Der Kruzifix-Killer - Chris Carter - E-Book
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Der Kruzifix-Killer E-Book

Chris Carter

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Beschreibung

Auftakt der erfolgreichen Thriller-Serie von Bestsellerautor Chris Carter: packend, brutal und fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite! Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. Ein grausamer Killer fordert Profiler Robert Hunter heraus Los Angeles: Die Leiche einer jungen Frau wird gefunden, zu Tode gequält und bestialisch verstümmelt Es gibt keinerlei Spuren, bis auf ein in den Nacken geritztes Kreuz: das Erkennungszeichen eines eigentlich hingerichteten Serienmörders. Detective und Profiler Robert Hunter wird schnell klar, dass der Kruzifix-Killer lebt. Er mordet auf spektakuläre Weise weiter. Und er ist Hunter immer einen Schritt voraus - denn er kennt ihn gut. Zu gut. »Fesselnd, spannungsgeladen und nervenaufreibend. Man kann nicht aufhören weiterzulesen!« Amazon Kunde »Sehr spannend und aufregend geschrieben. Bis zum Schluss weiß der Leser nicht, wer der oder die Serienmörder/in ist. Einfach packend und nichts für schwache Nerven.« Amazon Kunde *** Ein Muss für Psychothriller Fans! ***

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Seitenzahl: 611

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Das Buch

Los Angeles: Detective Robert Hunter wird eines frühen Morgens an einen Tatort gerufen, an dem er eine grausam entstellte Frauenleiche vorfindet. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen außer einem Kreuz mit zwei Querbalken, das in den Nacken der jungen Frau eingeritzt ist: das Markenzeichen des Kruzifix-Killers. Dieser, ein religiöser Fanatiker, hatte sieben Menschen brutal gequält und ermordet, war allerdings vor anderthalb Jahren festgenommen und hingerichtet worden. Nun kommen Hunter und seinem neuen Partner Carlos Garcia Zweifel, ob der Richtige vor Gericht gestellt wurde. Als immer neue, aufsehenerregende Morde geschehen, wird klar, dass der Kruzifix-Killer am Leben ist. Er nimmt sogar Kontakt zu Hunter auf, fordert ihn heraus und verstrickt ihn in ein perfides, tödliches Spiel. Eine rasante Jagd durch die Schattenseiten L.A.s beginnt, und Hunter ist ihm dicht auf den Fersen. Doch er weiß nicht, wie gut der Killer ihn kennt, denn er steht ihm sehr, sehr nahe.

Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre im Psychologenteam der Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Der Kruzifix-Killer ist sein erster Roman.

Chris Carter

Der Kruzifix-Killer

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von

Maja Rößner

Ullstein

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2009

4. Auflage 2010

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,

Berlin 2009

© 2009 by Chris Carter

Published by Arrangement with Luiz Montoro

Titel der englischen Originalausgabe: The Crucifix Killer

(Simon & Schuster, London)

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

Titelabbildung: Artwork HildenDesign

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Gesetzt aus der Sabon

eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-548-92003-0

Für Samantha Johnson, mein Ein und Alles.

1

Freitag, 5. August, 10.25 Uhr

Detective Hunter am Apparat …«

»Hallo, Robert. Ich habe eine Überraschung für dich.«

Hunter erstarrte und ließ beinahe den vollen Kaffeebecher fallen. Die metallische Stimme kannte er nur zu gut. Und sie konnte nur eines bedeuten – eine weitere verstümmelte Leiche.

»Hast du deinen Partner in letzter Zeit mal gesehen?«

Hunters Augen suchten hastig das Großraumbüro ab. Keine Spur von Carlos Garcia.

»Hat jemand heute Morgen schon was von Garcia gehört?«, schrie er durch den Raum, nachdem er die Stummtaste an seinem Handy gedrückt hatte.

Seine Kollegen warfen sich fragende Blicke zu. Hunter kannte die Antwort, bevor sie kam.

»Zuletzt gestern«, sagte Detective Maurice mit einem Kopfschütteln.

Hunter drückte erneut die Stummtaste.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Habe ich nun also deine volle Aufmerksamkeit?«

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte Hunter mit eisiger Stimme.

»Wie ich schon sagte, es ist eine Überraschung, Robert«, erwiderte die metallische Stimme lachend. »Aber ich gebe dir noch einmal eine Chance. Vielleicht strengst du dich diesmal etwas mehr an. Sei in einer Stunde im Wäscheraum im Keller der alten Nummer 122, Pacific Alley, in South Pasadena. Wenn du Verstärkung mitbringst, stirbt er. Wenn du nicht in einer Stunde da bist, stirbt er. Und glaub mir, Robert, es wird ein sehr qualvoller Tod sein.« Ein Klicken, dann war die Leitung tot.

2

Hunter rannte mit Riesensätzen die Treppen des alten Gebäudes im Ostteil von L.A. hinunter. Mit jedem Treppenabsatz, den er weiter in die Tiefe drang, wurde es dunkler und heißer. Sein Hemd war klatschnass geschwitzt, die engen Schuhe quetschten ihm die Zehen zusammen.

»Wo ist dieser verdammte Wäscheraum?«, flüsterte er, als er den Keller erreicht hatte.

Am Ende eines dunklen Korridors drang ein schmaler Lichtschein unter einer anscheinend geschlossenen Tür hervor. Er rannte darauf zu und rief den Namen seines Partners.

Keine Antwort.

Hunter zog seine Pistole, eine Wildey Survivor mit Spannabzug, und stellte sich rechts neben der Tür mit dem Rücken an die Wand.

»Garcia …«

Stille.

»Grünschnabel, bist du da drin?«

Ein dumpfer Laut, wie ein Schlag, drang hinter der Tür hervor. Hunter spannte den Hahn und holte tief Luft.

»Scheiße!«

Immer noch mit dem Rücken zur Wand, stieß er mit der rechten Hand die Tür auf, duckte sich mit einer fließenden, eingeübten Drehung um die eigene Achse in die Türöffnung und riss die Waffe hoch. Ein unerträglicher Gestank nach Urin und Erbrochenem raubte ihm fast den Atem und ließ ihn unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.

»Garcia …«, rief er erneut.

Stille.

Von der Tür aus konnte Hunter nicht viel erkennen. Über einem kleinen Holztisch in der Mitte des Raums hing eine Glühbirne von der Decke, doch ihr spärliches Licht reichte nicht aus, um den ganzen Raum zu erleuchten. Hunter holte noch einmal Luft und wagte sich einen Schritt in den Raum hinein. Der Anblick, der sich ihm kurz darauf bot, drehte ihm den Magen um. Garcia war an ein mannsgroßes Kreuz genagelt, das in einem abgeschlossenen Plexiglaskubus stand. Am Boden hatten sich Pfützen gebildet, von dem Blut, das aus seinen Wunden tropfte. Er trug nur seine Unterwäsche und hatte eine Dornenkrone auf dem Kopf. Die dicken Metallstacheln hatten sich ins Fleisch gebohrt. Sein Gesicht war blutüberströmt. Er wirkte leblos.

