Der Vollstrecker - Chris Carter - E-Book
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Der Vollstrecker E-Book

Chris Carter

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Beschreibung

Der Psychothriller von Bestsellerautor Chris Carter: blutig, spannungsgeladen und ein echter Page-Turner! Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. Der zweite Fall für Hunter und Garcia: Ein erbarmungsloser Serienkiller, der perfide mit den Ängsten seiner Opfer spielt… Ein Priester wird geköpft, seiner Leiche ein Hundekopf aufgesetzt. Eine Frau verbrennt bei lebendigem Leibe in einem verlassenen Haus. Eine weitere wird an den Füßen aufgehängt und in ihrer eigenen Badewanne ertränkt. Detective Robert Hunter und sein Kollege Garcia sind auf der Jagd nach einem brutalen und gewissenlosen Killer. Ein Killer ohne Erbarmen, der weiß, was seine Opfer am meisten fürchten. »Ich war vom Kruzifix-Killer schon schwer begeistert- aber hier legt der Autor nochmal einen drauf. Spannend bis zum Schluss, einfacher Schreibstil und nichts für schwache Nerven.« Amazon Kunde »Das Buch ist derartig spannend und fesselnd, dass man wirklich die ganze Nacht durchlesen will. Einige Szenen sind so brutal, dass einem fast schlecht wird. Ich weiß nicht, woher Chris Carter die Fantasie nimmt - echt erschreckend! Das Buch ist rundherum gelungen: Gute Dialoge, absolute Spannung, authentische Ermittler! Volle Punktzahl für dieses Buch! Unbedingt lesen!« Amazon Kundin *** Chris Carter weiß, wie man Thriller-Fans perfekt unterhält. Dieses Buch werden Sie nicht aus der Hand legen können! ***

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Seitenzahl: 570

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Das Buch

Los Angeles, kurz vor Weihnachten: Ein katholischer Priester wird brutal ermordet. Vom Kopf des Toten fehlt jede Spur. Der Täter hat ihm stattdessen einen Hundekopf aufgesetzt. Als Hunter und Garcia an den Tatort, eine kleine Kirche, kommen, gibt ihnen nicht nur die Inszenierung der Leiche Rätsel auf. Kryptische Blutspuren befinden sich am Boden, und auf der Brust des Toten steht, mit Blut geschrieben, die Zahl Drei. Beim Durchforsten der Tagebuchaufzeichnungen des Toten stoßen Hunter und Garcia auf einen Eintrag, in dem der Priester einen Alptraum beschreibt, dessen Szenario – eine Enthauptung, das Ersetzen des eigenen Kopfes durch einen Hundekopf, die blutigen Spuren – der Täter haargenau nachgeahmt zu haben scheint. Kannte der Täter sein Opfer so gut? Und was bedeutet die Zahl Drei?

Noch ahnen Hunter und Garcia nicht, dass dies nur eines von zahlreichen Opfern eines wahnsinnigen Mörders ist …

Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang im Psychologenteam der Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Mit Der Kruzifix-Killer gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller.

Von Chris Carter ist in unserem Hause bereits erschienen:

Der Kruzifix-Killer

Chris Carter

Der Vollstrecker

Thriller

Aus dem Amerikanischen von

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www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage August 2011 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011 © Chris Carter 2010, Published by Arrangement with Luiz Montoro

Titel der englischen Originalausgabe: The Executioner

(Simon & Schuster Inc.) Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München (nach einer Vorlage von HildenDesign, München) Titelabbildung: © Artwork Stefan Hilden/HildenDesign

 

1

Eine grausame Ironie, nicht wahr, dass das einzig Sichere im Leben der Tod ist?« Die Stimme des Mannes war ruhig, seine Haltung entspannt.

»Bitte … tun Sie mir nichts …« Im Gegensatz dazu litt sein Opfer, das vor ihm am Boden kauerte, panische Angst. Die Hände waren hoch über dem Kopf ans nackte Mauerwerk gekettet. Seine Stimme war heiser von Tränen und Blut, sein nackter Körper zitterte vor Erschöpfung.

Jemand hatte den dunklen Keller in ein mittelalterliches Verlies verwandelt. An allen vier Wänden hingen schwere Eisenketten. Der beißende Gestank von Urin erfüllte die Luft, und aus einer großen Holzkiste in der Ecke drang unablässig ein gedämpftes Summen. Der Raum war schalldicht und ausbruchssicher. War man einmal darin gefangen, gab es kein Entkommen mehr – es sei denn, man wurde herausgelassen.

»Es spielt keine Rolle, wie man sein Leben gelebt hat«, fuhr der Mann fort, ohne dem Flehen seines blutenden Opfers Beachtung zu schenken. »Es spielt keine Rolle, wie viel Geld man besitzt, was man im Leben erreicht hat, wen man kennt oder welche Hoffnungen man hat. Am Ende passiert uns allen dasselbe: Wir sterben.«

»O Gott, bitte, nein …«

»Worauf es ankommt, ist, wie wir sterben.«

Der Mann am Boden musste husten und spuckte dabei einen feinen Sprühnebel aus Blut.

»Manche sterben eines natürlichen Todes. Ein sanftes, schmerzloses Hinübergleiten am Ende eines langen Lebens.« Der Mann lachte ein unheimliches, gurgelndes Lachen. »Andere leiden an unheilbaren Krankheiten, siechen jahrelang dahin und kämpfen verbissen um jede Sekunde.«

»Ich … ich bin nicht reich. Ich habe nicht viel Geld, aber was ich habe, kann ich Ihnen geben.«

»Schhhh.« Der Mann legte einen Finger an die Lippen, bevor er flüsterte: »Ich brauche dein Geld nicht.«

Ein erneuter Hustenanfall, wieder flogen winzige Blutstropfen in alle Richtungen.

Ein teuflisches Lächeln kroch über die Lippen des Mannes. »Und wieder andere sterben sehr langsam und qualvoll«, fuhr er bedächtig fort. »Der Todeskampf kann sich über viele Stunden hinziehen … über Tage … Wochen sogar. Wenn man weiß, was man tut, gibt es keine Grenze, wusstest du das?« Er hielt inne.

Erst jetzt sah der angekettete Mann die Nagelpistole in der Hand seines Peinigers.

»Und glaub mir, ich weiß genau, was ich tue. Erlaube mir, es zu demonstrieren.« Er machte einen Schritt nach vorn und trat dabei fast wie zufällig auf den Knochen, der aus einem offenen Bruch am Knöchel des gefesselten Mannes durch die Haut stak. Dann beugte er sich vor und feuerte in rascher Folge drei Nägel in das rechte Knie des Mannes. Ein unerträglicher, sengender Schmerz schoss sein Bein hinauf und presste ihm die Luft aus den Lungen. Mehrere Sekunden lang verschwamm alles vor seinen Augen. Die Nägel waren drei Zoll lang – zu kurz, als dass sie auf der anderen Seite wieder ausgetreten wären, aber dick und spitz genug, um Knochen und Knorpel zu zertrümmern.

Der Gefesselte atmete keuchend in kurzen, flachen Stößen. Trotz der Schmerzen versuchte er zu sprechen. »Bi… bitte. Ich habe eine Tochter. Sie ist krank … ich bin alles, was sie noch hat.«

Erneut hallte das seltsame gurgelnde Lachen im Kellerraum wider. »Und du glaubst, das interessiert mich? Pass auf – ich zeige dir, wie sehr es mich interessiert.« Der Mann packte einen der im Knie steckenden Nägel und drückte ihn ganz langsam immer weiter zur Seite, als ob er mit einem Schraubenzieher den Deckel von einer Dose Lack hebeln wollte. Ein Knirschen wie von Glasscherben war zu hören.

Der Mann am Boden heulte auf, aber sein Peiniger übte unerbittlich Druck auf den Nagel aus, so lange, bis schließlich die Kniescheibe brach. Übelkeit stieg in dem Gefesselten hoch wie eine Flutwelle. Der andere Mann schlug ihm ein paar Mal mit der flachen Hand ins Gesicht, damit er nicht das Bewusstsein verlor.

»Schön wach bleiben«, raunte er. »Ich möchte, dass du jede Sekunde genießt. Es kommt noch mehr.«

»Warum … warum tun Sie das?«

»Warum?« Der Mann leckte sich die spröden Lippen und lachte. »Ich werde dir zeigen, warum.« Aus seiner Hosentasche zog er ein Foto, das er dem anderen ganz nah vors Gesicht hielt.

Mehrere Sekunden lang blickte der Gefesselte das Foto in verzweifelter Verwirrung an. »Ich verstehe nicht. Was …« Er erstarrte, als ihm endlich klar wurde, was er da sah. »O mein Gott …«

Der Mann trat näher und beugte sich ganz tief herab, bis seine Lippen das Ohr seines Opfers berührten.

»Soll ich dir etwas verraten?«, wisperte er, während sein Blick zur Kiste in der Ecke huschte. »Ich weiß, wovor du Todesangst hast.«

2

Noch zehn Tage bis Weihnachten, und ganz Los Angeles hatte sich festlich herausgeputzt. Straßen und Schaufenster überall waren mit bunten Lichtern, Weihnachtsmännern und künstlichem Schnee dekoriert. Morgens um halb sechs war man bei einer Fahrt durch South L. A. von einer geradezu unheimlichen Ruhe umgeben.

Das Weiß der Kirchenfassade leuchtete zwischen den dunklen, winterlich kahlen Walnussbäumen hindurch, die rechts und links vom Portal standen. Es war eine Szene wie aus einem Bilderbuch – bis auf die Polizisten, die geschäftig herumliefen, und das gelbe Flatterband, das die Schaulustigen auf Abstand hielt.

Dunkle Wolken hatten sich am Himmel zusammengeballt. Robert Hunter stieg aus dem Wagen, streckte sich und hauchte auf seine kalten Hände, bevor er den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Kragen hochzog. Er wappnete sich gegen den schneidenden Pazifikwind und sah zum Himmel empor. Jede Minute konnte es anfangen zu regnen.

Das Morddezernat I des Los Angeles Police Department war eine Abteilung, die für Serienmörder und besonders schwere Gewaltverbrechen zuständig war, deren Aufklärung aufwendige Ermittlungen und spezielle Sachkenntnis erforderte. Hunter war der mit Abstand fähigste und erfahrenste Detective der Abteilung. Sein jüngerer Partner, Carlos Garcia, hatte hart gearbeitet, um den Rang eines Detective zu erlangen, und er hatte es schneller geschafft als die meisten. Er hatte seine Karriere beim LAPD Central Bureau begonnen, wo er ein paar Jahre damit beschäftigt gewesen war, Gang-Mitgliedern, bewaffneten Räubern und Drogendealern in East L. A. das Handwerk zu legen, bevor man ihm schließlich einen Posten im Morddezernat I angeboten hatte.

Hunter befestigte seine Marke gut sichtbar am Gürtel und schaute sich um. Er entdeckte Garcia, der sich gerade mit einem jungen Officer unterhielt. Trotz der frühen Stunde wirkte sein Partner taufrisch. Seine knapp kinnlangen dunkelbraunen Haare waren noch feucht von der Dusche.

»Sollte heute nicht eigentlich unser freier Tag sein?«, brummte Garcia halblaut, als Hunter auf die beiden zutrat. »Ich hatte einiges vor.«

Hunter nickte dem jungen Cop wortlos zu, der den Gruß erwiderte. »Wir sind beim Morddezernat, Carlos.« Er steckte die Hände in die Jackentaschen. »Worte wie ›frei‹, ›Gehaltserhöhung‹, ›Feiertag‹ oder ›Urlaub‹ haben für uns keine Bedeutung. Das solltest du inzwischen begriffen haben.«

»Ich lerne schnell.«

»Warst du schon drinnen?«, fragte Hunter, während er mit zusammengekniffenen Augen auf die Kirche starrte.

»Ich bin gerade erst gekommen.«

Als Nächstes wandte Hunter sich an den jungen Officer. »Und Sie?«

Der Mann war einen Meter zweiundachtzig groß und muskulös. Unter Hunters aufmerksamem Blick fuhr er sich nervös mit der Hand durch die kurz geschnittenen schwarzen Haare. »Ich war auch noch nicht drin, Sir, aber wie ich gehört habe, soll es kein schöner Anblick sein. Sehen Sie die beiden da drüben?« Er zeigte auf zwei Polizisten, die mit kreidebleichen Gesichtern links neben der Kirche standen. »Die waren als Erste am Tatort. Angeblich sind sie nach nicht mal zwanzig Sekunden wieder rausgerannt gekommen und haben sich die Seele aus dem Leib gekotzt.« Wie mechanisch warf er einen Blick auf die Uhr. »Ich war fünf Minuten nach ihnen hier.«

Hunter massierte sich den Nacken, und seine Finger ertasteten die raue Narbe unterhalb seines Haaransatzes. Sein Blick glitt über die Gaffer, die sich hinter der Absperrung drängten – und das noch vor sechs Uhr früh. »Haben Sie zufällig eine Kamera dabei?«, fragte er den jungen Officer, der daraufhin stirnrunzelnd den Kopf schüttelte.

»Auch keine Handykamera?«

»Doch, mein privates Handy hat eine. Wieso?«

»Ich möchte, dass Sie für mich ein paar Fotos von den Schaulustigen machen.«

»Von den Schaulustigen?«, fragte der Officer verdattert.

»Ja, aber machen Sie es unauffällig. Tun Sie so, als würden Sie Tatortfotos von der Kirche schießen oder so. Versuchen Sie, die ganze Menge zu fotografieren, aus verschiedenen Blickwinkeln. Glauben Sie, Sie kriegen das hin?«

»Klar, aber …«

»Vertrauen Sie mir einfach«, sagte Hunter ruhig. »Ich erkläre es Ihnen später.«

Der Officer nickte, bevor er zu seinem Streifenwagen ging, um sein Handy zu holen.

3

Die Geier sind bereits gelandet«, stellte Garcia fest, als sie auf das Absperrband zugingen. Hinter ihnen schoben sich Reporter aufgeregt durch die Menge nach vorn, und alle paar Sekunden leuchtete das Blitzlicht einer Kamera auf. »Manchmal habe ich den Verdacht, die kriegen viel eher Bescheid als wir.«

»Tun sie«, bestätigte Hunter. »Schließlich zahlen sie gut für die Informationen.«

Der Officer, der direkt hinter der Absperrung Wache hielt, nickte ihnen zu, als sie sich darunter hindurchduckten.

»Detective Hunter!«, rief ihm ein kleiner, untersetzter Reporter mit Glatze hinterher. »Glauben Sie, es könnte sich um einen religiös motivierten Mord handeln?«

Hunter wandte sich zu den Reportern um. Er konnte ihre Ungeduld nachvollziehen. Im Innern dieser kleinen Kirche war jemand gewaltsam zu Tode gekommen, und wenn Robert Hunter den Fall übernommen hatte, hieß das, dass der Mörder mit besonderer Brutalität vorgegangen sein musste.

»Wir sind eben erst hier angekommen, Tom«, antwortete Hunter geduldig. »Wir waren noch nicht mal da drin. Im Moment wissen Sie vermutlich mehr als wir.«

»Könnte es die Tat eines Serienmörders sein?«, wollte nun eine große, attraktive Brünette wissen. Sie trug einen dicken Wintermantel und streckte ihm ein kleines Aufnahmegerät entgegen. Hunter hatte sie noch nie gesehen.

»Stottere ich etwa?«, murmelte er und warf Garcia einen genervten Blick zu. »Also gut, ich sage es jetzt noch einmal ganz langsam für alle, die mir eben nicht folgen konnten.« Dabei fixierte er die dunkelhaarige Reporterin. »Wir. Sind. Gerade. Erst. Angekommen. Wir. Waren. Noch. Nicht. Da. Drin. Außerdem wissen Sie doch, wie es läuft: Wenn Sie Informationen haben wollen, müssen Sie bis zur offiziellen Pressekonferenz warten. Falls es eine geben sollte.«

Die Brünette hielt Hunters bohrendem Blick einen Augenblick stand, bevor sie im hinteren Teil der Menge untertauchte.

Ein Mann von der Spurensicherung wartete auf den ausgetretenen Steinstufen vor dem Kirchenportal auf Hunter und Garcia und überreichte ihnen je einen weißen Tyvek-Overall. Sie hatten kaum die Kirche betreten, als ihnen der Geruch entgegenschlug. Eine Mischung aus Schweiß, altem Holz und dem scharfen, metallischen Aroma von Blut.

Zwei lange Reihen von Eichenholzbänken wurden durch einen schmalen Gang getrennt, der vom Eingang zu den Altarstufen führte. Hunter ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. In der katholischen Kirche der Sieben Heiligen fanden, so schätzte er, etwa zweihundert Gläubige Platz.

Das eher kleine Kirchenschiff wurde von zwei großen, auf metallenen Stativen befestigten Halogenstrahlern taghell erleuchtet. In ihrem unnatürlich weißen Licht wirkte alles scharf und steril. Am hinteren Ende des Mittelgangs waren drei Männer von der Kriminaltechnik damit beschäftigt, Fotos zu machen und jeden Zentimeter des Altars sowie des Beichtstuhls, der sich einige Schritte entfernt an der rechten Seite befand, nach Fingerabdrücken abzusuchen.

Die schwere Kirchentür fiel knarrend hinter ihnen ins Schloss. Hunter spürte die nervöse Unruhe, die ihn befiel, wann immer er an einen neuen Tatort kam.

Die Kriminaltechniker hielten in ihrer Arbeit inne und sahen den Detectives mit unbewegten Mienen entgegen. Hunter und Garcia blieben kurz vor den Altarstufen stehen.

Überall war Blut.

»Mein Gott«, würgte Garcia hervor und schlug sich unwillkürlich beide Hände vor Mund und Nase. »Was in Dreiteufelsnamen ist das?«

4

Der Winter in Los Angeles ist im Vergleich zu anderen Teilen der Vereinigten Staaten relativ mild. Die Temperatur sinkt nur selten unter zehn Grad, was für die meisten Bewohner der Stadt allemal winterlich genug ist. Um Viertel vor sechs hatte ein kalter Nieselregen eingesetzt. Officer Ian Hopkins wischte sein Handy am Ärmel seiner Uniformjacke ab, bevor er ein weiteres Foto von den Schaulustigen vor der Kirche schoss.

»Was machst du denn da?«, wollte Justin Norton wissen, einer der zwei Polizisten, die als Erste am Tatort gewesen waren.

»Fotos«, antwortete Hopkins scherzhaft.

»Wieso denn das? Hast du einen Tatort-Fetisch oder was?«

»Der Detective von Mord I hat mich darum gebeten.«

Officer Norton sah Hopkins an, als wäre der nicht ganz richtig im Kopf. »Ich weiß ja nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber der Tatort ist da drüben.« Mit dem Daumen wies er über die Schulter auf die Kirche hinter ihnen.

»Der Detective will keine Bilder von der Kirche. Er will Bilder von der Menge.«

Norton runzelte irritiert die Stirn. »Von der Menge? Warum denn das?«

Hopkins zuckte mit den Schultern.

»Und wieso hältst du das Handy beim Fotografieren vor die Brust statt auf Augenhöhe?«

»Die Leute sollen nicht mitkriegen, dass ich sie ablichte. Ich versuche, diskret zu sein.«

»Diese Typen von Mord I …« Norton tippte sich mit dem linken Zeigefinger an die Stirn. »Die haben alle einen ziemlichen Schuss in der Birne, wenn du verstehst, was ich meine.«

Erneut zuckte Hopkins die Achseln. »Ich glaube, inzwischen habe ich sowieso genug Bilder. Außerdem geht mir bei dem Regen noch mein Handy kaputt, wenn ich nicht aufpasse. He«, rief er Norton hinterher, der Anstalten machte zu gehen. »Was ist da drin eigentlich passiert?«

Norton drehte sich langsam zu ihm um und sah ihm in die Augen. »Du bist neu bei der Polizei, oder?«

»Diese Woche habe ich mein Dreimonatiges.«

Norton betrachtete ihn mit ernster, abgeklärter Miene. »Also, ich bin seit über sieben Jahren bei der Polizei«, sagte er und zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. »Und glaub mir, ich habe schon viel Abartiges gesehen, aber noch nie so was wie da drinnen. Ich sage dir, in dieser Stadt laufen einige richtig kranke Leute rum. Wenn ich dir also einen Rat geben darf: Mach deine Fotos, und dann sieh zu, dass du hier wegkommst. Du willst ganz sicher nicht, dass sich das Bild von da drinnen gleich zu Anfang deiner Karriere in dein Gedächtnis brennt. Vertrau mir.«

5

Hunter stand völlig regungslos da. Mit ruhigem Blick nahm er die Szene in sich auf, seine Sinne durch Adrenalin geschärft. Auf dem steinernen Boden unmittelbar vor dem Beichtstuhl lag in einer Blutlache der enthauptete Leichnam eines schlanken, mittelgroßen Mannes im Priestergewand. Sofort erkannte Hunter, dass die Leiche ganz bewusst so hingelegt worden war. Die Beine waren lang ausgestreckt, die Arme über der Brust gefaltet. Hunters eigentliche Aufmerksamkeit jedoch galt dem Kopf.

Es war der Kopf eines Hundes.

Er saß auf einem hölzernen Spieß, der in den Halsstumpf der Leiche gerammt worden war, so dass diese aussah wie eine groteske Mutation aus Hund und Mensch.

Die Lefzen des Hundes waren violett verfärbt. Die lange schlaffe Zunge, die an der linken Seite aus dem Maul hing, war mit geronnenem Blut schwarz überkrustet. Die Augen des Tiers waren weit aufgerissen, die Pupillen milchig weiß eingetrübt. Blut hatte auch das kurze braune Fell dunkelrot gefärbt. Hunter trat einen Schritt näher und ging neben der Leiche in die Hocke. Er war kein Hundefachmann, aber es war unschwer zu erkennen, dass der Kopf, den der Mörder dem Toten aufgepflanzt hatte, der eines ganz normalen Mischlings war.

»Schockierender Anblick, was?«, sagte Mike Brindle, der Leiter der Spurensicherung, als er auf die beiden Detectives zutrat.

Hunter erhob sich und drehte sich zu ihm um. Garcias entgeisterter Blick war immer noch auf die Leiche geheftet.

»Hi, Mike«, grüßte Hunter den Kollegen.

Brindle war Ende vierzig, hochaufgeschossen und spindeldürr. Er galt als einer der besten Forensiker, die die Polizei von L. A. zu bieten hatte.

»Was macht die Schlaflosigkeit?«, erkundigte Brindle sich bei Hunter.

»Wächst und gedeiht«, erwiderte dieser achselzuckend.

Hunters chronische Hyposomnie war kein Geheimnis. Sie hatte nach dem Tod seiner Mutter begonnen, als er sieben gewesen war. Im Laufe der Jahre war sie immer schlimmer geworden. Hunter wusste, dass sie nichts weiter war als ein Schutzmechanismus, mit dem sein Gehirn die entsetzlichen Alpträume in Schach halten wollte. Er hatte es längst aufgegeben, dagegen anzukämpfen, und sich stattdessen mit seinem Leiden arrangiert. Er kam mit drei, notfalls auch mit zwei Stunden Schlaf pro Nacht aus.

»Was gibt’s bis jetzt?«, fragte er mit ruhiger, sachlicher Stimme.

»Wir haben gerade erst angefangen. Wir sind vor knapp fünfzehn Minuten angekommen, im Augenblick wissen wir also noch nicht viel mehr als ihr – mit einer Ausnahme.« Brindle zeigte auf den Leichnam. »Allem Anschein nach war das früher einmal Vater Fabian.«

»Allem Anschein nach?« Instinktiv glitt Hunters Blick durch den Raum. »Ihr habt den Kopf noch nicht gefunden?«

»Bis jetzt noch nicht, nein«, bekannte Brindle und warf den anderen Kriminaltechnikern einen fragenden Blick zu, woraufhin diese einhellig die Köpfe schüttelten.

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Der Ministrant, Hermano irgendwas. Als er heute Morgen in die Kirche gekommen ist. Kein schöner Start in den Tag.«

»Wo ist er jetzt?«

»Hinten«, sagte Brindle und deutete mit dem Kinn in die Richtung. »Ein Officer ist bei ihm. Er steht unter Schock, was ja nicht weiter überraschend ist.«

»Ungefährer Todeszeitpunkt?«

»Die Totenstarre hat bereits eingesetzt. Ich würde sagen, vor acht bis zwölf Stunden. Definitiv irgendwann letzte Nacht, nicht erst heute Morgen.«

Hunter ging wieder in die Knie und inspizierte die Leiche aufmerksam. »Keine Abwehrverletzungen?«

»Nein.« Brindle schüttelte den Kopf. »Soweit man sehen kann, hat das Opfer überhaupt keine anderen Verletzungen. Er wurde schnell und sauber getötet.«

Hunter wandte seine Aufmerksamkeit der Blutspur zu, die beim Leichnam begann und die Stufen hinauf zum Altar führte.

»Da oben wird es nicht viel besser«, meinte Brindle, der Hunters Blick gefolgt war. »Im Gegenteil. Ich würde sagen, es wird für euch Jungs noch komplizierter.«

6

Garcia zwang sich, seinen Blick von der Leiche loszureißen, und drehte sich zu dem Rechtsmediziner um. »Was meinst du damit?«

Brindle kratzte sich an der Nase. »Ihr seid ja diejenigen, die rausfinden müssen, was das alles zu bedeuten hat – aber die Blutspritzer da oben …«, er wiegte nachdenklich den Kopf, »… die sehen nicht so aus, als wären sie zufällig entstanden.«

»Menschliches Blut?«, wollte Hunter wissen.

»Im Gegensatz zu Hundeblut?«, fragte Brindle zurück und deutete auf den Hundekopf.

»M-hm.«

»Kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen. Optisch ist beides kaum voneinander zu unterscheiden.«

Hunter überwand die Altarstufen mit einem einzigen großen Schritt. Garcia und Brindle folgten ihm. Der gesamte Bereich um den Altar war mit Blutflecken übersät. Aber Brindle hatte recht, die Flecken bildeten definitiv ein Muster. Eine Art Symmetrie. Eine dünne Tropfspur verlief kreisförmig um den Altar. Auf der Wand dahinter gab es eine lange diagonale Spritzspur, als hätte jemand einen Pinsel in Blut getaucht und das Blut in einem Schwung dorthin geschleudert. Hunderte kleiner Blutspritzer bedeckten das einst weiße Altartuch.

»Wenn Spritz- und Tropfspuren über eine so große Fläche verteilt sind, dann weist das normalerweise darauf hin, dass irgendeine Art von Kampf stattgefunden hat«, erklärte Brindle. »Genauer gesagt gibt es allgemein zwei Möglichkeiten: Entweder haben zwei Gegner miteinander gekämpft, sind dabei herumgelaufen und haben überall hingeblutet, oder es gab ein blutendes Opfer, das versucht hat, seinem Angreifer zu entkommen.«

»Die Verteilung passt nicht zu einem Kampf. Und zu einem blutenden Opfer auch nicht«, meinte Hunter, während er das Spritzmuster genau betrachtete. »Der Abstand zum Altar, die Form – das ist alles viel zu gleichmäßig, beinahe wie berechnet. Diese Blutspur wurde absichtlich gelegt – vom Mörder«, fügte er ruhig hinzu.

»Sehe ich genauso«, pflichtete Brindle ihm bei und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die beiden haben definitiv nicht miteinander gekämpft, und Vater Fabian hatte auch keine Gelegenheit, vor irgendwas wegzulaufen.«

»Aber wenn der Priester da unten getötet wurde«, Garcia deutete auf die Leiche, »wie ist dann das ganze Blut nach hier oben gekommen?«

Brindle zuckte bloß die Achseln.

Auch Hunter sagte nichts. Stattdessen ging er langsam einmal um den Altar herum. Dabei behielt er die dünne Blutspur am Boden die ganze Zeit über genau im Auge. Als er wieder am Ausgangspunkt angelangt war, blieb er stehen.

»Wie groß bist du, Mike?«, fragte er scheinbar zusammenhanglos.

»Eins fünfundneunzig, wieso?«

»Und du, Carlos?«

»Eins achtundachtzig.«

»Komm mal her.« Hunter winkte Garcia zu sich. »Geh mit mir, aber langsam. Halte ungefähr dreißig Zentimeter Abstand von der Blutspur. Mach immer nur einen Schritt auf einmal und geh ganz natürlich. Fang genau hier an.« Er zeigte auf eine Stelle am Boden mittig hinter dem Altar.

Die anderen beiden Kriminaltechniker hielten in ihrer Arbeit inne und gesellten sich zu Mike Brindle, der bei einem der Scheinwerfer stand und das seltsame Treiben neugierig beobachtete.

Garcia hatte vier Schritte gemacht, als Hunter ihn bat, stehen zu bleiben. Er bückte sich und überprüfte rasch die Position von Garcias Füßen im Verhältnis zur Blutspur, bevor er ihn bat, weiterzugehen. Vier Schritte später hielt Hunter Garcia erneut an. Noch vier Schritte, und der Kreis war vollendet.

»Insgesamt zwölf Schritte«, verkündete Garcia mit einer Miene, die deutlich signalisierte, dass er keine Ahnung hatte, was Hunter mit der ganzen Sache bezweckte.

Als Nächstes bat Hunter Brindle, exakt dasselbe zu tun.

»Für mich waren es elf Schritte«, sagte Brindle, als er den Altar umrundet hatte.

»Dann würde ich sagen, der Mörder ist ungefähr so groß wie Garcia«, schloss Hunter. »Eins achtundachtzig, plus minus ein, zwei Zentimeter.«

7

Brindles forschender Blick ruhte noch einen Moment lang auf der Blutspur, bevor er zu Hunter wanderte. »Und wie bist du zu dem Schluss gekommen?«

»Durch diese kleineren Spuren hier.« Hunter zeigte auf zwei Stellen am Boden, wo mehrere Blutstropfen eine etwa dreißig Zentimeter lange Spur bildeten, die schräg von der kreisförmigen Blutspur wegführte.

»Da kann ich nicht ganz folgen«, meldete sich einer der beiden Kriminaltechniker zu Wort.

»Wenn Sie mit Blut einen Kreis um diesen Altar hier malen wollten, aber Sie hätten keinen Pinsel, was würden Sie machen?«, fragte Hunter.

»Wenn so viel Blut da ist«, meinte der Mann mit Blick auf die Blutlache unten beim Beichtstuhl, »könnte man es einfach in einen Becher füllen und es dann auf den Boden gießen.«

»Zu unsauber«, widersprach Hunter. »Die Gießgeschwindigkeit wäre nur schwer zu kontrollieren, es sei denn, Sie hätten ein Gefäß mit einer Tülle.«

»Außerdem ist es eine Tropfspur«, schaltete sich Brindle ein. »Das Blut wurde nicht auf den Boden gegossen. Es ist auf den Boden getropft.«

»Eben.« Hunter nickte zustimmend.

»Okay, von mir aus. Aber trotzdem: Wieso verrät Ihnen diese schräge Tropfspur die Körpergröße des Täters?«, hakte der Kriminaltechniker nach.

»Stellen Sie sich vor, jemand geht um den Altar herum und hält dabei einen Gegenstand in der Hand, der mit Blut getränkt ist«, sagte Hunter und ging zur Vorderseite des Altars, »wobei das überschüssige Blut auf den Fußboden tropft.«

»Meinen Sie vielleicht so was wie eine Kerze?«, fragte der andere und hielt eine halb heruntergebrannte Altarkerze am Docht in die Höhe. Das untere Ende war rot, als sei es in ein flaches Gefäß mit Blut getaucht worden. »Die habe ich links neben dem Altar gefunden.« Er trat näher, so dass Brindle und die beiden Detectives einen Blick darauf werfen konnten.

»Ja, das muss es gewesen sein«, sagte Hunter.

»Eintüten«, befahl Brindle.

»Der Mörder taucht also das Ende der Kerze in Blut und benutzt sie, um die kreisförmige Spur zu malen«, fasste der Kriminaltechniker zusammen, während er die Kerze in eine transparente Asservatentüte fallen ließ. »Und was ist jetzt mit den schrägen Spritzern?«

»Wachs ist nicht saugfähig«, erklärte Hunter. »Das heißt, die Kerze kann nur eine sehr begrenzte Menge an Blut aufnehmen, bevor sie aufhört zu tropfen.«

»Und der Mörder sie erneut eintauchen muss«, ergänzte Garcia.

»Genau.«

Brindle ließ sich das durch den Kopf gehen. »Der Mörder hat also immer nur vier Schritte geschafft, bevor er die Kerze wieder eintauchen musste.«

Hunter nickte. »Ich vermute mal, er hat das Gefäß mit dem Blut in der linken Hand gehalten, dicht am Körper. Und diese diagonalen Spuren sind die Tropfen, die nach dem Eintauchen herabgefallen sind, auf dem Weg zwischen dem Gefäß und der eigentlichen Blutspur.«

»Und sie liegen genau vier von Garcias Schritten auseinander«, schloss Brindle.

Erneutes Nicken von Hunter. »Deine Schritte waren zu groß und meine zu klein. Ich bin knapp über eins achtzig.«

»Aber wieso hat er überhaupt diese Blutspur rund um den Altar gemalt?«, fragte Garcia. »War das irgendein Ritual?«

Niemand antwortete.

»Wie gesagt«, brach Brindle schließlich das Schweigen. »Das rauszufinden ist eure Aufgabe. Die Blutspritzer, der Hundekopf … was auch immer das zu bedeuten hat, in jedem Fall sieht es so aus, als wollte der Täter eine Botschaft übermitteln.«

»Welche da lautet: Mir ist die Hauptsicherung durchgeknallt«, brummte Garcia und betrachtete erneut den Leichnam.

»Hast du so was irgendwann schon mal gesehen, Mike?«, wollte Hunter wissen. »Ich meine, dass jemand einem Opfer einen Hundekopf aufgesetzt hat?«

Brindle schüttelte den Kopf. »Mir ist schon einiges an Abscheulichkeiten untergekommen, aber nichts, was mit dem hier vergleichbar wäre.«

»Das muss doch was Konkretes zu bedeuten haben«, meinte Garcia. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Mörder es einfach aus Spaß an der Freude gemacht hat.«

»Da der Kopf noch nicht aufgetaucht ist, nehme ich mal an, ihr habt auch keine Tatwaffe gefunden«, sagte Hunter, der nun den diagonalen Blutspritzer an der Wand betrachtete.

»Bis jetzt noch nicht, nein.«

»Irgendeine Ahnung, was es sein könnte?«

»Darüber wird hoffentlich die Autopsie Aufschluss geben, aber ich kann jetzt schon sagen, dass der Schnitt sehr sauber aussieht. Glatte Wundränder, keine Schlag- oder Hackspuren. Auf jeden Fall muss es eine sehr scharfe Waffe gewesen sein. Eine, mit der sich die Enthauptung in einem einzigen Streich ausführen ließ.«

»Eine Axt?«, wollte Garcia wissen.

»Möglich. Wenn der Täter geschickt und stark genug war.«

Mit gerunzelter Stirn untersuchte Hunter erneut den Altar. Auf dem blutbefleckten Tuch lag ein einzelner Gegenstand, ein vergoldeter, mit mehreren silbernen Kreuzen verzierter Kelch. Er lag auf der Seite, als hätte ihn jemand umgestoßen. Auch seine blank polierte Oberfläche war mit Blutspritzern übersät. Hunter beugte sich vor und neigte dann den Kopf zur Seite, damit er einen Blick ins Innere des Kelchs werfen konnte, ohne ihn anfassen zu müssen.

»Da ist Blut in dem Kelch«, verkündete er.

»Wundert dich das?«, fragte Brindle mit einem trockenen Lachen. »Schau dich mal um: Hier ist überall Blut. Es sieht aus, als wäre eine mit Blut gefüllte Bombe explodiert.«

»Das muss das Gefäß sein, das der Täter zum Eintauchen der Kerze benutzt hat«, sagte Garcia mit Überzeugung.

»Das glaube ich auch, aber …« Hunter winkte ihn mit der linken Hand heran. Garcia und Brindle traten neben ihn und bückten sich, bis sie auf Augenhöhe mit dem Kelch waren.

»Na, so was. Das sieht aus wie ein Lippenabruck«, rief Brindle überrascht.

»Was?«, meinte Garcia und riss die Augen auf. »Soll das heißen, der Mörder hat das Blut des Priesters getrunken?«

8

Das Zimmer war klein, düster und spärlich möbliert. Das blauweiße Muster der Tapete war ausgeblichen, ein paar gerahmte Heiligenbilder schmückten die Wände. An einer Wand stand ein hohes Bücherregal aus Mahagoni mit zahlreichen gebundenen Büchern, die genauso alt aussahen wie der Rest des Zimmers. Rechts neben der Tür ging der Raum in eine winzige Küche über, daneben war gerade noch Platz für ein schmales Eisenbett. Auf ihm saß völlig verängstigt ein Junge. Er war klein für sein Alter und mager, mit spitzem Kinn, eng beieinanderliegenden braunen Augen und einer schmalen, scharfen Nase.

»Wir übernehmen jetzt, danke«, sagte Hunter an den Officer gewandt, der neben dem Bücherregal Wache hielt. Der Junge schien ihr Eintreten gar nicht bemerkt zu haben. Seine Augen starrten blicklos auf die noch unberührte Tasse Kaffee, die er mit beiden Händen umklammert hielt. Er hatte offensichtlich geweint, seine Augen waren rot und verquollen.

Auf der kleinen Kochplatte in der Küche erspähte Hunter einen Wasserkessel.

»Soll ich dir noch eine Tasse machen? Die da sieht so aus, als wäre sie schon kalt«, fragte er freundlich, sobald der Officer gegangen war.

Jetzt endlich sah der Junge auf. Seine Augen waren weit aufgerissen und angsterfüllt.

»Nein, Sir, ist schon gut«, flüsterte er so leise, dass Hunter ihn kaum verstand.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte Hunter und trat einen Schritt näher.

Ein unmerkliches Kopfschütteln.

Er setzte sich neben dem Jungen aufs Bett. Garcia zog es vor, stehen zu bleiben.

»Ich heiße Robert Hunter. Ich bin Detective beim Morddezernat. Der hässliche Troll da drüben ist mein Partner Carlos Garcia.«

Das Gespenst eines Lächelns zuckte über die Lippen des Jungen, als sein Blick ganz kurz zu Garcia huschte. Dann stellte er sich selbst mit dünner Stimme als Her­mano Cordobes vor.

»Wäre es dir lieber, wenn wir uns auf Spanisch unterhalten, muchacho?«, fragte Hunter, während er sich in Nachahmung von Hermanos Sitzposition nach vorn lehnte und die Ellbogen auf den Knien abstützte.

»Nein, Sir. Englisch ist schon in Ordnung.«

Hunter stieß erleichtert die Luft aus. »Da bin ich aber froh. Muchacho ist nämlich so ziemlich das einzige spanische Wort, das ich kenne.«

Damit war es ihm gelungen, das Eis zu brechen. Der Junge schenkte ihnen ein scheues Lächeln.

Die ersten paar Minuten sprachen sie über Hermano und darüber, wie er zu seinem Posten als Ministrant an der Kirche der Sieben Heiligen gekommen war. Vater Fabian hatte ihn als Elfjährigen von der Straße aufgelesen. Er hatte gebettelt, seit er mit zehn von zu Hause und seinem gewalttätigen Vater weggelaufen war. Vor zwei Wochen sei er vierzehn geworden, teilte er den Detectives mit.

Mittlerweile kamen die ersten Strahlen Tageslicht durch die dicken Vorhänge hereingekrochen, die vor dem Fenster über Hermanos Bett hingen. Hunter beschloss, dass der Junge jetzt entspannt genug war. Es wurde Zeit, die unangenehmen Fragen zu stellen.

9

Kannst du uns erzählen, was heute Morgen passiert ist?«, fragte Hunter mit sanfter Stimme.

Hermano blickte zu ihm auf, und seine Unterlippe begann zu zittern. »Ich bin um Viertel nach vier aufgestanden. Ich hab geduscht und dann meine Gebete aufgesagt, und dann bin ich um Viertel vor fünf rübergegangen in die Kirche. Ich muss immer dafür sorgen, dass für die erste Messe um halb sieben alles vorbereitet ist.«

Hunter schenkte ihm ein freundliches Lächeln und erlaubte ihm, in seinem eigenen Tempo fortzufahren.

»Gleich als ich reingekommen bin, hab ich gewusst, dass was nicht stimmt.«

»Wieso?«

Hermano hob die rechte Hand an den Mund und kaute an den kläglichen Überresten eines Fingernagels. »Ein paar Kerzen haben noch gebrannt. Vater Fabian achtet immer drauf, dass alle aus sind, wenn er abends die Kirche zumacht.«

»Hat Vater Fabian die Kirche immer selbst abgeschlossen?«

»Ja.« Hermano ließ von dem Nagel ab und nahm sich einen anderen vor. »Das war die einzige Zeit, in der er die Kirche ganz für sich allein hatte. Das war ihm wichtig.« Hermanos Stimme geriet ins Stocken, Tränen rannen ihm die Wangen hinab.

Hunter fischte ein Papiertaschentuch aus seiner Jackentasche.

»Danke, Sir. Tut mir leid …«

»Das muss dir nicht leidtun«, sagte Hunter besänftigend. »Lass dir ruhig Zeit. Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss.«

Hermano wischte sich die Tränen weg und holte zitternd Luft. »Ich hab gleich gesehen, dass der Altar in Unordnung war. Die Kerzenständer haben auf dem Boden gelegen. Der Kelch war umgekippt, und das Altartuch sah ganz fleckig aus. Als hätte jemand irgendwas draufgeschmiert.«

»Ist dir aufgefallen, ob sonst noch jemand in der Kirche war?«

»Nein, Sir. Ich glaub nicht. Es war ganz still, so wie immer um die Zeit. Die Tür war noch abgeschlossen.«

»Okay, und was hast du dann gemacht?«, fragte Hunter weiter. Sein hellwacher Blick registrierte jede noch so kleine Regung des Jungen.

»Ich bin zum Altar, um nachzusehen, was los ist. Ich dachte, vielleicht ist jemand eingebrochen und hat rumgesprayt. Graffiti. Die Gegend hier ist nicht gerade die beste. Manche der Gangs hier haben keinen Respekt vor irgendwas. Nicht mal vor unserem Herrn Jesus Christus.«

»Hattet ihr schon mal Ärger mit Gangs?«, hakte Hunter ein. Garcia sah sich unterdessen in der Küche um.

»Nein, das ist es ja. Wir hatten nie Ärger. Alle haben Vater Fabian gemocht. Ihn respektiert.«

»Was ist mit Einbrüchen? Ist schon mal jemand in die Kirche oder in die Räume hier eingestiegen?«

»Nein. Noch nie. Hier gibt’s ja ohnehin nichts zu holen.«

Hunter nickte. »Und was ist dann passiert?«

»Erst mal wusste ich nicht, was ich tun soll. Es war ja klar, dass ich die Kirche niemals bis halb sieben saubergemacht kriege. Ich bin um den Altar rumgegangen, und da hab ich es gesehen. Auf dem Boden neben dem Beichtstuhl. Ich bin in Panik geraten. Ich dachte, es ist der Teufel.«

»Der Teufel?« Hunter hob fragend die Brauen.

Hermano hatte wieder angefangen zu schluchzen. »Die Leiche mit dem Hundekopf. Die hat ausgesehen wie der Teufel. Dabei war es Vater Fabian …«

»Woran hast du ihn denn erkannt?«, wollte Garcia wissen.

»An dem Ring.«

»Welchem Ring?«

»Ein großer goldener Ring mit einem Bild des heiligen Georg, wie er den Drachen tötet. Links«, sagte Hunter, hob die linke Hand und wackelte mit dem Ringfinger.

Garcia biss sich verärgert auf die Unterlippe. Es wurmte ihn, dass ihm der Ring nicht aufgefallen war.

»Ja, genau«, sagte Hermano. »Vater Fabian hat ihn nie abgenommen. Der war ein Geschenk von seiner Großmutter, hat er mir mal gesagt. Als ich den Ring gesehen hab, da wusste ich, dass er es ist. Vater Fabian.« Hermano sackte vornüber und begrub das Gesicht in den Händen. Er schluchzte so heftig, dass sein ganzer Körper davon durchgeschüttelt wurde.

10

Trauer und Schweigen sind ideale Partner. Hunter verstand das. Zu oft schon hatte er mit Menschen zu tun gehabt, die unter Schock standen, nachdem sie die Leiche eines geliebten Menschen gefunden hatten. Worte, egal wie tröstend, halfen selten. Also bot er dem jungen Ministranten bloß ein weiteres Papiertaschentuch an und wartete, während Hermano sich die Tränen wegwischte. Als er sich danach zu Hunter umdrehte, waren seine Augen noch röter als vorher.

»Ich kapier das nicht. Wer würde Vater Fabian so was antun? Er hat nie jemandem was getan, er wollte immer bloß allen helfen. Wenn jemand ihn gebraucht hat, war er immer da.«

Hunters Stimme war ruhig und ernst. »Hermano, ich glaube, du bist ein ziemlich kluger Junge, und ich will dir nichts vormachen. Im Moment wissen wir noch nicht, wer ihn getötet hat und warum, aber ich kann dir versprechen, dass wir alles tun werden, um es herauszufinden. Ist es in Ordnung, wenn wir dir noch ein paar weitere Fragen stellen?«

Hermano schnäuzte sich, dann nickte er.

Hunter fischte einen Kugelschreiber und ein kleines schwarzes Notizbuch aus seiner Jackentasche. »Wann hast du Vater Fabian zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern Abend. Kurz bevor die Beichte angefangen hat.«

»Und wann fing die Beichte an?«

»Viertel vor neun.«

»So spät?«, fragte Garcia erstaunt.

»Normalerweise ist die Beichte nachmittags von vier bis fünf«, erklärte Hermano. »Aber in den Wochen vor Weihnachten kommen immer mehr Leute als sonst. Die Stunde am Nachmittag reicht dann nicht für alle, deswegen nimmt Vater Fabian abends auch noch mal die Beichte ab, direkt bevor er die Kirche zumacht.«

Hunter kritzelte etwas in sein Büchlein.

»Ich bin hierher in mein Zimmer und hab meine Gebete aufgesagt. Dann bin ich gleich ins Bett gegangen. Gestern musste ich um halb fünf aufstehen.«

»Hast du noch irgendwas gehört, nachdem du ins Bett gegangen bist?« Hunters Blick glitt durchs Zimmer.

»Nein, Sir, ich hab nichts gehört.«

Das überraschte Hunter nicht weiter. Hermanos Zimmer lag in einem separaten kleinen Anbau hinter der Kirche. Die geschlossenen Türen und die dicken Wände hätten kein Geräusch durchgelassen, es sei denn, der Mörder hätte seine Tat per Lautsprecher übertragen.

»Ich nehme an, Vater Fabians Zimmer ist auch hier auf dem Flur? Nebenan?«, fragte Hunter weiter.

»Ja.« Hermano bohrte sich die Knöchel seiner Zeigefinger in die geschlossenen Augen, während er langsam nickte. Eine Träne tropfte von der Spitze seiner geröteten Nase.

Hunter ließ noch ein paar Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr. »Ist dir aufgefallen, dass Vater Fabian die letzten Tage über anders war als sonst? Besorgt zum Beispiel oder nervös?«

Hermano zog geräuschvoll die Nase hoch. »Er hat nicht gut geschlafen. Manchmal hab ich ihn mitten in der Nacht in seinem Zimmer gehört, wie er gebetet hat.«

Hunter lehnte sich ein Stück zurück und hob mit dem Kugelschreiber eine Ecke des schweren Vorhangs an. »Du hast gesagt, du machst in der Kirche sauber, stimmt’s? Machst du auch hier sauber – und in Vater Fabians Zimmer?«

»In seinem Zimmer nicht.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Vater Fabian war ziemlich eigen. Er hat seine Tür immer abgeschlossen. Sein Zimmer hat er selbst saubergemacht.«

Hunter fand das merkwürdig. »Hast du eine Ahnung, wie wir in sein Zimmer kommen könnten?«

Ein scheues Kopfschütteln. »Außer Vater Fabian hatte niemand einen Schlüssel.«

Hunter klappte sein Notizbuch zu und steckte es wieder in die Jackentasche. Als er aufstand, glitt sein Blick flüchtig über die Heiligenbilder an der Wand. »Weißt du zufällig, wie er mit bürgerlichem Namen hieß?«, fragte er, als er schon bei der Tür war.

Garcia warf Hunter einen verständnislosen Blick zu.

Hermano sah zu den beiden Detectives auf. »Ja, sein richtiger Name war Brett.«

Garcia runzelte die Stirn. »Und woher kommt der Name Fabian?«

»Vom heiligen Fabian«, sagte Hunter und zeigte zu einem der Bilder, auf dem ein ganz in Weiß gekleideter Mann mit einer Taube auf der Schulter zu sehen war.

»Das stimmt«, sagte Hermano. »Er war sogar Papst, bis er dann …« Er verstummte schlagartig, als sei ihm etwas klargeworden. Seine Augen weiteten sich. »O Gott!«

»Was?«, fragte Garcia erstaunt. Sein Blick sprang zwischen dem Jungen und Hunter hin und her.

»Der heilige Fabian«, sagte Hermano mit zitternder Stimme.

»Was ist mit ihm?«

»Der ist genauso gestorben. Man hat ihm den Kopf abgeschlagen.«

11

Nach dem Gespräch mit Hermano ging Hunter in die Kirche zurück. Brindle hatte Vater Fabians Zimmerschlüssel in der linken Tasche seiner Soutane gefunden. Auf den hatte der Mörder es also nicht abgesehen gehabt.

Das Zimmer des Priesters war etwas größer als das seines Ministranten, aber genauso spartanisch eingerichtet: auch hier ein Regal mit Büchern, ein alter Schreibtisch und ein schmales Bett. In der hinteren Ecke war ein kleiner Altar aufgebaut, auf dem sich zahlreiche Heiligenfiguren drängten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein kleiner Kleiderschrank. Das Zimmer war makellos sauber, aber in der Luft hing ein alter, stockiger Geruch. Das Bett war gemacht. In der vergangenen Nacht hatte niemand darin geschlafen.

Vater Fabians Kleiderschrank enthielt mehrere Soutanen, einige Oberhemden, Jeans, einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug und ein Paar ausgetretene Schuhe.

»Hier riecht’s wie im Haus meiner Großeltern in Brasilien«, sagte Garcia, der den Schreibtisch durchsuchte, während Hunter die Titel im Bücherregal überflog. »Hermano hatte recht«, meinte er kurz darauf und hielt mit seiner latexbehandschuhten Hand einen Reisepass in die Höhe. »Der bürgerliche Name unseres Priesters lautete Brett Stewart Nichols. Geboren am 25. April 1965 hier in Los Angeles. Kein Wunder, dass er sich einen neuen Namen zugelegt hat. Vater Brett hat irgendwie nicht den richtigen Klang, oder?«

»Irgendwelche Stempel im Pass?«, fragte Hunter neugierig.

Garcia blätterte die ersten paar Seiten um. »Nur einer. Italien, vor drei Jahren.«

Hunter nickte. »Sonst noch was in den Schubladen?«

Garcia machte sich wieder auf die Suche. »Ein paar Notizen, Bilder vom heiligen Georg, Kugelschreiber, Bleistifte, ein Radiergummi und … ein Zeitungsausschnitt.«

»Worüber?«

»Ihn selbst.«

Hunter ging zu Garcia, um sich den Artikel anzusehen. Er war elf Monate alt und stammte aus der L. A. Daily News. Über dem Text war das Foto eines milde dreinblickenden Geistlichen abgedruckt, der umringt war von einer Schar lachender Kinder. Die Überschrift lautete: PRIESTER AUS COMPTON IST DER WAHRE WEIHNACHTSMANN. In dem Artikel wurde geschildert, wie Vater Fabian von seinem eigenen Gehalt Geschenke gekauft hatte, um Kindern in sechs verschiedenen Waisenhäusern zum Fest eine Freude zu machen.

»Er scheint wirklich ein guter Mensch gewesen zu sein«, meinte Hunter und ging zurück zum Bücherregal.

Garcia nickte und legte den Zeitungsausschnitt wieder in die Schublade. »Für die Party heute Abend sind wir wohl nicht in der richtigen Stimmung«, meinte er dann beiläufig, während er die Heiligenstatuetten auf dem kleinen Altar in Augenschein nahm.

Die Abschiedsfeier für Captain Bolter, der in den Ruhestand ging, fand im Redwood Bar & Grill statt und sollte um fünf Uhr nachmittags beginnen.

»Wohl nicht.« Hunter ging in die Hocke, zog ein in Leder gebundenes Buch aus dem untersten Regal und blätterte darin, bevor er es zurückstellte und den Vorgang mit dem nächsten Buch wiederholte.

Und dem nächsten.

Und dem nächsten.

Sie waren allesamt handgeschrieben.

»Was hast du da?«, wollte Garcia wissen, der beobachtet hatte, wie Hunter mit großem Interesse einige Seiten las.

»Jede Menge Tagebücher – oder so was Ähnliches«, antwortete Hunter und stand auf. Er sah auf der ersten Seite nach, dann auf der letzten. »Exakt zweihundert Seiten.« Erneutes Blättern. »Und sie sind alle von oben bis unten vollgeschrieben.«

Garcia trat zu Hunter und bückte sich. »Das sind ja mindestens dreißig oder fünfunddreißig Bände. Wenn jede Seite einen Tag bedeutet, dann hat er fast sein gesamtes Leben dokumentiert. Wozu das?«

»Mehr als zwanzig Jahre«, sagte Hunter und schlug aufs Geratewohl das Buch auf, das er gerade in den Händen hielt. »Sein Tagesablauf, seine Gedanken, seine Zweifel – alles schwarz auf weiß. Hier, hör dir das an.« Er drehte sich zu Garcia um.

Heute war mir beim Beten das Herz schwer. Ich habe für eine Frau gebetet – Rosa Perez. Seit fünf Jahren kam sie regelmäßig in unsere Kirche. Sie hat für eine Sache gebetet, immer nur für eine einzige Sache: dass sie endlich ein Kind bekommt. Vor acht Jahren war sie von mehreren Männern vergewaltigt worden, dabei hatte sie sich schwere Verletzungen an der Gebärmutter zugezogen. Es ist gleich um die Ecke von hier passiert. Damals war sie sechzehn. Drei Jahre später hat sie geheiratet, und seitdem versuchten sie und ihr Mann Antonio, ein Kind zu bekommen. Letztes Jahr wurden ihre Gebete endlich erhört. Sie wurde schwanger. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich war. Vor zwei Monaten hat sie einen kleinen Jungen zur Welt gebracht, Miguel. Aber es gab Komplikationen, das Baby war nicht gesund. Er hat zehn Tage lang tapfer gekämpft, aber seine Lunge und sein Herz waren zu schwach. Am elften Tag nach seiner Geburt ist er gestorben.

Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, kam Rosa nur noch ein Mal hierher. Sie brachte eine einzige Frage mit: WARUM? Ich sah es in ihren Augen. Da war kein Glaube mehr. Ihr Glaube war zusammen mit ihrem Sohn gestorben.

Heute – ganz allein – hat sie sich in ihrer kleinen Wohnung in der East Hatchway Street das Leben genommen. Jetzt mache ich mir Sorgen um Antonio, den der Tod seiner Frau in einen Abgrund der Verzweiflung gestürzt hat. Und obwohl mein Glaube unerschütterlich ist, so sehne auch ich mich nach einer Antwort auf Rosas Frage. WARUM, Herr? Warum gibst du uns etwas, nur um es uns wieder zu nehmen?

Hunter sah Garcia an.

»Wann war das?«

»Keine Ahnung, die Einträge sind nicht datiert.«

Garcia schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. »Das ist eine traurige Geschichte. Wie es aussieht, zweifeln sogar Priester hin und wieder an ihrem Glauben.«

Hunter klappte das Tagebuch zu und stellte es zurück ins Regal. »Falls Vater Fabian Angst um sein Leben hatte, dann steht darüber bestimmt etwas in einem dieser Bücher hier.«

Garcia stieß langsam die Luft aus. »Um die alle durchzuarbeiten, bräuchten wir aber zusätzliches Personal.«

»Vielleicht«, meinte Hunter und nahm das Buch ganz rechts zur Hand. »Aber ich spekuliere darauf, dass Vater Fabian ein ordnungsliebender Mensch war. Falls dem so ist, müssten die Tagebücher eigentlich in chronologischer Reihenfolge im Regal stehen. Wenn ihm also in jüngster Zeit etwas zu schaffen gemacht hat, müssten wir es im aktuellen Buch finden.«

12

Als Hunter im Redwood Bar & Grill eintraf, war die Party bereits in vollem Gange. Es wimmelte nur so von Cops. Diejenigen von ihnen, die im Dienst waren, trugen Piepser am Gürtel und hatten, im Gegensatz zu allen anderen, keine Bierflaschen oder Whiskygläser in der Hand.

Alle waren sie gekommen, vom Polizeichef bis zu dem Studenten, der im Morddezernat die Post verteilte. Sogar der Bürgermeister wurde erwartet. Angesichts der Tatsache, dass William Bolter stolze achtzehn Jahre lang dem Morddezernat vorgestanden hatte, war das nicht weiter verwunderlich. Die meisten Detectives hatten nie unter einem anderen Captain gedient. Es gab keinen, der Captain Bolter nicht den einen oder anderen Gefallen schuldete – auch nicht Robert Hunter.

Hunter und Garcia hatten den ganzen Tag in der Kirche der Sieben Heiligen und in der unmittelbaren Nachbarschaft zugebracht. Die Befragung der Nachbarn jedoch hatte – bis auf verängstigte Blicke und stummes Entsetzen – nichts ergeben. Fragen über Fragen wirbelten in Hunters Kopf herum, aber er wusste, dass er die Antworten nicht erzwingen konnte. Sie würden Zeit brauchen.

»Ob du es glaubst oder nicht, die haben einen zehn Jahre alten Macallan hinter der Theke«, sagte Garcia und schob sich neben Hunter, in den Händen zwei halbvolle Whiskytumbler.

Single Malt Scotch war Hunters große Leidenschaft. Anders als viele andere verstand er es, Whisky zu genießen, statt sich bloß mit ihm zu betrinken.

»Auf Captain Bolter.« Er hob sein Glas, und Garcia stieß mit ihm an. »Wo steckt eigentlich Anna?«, fragte Hunter und sah sich um.

Anna Preston war Garcias Frau. Sie waren schon auf der Highschool ein Paar gewesen und hatten gleich nach dem Abschluss geheiratet.

»Sie sitzt an der Bar und unterhält sich mit den anderen Frauen.« Garcia schnitt eine bedauernde Grimasse. »Wir bleiben nicht lange.«

»Ich auch nicht«, sagte Hunter. »Fährst du nachher noch mal zurück in die Kirche?«

»Roberrrrrt!«, schrie Detective Kyle Byrne dazwischen, packte Hunter am Arm und riss die Flasche Budweiser hoch, die er in der Rechten hielt. »Ein Toasssst auf Captain Bolterrr!«

Hunter schmunzelte und stieß bereitwillig mit Kyle an.

»He! Wo willst’n hin?«, lallte dieser gleich darauf, als Hunter Anstalten machte, sich in Richtung Bar zu verdrücken. »Trink no’ was mit uns!« Er zeigte mit unsicherer Hand auf einen Tisch, an dem mehrere Detectives zusammensaßen, allesamt sturzbetrunken.

Hunter nickte den Kollegen zu. »Bin gleich wieder da, Kyle. Ich muss bloß kurz ein paar Leuten guten Tag sagen. Carlos kann euch solange Gesellschaft leisten.« Er klopfte Garcia ein paar Mal auf den Rücken, woraufhin dieser ihm einen entsetzten Blick zuwarf, als könne er nicht fassen, von seinem Partner so schändlich verraten worden zu sein.

»Carlosss! Komm trinken.« Kyle schleifte Garcia mit sich davon.

Eine Hand landete schwer auf Hunters Schulter, noch bevor er die Bar erreicht hatte. Er drehte sich um, bereit, erneut auf den Captain anzustoßen.

»Soso. Haben Sie sich also doch noch bequemt, hier aufzukreuzen.«

Captain Bolter war zweifellos eine beeindruckende Erscheinung. Groß und wuchtig wie ein Rhinozeros. Obwohl er auf die siebzig zuging, hatte er noch immer volles, silbergraues Haar und einen buschigen Schnauzer, der seit über zwanzig Jahren sein Markenzeichen war. Seine bloße Gestalt flößte jedem Gegenüber Respekt ein.

»Captain«, sagte Hunter freudig überrascht. »Dachten Sie etwa, ich würde mich drücken?«

Captain Bolter legte Hunter den rechten Arm um die Schultern. »Kommen Sie, wir verziehen uns kurz nach draußen. Ich könnte es nicht ertragen, auch nur noch ein einziges Mal auf mein Wohl anzustoßen.«

13

Bei inzwischen klarem Himmel fühlte sich der Abend noch kälter an als erwartet. Hunter zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch, während Captain Bolter eine Felipe Power aus der Innentasche seines Blazers fischte. »Auch eine?«, fragte er.

»Nein, danke.«

»Heute ist meine Abschiedsparty, seien Sie kein Spielverderber.«

»Ich halte mich lieber an den Scotch.« Hunter hob sein Glas. »Von den Dingern da wird mir schwindlig.«

»Sie klingen ja wie ein Mädchen.«

Hunter lachte. »Ein Mädchen, das Ihnen neulich am Schießstand den Arsch versohlt hat.«

Captain Bolter stimmte in Hunters Lachen mit ein. »Ihnen ist schon klar, dass ich Sie habe gewinnen lassen, oder?«

»Natürlich haben Sie das.«

»Also, ich werde mir eine nehmen.«

Hunter und der Captain drehten sich um. Dr. Jonathan Winston war hinter ihnen aufgetaucht. Der Leiter der Rechtsmedizin von Los Angeles war Anfang sechzig und trug an diesem Abend einen teuer aussehenden italienischen Anzug aus dunkler Wolle mit weißem Hemd und klassischer dunkelblauer Krawatte.

»Jonathan!«, rief Captain Bolter und zog sogleich eine zweite Zigarre aus der Tasche, die er an den Arzt weiterreichte.

»Sie sehen aus, als kämen Sie gerade aus der Kirche, Doc«, meinte Hunter schmunzelnd mit Blick auf dessen Anzug.

Dr. Winston steckte sich die Zigarre an, paffte genüsslich ein paar Mal und stieß den Rauch in kleinen Wölkchen wieder aus. »Das könnte man von Ihnen wohl eher behaupten, möchte ich meinen.«

Schlagartig war Hunters Lächeln verschwunden.

»Ich habe schon von der Sache gehört«, sagte der Captain in ahnungsvollem Ton. Dann sah er Hunter scharf an. »Das Gesicht kenne ich. Sie glauben nicht, dass es sich um einen stinknormalen Mord handelt, stimmt’s?«

Robert schüttelte den Kopf.

»Was ist das Motiv? Religiös motivierter Hass?«

»Wir wissen es noch nicht. Es gibt einige Anzeichen, die auf ein religiöses Motiv hindeuten, oder auf einen religiösen Psychopathen, aber es ist noch viel zu früh, um irgendwas Genaues zu sagen.«

»Was haben Sie denn bis jetzt?«

»Im Augenblick wissen wir nur eins mit Sicherheit, nämlich dass der Täter mit äußerster Brutalität vorgegangen ist. Möglicherweise handelt es sich um einen Ritualmord.«

Hunter zögerte kurz, was Captain Bolter nicht entging. »Robert, ich kenne Sie. Sie beschäftigt doch noch was anderes.«

Hunter nahm einen Schluck von seinem Scotch und atmete einmal tief ein. »Sie haben miteinander gesprochen.«

»Wer hat miteinander gesprochen? Der Priester und sein Mörder?«

Hunter nickte.

»Woher wissen Sie das?«, warf der Doktor ein.

»Die Leiche wurde wenige Schritte vom Beichtstuhl entfernt gefunden. Beide Türen des Beichtstuhls standen offen, ebenso wie das kleine Fenster in der Trennwand zwischen den beiden Innenräumen.« Er hielt einen Moment lang inne. »In der katholischen Kirche ist es so: Wenn der Beichtende mit seinem Bekenntnis fertig ist und man ihm die Absolution erteilt hat, schließt der Priester das Fenster, sozusagen als Symbol dafür, dass mit den Sünden abgeschlossen wurde.«

»Sind Sie katholisch?«, erkundigte sich Dr. Winston.

»Nein, ich lese bloß viel.«

Captain Bolter ließ seine Zigarre vom linken in den rechten Mundwinkel wandern. »Sie glauben also, dass der Mörder gebeichtet hat, bevor er …« Er schüttelte den Kopf und gab Hunter so die Gelegenheit, den Satz zu vollenden.

»Den Priester aus der Kabine geschleift und ihn enthauptet hat.«

Der Captain legte den Kopf in den Nacken und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Vergib mir, Vater, denn ich werde Ihnen gleich den Kopf abschlagen.«

»So in der Art.«

»Wir alle wissen, was das bedeutet«, sagte der Doktor, bevor er seelenruhig einen weiteren Zug von seiner Zigarre nahm.

»Dass dies hier erst der Anfang ist«, brummte Captain Bolter. »Und wenn wir den Täter nicht bald schnappen, wird es ein weiteres Opfer geben.«

14

Der Wind hatte aufgefrischt, und Dr. Winston klappte den Kragen seines Jacketts hoch, bevor er den Captain belustigt ansah. »Wir?«

»Er hat recht, Captain.« Hunter schmunzelte. »Ab heute um Mitternacht sind Sie offiziell im Ruhestand. Sie haben mit alldem nichts mehr zu tun.«

»Eure Arbeit hier ist beendet, mein Freund«, intonierte Dr. Winston mit Darth-Vader-Stimme.

»Ist doch bestimmt ein gutes Gefühl, oder?«

Der Captain quittierte die Frage mit einem etwas windschiefen Lächeln. »Bloß alte Gewohnheit. Ich habe dem LAPD fünfzig Jahre meines Lebens geschenkt, das kann man nicht einfach so über Nacht abschütteln. Aber ich werde dran arbeiten.«

Hunter merkte sofort, dass der Captain nur ihnen zuliebe gute Miene machte. In Wirklichkeit war er traurig, dass er gehen musste.

»Und was werden Sie mit Ihrer Zeit anfangen, wenn Sie keine Verbrecher mehr jagen müssen?«, fragte Dr. Winston.

»Beth will, dass wir umziehen.«

»Wirklich? Wohin?«

»Irgendwohin, Hauptsache weg von hier. Sie hat die Nase voll von L. A., und ich kann es ihr nicht verübeln. Die Stadt ist einfach zu gewalttätig geworden.«

»Das kann ich nur unterschreiben«, pflichtete Dr. Winston ihm bei. »Das, was wir im Leichenschauhaus zu sehen kriegen, wird mit jedem Jahr abscheulicher. Als hätte niemand mehr Respekt vor dem Leben. Und die Zahlen steigen ständig. Wir kommen kaum noch hinterher.«

Hunter beschloss, dass ein Themenwechsel angezeigt war. »L. A. wird Ihnen vielleicht nicht fehlen«, meinte er, an Bolter gewandt. »Aber wir schon, das weiß ich ganz genau.«

»Klar, wie ein Loch im Kopf«, gab Bolter zurück und zog an seiner Zigarre.

Sie alle lachten.

»Na ja, wenigstens ist der neue Captain um einiges hübscher anzusehen als ich.«

»Das ist wohl keine Kunst«, entgegnete Hunter schlagfertig. »Was ist jetzt – hören Sie bald mal auf, so ein Geheimnis darum zu machen, wer unser neuer Captain wird?«

»Was denn, die wissen es noch gar nicht?«, sagte Winston.

»Sie etwa?«, fragte Hunter verblüfft.

»Aber gewiss doch.«

Hunter fixierte Captain Bolter mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Sehen Sie mich nicht an wie ein Eheweib auf dem Kriegspfad«, warnte Bolter. »Davon kriege ich zu Hause schon genug. Außerdem sollte es eine Überraschung sein.« Sein breites Grinsen weckte sogleich Argwohn in Hunter.

»Eine Überraschung wird sie ganz sicher.« Dr. Winston lachte.

»Sie?« Hunter sah zwischen den beiden Männern hin und her.

Captain Bolter hielt die Spannung noch einige Augenblicke, bevor er schließlich nachgab. »Barbara Blake.«

»Sagen Sie, dass das ein Scherz ist.« Hunter ließ sich gegen den rustikalen Terrassentisch sinken.

»Wieso? Weil sie eine Frau ist?«, fragte der Captain mit gerunzelter Stirn.

»Nein, weil sie Barbara heißt. Es kann doch nicht sein, dass das Morddezernat ab jetzt einem Captain Barbie untersteht.«

»O-oh, kommen Sie bloß nie auf die Idee, sie Barbie zu nennen.« Dr. Winston schüttelte den Kopf.

»Er hat recht«, setzte Captain Bolter hinzu. »Es sei denn, Sie sind Ihrer Eier überdrüssig. Lassen Sie sich nicht von der Tatsache täuschen, dass sie eine Frau ist, Robert. Sie hat hervorragende Führungsqualitäten und kann, wenn nötig, zur rasenden Bestie werden. Das hat sie oft genug unter Beweis gestellt. Wir waren zwei Jahre lang Partner, bevor sie darum gebeten hat, nach Sacramento versetzt zu werden.«

Hunter hörte eine gewisse Wehmut in der Stimme des Captain mitschwingen. »Nur Partner im Job?«, fragte er, nachdem er den letzten Schluck Single Malt aus seinem Glas geleert hatte.

»Denken Sie nicht mal dran, mich hier auf die Psycho-Couch zu legen, Robert. Damit ist jetzt Schluss.« Captain Bolter zeigte anklagend mit der Zigarre auf Hunter.

»Würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Da sind Sie ja, Captain.« Lieutenant Sheldon steckte den Kopf durch die Tür nach draußen. »Ihr Typ wird verlangt. Und wir möchten endlich alle wissen, wer Ihr Nachfolger wird. Schluss mit der Geheimniskrämerei.«

»Tja, dann wollen wir mal.«

Hunter ließ die beiden allein hineingehen.

15

Das Hauptgebäude des Rechtsmedizinischen Instituts von Los Angeles befand sich in der Mission Road 1104. Die außergewöhnliche Architektur erinnerte vage an die eines Renaissance-Palastes. Historisch anmutende Laternenpfähle flankierten den extravaganten Eingangsbereich. Ein terrakottafarbener Anstrich und Schmuckelemente aus Sandstein zierten die Fassade des ehemaligen Krankenhauses. Das Gebäude hätte besser auf den Campus eines alteingesessenen Colleges in Oxford gepasst als in die Innenstadt von L. A.

Die Kriminalistik-Studenten Nelson Fenton und Jamaal Jackson hatten noch eine Stunde bis zum Ende ihrer Nachtschicht. Obwohl ihre Arbeitszeiten kurz und die Arbeiten selbst relativ simpel waren, brauchte man dafür einen robusten Magen. Als Sektionsassistenten mussten sie die Leichen transportieren, fotografieren, säubern und für die Autopsie vorbereiten.

»Wie viele sind noch auf der Liste?«, fragte Jamaal und zog sich den Atemschutz vom Mund, so dass er ihm lose um den Hals hing. Sie waren gerade mit der Leiche eines fünfundsechzigjährigen Mannes fertig geworden, den sein eigener Sohn mit zweiundfünfzig Messerstichen getötet hatte.

»Zwei.« Nelson zeigte auf die zwei schwarzen Polyäthylen-Säcke, die am hinteren Ende des Raumes auf ihren Chromtischen lagen.

»Dann lass uns schnell machen.«

Zuerst mussten sie die Leichen entkleiden, bevor sie sie als Vorbereitung für die Obduktion gründlich mit einem Schlauch abspritzten. Während Jamaal noch die Bänder seiner Maske zurechtzupfte, trat Nelson zum größeren der beiden Leichensäcke und zog entschlossen den Reißverschluss auf.

»Ach du Scheiße!«, rief er, schlug sich beide Hände vor den Mund und wich instinktiv einen Schritt zurück.

»Was ist denn?«

»Sieh’s dir an.«

Jamaal warf einen Blick in den offenen Leichensack. »Kacke.« Er verzog das Gesicht, als hätte er etwas Bitteres gegessen. »Ohne Kopf.«

Nelson nickte. »Schau mal, was er anhat.«

Erst jetzt fiel Jamaal die Soutane auf. »Mann, das ist echt krank. Wer würde mit einem Priester so was machen?«

»Jemand mit einer Menge angestauter Aggression«, sagte Nelson und trat todesmutig wieder einen Schritt vor.

»Ich bin nicht katholisch oder so, aber das ist …« Jamaal ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte stattdessen bloß den Kopf. »Diese Stadt ist echt am Arsch. Nichts als Gewalt.«

»Die ganze Welt ist am Arsch, Alter. Komm, lass uns den hier fertig machen, und dann hauen wir ab. Ich hab für heute die Nase voll.«

»Wem sagst du das.«

Sie knöpften die Soutane auf und erstarrten.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Nelson.

»Ich glaub, wir sollten Doc Winston anrufen. Und zwar jetzt gleich.«

16

Hyposomnie ist eine ganz und gar unberechenbare Krankheit, die Menschen auf die unterschiedlichste Weise heimsucht. Sie kann einsetzen, noch bevor man ins Bett geht, so dass man gar nicht erst in den Schlaf findet, oder aber – noch perfider – sie erlaubt es einem, eine Stunde oder vielleicht auch zwei zu schlafen, bevor sie zuschlägt und einen für den Rest der Nacht wach hält. Schätzungsweise jeder Fünfte in den Vereinigten Staaten leidet an dieser Krankheit.

Nachdem er den Großteil der Nacht mit Internet-Recherchen zugebracht hatte, brachte Hunter es gerade einmal auf zwei Stunden Schlaf, bevor sein Gehirn wieder hellwach war. Die Bilder aus der Kirche und von Vater Fabians Leiche spulten sich in seinem Kopf ab wie ein Film auf Endlosschleife. Um abzuschalten, ging Hunter schließlich um vier Uhr früh ins Fitnessstudio.

Um sechs, nach einem anstrengenden Workout und einer heißen Dusche, starrte er aus dem Fenster seiner kleinen Wohnung in East Los Angeles und versuchte vergeblich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Das Telefon klingelte.

»Detective Hunter.«

»Robert, hier ist Jonathan Winston.«

Hunter warf einen Blick auf die Uhr. »Was ist los, Doc? Können Sie nicht schlafen?«

»Menschen in meinem Alter werden früh wach. Ich halte es fast nie länger als bis fünf Uhr früh im Bett aus. Aber ich rufe nicht an, um mit Ihnen über meine Schlafgewohnheiten zu reden.«

Der unheilverkündende Unterton in Winstons Stimme wischte Hunter das Schmunzeln vom Gesicht. »Was ist los?«

»Schnappen Sie sich Ihren Partner und kommen Sie her. Ich muss Ihnen etwas zeigen, bevor ich bei dem enthaupteten Priester mit der Autopsie anfange.«

»Bevor Sie mit der Autopsie anfangen?«, fragte Hunter verwirrt.

»Ganz genau.«

»Sind Sie im Institut?«

»Jawohl.«

»Ich sag Carlos Bescheid. In einer halben Stunde sind wir da, Doc.«

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