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Wie ein Dieb in der Nacht schleicht Michael Austin zum Haus seines Bruders. Seit Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen. Aber da erhielt er seine dringende Einladung, die beinahe ein verzweifelter Hilferuf war... Plötzlich kracht ein Schuss - und eine dunkle Gestalt verschwindet hinter dem Haus... »Dieser australische Autor erreicht Spitzenqualität auf dem Bereich des Thrillers.« - THE TIMES, London. Sidney H. Courtier (* 28. Januar 1904 in Kangaroo Flat, Victoria; † 1974 in Safety Beach, Victoria) gilt als einer der herausragendsten australischen Kriminal-Schriftsteller. Sein Roman DER VOGELMORD erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
SIDNEY H. COURTIER
Der Vogelmord
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
DER VOGELMORD
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Copyright © 2023 by Sidney Houston Courtier/Signum-Verlag.
Original-Titel: Mimic A Murderer.
Übersetzung: Elisabeth Simon.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Wie ein Dieb in der Nacht schleicht Michael Austin zum Haus seines Bruders. Seit Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen. Aber da erhielt er seine dringende Einladung, die beinahe ein verzweifelter Hilferuf war...
Plötzlich kracht ein Schuss - und eine dunkle Gestalt verschwindet hinter dem Haus...
»Dieser australische Autor erreicht Spitzenqualität auf dem Bereich des Thrillers.«
- The Times, London.
Sidney H. Courtier (* 28. Januar 1904 in Kangaroo Flat, Victoria; † 1974 in Safety Beach, Victoria) gilt als einer der herausragendsten australischen Kriminal-Schriftsteller. Sein Roman Der Vogelmord erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Als mein Bruder und ich noch Buben waren, hatten wir uns ein Spiel ausgedacht, das wir Charlie's Home nannten. Es stammte aus den Büchern, die wir damals lasen, und war im Grunde ganz einfach: Es wurde eine Art neutrale Zone ausgemacht, die man vom andern ungesehen passieren musste, um die gegnerische Grenze zu durchbrechen. Stunden, Tage und Wochen beschäftigten wir uns mit diesem Spiel. Mit glühenden Ohren schlichen wir uns durch das Gestrüpp hinter dem Holzhaus unserer Eltern. Der Name unseres Spieles kam von dem Triumphgeschrei, mit dem der Sieger anzeigte, dass er gewonnen hatte.
»Charlie's Home! He! Charlie's Home!«
Dieses Spiel war seit langem unter schlafenden Erinnerungen begraben, als ich seit Jahren wieder einmal von meinem Bruder horte. Ich bekam einen Brief von ihm, in dem er mich in seiner etwas umständlichen Ausdrucksweise ziemlich dringlich bat - ohne mir bis in alle Einzelheiten zu sagen warum ihn doch zu besuchen. Als Postscriptum stand: Charlie's Home, Mike.
Dieser Nachsatz war der Grund, weswegen ich nicht vor seinem Tor anhielt, sondern noch ungefähr eineinhalb Kilometer weiter die Straße hinauffuhr, bis ich eine Stelle fand, wo ich meinen MG m einem Zug wenden konnte und dabei nicht riskierte, dass man meine Scheinwerfer vom Haus aus sehen konnte. Ich nahm zwar nicht an, dass auf dieser Straße viel Verkehr herrschte - schon gar nicht an einem Sonntagabend aber ich wollte vermeiden, dass jemand um die Kurve gerast kam und wütend auf die Hupe drückte, weil ich ihm die Straße blockierte. Es war eine stille Herbstnacht, und jeder Laut wäre weit ins Tal hinausgetragen und von den Bergen als Echo zurückgeworfen worden.
Es war auch nicht ungefährlich, mit abgestelltem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern die Straße hinunterzurollen. Aber ich hatte Glück. Ungefähr zweihundert Meter vor dem Haus meines Bruders bog ich links in einen geschotterten Seitenweg ein. Tote Äste und das lose Steinwerk knirschten unter den Reifen meines MG. Ich konnte nur hoffen, von niemandem bemerkt worden zu sein.
Ich stieg aus, blieb erst einmal stehen und lauschte dem Zwitschern einer Bachstelze, die im Unterholz des steilabfallenden Hügels sitzen musste. Die Bachstelze huscht gern in heilen Mondnächten durch das Gestrüpp und schreit in die Welt hinaus, dass sie wach ist.
»Sweet-pretty-little-creature - süße-kleine-Kreatur«, sang sie.
Ich kann Vogelstimmen ziemlich gut nachmachen, und deshalb antwortete ich der Bachstelze. Sofort wurde sie still.
Ich wartete, aber sie meldete sich nicht wieder. Ich huschte über die Straße, kroch die Böschung hinunter, lehnte mich im Schatten einer Myrte an den Pfosten eines Drahtzaunes und betrachtete das Haus.
Es stand auf einem waldigen Hügel, der sich aus der Masse der Bergkette hervorhob, und überblickte wahrscheinlich fast das ganze Tambalin-Tal. Es schien mir rein landschaftlich eine der schönsten Stellen Australiens zu sein.
An den zwei Fenstern, die ich von meinem Standpunkt aus sehen konnte, zog sich Efeu hoch. Man hatte mir das im Bungalowstil erbaute Haus mit der Veranda, die vom wilden Wein fast zugewachsen war, schon beschrieben, und alles sah ungefähr so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Durch die Bäume hindurch konnte ich den Umriss des Daches erkennen, wie auch eine dunkle Linie, wahrscheinlich ein Zaun, der den Garten umgab. Er sah mir nicht danach aus, als würde er einem Eindringling viel Widerstand bieten.
Meine Augen wanderten über das Tal, das in milchigem Mondlicht dalag. Links sah ich einige Lichter aus dem Städtchen Tambalin heraufschimmern. Der Ort lag knappe drei Kilometer entfernt. Das Haus war ziemlich abgelegen und sehr, sehr ruhig. Das ganze Tal war ruhig. Es war mir unbegreiflich, wie mein Bruder an einem so friedlichen, einsamen Fleckchen Erde bedrohlichen Angriffen ausgesetzt sein konnte.
Ich musste wieder an Charlie's Home und andere Spiele denken, mit denen wir uns die Zeit vertrieben hatten. Mein Bruder war acht Jahre älter als ich, was er mich aber nie hatte merken lassen, wenn wir die Abenteuer aus unseren Kinderbüchern nacherlebten, die Geschichten von gefährlichen Irrfahrten edler Ritter, von Indianerkämpfen und Streifzügen durch dunkle Wälder.
Wie es einem manchmal geht, wenn die Erde schläft und der Mond hoch am Himmel steht, überkam mich so etwas wie Reue über Dinge, die ich getan, und Dinge, die ich unterlassen hatte.
Das Bellen eines Hundes durchbrach die Stille. Ich konnte nicht feststellen, woher es kam, so unberührt lag die Nacht über dem Tal. Kurz darauf hörte ich das Tuckern eines Dieselmotors. Es kam von der Südseite der Schlucht her. Ich wollte es vermeiden, plötzlich von Scheinwerfern angestrahlt zu werden. Mit einem Satz sprang ich über den Zaun. Lautlos wie eine Katze landete ich auf der anderen Seite. Es ging nichts über Schuhe mit weichen Sohlen.
Langsam pirschte ich mich auf das Haus zu. Ich schlich von Schatten zu Schatten, trat vorsichtig zwischen vertrockneten Grasbüscheln und totem Astzeug auf und achtete besonders darauf, mich nicht in den am Boden dahinwuchernden Schlinggewächsen zu verfangen. Ich fühlte mich - wahrscheinlich durch den Nachsatz unter dem Brief meines Bruders - unwillkürlich in unsere Kinderzeit zurückversetzt. Ich konnte nur hoffen, dass ich ihn nicht falsch aufgefasst hatte.
Das Tuckern des Dieselmotors kam näher, verstummte, wenn der Wagen in einer Mulde zwischen den Bergen verschwand, und drang von neuem zu mir herüber. Ich blieb stehen und blickte zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete ein Kilometerstein an der Straße im Scheinwerferlicht des Wagens auf. Ich schlich ein paar Schritte weiter und duckte mich zusammen. Das Auto bog gerade um die Kurve, hinter der ich meinen MG gelassen hatte. Ich blickte ihm nach, wie es die Straße hinunterfuhr. In dem Moment sprang ein Schatten aus dem Unterholz und fiel mich von hinten an.
Ich stürzte vornüber auf den Boden. Zwei Hände umklammerten meinen Hals. Ganz automatisch warf ich den Kopf in den Nacken und riss meine Ellbogen nach oben. Für alle Fälle wollte ich meinen Angreifer erst einmal Mores lehren.
Doch dann hörte ich langvergessene Worte: »Ergebt Euch, edler Ritter«, sagte eine ruhige Stimme.
Ich ließ mich zusammensinken.
»Ich ergebe mich, Sir.«
»Ihr seid mein Knecht, für heut und allezeit.«
»Sei’s. Ich bin Euer Knecht.«
Der Druck auf meinen Schultern ließ nach. Ich rappelte mich auf die Beine. Das Licht des Mondes lag auf dem Gesicht meines Bruders Harry. Er lachte - wie vor zwanzig Jahren.
»Ich war gespannt, ob du es richtig verstehst, Mike«, sagte er. »Aber du hast es kapiert.«
Ich hatte den Nachsatz in seinem Brief also nicht falsch aus« gelegt: Die zwölf Jahre Entfremdung waren vorbei. Harry und ich waren wieder Freunde. Am liebsten wäre ich meinem Bruder um den Hals gefallen, am liebsten hätte ich ihn umarmt und ihm kräftig auf die Schulter geklopft. Aber ich tat es nicht. Irgendeine blödsinnige Verlegenheit, ein Anflug von Zweifel oder vielleicht nur purer, lächerlicher Egoismus hielten mich davon ab.
»Du schätzest mich falsch ein«, erklärte ich in gewollt leichtem Ton. »Edles Rittertum und dergleichen passt nicht zu mir. Dann schon eher die Rolle eines Indianerhäuptlings.«
»So?«, entgegnete Harry und sah mich mit durchdringendem Blick an. »Ich bin anderer Meinung.«
Ich hatte mich noch immer nicht gefangen und überbrückte die etwas peinliche Situation mit einer Frage. Wie er auf die Idee gekommen sei, wollte ich wissen, mir hier aufzulauern?
Wieder lachte er und erklärte mir mit der ruhigen, wohllautenden Stimme, deren Klang ich nie vergessen hatte, dass er meinen Wagen die Straße habe heraufkommen hören.
»Ein MG-Sport«, meinte er.
Dort, wo die Straße in die Mulde einbiegt, hatten die vorgelagerten Erhebungen das Brummen des Motors verschluckt. Wenn der Wagen seinen Weg auf der Straße fortgesetzt hätte, hätte er ihn von weiter oben her, wo sich eine Art Plateau auftut - Dawsons Point genannt -, hören müssen. Doch das war nicht der Fall gewesen und deshalb hatte er beschlossen, sich draußen ein wenig umzusehen.
»Ganz abgesehen davon«, fügte er hinzu, »steht auf deiner Postkarte, dass du am Sonntag, also heute, kommst.«
»Bravo! Logisch gedacht.«
»Mein Gott«, entgegnete er. Man braucht ja nicht gleich zu verkalken, bloß weil man ein armseliger Provinzschulmeister ist.«
Sein Gesicht nahm einen fast traurigen Zug an, und ich wusste nur zu gut warum. Bis zu dem Moment, wo mich der Teufel geritten und ich beschlossen hatte, meine eigenen Wege zu gehen, waren wir die dicksten Freunde gewesen. Wenn auch mein Bruder auf meine jugendliche Sturheit abweisend reagiert hatte, lag der Fehler einzig und allein auf meiner Seite. Wie dem auch sei, einmal, bei einer Streiterei in jenen unseligen Tagen, hatte ich ihm an den Kopf geworfen, dass er ja bloß ein armseliger Provinzschulmeister wäre.
Ich ließ es mir nicht anmerken, dass ich mich noch genau daran erinnern konnte, und verzog keine Miene.
»Apropos Provinzschulmeister«, sagte ich, »ich würde ganz gern das Haus eines Provinzschulmeisters von innen sehen. Vielleicht lässt sich dort zufällig ein Drink finden.«
»Das könnte schon möglich sein. Holen wir erst einmal deinen Sechssitzer.«
Wortlos gingen wir nebeneinander her. Als wir- an den Zaun kamen, setzte ich ganz gedankenlos mit einer gekonnten Flanke hinüber. Wie taktlos von mir! Bergauf über einen Zaun zu springen ist weitaus schwieriger als umgekehrt. Es musste doch so aussehen, als wollte ich mich vor meinem älteren Bruder, den ich schon genug beleidigt hatte, als Muskelprotz aufspielen. Aber Harry stützte nur eine Hand auf den Zaunpfosten und sprang mit der größten Selbstverständlichkeit hinüber. Wir schauten einander an, und er lachte. Erleichtert stimmte ich in sein Lachen ein.
Bei meinem MG angekommen, ging er langsam darum herum und ließ seine Rechte über die schwarzen Kotflügel streichen.
»Ein hübsches Auto«, meinte er bewundernd. »Prima. Der zieht bestimmt ganz schön weg.«
»Worauf du dich verlassen kannst. Wenn du Lust hast, kannst du ihn ja ausprobieren, solange ich hier bin.«
»Wofür ist denn der Suchscheinwerfer?«
»Man weiß nie, wie man ihn einmal brauchen kann«, erklärte ich.
Wir krochen in den Wagen, und ich fuhr rückwärts auf die Straße zurück und die zweihundert Meter bis zu Harrys Grundstück hinunter. Wir bogen in die geschotterte Einfahrt ein, die zum Haus führte. Rechter Hand standen die Bäume so dicht, dass man kaum hindurchsehen konnte, und links fiel der Abhang steil in das vom Mondlicht überflutete Tal ab, hinter dem sich die dichtbewaldeten schroffen Bergkämme nach Norden und Osten zogen. Langsam wurde mir klar, warum sich mein Bruder das Tambalin-Tal zur Wahlheimat gemacht hatte.
Wir fuhren durch ein zweites Tor. Von Blumenbeeten eingesäumt führte die Auffahrt zu einer Garage, in der gut zwei Wagen Platz hatten. Ich stellte meinen MG neben dem Auto meines Bruders ab. Es war eine flachgebaute Limousine, die offensichtlich auch einiges an Geschwindigkeit zu bieten hatte.
»Wieviel kannst du aus ihm herausholen?«, fragte ich.
»Hier im Tal an die hundertdreißig. Die Kurven sind zu scharf, um sie schneller zu nehmen. Wir fahren mal mit beiden los und schauen, was deiner hergibt.«
»Damit uns der Ortspolizist erwischt?«
»Nicht früh am Morgen«, entgegnete Harry. »Außerdem ist unser Polizist selbst schon mit mir durch die Gegend gebraust. Ein feiner Kerl. Bert Keppit heißt er. Ich glaube übrigens, dass er jeden Pfennig spart, weil er sich einen Sportwagen kaufen will.«
»Recht hat er.«
Wir trugen mein Gepäck in eine Diele im rückwärtigen Teil des Hauses. Dann führte mich Harry in seine Küche, in der es vor Sauberkeit nur so blitzte.
»So, jetzt machen wir uns erst einmal einen Drink«, meinte er.
Ich sah ihm zu, wie er Gläser aus dem Schrank holte und mit einem Korkenzieher hantierte. Harry war groß, gut einssechsundachtzig, hatte breite Schultern, schmale Hüften und eine stolze, aufrechte Haltung. Mit dem dunklen Haar, den tiefblauen Augen, der geraden Nase und dem immer glattrasierten Kinn fiel er überall als ausgesprochen gutaussehender Mann auf. Das hellblaue Hemd, der dunkelgraue Pullover und die noch einen Ton dunklere Flanellhose passten blendend zu seinem sportlichen Äußeren. Früher hieß es von uns beiden, dass wir uns wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sehen. Das ist natürlich übertrieben. Obwohl man uns schon ansieht, dass wir miteinander verwandt sind, spricht aus Harrys Gesicht so viel Offenheit und Klarheit - ein Ausdruck seiner inneren Reife, nehme ich an -, dass man es mit meinen Zügen überhaupt nicht vergleichen kann. Das wird mir immer wieder bewusst, wenn ich in den Spiegel sehe und meinen schmalen, harten Mund und die finsteren, buschigen Augenbrauen betrachte.
Er bemerkte, wie ich ihn musterte, stellte das Glas, das er eben eingegossen hatte, auf den Tisch und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
»Mike, alter Junge. Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«
Wir drückten uns herzhaft die Hand.
»Und ich mich erst«, entgegnete ich.
»Es hätte nie so weit kommen dürfen, Mike.« Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. »Unser alter Vater war ein guter Kerl. Aber er hat auch seine Fehler gemacht.«
»Nein, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Nicht der geringste. Es war von Anfang an meine Schuld. Alles.«
»Von Schuld ist gar nicht die Rede«, entgegnete Harry. »Wir sind alle nur Menschen. Und das ist manchmal nicht leicht. Kontaktarm nennt man es jetzt. Oder unfähig, sich dem anderen mitzuteilen. Unser guter Vater war fast krankhaft ehrgeizig, was seine Söhne anbelangt. Der eine hat ein paar Stipendien bekommen; das hätte der andere ebenso gut erreichen können. Ganz sicherlich. Aber der alte Herr begriff einfach nicht, dass sein zweiter Sohn ein völlig anderer Mensch war. Und du warst unfähig, ihm auseinanderzusetzen, was in deinem Kopf vorgeht und was dir vorschwebt. Wenn Mutter noch gelebt hätte, wäre vielleicht alles...«
»Nein«, unterbrach ich ihn. Ich suchte nach den richtigen Worten. »Es war alles meine Schuld«, wiederholte ich schließlich nur. »Ich war ein verfluchter Narr.«
»Du warst ein sechzehn Jahre altes Kind«, erklärte Harry. »Und unfähig, dich anderen mitzuteilen. Das einzige, was du konntest, war, dielt gegen alles und jeden aufzulehnen. Und glaube mir, Vater hat es noch eingesehen, bevor er starb.«
»Wenn ich ihn doch nur noch einmal gesehen hätte.«
»Das war eben nicht möglich«, entgegnete Harry. Er hatte einen Arm um meine Schultern gelegt. »Es ist einfach nicht gegangen.«
Das stimmte. Ich war oben in Kimberley, dreitausend Kilometer von zu Hause entfernt. Mit meinen Viehherden. Ich erhielt die beiden Briefe zur gleichen Zeit. In dem einen stand, dass mein Vater krank ist, und in dem anderen, dass er gestorben und bereits beerdigt ist. Sie kamen genau acht Wochen nach dem Begräbnis.
Aber es war weiß Gott nicht die Schuld meines Vaters, dass kein Mensch wusste, wo ich steckte. Deswegen brauchte die Post eben Wochen, bis sie mich, von einer Adresse zur anderen nachgeschickt, erreichte. Und dann war ich vor lauter Kummer und Reue so verkrampft und gehemmt, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich als Antwort auf die Briefe schreiben sollte. Mit dem Erfolg, dass die Kluft zwischen Harry und mir noch größer wurde.
»Nun hör um Gottes willen auf, dir Vorwürfe zu machen«, sagte mein Bruder.
Ich glaube, er ahnte gar nicht, wie sehr mich seine Worte freuten und erleichterten. Es war, als fiele mir ein Stein vom Herzen.
Wir tranken auf unser Wiedersehen, dann zeigte mir Harry das Haus, das er sich gebaut hatte. Der Grundriss war denkbar einfach. Ein Rechteck, das durch einen Flur und die Diele in zwei Hälften geteilt war. Eine von wildem Wein überwucherte Veranda lief bis auf eine Ecke hinten an der Garage, über der sich ein kleines Gästezimmer befand, um das ganze Haus herum.
Hinter der Garage hatte Harry eine kleine Werkstatt eingerichtet, in der es an nichts fehlte. Ich inspizierte seine Werkbänke, das Handwerkszeug und die Kameras, die Dunkelkammer und das Tonbandgerät, das er für seinen Unterricht benutzte.
»Wer hat denn das ganze Zeug bezahlt?«, fragte ich. »Die Eltern deiner Schüler?«
»Nein, ich.«
»Großer Gott, du Idealist!«
Wir gingen ins Haus zurück, und dann zeigte er mir sein Badezimmer mit dem Heißwasserboiler. Er erzählte mir, dass er von einer viel höher liegenden Quelle auf der anderen Seite der Straße eine Wasserleitung zu sich heruntergezogen habe. Er führte mich in sein Arbeitszimmer, und ich betrachtete mir seine Bücher, Bilder und seine Federnsammlung. Auch seine Hochschuldiplome hatte er rahmen lassen und an die Wand gehängt. Zum Schluss führte er mich in sein Schlafzimmer im vorderen Teil des Hauses und erklärte, das wäre meines.
»Kommt nicht in Frage«, erwiderte ich. »Du ziehst hier nicht aus. Nicht einmal für eine Nacht. Außerdem schlafe ich sowieso lieber in einem Raum, wo ich ein- und ausgehen kann, ohne dich zu stören. Das Zimmer über der Garage ist ideal für mich.«
Harry sträubte sich erst, aber ich gab nicht nach, und schließlich half er mir, mein Gepäck in das hintere Zimmer zu tragen. Als ich auspackte, fragte ich ihn, wer denn das ganze Haus so tadellos in Ordnung hielte.
»Ich«, antwortete Harry und lachte.
»Donnerwetter! Der perfekte Junggeselle«, stellte ich fest. »Übrigens, wie steht’s mit dem Heiraten?«
Mein Bruder ist ein wahnsinnig offener Mann, der sich immer klar und deutlich ausdrückt. Deswegen fand ich seine Antwort besonders seltsam: »Ich habe bis jetzt noch nicht das Mädchen gefunden, dem ich einen befriedigenden Heiratsantrag machen könnte. Und wie steht es mit dir, Mike?« setzte er sofort hinzu, um allen weiteren Fragen zu entgehen.
»Kennst du ein dazu geeignetes Mädchen?«
»Ich habe bis jetzt noch kein befriedigendes Mädchen gefunden, dem ich einen Heiratsantrag machen könnte«, entgegnete ich grinsend. Ich musterte Harry einen Moment, dann fragte ich: »Du hast nicht vor, einmal von hier wegzuziehen?«
»Nicht im geringsten. Wie kommst du darauf?«
»Vor ein paar Wochen habe ich jemanden getroffen, der dich kennt. Ich hatte den Mann nie in meinem Leben gesehen. Er hat mich wegen unserer großen Ähnlichkeit angesprochen, und daraus entstand eine Unterhaltung. Ein gewisser Hannaford. Angeblich Oberschulrat...«
»Tom Hannaford!«, unterbrach mich Harry. »Wir haben zusammen studiert. Soviel ich gehört habe, hat er neulich sogar noch seinen Doktor in Philosophie gemacht. Dieser Tom kommt viel herum.«
»Hm -. Er meinte, auch du könntest viel herumkommen. Er hat es sogar noch viel drastischer ausgedrückt. Harry Austin, sagte er, macht nichts aus seinen Fähigkeiten und aus seiner Begabung. Er - Moment, lass mich ausreden - er meinte, dir stünde jede Lehrstelle offen, die du nur haben wolltest. Warum vergräbst du dich hier?«
»Und warum fragst du?«
»Ich komme durch diesen Brief darauf...«
»Na ja, der war vielleicht ein bisschen übertrieben«, unterbrach mich Harry. Er zog die Stirn kraus. »Aber sag mir, wo hast du Tom Hannaford getroffen?«
»In irgendeiner Bar. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du dein Leben absolut in diesem Tambalin verbringen willst.«
»Ich habe hier alles, was ich will. Und jetzt, wo du da bist, bin ich erst recht zufrieden.«
»Trotzdem begreife ich es nicht.«
Er sagte, er wolle versuchen, es mir zu erklären, und führte mich in sein Arbeitszimmer zurück, knipste das Licht an und deutete auf ein ziemlich großes Aquarell, das zwischen zwei prachtvollen Leierschwanzfedern an der Wand hing. Mir war das Bild vorher schon aufgefallen, ich hatte ihm allerdings nicht viel Beachtung geschenkt. Jetzt erst merkte ich, dass es ein recht bemerkenswertes Gemälde zu sein schien. Ich vermutete, dass es einen Teil des Tambalin-Tals darstellt, was mir Harry bestätigte.
»Es zeigt den nördlichen Teil des Tals«, sagte er. »Das Bild ist von einer bestimmten Stelle des nordöstlichen Höhenzuges aus gemalt. Der steil aufragende Fels zur Linken ist General's Peak, er wurde nach einem Einwanderer der Pionierzeit benannt, der behauptet haben soll, als General in den Napoleonischen Feldzügen gekämpft zu haben. Von der Stelle, die sich der Maler dieses Bildes ausgesucht hatte, sieht man über das ganze Tal hinweg bis zu der Schlucht, in die der Tambalin-Fluss, der sich tief in das westliche Vorgebirge eingegraben hat, hinunterstürzt. Ich werde dich dieser Tage einmal hinfahren und es dir zeigen. Ich liebe diese wilde, raue Landschaft sehr. Auf dem Bild sieht es allerdings anders aus. Schon allein das Licht.«
Ich begriff, was er damit sagen wollte. Links, im Vordergrund, erhob sich die zerklüftete Masse des General's Peak und daneben ein schwindelerregender Abgrund, der in Bodenwellen auslaufend ins Tal hinabfiel. Vom rechten äußeren Rand bis links zum unendlich fernen Horizont dehnten sich mit Buschwerk und Dschungelpflanzen bewachsene Klippen und Kare. Die ganze Landschaft war in ein seltsames, fast unwirkliches Licht getaucht.
»Wenn der Maler seine Staffelei zweihundert Meter weiter rechts aufgestellt hätte«, sagte Harry, »müsste man mein Haus auf dem Bild sehen. So ist es durch den General's Peak verdeckt.«
»Ich verstehe nicht viel von Kunst. Aber ich muss schon sagen, das Bild gefällt mir. Es scheint übrigens erst vor kurzem gemalt worden zu sein. Oder zumindest in derselben Jahreszeit.«
»Ich besitze es erst seit vier Wochen«, erklärte mir Harry. »Ich habe es zufällig im Atelier hängen sehen. Die Malerin hat gemerkt, dass es mir gefällt, und hat es sich nicht nehmen lassen, es mir zu schenken.«
»Wie heißt sie?«
»Sarah Fairhill. Sie hat auf der Kunstakademie in Sydney studiert. Ich bin überzeugt davon, dass sie einmal sehr bekannt wird.«
»Sie muss dich sehr gern mögen, wenn sie dir ein so schönes Bild schenkt.«
»Ich kenne sie schon von klein auf. Sie war bei mir in der Schule.«
Ich musterte ihn von der Seite her. Harry blickte mit völlig gleichgültigem und gelassenem Ausdruck auf das Aquarell.
»Na ja«, meinte ich schließlich. »Du bist also bereits unzertrennlich mit dem Tambalin-Tal verbunden... Aber dieser Brief, den du mir geschrieben hast... Diese Angelegenheit, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, dieses Gefühl, gewissen Dingen auf den Grund gehen zu müssen, diese - ich will deine eigenen Worte gebrauchen - diese Bedrohung deiner Sicherheit... wie steht es mit dem?«
Harry lächelte schwach und meinte abermals, sein Brief wäre vielleicht übertrieben gewesen. Aber, und dabei sah er mich ernst an, er hätte ja nicht wissen können, wie ich ihn auffassen würde. Auf alle Fälle sei die Angelegenheit im Moment nicht so eilig. Man könnte schließlich auch nach dem Essen darüber sprechen.
Ich entgegnete ihm, dass ich bereits unterwegs zu Abend gegessen und im Augenblick nur einen Wunsch hätte, eine Erklärung für diesen Brief zu bekommen. Ich war sehr froh, mit meinem Bruder wieder so reden zu können wie vor zwölf Jahren. Trotzdem hatte ich das starke Gefühl, dass Harry nicht, oder zumindest jetzt nicht, über den Brief sprechen wollte und nach einem Grund suchte, es hinauszuzögern.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Mein Bruder blickte auf seine Uhr.
»Tut mir leid, Mike«, sagte er, »aber jetzt muss ich erst etwas anderes erledigen. Meine allabendliche Pflicht, wenn du so willst.«
Er ging zum Bücherregal und holte vom obersten Brett eine Signaltrompete herunter. Mein Bruder hatte im Korea-Krieg mitgemacht und war wegen Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet worden. Immer wenn ich daran dachte, stellte ich unwillkürlich Betrachtungen über meine eigene Person an. Ich war recht unzufrieden mit mir.
Ich folgte ihm auf die Veranda hinaus.
Hatte ich bis jetzt langsam begriffen, was das Tambalin-Tal für ihn bedeutete, so merkte ich nun, was er für das Tal war. Er erzählte mir, dass er vor Jahren, als das Fernsehen seinen Einzug in diese ruhige Gegend genommen hatte, ganz verzweifelt gewesen sei, weil seine Schüler bis in die späte Nacht hinein vor dem Bildschirm gehockt hätten, anstatt zu einer vernünftigen Zeit ins Bett zu gehen. Ein Problem, das wohl den meisten Eltern und Erziehern nicht unbekannt sein dürfte. Auf alle Fälle waren die Kinder am Morgen in der Schule so todmüde gewesen, dass sie kaum die Augen offen halten konnten, und ihre Leistungen gingen merklich zurück. Um gegen dieses Übel anzugehen, hatte Harry verkündet, dass er allabendlich auf seiner Trompete blasen würde. Wenn das Signal ertönte, wusste jedes Kind im Tal, dass es jetzt höchste Zeit war, ins Bett zu gehen, ob nun das Fernsehen gut war oder nicht. Das Erstaunliche an der Sache war, dass sich das ganze Tal danach richtete. Was anfangs eine Art Spiel gewesen war, hatte mittlerweile eine heilige Gewohnheit angenommen, nicht nur für die Kinder, auch für deren Eltern.
»Ich blase den Zapfenstreich«, meinte Harry lachend.
»Und wenn es regnet oder stürmt?«
»Dann tun alle so, als hätten sie es trotzdem gehört.«
Ich betrachtete meinen Bruder mit einer Mischung von Verwirrung und Bewunderung. Seine Geschichte bewies, dass er doch ein etwas eigenartiger Kauz war. Trotzdem konnte ich seine Verbundenheit mit dem Tal immer besser verstehen. Wenn der Herr Lehrer den Kindern am Abend den Zapfenstreich bläst, dann schien das für jedermann richtig und in Ordnung zu sein.
»Und am Wochenende?«
»Wird ebenfalls geblasen. Samstags eine Stunde später.«
»Und wie steht’s mit dem Wecken?«
»Darum brauche ich mich nicht zu kümmern. Die meisten Leute stehen mit den Hühnern auf.«
Er trat an das Geländer, machte seine Lippen feucht und setzte die Signaltrompete an. Im selben Moment warf ich mich auf ihn und riss ihn mit mir zusammen die Verandastufen hinunter.
Ich weiß nicht, wo die Kugel hingegangen ist, aber ich hatte das Aufblitzen des Schusses im Buschwerk links von der Veranda gesehen. Als wir in einem Blumenbeet landeten, befahl ich Harry, ins Haus zu laufen und alles abzusperren. Dann sprang ich auf und stürzte in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war.
An der Ecke der Veranda sah ich nur noch einen dunklen Schatten hinter dem Regenwasserbehälter an der Rückseite des Hauses verschwinden. Drei Sekunden später war ich neben dem Behälter, während der Schatten gerade über den Zaun hinter der Werkstatt kletterte. Ich wandte mich nach rechts, um mich, nachdem ich ebenfalls über den Zaun gesprungen war, oberhalb des Eindringlings zu befinden. Ich kam in dichtem Gras auf und rannte wie ein Irrer gut fünfzig Meter weiter durch das Gestrüpp.
Zwei Dinge brachten mich plötzlich wieder zur Vernunft. Einmal die Tatsache, dass ich nicht bewaffnet war, und zum anderen fiel es mir plötzlich auf, dass sich der Eindringling ebenso lautlos durch die Nacht bewegte, wie ich darin herumtrampelte. Ich warf mich im Schatten eines Baumes auf den Boden und hielt den Atem an. Bereits der nächste Augenblick zeigte, dass ich richtig gehandelt hatte. Links unter mir ein leichtes Knacken. Jemand war auf einen trockenen Zweig getreten. Dann sah ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde, wie er über eine ungeschützte, vom Mondlicht überflutete Stelle huschte.
Ich setzte die Verfolgung fort. Die Jahre, die ich im Hinterland verbracht, und die Tricks, die ich dort gelernt hatte, kamen mir zugute. Ich hätte schwören können, dass er mich nicht hörte, wobei ich genau wusste, wo er herumschlich. Ich kroch durch einen Graben und auf der anderen Seite eine Böschung hinauf, wobei ich mich weiterhin rechts von ihm hielt. Irgendwann musste der Augenblick eintreten, wo ich mich auf ihn stürzen konnte und ihm sein Gewehr nichts mehr nützte. Aber als ich oben an der Böschung angekommen war, sah ich, dass es dahinter ziemlich steil in die Tiefe ging. Der Boden war steinig, die Bäume lichteten sich, und das Buschwerk bot keine zusammenhängende Deckungsmöglichkeit mehr. Von dem andern hörte ich nicht einen Laut mehr. Auf allen vieren kroch ich nach unten. Ich musste immer wieder halten, um loses Steinzeug aus dem Weg zu räumen, denn ich konnte es nicht riskieren, dass ein unachtsamer Tritt sie mit Getöse in die Tiefe poltern ließ.
Dann kam ich an eine Reihe von Büschen, die so regelmäßig nebeneinander standen, dass sie im Mondlicht wie eine gestutzte Hecke aussahen. Ich kämpfte mich durch. Dahinter sah ich meiner Verfolgungsjagd ein plötzliches Ende gesetzt: vor mir fiel jäh eine Schlucht ab. Zur Rechten stieg sie bis zu den Felsen unterhalb der Straße auf; zur Linken führte sie in steilen Zick-Zack-Windungen in die schwarze Tiefe. Bei Tage hätte ich bestimmt eine Möglichkeit gefunden hinüberzukommen; selbst jetzt hätte ich es vielleicht gewagt, wenn ich es nicht mit einem bewaffneten Gegner zu tun gehabt hätte. Aber ich kannte diese Gegend nicht gut genug. Ich duckte mich im Schatten der Buschreihe zusammen und überlegte.
Das Prasseln eines kleinen Steinschlags sagte mir, dass der Schütze bereits auf der anderen Seite war und dort den Steilhang hinaufkroch. Fast im gleichen Moment sah ich ihn - eine unbestimmte, geduckte Gestalt, die sich langsam im Schatten eines Felsvorsprungs vorwärtsbewegte. Sie war keine fünfundzwanzig Meter von mir entfernt, und ich konnte nichts anderes tun, als ihr nachzustarren.
Plötzlich blieb der nächtliche Flüchtling wie angewurzelt stehen. Wahrscheinlich vor lauter Schreck. Auch ich war zusammengefahren. Klar und hell erklang die Trompete: der Zapfenstreich. Im gleichen Augenblick antworteten unzählige andere Trompeten von den Felswänden und Klippen über der Straße. Ein Schaudern lief mir den Rücken hinunter, wie das Signal von nahen und fernen Echostimmen begleitet wurde. Ich rührte mich nicht, bis weit hinten im Tal der letzte Ton verklungen war.
Auch der andere machte keine Bewegung. Er stand wie versteinert da. Ich konnte lediglich das Gewehr erkennen, seine Gestalt wurde vom Schatten des Felsvorsprungs verschlungen. Dann wurde mir plötzlich klar, dass ich hier wertvolle Zeit vergeudete. Ich tastete nach einem Stein. Aber bevor ich ihn werfen konnte, war die Gestalt in einer schmalen Felsspalte verschwunden.
Ich stand unentschlossen und abwartend da. Was sich als klug herausstellte, denn schon nach einem Moment tauchte ein zweiter Mann auf, der meinem Gegner auf der Spur folgte. Er bewegte sich lautlos und schnell wie ein Tier. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, nur den Umriss seiner hochgewachsenen Gestalt. Mit der Leichtigkeit und geschickten Schnelligkeit eines gut durchtrainierten Mannes verschwand er in derselben Felsspalte wie der andere.
Wer die beiden auch immer waren, ich hatte den Eindruck, dass es sich nicht um Freunde handelte. Deshalb beschloss ich weiterhin zu warten. Aber es passierte nichts mehr. Das fahle Licht des Mondes schien auf eine Landschaft, die wie ausgestorben war.
Hinter mir, in der Nähe des Hauses, hörte ich plötzlich eine Vogelstimme. War es die Bachstelze von vorhin mit ihrem Sweet-pretty-little-creature oder der Fächerschwanz, ihr Kollege, mit dem Ruf Scissors-to-grind, Scherenschleifer, Scherenschleifen? Richtig, es war der Fächerschwanz. Die beiden Zwitscherlaute hatten verschiedene Bedeutung. Der erste hieß: alles in Ordnung, die Luft ist rein. Und der zweite bedeutete die Aufforderung zu einer Zusammenkunft.
Ich machte mich auf den Rückweg. Auch ich imitierte den Fächerschwanz einige Male. Nicht weit vom Haus entfernt hörte ich die Antwort aus einem Busch kommen.
Ich kroch in den Schatten eines Strauchs und flüsterte: »Bist du es, Swannie?«
»Ja«, antwortete er und kroch heraus, damit ich ihn sehen konnte.
»Wenn du das Wache halten nennst«, meinte ich gelassen.
»Mike«, verteidigte er sich schnell, »ich hockte oben in einem Baum außerhalb der Umzäunung. Der Kerl muss sich auskennen, denn ich habe ihn weder gehört noch gesehen. Bis der Schuss fiel, habe ich nichts von seiner Anwesenheit geahnt. Es war übrigens .22er Kaliber.«
»Aha.«
»Mike, fang bloß nicht an, wie der Chef zu reden. Einer in der Firma reicht mir.«
»Schon gut. Der Kerl scheint sich tatsächlich auszukennen, wenn du ihn nicht einmal gehört hast. Wenigstens bist du nicht hinter ihm nachgestürzt, sondern bist an Ort und Stelle geblieben und hast auf meinen Bruder aufgepasst. Wo hast du dein Zelt aufgeschlagen?«
»Hinter der Garagenauffahrt, wie du weißt.«
»Und Joel Moore?«
»In der Nähe der nördlichen Schlucht.«
»Swannie, geh zu deinem Zelt zurück und setz dich ans Funksprechgerät. Ruf Joel zu dir. Er soll vorher beim Chef Tiny Henderson anfordern.«
»Davon wird der Chef nicht begeistert sein.«
»Das ist mir egal. Schließlich handelt es sich nicht um seinen Bruder, sondern um meinen.«
»Der hat gar nicht so ein Prachtexemplar von einem Bruder wie du. Bei diesem Trompetensignal ist mir gleich die Gänsehaut gekommen - okay, Mike, ich werde alles erledigen. Sonst noch etwas?«
»Ja, ganz gleich was passiert, du beobachtest mit Moore meinen Bruder.