Ich komme zu spät, durchfuhr es Hunter.

Als er sich dem Plexiglaskäfig näherte, stellte er überrascht fest, dass im Inneren ein Herzmonitor aufgebaut war. Die angezeigte Herzkurve war flach, aber beständig. Garcia lebte noch.

»Garcia!«

Keine Regung.

»Carlos!«, schrie Hunter.

Mit größter Anstrengung gelang es Garcia, die Augen ein klein wenig zu öffnen.

»Halt durch, Partner.«

Hunters Blick streifte durch den spärlich beleuchteten Raum. Er war ziemlich groß, jede Wand bestimmt mindestens fünfzehn Meter lang. Der Boden war übersät mit alten Lumpen, gebrauchten Spritzen, Crackpfeifen und Glasscherben. In einer Ecke rechts von der Tür stand ein verrosteter Rollstuhl. Auf den Holztisch in der Mitte hatte jemand einen tragbaren Kassettenrekorder gestellt, auf einem Zettel daran stand in roter Schrift: »Spiel mich ab.« Hunter drückte auf Play, und aus dem kleinen Lautsprecher drang klirrend die inzwischen vertraute Metallstimme.

»Hallo, Robert, du hast es also rechtzeitig geschafft.« Pause. »Bestimmt hast du bereits bemerkt, dass dein Freund dringend deine Hilfe benötigt. Allerdings, wenn du ihm helfen willst, musst du ein paar Regeln befolgen … meine Regeln. Es ist ganz einfach, Robert. Ein kleines Spiel. Dein Freund befindet sich in einem kugelsicheren Glaskäfig. Versuch also erst gar nicht zu schießen. An der Tür befinden sich vier verschiedenfarbige Knöpfe. Einer von ihnen öffnet die Tür, die anderen drei – nicht. Du musst also nichts weiter tun, als dich für einen der Knöpfe zu entscheiden. Wenn du den richtigen drückst, geht die Tür auf, du kannst deinen Partner befreien und einfach aus dem Raum spazieren.«

Eine Chance von eins zu drei, um Garcia zu retten – nicht gerade eine gute Ausgangsposition, zuckte es Hunter durch den Kopf.

»Und jetzt kommt der lustige Teil«, fuhr die Stimme auf dem Kassettenrekorder fort. »Wenn du einen der drei falschen Knöpfe drückst, fließt augenblicklich eine hohe Ladung Strom durch die Dornenkrone, die dein Freund auf dem Kopf hat, und zwar ohne Unterbrechung. Hast du schon einmal gesehen, was mit einem Menschen auf dem elektrischen Stuhl passiert?«, fragte die Stimme mit einem eiskalten Lachen. »Die Augen springen heraus, die Haut zerbrutzelt wie Speck in der Pfanne, die Zunge rollt sich im Mund zusammen, bis man daran fast erstickt, das Blut fängt an zu kochen und lässt die Adern platzen. Ein exquisites Schauspiel, Robert.«

Garcias Herzschlag fing an zu rasen. Hunter sah, wie die Ausschläge auf dem Monitor in immer kürzeren Intervallen kamen.

»Aber jetzt kommt erst der eigentliche Spaß an der Sache …«

Hunter hatte geahnt, dass die Sache mit dem Strom nicht der einzige Haken war.

»Hinter dem Glaskasten habe ich genügend Sprengstoff deponiert, um den kompletten Raum in Schutt und Asche zu legen. Der Sprengstoff ist mit dem Herzmonitor gekoppelt, und sobald der keinen Herzschlag mehr anzeigt …« Diesmal folgte eine längere Pause. Hunter wusste, was jetzt gleich kommen würde.

»Bumm …! Dann fliegt hier alles in die Luft. Du siehst also, Robert, wenn du den falschen Knopf drückst, dann darfst du nicht nur zusehen, wie dein Freund durch deinen Fehler qualvoll stirbt, sondern gleich darauf wirst auch du sterben.«

Inzwischen hämmerte Hunter das Herz in der Brust. Schweiß tropfte ihm von der Stirn und brannte ihm in den Augen. Seine Hände waren feucht und zitterten.

»Aber du hast die Wahl, Robert. Du musst deinen Partner nicht retten. Du kannst dich auch ganz ohne Risiko selbst retten. Geh einfach und lass ihn alleine sterben. Keiner außer mir weiß davon. Kannst du damit leben? Oder setzt du dein Leben für seines aufs Spiel? Such dir eine Farbe aus. Dir bleiben sechzig Sekunden Zeit.« Ein lauter Piepton erklang auf dem Band, dann trat Stille ein.

Hunter sah, wie über Garcias Kopf eine rote Digitalanzeige ansprang: 59, 58, 57 …

3

Fünf Wochen vorher

Jenny rieb sich die Augen und erhob sich von ihrer Tischgesellschaft im Vanguard Club in Hollywood. Insgeheim hoffte sie, dass sie nicht so müde aussah, wie sie sich fühlte.

»Wo gehst du hin?«, fragte D-King und nippte an seinem Champagner.

Bobby Preston war der bekannteste Dealer im Nordwesten von Los Angeles, doch keiner nannte ihn je bei seinem richtigen Namen. Alle kannten ihn nur als D-King. Das »D« stand für »Dealer«, denn er dealte praktisch mit allem: Drogen, Frauen, Autos, Waffen. Er beschaffte, was immer gewünscht wurde, Hauptsache, der Preis stimmte.

Jenny war sein mit Abstand hübschestes Mädchen. Ihr Körper war makellos geformt und gebräunt, ihre Gesichtszüge waren vollkommen, und ihrem bezaubernden Lächeln konnte kein Mann auf Erden widerstehen, da war sich D-King sicher.

»Ich geh nur mein Make-up auffrischen. Bin gleich zurück, Babe.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und verließ mit dem Champagner-Glas in der Hand die exklusive V.I.P.-Lounge.

Jenny hatte für heute genug vom Alkohol, nicht weil sie sich betrunken fühlte, sondern weil dies ihre fünfte Party-Nacht in Folge war. So hatte sie sich ihr Leben eigentlich nicht vorgestellt – dass sie ihr Dasein als Prostituierte fristete. D-King versicherte ihr zwar dauernd, sie wäre keine, und nannte sie Luxusbegleiterin für Gentlemen mit extrem gutem Geschmack und extrem viel Geld, doch am Ende lieferte sie eben doch Sex gegen Bezahlung. Damit war sie in ihren eigenen Augen eine Hure.

Die meisten ihrer Kunden waren perverse alte Millionäre, die bei ihr nach etwas suchten, was sie zu Hause nicht bekamen. Daher war der Sex nie die ganz gewöhnliche Nummer in Missionarsstellung. Alle wollten sie was Besonderes für ihr Geld. Fesseln, Sadomaso, Auspeitschen, Wassersport, Strap-on-Sex – die Liste war endlos. Und was sie auch wollten, Jenny musste es liefern. Doch heute Nacht arbeitete sie nicht. Heute wurde sie nicht nach Stunden bezahlt, und sie war auch nicht mit einem ihrer kaputten Kunden unterwegs. Heute Nacht war sie mit dem Boss aus, und das hieß Party, so lange, bis er sagte, dass Schluss war.

Jenny war schon oft im Vanguard gewesen. Es war einer von D-Kings Lieblingsclubs, und natürlich war es ein phantastisches, hinreißend luxuriöses Spektakel – angefangen bei der riesigen Tanzfläche bis hin zu der Lasershow und der großen Bühne. Im Vanguard fanden bis zu zweitausend Leute Platz, und an diesem Abend war der Laden knallvoll.

Jenny bahnte sich einen Weg zu der Bar, die in Richtung der Damentoiletten lag. Zwei Barkeeper arbeiteten dahinter auf Hochtouren. Der ganze Club wimmelte nur so von schönen Menschen, die meisten in den Zwanzigern und frühen Dreißigern. Jenny merkte nicht, dass ihr ein Augenpaar folgte, während sie den V.I.P.-Bereich verließ und zur Bar ging. Ein Augenpaar, das schon den ganzen Abend an ihr gehangen hatte. Genaugenommen folgte es ihr schon seit vier Wochen, von Nachtclub zu Nachtclub und von Hotel zu Hotel. Beobachtete sie, während sie ihre Kunden unterhielt und jedem einzelnen das Gefühl gab, dass sie sich prächtig amüsierte.

»Hi, Jen, alles okay? Du siehst etwas müde aus«, bemerkte Pietro, der langhaarige Barkeeper, als Jenny an die Bar trat. Er sprach noch immer mit einem leichten spanischen Akzent.

»Alles okay, Honey. Nur ein bisschen zu viel Party in letzter Zeit«, erwiderte sie mit wenig Begeisterung, nachdem sie in einem der Spiegel hinter der Bar einen Blick auf sich erhascht hatte. Ihre hypnotischen blauen Augen schienen heute Abend etwas von ihrem Glanz verloren zu haben.

»Keine Pause im Paradies, was?«, merkte Pietro mit einem schüchternen Lächeln an.

»Heute Nacht nicht«, erwiderte Jenny ebenfalls lächelnd.

»Irgendwas zu trinken für dich?«

»Nein, danke, ich kämpfe noch mit dem hier«, sagte sie, hob ihr Champagnerglas und zwinkerte ihm kokett zu. »Ich muss nur einfach mal ein Weilchen von meinem Tisch weg.«

Pietro und Jenny flirteten zwar hin und wieder miteinander, doch Pietro hatte nie irgendwas bei ihr versucht. Er wusste, dass sie D-King gehörte.

»Na dann, wenn du doch was willst, ruf mich einfach.« Pietro wandte sich wieder seinen Cocktails zu und jonglierte weiter mit seinen Flaschen. Eine dunkelhaarige Frau, die an der gegenüberliegenden Seite der Bar stand, warf Jenny einen finsteren Blick zu, der ungefähr zu sagen schien: »Schwirr ab, Schlampe, ich war zuerst an ihm dran.«

Jenny fuhr sich mit der Hand durch ihr langes, goldblondes Haar, stellte ihr Champagnerglas auf der Theke ab und drehte sich so, dass sie die Tanzfläche sehen konnte. Sie mochte die Atmosphäre in diesem Club. All die Leute, die ihren Spaß hatten, tanzten, tranken und sich verliebten. Okay, vielleicht nicht wirklich verliebten, dachte Jenny, aber zumindest hatten sie Sex zum Vergnügen und nicht, weil sie dafür bezahlt wurden. Sie wünschte sich, auch eine von ihnen zu sein. Das hier war jedenfalls nicht das tolle Leben à la Hollywood, von dem sie geträumt hatte, als sie vor sechs Jahren von Idaho fortgegangen war.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr war Jenny Farnborough fasziniert von Hollywood. Damals wurde das Kino ihr Zufluchtsort vor den ständigen Streitereien zwischen ihrer unterwürfigen Mutter und ihrem aggressiven Stiefvater. Filme waren ihr Fluchtweg in eine andere Welt, in der sie noch nie gewesen war und zu der sie gehören wollte.

Jenny wusste sehr wohl, dass ihr Traum von Hollywood ein Hirngespinst war. Etwas, das nur in kitschigen Romanen und Filmen existierte, und davon hatte sie jede Menge gelesen und gesehen. Sie war eine Träumerin, das ließ sich nicht leugnen, aber vielleicht war das ja gar nicht so schlimm. Vielleicht würde sie ja diejenige sein, der tatsächlich das Glück begegnete. Und außerdem hatte sie sowieso nichts zu verlieren.

Mit vierzehn nahm Jenny ihren ersten Job an, als Popcorn-Verkäuferin in einem Kino. Jeden Cent, den sie verdiente, legte sie auf die Seite, und an ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie endlich genug Geld beisammen, um das gottverdammte Kaff, in dem sie aufgewachsen war, hinter sich zu lassen. Damals schwor sie sich, nie wieder nach Idaho zurückzukehren. So erfuhr Jenny nie, dass sich ihre Mutter, nur eine Woche nachdem sie fortgegangen war, mit einer Überdosis Schlaftabletten umgebracht hatte.

Hollywood empfing sie so, wie Jenny es sich vorgestellt hatte: ein magischer Ort voll von schönen Menschen, glitzernden Lichtern und schillernden Phantasien. Doch die harte Realität des Alltags in der Stadt der Engel hatte mit der Illusion, die Jenny sich geschaffen hatte, herzlich wenig zu tun. Ihre Ersparnisse reichten nicht lange, und da sie keinerlei Berufsausbildung besaß, stapelten sich die Absagen schon bald wie ein Berg schmutziger Wäsche. Ihr herrlicher Traum verwandelte sich ganz allmählich in einen Alptraum.

Über Wendy Loutrop, eine andere Möchtegern-Schauspielerin, machte Jenny die Bekanntschaft D-Kings. Zunächst wies sie all seine Angebote rundweg ab. Schließlich kannte sie all die Geschichten über hübsche junge Frauen, die mit dem Traum, ein Filmstar zu werden, nach Hollywood gekommen waren und schon bald auf der Straße oder für die Pornoindustrie arbeiteten. Jenny war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Sie wollte nicht eine weitere Versager-Story sein. Sie wollte an ihrem Traum festhalten. Allerdings musste ihr Stolz erst einmal hinter ihren Überlebensinstinkt zurücktreten. Und so kam es, dass D-King nach einigen Monaten mit wiederholten Anrufen und teuren Geschenken doch noch sein neues Mädchen hatte.

Jennys Augen hingen immer noch an der wogenden Menge auf der Tanzfläche, deshalb bemerkte sie nicht, wie eine Hand eine farblose Flüssigkeit in ihr Champagnerglas kippte.

»Hallo, schöne Frau, kann ich Ihnen vielleicht einen Drink spendieren?«, fragte der großgewachsene blonde Mann rechts neben ihr mit einem strahlenden Lächeln.

»Ich hab schon einen, aber danke für das Angebot«, erwiderte Jenny höflich, jedoch ohne mit dem Fremden Blickkontakt aufzunehmen.

»Sicher? Ich kann uns auch eine Flasche Cristal bestellen. Wie wär’s, Schätzchen?«

Jenny wandte sich um und blickte den Mann an. Er war elegant gekleidet – dunkelgrauer Versace-Anzug, weißes Hemd mit steifem Kragen und blaue Seidenkrawatte. Das Auffallendste an ihm waren seine grünen Augen. Er war ohne Frage attraktiv.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie und rang sich ein Lächeln ab.

»Carl. Freut mich, Sie kennenzulernen«, entgegnete er und hielt ihr die Hand hin.

Jenny ignorierte die dargebotene Hand und nippte stattdessen an ihrem Champagner. »Sehen Sie, Carl, ich gebe zu, Sie sind ein attraktiver Mann«, sagte sie, und ihre Stimme nahm dabei einen süßen, schmeichelnden Ton an. »Aber eine Frau aufreißen zu wollen, indem man mit Geld um sich wirft, ist nicht gerade sehr schlau, schon gar nicht in einem Laden wie diesem hier. Da muss man sich ja wie ein Flittchen vorkommen, oder nicht? Es sei denn, Sie suchen nach einem Flittchen? Ist es das, was Sie suchen, Carl, jemand Käufliches?«

»O … nein, nein!« Carl fummelte nervös an seiner Krawatte herum. »Entschuldigung, so habe ich das nicht gemeint.«

»Sie suchen also nicht nach einem Party-Girl, mit dem Sie so richtig Spaß haben können?«, fragte sie und nippte erneut an ihrem Champagner, während sie ihm jetzt tief in die Augen blickte.

»Nein, nein, natürlich nicht. Nur ein netter kleiner Drink, und falls dann die Chemie zwischen uns stimmt …« Er ließ den Rest des Satzes mit einem Schulterzucken in der Luft hängen.

Ganz langsam und zärtlich fuhr sie mit den Fingern an seiner Krawatte herunter, bevor sie ihn daran zu sich her zog. »Wirklich zu schade, dass du nicht doch nach einem Party-Girl suchst«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Carls Lächeln wich einem Ausdruck von Verwirrung.

»Sonst hätte ich dir die Nummer von meinem Zuhälter geben können, er sitzt gleich da drüben«, sagte sie und deutete mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen zur V.I.P.-Lounge hinüber.

Carl machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, doch es kam kein Wort heraus.

Jenny trank ihr Champagnerglas leer, zwinkerte ihm aufreizend zu und verließ die Bar in Richtung Damentoiletten.

Das Augenpaar folgte ihr noch immer.

Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Droge wirkt.

Jenny malte gerade ihre Lippen nach, als sie sich plötzlich ganz schwach fühlte. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Auf einmal war ihr fiebrig heiß, und die Wände schienen auf sie zuzukommen. Außerdem kriegte sie kaum noch Luft. So schnell sie konnte, ging sie zur Tür. Sie musste unbedingt hier raus.

Als sie taumelnd die Damentoilette verließ, drehte sich alles um sie herum. Sie wollte zu D-Kings Tisch zurückgehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Wie in Zeitlupe sank Jenny zu Boden, doch ein Paar Arme fing sie auf.

»Alles okay? Du siehst aus, als ginge es dir nicht gut.«

»Mir ist irgendwie schwindlig. Ich glaube, ich muss mal …«

»… an die frische Luft. Es ist so stickig hier drin. Gehen wir doch einen Augenblick hinaus.«

»Aber ich …« Ihre Worte kamen jetzt lallend. »Ich muss erst D-… Ich muss zurück zu …«

»Das hat Zeit, Schätzchen. Jetzt kommst du erst mal mit mir.«

Niemand bemerkte, wie der Fremde mit Jenny zum Ausgang des Clubs ging.

4

Ja, Detective Hunter hier.« Nach dem sechsten Klingeln bekam Hunter endlich sein Handy zu fassen und ging ran. Seine Stimme klang heiser, und die Wörter kamen stockend. Ihm war unschwer anzuhören, dass er kaum Schlaf gehabt hatte.

»Hunter, wo zum Teufel steckst du? Der Captain sucht dich schon seit zwei Stunden.«

»Grünschnabel, bist du das? Wie spät ist es?« Carlos Garcia war seit einer Woche Hunters neuer Partner. Er war ihm zugeteilt worden, nachdem sein bisheriger, langjähriger Partner gestorben war.

»Drei Uhr morgens.«

»Was für ein Tag?«

»Mann, verdammt … Montag. Hör zu, komm besser her und sieh dir das an. Wir haben hier einen ziemlich durchgeknallten Mordfall.«

»Wir sind das Morddezernat I für besonders schwere Fälle, Garcia. Wir haben nur durchgeknallte Mordfälle.«

»Also, der hier ist jedenfalls eine ziemliche Sauerei, und du solltest wirklich schleunigst hier aufkreuzen. Der Captain will, dass wir das hier übernehmen.«

»Mhm«, erwiderte Hunter unbeeindruckt. »Kriege ich eine Adresse?«

Er legte sein Handy ab und blickte sich in dem kleinen, dunklen, fremden Zimmer um. Wo zum Teufel bin ich?, fuhr es ihm durch den Kopf.

Sein pochender Schädel und der ekelhafte Geschmack in seinem Mund riefen ihm wieder in Erinnerung, wie viel er letzte Nacht getrunken hatte. Er ließ den Kopf tief in das Kissen zurücksinken in der Hoffnung, dass dies die Schmerzen lindern würde. Neben ihm im Bett bewegte sich etwas.

»Heißt der Anruf, dass du gehen musst?« Die Frauenstimme klang sonor und sexy und sprach mit einem Hauch von italienischem Akzent. Hunter blickte überrascht auf den halb zugedeckten Frauenkörper neben ihm. In dem spärlichen Licht, das von der Straßenbeleuchtung durchs Fenster hereinsickerte, konnte er gerade eben ihre Umrisse ausmachen. Erinnerungsfetzen aus der vorangegangenen Nacht tauchten vor seinem inneren Auge auf. Die Bar, Drinks, Flirten, die Taxifahrt zur Wohnung der Fremden und sie selbst, eine schlanke, große, schwarzhaarige Frau, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte. Das war in den letzten fünf Wochen bereits die dritte Frau, neben der er aufwachte.

»Ja, ich fürchte. Tut mir leid«, sagte er möglichst beiläufig. Er stand auf und blickte sich suchend nach seiner Hose um. Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte er das Gesicht der Frau ein wenig besser erkennen. Sie schien um die dreißig oder knapp darüber zu sein. Ihr seidiges, dunkles Haar reichte ihr bis über die Schultern und umrahmte ein herzförmiges Gesicht mit einer fein geformten Nase und ebensolchen Lippen. Sie war attraktiv, allerdings nicht im Stil irgendeiner Hollywood-Filmschönheit. Der fransige Pony stand ihr perfekt, und in den dunkelgrünen Augen lag ein ungewöhnliches, faszinierendes Funkeln.

Hunter fand seine Hose auf der Türschwelle zum Schlafzimmer. Auch seine Unterhose lag dort – die mit dem blauen Teddybärmuster. Ausgerechnet, stöhnte er innerlich.

»Kann ich mal das Bad benutzen?«, fragte er, während er sich den Reißverschluss an der Hose hochzog.

»Klar. Erste Tür rechts, wenn du rausgehst«, sagte sie, setzte sich auf und lehnte sich ans Kopfende.

Hunter ging ins Bad und machte die Tür hinter sich zu. Er spritzte sich ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht und blickte sein Spiegelbild an. Seine blauen Augen wirkten blutunterlaufen. Seine Haut war noch blasser als sonst, das Kinn unrasiert.

»Toll, Robert«, sagte er zu sich und spritzte sich noch mehr kaltes Wasser in sein müdes Gesicht. »Noch eine Frau, von der du nicht mehr weißt, wie du sie kennengelernt hast und wie du bei ihr zu Hause gelandet bist. Sex ohne Verpflichtungen ist schon was Tolles, vor allem, wenn man sich daran erinnern kann. Gott, ich muss mit der Trinkerei aufhören.«

Er schmierte sich ein wenig Zahnpasta auf den Finger und putzte sich damit notdürftig die Zähne. Auf einmal zuckte ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf. Und wenn sie nun eine Prostituierte ist? Und ich schulde ihr Geld für etwas, woran ich mich nicht mal mehr erinnere? Er warf rasch einen Blick in sein Portemonnaie. Das wenige Geld, das er mithatte, war an Ort und Stelle.

Er fuhr sich mit der Hand durch die kurzen blonden Haare und ging ins Schlafzimmer zurück. Sie saß immer noch im Bett.

»Hast du da drin Selbstgespräche geführt?«, fragte sie mit einem zurückhaltenden Lächeln.

»Was? O … äh, ja, das mache ich manchmal, um nicht verrückt zu werden. Hör mal, ähm …« Er entdeckte sein Hemd, auf dem Boden neben dem Bett. »Schulde ich dir irgendwie Geld?« Er versuchte, ganz unbekümmert zu klingen.

»Wie bitte? Hältst du mich etwa für eine Nutte?«, fragte sie. Es war offensichtlich, dass sie verletzt war.

Oh, Shit. Ihm war sofort klar, dass er Mist gebaut hatte. »Nein, überhaupt nicht … Hör zu, es ist nicht so, wie du denkst, es ist … Das ist mir schon mal passiert. Ich trinke zu viel und … Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Wirke ich auf dich vielleicht wie eine Nutte?«, fragte sie irritiert.

»Absolut nicht, nein«, erwiderte er entschieden. »War ein idiotischer Gedanke von mir. Tut mir leid, echt. Wahrscheinlich bin ich immer noch halb betrunken.« Hunter ruderte mit aller Macht zurück.

Sie beobachtete ihn einen Moment lang. »Hör mal, ich bin nicht die Art von Frau, für die du mich ganz offensichtlich hältst. Ich habe einen Job, der eine Menge Verantwortung und Stress mit sich bringt, und die letzten Monate waren ziemlich heftig. Ich wollte einfach mal Druck ablassen und ein paar Drinks genießen. Wir sind ins Plaudern gekommen. Du warst lustig, nett, sogar richtig charmant. Und in der Lage, ein zusammenhängendes Gespräch zu führen, im Gegensatz zu den Typen, die mir sonst so über den Weg laufen, wenn ich mal ausgehe. Ein Drink führte zum nächsten, und so sind wir hier gelandet. Was offensichtlich ein Fehler war.«

»Nein … ehrlich …« Hunter suchte nach den richtigen Worten. »… ich rede manchmal irgendwelches Zeug, ohne richtig darüber nachzudenken. Und … um die Wahrheit zu sagen … ich kann mich an fast nichts von letzter Nacht erinnern. Tut mir echt leid. Und ich komme mir wirklich wie ein Arschloch vor.«

»Solltest du auch.«

»Glaub mir, ich tu’s.«

Sie musterte ihn scharf. Was er sagte, klang aufrichtig.

»Jedenfalls, deinen Klamotten und deiner Unterwäsche nach zu urteilen, wäre ich wahrscheinlich sowieso viel zu teuer für dich.«

»Autsch. Danke, das saß. Es war mir auch so schon peinlich genug, ohne dass du es erwähnst.«

Sie lächelte.

Hunter war froh, dass seine Beschwichtigungsversuche Erfolg zeigten. »Stört’s dich, wenn ich mir eine Tasse Kaffee mache, bevor ich gehe?«

»Ich habe keinen Kaffee, aber du kannst dir gerne einen Tee machen. Die Küche ist am Ende des Gangs.«

»Tee? Hm, ich glaube, da passe ich lieber. Zum Aufwachen brauche ich was Stärkeres.« Inzwischen hatte er sich das Hemd zugeknöpft.

»Bist du sicher, dass du nicht bleiben kannst?«, fragte sie und ließ die Decke von ihrem nackten Körper gleiten. Tolle Kurven, schön geformte Brüste und nirgendwo eine Spur von Haaren. »Du könntest mir zeigen, wie sehr es dir leidtut, dass du mich für eine Nutte gehalten hast.«

Hunter stand einen Moment lang unschlüssig da. Dann biss er sich auf die Lippe und verscheuchte ihren verlockenden Vorschlag aus seinem Hirn. Seine Kopfschmerzen waren ihm eine lautstarke Mahnung.

»Ehrlich, wenn ich könnte, würde ich bleiben.« Er war jetzt vollständig angezogen und startbereit.

»Verstehe. War das deine Frau am Telefon?«

»Was? Nein, ich bin nicht verheiratet. Glaub mir, das war die Arbeit.« Sie sollte ihn um Himmels willen nicht auch noch für einen fremdgehenden Ehemann halten.

»Okay«, sagte sie in neutralem Ton.

Hunter ließ seinen Blick noch einmal über ihren Körper wandern und spürte, wie sein eigener reagierte. »Wenn du mir deine Nummer gibst, könnten wir uns ja mal wiedersehen.«

Sie blickte ihn eine kleine Weile prüfend an.

»Du denkst, ich werde ja doch nicht anrufen, stimmt’s?«, fragte Hunter, da er ihr Zögern spürte.

»Ach, Gedankenleser bist du also auch noch? Netter Party-Trick.«

»Du solltest mich erst mal mit einem Set Karten sehen.«

Jetzt lächelten beide.

»Außerdem tue ich nichts lieber, als Leuten zu beweisen, dass sie unrecht hatten.«

Sie griff grinsend nach dem Notizblock auf ihrem Nachttisch.

Hunter nahm den Zettel entgegen und küsste sie auf die rechte Wange. »Ich muss dann los.«

»Das wären dann eintausend Dollar, Schätzchen!«, sagte sie zärtlich und fuhr ihm dabei mit dem Finger über die Lippen.

»Was?«, fragte er verdutzt. »Aber …«

Sie grinste schon wieder. »Sorry, das konnte ich mir nicht verkneifen.«

Als er auf der Straße stand, faltete Hunter den Zettel auseinander. Isabella. Hübscher Name, dachte er. Er blickte sich suchend nach seinem alten Buick Lesabre um, doch der Wagen war nirgends zu sehen.

»Scheiße! Ich war ja viel zu betrunken zum Fahren«, murmelte er vor sich hin und winkte einem vorbeifahrenden Taxi.

Die Wegbeschreibung, die Garcia ihm gegeben hatte, führte mitten ins Nirgendwo. Die Little Tujunga Canyon Road in Santa Clarita ist achtzehn Meilen lang, von Bear Divide zum Foothill Boulevard in Lakeview Terrace, und verläuft dabei fast vollständig im Los Angeles National Forest. Die Ausblicke auf Wald und Berge sind immer wieder atemberaubend. Garcias Beschreibung ließ nichts zu wünschen übrig, und schon bald bog das Taxi auf eine schmale, holprige Forststraße ein, die sich zwischen Hügeln und wildem Buschwerk hindurchschlängelte. Die Dunkelheit und Abgeschiedenheit waren überwältigend. Nach ungefähr zwanzig Minuten tauchte ein altes Holzhaus auf, der Zufahrtsweg war voller Schlaglöcher.

»Schätze, wir sind am Ziel«, sagte Hunter und gab dem Fahrer das gesamte Geld, das er bei sich hatte.

Der Weg war gerade breit genug für einen normalen Pkw. Rechts und links wucherte dichtes, undurchdringliches Gestrüpp. Überall standen Polizeiwagen und offizielle Fahrzeuge herum. Es sah aus wie ein Verkehrsstau mitten in der Wüste.

Garcia stand vor dem Haus und redete mit einem Beamten von der Spurensicherung. Beide hielten eine Taschenlampe in der Hand. Hunter musste sich zwischen den kreuz und quer stehenden Fahrzeugen hindurcharbeiten, um zu ihnen zu gelangen.

»Du lieber Himmel, so was nenne ich abgelegen. Noch ein Stückchen weiter, und wir stehen in Mexiko … Hallo, Peter«, sagte Hunter und nickte dem Kriminaltechniker zu.

»Harte Nacht gehabt, Robert? Du siehst genauso aus, wie ich mich fühle«, sagte Peter mit einem sarkastischen Grinsen.

»Danke, du siehst auch blendend aus. Wann ist es denn so weit?«, erwiderte Hunter und klopfte Peter auf den Bierbauch. »Also, was haben wir?«, wandte er sich an Garcia.

»Ich denke, das siehst du dir besser selbst an. Der Anblick ist schwer in Worte zu fassen. Der Captain ist noch drin, er will zuerst mit dir reden, bevor er die Jungs von der Spurensicherung loslegen lässt.« Garcia wirkte beinahe verstört.

»Was zum Teufel macht der Captain hier? Er sieht sich sonst nie einen Tatort an. Kennt er das Opfer?«

»Ich weiß auch nicht mehr als du, aber ich glaube nicht, sie ist ja auch nicht wirklich erkennbar.« Auf Garcias letzte Bemerkung hin kniff Hunter besorgt die Augen zusammen.

»Eine Frauenleiche also?«

»Oh, eine Frau ist es, so viel lässt sich sagen.«

»Bist du okay, Grünschnabel? Du siehst etwas mitgenommen aus.«

»Alles in Ordnung«, versicherte Garcia.

»Er hat sich ein paarmal übergeben«, bemerkte Peter mit spöttischer Miene.

Hunter schaute Garcia prüfend an. Er wusste, dass dies nicht sein erster Tatort war. »Wer hat die Leiche gefunden? Von wem kam der Anruf?«

»Anscheinend ein anonymer Anruf bei der Notfallzentrale«, sagte Garcia.

»O toll. Die Tour mal wieder.«

»Hier, nimm«, sagte Garcia und reichte Robert die Taschenlampe.

»Brauchst du auch eine Kotztüte?«, witzelte Peter.

Hunter ignorierte die Bemerkung und nahm sich einen Moment lang Zeit, um das Holzhaus von außen zu betrachten. Es gab keine Eingangstür. Die vordere Fassade fehlte fast vollständig, und zwischen den noch vorhandenen Holzdielen am Boden wuchs Gras, so dass das vordere Zimmer wie ein kleiner Privatwald wirkte. Vereinzelte Flecken abblätternder Farbe auf den rudimentären Überresten der Fenstersimse ließen den Schluss zu, dass das Haus früher einmal weiß gestrichen war. Hier hatte ganz eindeutig seit Jahren niemand mehr gewohnt, und diese Beobachtung beunruhigte Hunter. Bei einem ersten Mord machten sich die Täter normalerweise nicht die Mühe, einen so abgelegenen Ort aufzuspüren.

Links neben dem Haus standen drei Polizisten, alle mit dampfenden Kaffeebechern in der Hand, und unterhielten sich über das Football-Spiel vom Vorabend.

»Wo gibt’s den?«, fragte Hunter, auf die Kaffeebecher deutend.

»Ich besorg dir einen«, erwiderte Garcia. »Der Captain ist im hinteren Zimmer, durch den Flur und dann links. Ich komme gleich nach.«

»Und, viel zu tun, Jungs?«, rief Hunter den drei Polizisten zu. Sie quittierten die schnippische Frage mit einem gleichgültigen Blick und setzten ihre Unterhaltung fort.

Im Inneren des Hauses hing ein eigenartiger Geruch in der Luft, eine Mischung aus verrottendem Holz und rohen Abfällen. Im ersten Zimmer gab es nichts zu sehen. Hunter knipste die Taschenlampe an und ging durch die Tür am gegenüberliegenden Ende des Raums. Von einem langen, schmalen Flur führten vier weitere Zimmer ab, zwei auf jeder Seite. Vor der letzten Tür links stand ein junger Polizist. Hunter folgte dem Flur und warf je einen kurzen Blick in die Zimmer rechts und links: nur Spinnweben und kaputte Überreste von altem Gerümpel. Die knarrenden Holzdielen verliehen dem Haus eine noch unheimlichere Note. Als Hunter sich der letzten Tür und dem dort postierten Polizisten näherte, überkam ihn ein Frösteln. Das Frösteln, das jeder Mordschauplatz auslöst. Das Frösteln des Todes.

Hunter zog seine Polizeimarke heraus, und der Beamte trat einen Schritt zur Seite.

»Bitte sehr, Detective!«

Auf einem Tisch neben der Tür lagen die üblichen Accessoires bereit: Overalls, Überzieher für die Schuhe und Haarhauben aus blauer Plastikfolie, daneben eine Box mit Einmalhandschuhen. Hunter zog sich die Sachen über und machte die Tür auf, um seinem nächsten Alptraum zu begegnen.

Der Anblick, der sich ihm beim Betreten des Raums bot, raubte ihm den Atem.

»Heiliger Himmel.« Seine Stimme war bestenfalls ein Flüstern.

5

Hunter stand im Eingang zu einem großen, zweigeteilten Raum, der nur von zwei sich bewegenden Lichtkegeln erleuchtet war – den Taschenlampen von Captain Bolter und Dr. Winston. Zu Hunters Überraschung war dieses Zimmer weit besser erhalten als der Rest des Hauses. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, verkrampfte sich Hunters Magen.

Direkt ihm gegenüber, ungefähr einen Meter von der rückwärtigen Zimmerwand entfernt, hing die nackte Leiche einer Frau. Sie war an den Handgelenken zwischen zwei Holzpfosten aufgehängt, und ihre Knie berührten den Boden, so dass ihr Körper ein Y bildete. Die Fesseln an ihren Handgelenken, die mit dem oberen Ende der Pfosten verbunden waren, hatten ihr tief ins Fleisch geschnitten: Das Blut war ihre dünnen Arme hinuntergeronnen und angetrocknet. Hunter starrte auf das Gesicht der Frau, während sein Gehirn zu verarbeiten versuchte, was er da sah.

»Gott im Himmel.«

Ein Schwarm Fliegen umschwirrte unablässig und mit quälendem Gesurre die Leiche, ließ jedoch ihr Gesicht unbehelligt. Ihr hautloses Gesicht. Eine konturenlose Masse aus Muskelgewebe.

»Hunter! Wie nett, dass Sie sich doch noch blicken lassen.« Captain Bolter stand neben Dr. Winston, dem Leiter der forensischen Abteilung, am anderen Ende des Zimmers.

Hunter starrte immer noch wie gebannt auf die Frauenleiche. »Wurde sie gehäutet?«, fragte er schließlich in fassungslosem Ton von der Tür her.

»Bei lebendigem Leib … Jemand hat sie bei lebendigem Leib gehäutet«, korrigierte Dr. Winston Hunter in sachlichem Tonfall. »Sie starb erst Stunden nachdem ihr die Haut vom Gesicht gezogen worden war.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!« Hunters Blick richtete sich erneut auf die gesichtslose Frau. Die fehlende Gesichtshaut ließ ihre Augen grotesk hervortreten. Sie schienen ihn geradewegs anzustarren. Ihr Mund stand offen. Die Zähne fehlten.

Hunter schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig. Ihre Beine, Bauch und Arme waren wohlgeformt: Es war klar, dass sie sich fit gehalten hatte und stolz auf ihren Körper gewesen war. Ihre glatten, goldblonden Haare reichten ihr bis auf den Rücken. Sie musste eine sehr attraktive Frau gewesen sein.

»Es kommt noch ärger«, sagte Dr. Winston. »Sehen Sie mal hinter die Tür.«

Hunter trat ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und starrte sie einige Sekunden verwirrt an.

»Ein Ganzkörperspiegel?«, fragte er verdutzt, während ihm sein eigenes Abbild entgegenblickte. Einer plötzlichen Eingebung folgend trat er einen Schritt zur Seite. Auf einmal war das Spiegelbild der Frau zu sehen.

»O mein Gott! Der Killer hat sie dabei zusehen lassen.« Ihr Körper befand sich direkt gegenüber der Tür.

»Ganz offensichtlich«, stimmte Dr. Winston zu. »Vermutlich verbrachte sie ihre letzten Lebensstunden vor ihrem eigenen entstellten Spiegelbild – mentale Folter zusätzlich zur physischen.«

»Der Spiegel war nicht ursprünglich an dieser Tür …«, stellte Hunter fest und blickte sich in dem Raum um. »… oder überhaupt in diesem Zimmer. Der sieht nagelneu aus.«

»Genau. Der Spiegel und die beiden Holzpfosten wurden eigens hier angebracht, um die Qualen des Opfers zu erhöhen«, bestätigte Dr. Winston.

Direkt vor Hunters Augen ging die Schlafzimmertür auf und riss ihn aus seinem entgeisterten Blick in den Spiegel. Garcia kam mit einem Becher Kaffee in der Hand herein. »Hier, bitte«, sagte er und reichte Hunter den Becher.

»Ich glaube, ich verzichte im Moment doch lieber«, erwiderte Hunter mit einer ablehnenden Geste. »Meinem Magen ging’s schon mal besser, und hellwach bin ich inzwischen auch.«

Da Captain Bolter und Dr. Winston ebenfalls den Kopf schüttelten zum Zeichen, dass sie kein Interesse hatten, öffnete Garcia die Tür und reichte den Becher dem jungen Polizisten draußen. »Hier bitte, für Sie. Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«

»Äh! Danke, Sir«, stammelte der Beamte überrascht.

»Gern geschehen.« Garcia schloss die Tür wieder und ging mit Hunter zu der Leiche. Ein beißender Geruch ging von ihr aus. Hunter legte sich instinktiv die Hand über die Nase. Die Frau kniete in einer Pfütze aus Urin und Kot.

»Sie hing stundenlang an diesen zwei Pfosten, vielleicht auch einen ganzen Tag. Das da war ihre Toilette«, stellte Dr. Winston fest und deutete auf den Boden.

Garcia verzog angeekelt das Gesicht.

»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Hunter.

»Genaues kann ich im Moment noch nicht sagen. Der menschliche Körper kühlt nach dem Tod pro Stunde um 1,5 Grad ab. Ihr Körper ist ungefähr um zwölf Grad abgekühlt, das heißt, sie könnte seit circa acht Stunden tot sein. Allerdings hängt das auch von den Umständen ab. Die Sommerhitze verlangsamt den Vorgang natürlich, außerdem muss der Raum hier tagsüber die reinste Sauna sein. Genauere Angaben zum Todeszeitpunkt kann ich daher erst nach der Obduktion machen.«

»Sie hat keine Schnittwunden, Schusswunden, Würgemale. Ist sie an den Gesichtsverletzungen gestorben?«, fragte Hunter, während er den Körper der Frau musterte und mit einer Handbewegung die Fliegen verscheuchte.

»Auch das kann ich erst nach der Obduktion mit Sicherheit sagen, aber ich tippe auf Herzversagen infolge der Schmerzen und purer Erschöpfung. Wer auch immer ihr das angetan hat, hat sie in dieser Haltung gefesselt und ihr dann ständig neue Qualen zugefügt, bis sie tot war. Der Mörder wollte, dass sie so lange wie möglich leidet. Und sie hat garantiert gelitten.«

Hunter blickte sich erneut in dem Raum um, als suchte er nach etwas. »Was ist das für ein Geruch? Irgendwas ist da noch, wie Essig oder so.«

»Sie haben eine gute Nase, Hunter«, sagte Dr. Winston und deutete in eine Ecke des Raums. »Dieses Gefäß da drüben war mit Essig gefüllt. Außerdem kann man den Essig an ihrem Körper riechen, vor allem am oberen Teil. Anscheinend hat der Mörder ihr immer wieder Essig über das gehäutete Gesicht geträufelt.«

»Außerdem hält Essig die Fliegen fern«, sagte Hunter.

»Genau«, bestätigte Dr. Winston. »Aber jetzt stellen Sie sich mal die Schmerzen vor, die diese Frau erdulden musste. Sämtliche Nerven in ihrem Gesicht waren bloßgelegt. Da verursacht schon ein kleiner Windhauch unerträgliche Qualen. Vermutlich ist sie immer wieder ohnmächtig geworden oder hat es zumindest versucht. Sie hatte ja auch keine Augenlider mehr – keine Möglichkeit, sich vor Licht zu schützen, ihre Augen einen Moment lang auszuruhen. Jedes Mal, wenn sie wieder zu sich kam, hat sie als Erstes ihren nackten, entstellten Körper im Spiegel gesehen. Ich spare mir nähere Beschreibungen dazu, welche Qualen der Essig auf dem rohen Fleisch ausgelöst haben muss.«

»Lieber Gott!«, murmelte Garcia und wich ein paar Schritte zurück. »Die arme Frau.«

»War sie auch bei Bewusstsein, als sie gehäutet wurde?«, fragte Hunter.

»Ich denke nicht. Sie muss zumindest betäubt gewesen sein. Ich vermute, dass sie für einige Stunden unter einem Betäubungsmittel stand, während dieser Irre sich an ihrem Gesicht zu schaffen gemacht hat, und danach hat er sie dann in dieses Haus hier gebracht, an die Pfosten gefesselt und so lange weitergefoltert, bis sie starb.«

»Was? Sie glauben, er hat sie nicht in diesem Haus gehäutet?«, fragte Garcia verwirrt.

»Nein«, erwiderte Hunter, noch bevor Dr. Winston etwas darauf entgegnen konnte. »Sieh dich mal um. Egal welches Zimmer, hier ist nirgends auch nur ein Tropfen Blut zu sehen außer dem am Boden direkt unter der Leiche. Auch wenn der Killer noch aufgeräumt hat, bevor er abzog – hier kann er es nicht gemacht haben. Korrigieren Sie mich, Doc, wenn ich danebenliege, aber einen Menschen zu häuten ist sicher eine komplizierte Angelegenheit.«

Dr. Winston nickte schweigend.

»Der Täter brauchte chirurgisches Werkzeug, OP-Beleuchtung, und nicht zu vergessen eine Menge Zeit und fundiertes Wissen«, fuhr Hunter fort. »Wir reden hier von einem hochgebildeten Psychopathen. Jemand, der über detaillierte medizinische Kenntnisse verfügt. Nein, sie wurde nicht in dem Haus hier gehäutet. Hier wurde sie nur zu Tode gefoltert.«

»Vielleicht ist der Mörder ein Jäger. Kennt sich aus mit dem Häuten von Tieren?«, schlug Garcia vor.

»Mag sein, aber viel würde ihm das nicht helfen«, entgegnete Hunter. »Menschliche Haut reagiert anders als Tierhaut. Die Elastizität ist ganz anders.«

»Woher weißt du das? Jagst du selbst?«, fragte Garcia beeindruckt.

»Nein, aber ich lese viel«, erwiderte Hunter leichthin.

»Außerdem sind Tiere im Allgemeinen tot, wenn sie gehäutet werden«, fuhr jetzt Dr. Winston fort. »Man kann das Fell einfach so herunterreißen. Unser Täter hat das Opfer aber am Leben gehalten, und das allein erfordert schon detailliertes Wissen. Wer immer das hier war, kennt sich aus in der Medizin. Wahrscheinlich würde er sogar einen ziemlich guten Schönheitschirurgen abgeben, auch wenn ihre Zähne kein Beleg dafür sind. Die wurden einfach rausgerissen. Da ging es ihm nicht um Raffinesse, sondern nur um maximale Qual.«

»Der Täter wollte nicht, dass wir sie identifizieren können«, mutmaßte Garcia.

»Ihre Finger hat er aber unversehrt gelassen«, gab Hunter zu bedenken, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. »Warum ihr die Zähne ausreißen, aber zulassen, dass sie über die Fingerabdrücke identifiziert wird?«

Garcia nickte zustimmend.

Hunter ging um die zwei Pfosten herum, um das Opfer von hinten zu betrachten. »Wie eine Bühne«, murmelte er vor sich hin. »Ein Ort, an dem das Böse zum Leben erwachen kann. Dafür hat der Täter sie hergebracht. Diese Position, das hat etwas Rituelles.« Er wandte sich an Captain Bolter. »Der Täter hat so was schon mal gemacht.«

Captain Bolter schien diese Feststellung nicht zu überraschen.

»Niemand könnte solche Schmerzen stumm ertragen«, stellte Garcia fest. »Das hier ist der perfekte Ort, vollkommen abgeschieden, keine Nachbarn, niemand, der zufällig vorbeikommen könnte. Sie hätte sich die Lungen aus dem Leib schreien können, und keiner hätte sie gehört.«

»Haben wir irgendwas über das Opfer? Wissen wir, wer sie ist?« Hunter betrachtete noch immer die Rückseite der Toten.

»Bis jetzt nicht, aber wir haben noch keine Fingerabdrücke genommen«, antwortete Garcia. »Die erste Durchsuchung des Hauses hat absolut nichts ergeben, nicht einmal ein zurückgelassenes Kleidungsstück. Gewohnt hat sie hier ja wohl nicht, und das Haus nach Hinweisen auf ihre Identität abzusuchen ist wahrscheinlich reine Zeitverschwendung.«

»Es muss trotzdem gemacht werden«, sagte Hunter. »Wie sieht’s mit Vermisstenmeldungen aus?«

»Ich habe eine Beschreibung von ihr in die Vermissten-Datenbank eingespeist«, antwortete Garcia. »Bis jetzt gibt es keine Übereinstimmungen. Allerdings, ohne Gesicht …« Garcia schüttelte den Kopf angesichts dieses aussichtslosen Unterfangens.

Hunter ließ den Blick eine Weile durch das Zimmer schweifen, bis er an einem nach Süden hinausgehenden Fenster hängenblieb. »Wie sieht es mit Reifenspuren vor dem Haus aus? