Abenteurer die Ortsgrenze hinter sich gelassen und fuhren nun auf einer kilometerlangen Landstraße durch die weite Steppe im Südosten Ghanas. Der LKW konnte kaum schneller als fünfzig Stundenkilometer fahren, da diese Schotterpiste stark zerklüftet war und ihre extremen Kurven das Fahren zu einem Kunststück werden ließen. Die Dunkelheit umhüllte die beiden in ihrem LKW nun und nur selten kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, das für einen kurzen Moment das Führerhaus mit Scheinwerferlicht ausstrahlte.

„Und was versprichst du dir von Accra? Meinst du wirklich, das ist das Schlaraffenland?“, fragte Badu kritisch.

„Na ja, zumindest wird es doch in einer so großen Stadt mehr Möglichkeiten geben, seinen Traum zu leben, oder?“

„Hahaha! Auf was für einem Stern lebst du eigentlich?“, lachte der Fahrer laut los und wäre beinahe von der Fahrbahn abgekommen. Nur mit Mühe konnte er den LKW wieder in die Spur bringen.

Nun wurde Addae allerdings nachdenklich und verstummte für eine Weile. War es wirklich die richtige Entscheidung, die vertraute Heimat und seine Familie Hals über Kopf zu verlassen? Je weiter sie sich von Yendi entfernten, desto unsicherer wurde der junge Mann. Noch könnte er kehrtmachen, aber er wollte natürlich vor Badu nicht als Schwächling dastehen.

Dieser schien die plötzliche Schwermut seines Partners auf dem Beifahrersitz zu bemerken und nun zu versuchen, dem ein wenig entgegenzuwirken: „Kopf hoch!“, ermutigte er ihn. „Nun hast du dich entschieden und du wirst sicherlich deine Gründe haben. Es ist immer gut, sein Leben zu verändern. Würdest du diesen Schritt nicht wagen, dann müsstest du dich sicher immer fragen, ob du vielleicht etwas verpasst hast. Pass mal auf, ich werde erst mal ein wenig Musik andrehen, damit hier die Stimmung etwas steigt.“

Badu schob eine Musikkassette in einen kleinen Rekorder. Schrill drangen unbekannte Töne an Addaes Ohren. Nie zuvor hat er derartige Musik gehört.

„Was ist das?“, fragte er den Fahrer.

„Nun verstehe dich einer! Du willst die große weite Welt kennenlernen und fragst mich so etwas? Das ist westeuropäische Musik, die mit alten Autos von großen Schiffen in Accra angeschwemmt wird. Oft liegen dann noch alte Musikkassetten in den Fahrzeugen. Hier, siehst du? Ich habe einen ganzen Koffer mit dem Zeug.“

Badu öffnete einen alten Holzkoffer und darin lagen hunderte von Kassetten, die es in Europa schon gar nicht mehr zu kaufen gab. Addae machte große Augen und nahm einige Kassetten heraus, um zu versuchen, den Text darauf zu lesen. Einiges hatte er von der jungen Frau aus der Diakoniestation gelernt, aber die englische Sprache war ihm doch noch sehr fremd.

Es wurde langsam still im Führerhaus des vor sich hin arbeitenden LKW. Das Motorengeräusch wurde von der dudelnden Musik aus dem Rekorder untermalt. Addae hatte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht – das gleichmäßige Brummen und die Musik ließen ihn müde werden. Es dauerte nicht lange, bis seine Augen schwer wurden und zufielen.

Badu war das gewohnt. Schon oft hatte er Begleiter auf seinen Touren nach Accra dabei gehabt und fast alle schliefen nach kurzer Zeit ein. Er musste dann weiterhin wachsam sein Gefährt durch die Einöde lenken und empfand es immer wieder als eine besondere Ehre, wenn seine Beifahrer ihm so viel Vertrauen entgegenbrachten, dass sie während seiner nächtlichen Fahrt einschliefen. Er hatte dann immer den Eindruck, dass sie sich bei ihm wohl und sicher fühlten, was in Ghana durchaus keine Selbstverständlichkeit war.

Die sogenannten Handelspisten zwischen den einzelnen Dörfern waren nicht ungefährlich. Überall lauerten Übergriffe durch Wegelagerer oder korrupte Sicherheitskräfte. Ein Anhalten mit seinem Gefährt war sehr riskant. Wenn man hier in die Verlegenheit kam, anhalten zu müssen, dann war die Auswahl und Dauer einer solchen Zwangspause abseits von einem Dorf oder Rastplatz entscheidend. Ausgeschlachtete oder ausgebrannte LKW am Straßenrand waren Zeugnisse derartiger Übergriffe.

Badu lenkte seinen LKW sicher durch die Nacht, während sein Weggefährte auf dem Beifahrersitz scheinbar so sicher wie in Abrahams Schoß schlummerte. Hier und da wurde das Gefährt durch heftige Schlaglöcher stark erschüttert, aber das störte Addae nur wenig: Als einzige Reaktionen kamen ab und zu ein unmutiges Schnaufen und eine Änderung der Position.

Plötzlich aber wurde es recht ungemütlich und hektisch im Führerhaus. Badu hatte nun alle Hände voll zu tun, um sein Fahrzeug auf Spur zu halten und vor dem Umkippen zu bewahren. Addae wurde wach und sah durch die Windschutzscheibe nun nicht mehr die Fahrbahn, sondern wilden Wüstensand sowie hier und da genügsame Sträucher vorbeisausen.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte Badu immer wieder.

„Was ist passiert?“, wollte sich Addae informieren, während ihm einige Gegenstände von der Ablage links und rechts um die Ohren flogen.

Eine Antwort bekam er von dem schwer beschäftigen Fahrer nicht. Stattdessen murmelte dieser verzweifelt: „Nicht stehen bleiben! Fahr’ bloß weiter, ja, noch ein Stück! Gleich haben wir es geschafft!“

Nachdem es Badu gelungen war, den LKW zurück auf die Straße zu lenken, brachte er ihn zum Stehen. Nun wurde es ruhig im Cockpit, Badu schnaufte einige Male durch. Allerdings sah man ihm den Schrecken noch immer an: Er zitterte vor Anspannung am ganzen Körper. Addae kauerte stocksteif auf dem Beifahrersitz und starrte seinen LKW-Piloten mit weit geöffneten Augen fassungslos an.

Erst nach einigen Minuten brach Addae die bedrückende Stille in der tiefschwarzen Wüstennacht: „Was war das? Was ist passiert?“

„Was das war?“, schimpfte Badu, „ein Idiot war das! So viele dieser verantwortungslosen Pistenfahrer, holpern in der Nacht ohne Licht durch die Einöde. Plötzlich tauchte dieser unbeleuchtete Truck vor mir auf und der Fahrer saß schlafend hinter seinem Lenkrad. Da hast du keine Chance!“

„Wie? Der Fahrer schlief?“, fragte Addae.

„Ja, das machen viele Wüstentrucker: klemmen sich ein Kissen hintern Kopf, stellen am Lenkrad grob die Richtung ein und zurren es fest. Dann geht das Himmelfahrtskommando los. So, wir müssen jetzt aber weiter. Wir stehen schon viel zu lange hier – das ist nicht ganz ungefährlich.“

„Was für eine Gefahr lauert nun schon wieder?“, wollte der junge Beifahrer wissen.

„Wüstenräuber! Überall lauern sie. Man sollte es tunlichst vermeiden, längere Zeit außerhalb der Ortschaften oder Raststätten anzuhalten. Deswegen bin ich auch froh, dass wir mit dem LKW nicht im Wüstensand steckengeblieben sind. So, jetzt aber los!“

Langsam setzte sich das alte Gefährt wieder in Bewegung, während Addae begann, die umherliegenden Gegenstände wieder an ihre Plätze zu bringen – ein Ordnungs-System war aber auch vor diesem Manöver nicht zu erkennen gewesen.

„Na, bist du noch immer scharf auf dein Abenteuer? Glaub’ mir, das ist erst der Anfang“, stichelte Badu.

„Nun ja, was soll ich sagen? Gemütlich war es in Yendi zum Schluss auch nicht mehr. Fast täglich gab es irgendwo Auseinandersetzungen, bei denen Menschen zu Schaden kamen.“

„Was hast’n da für einen Schlüssel um den Hals hängen?“, unterbrach Badu.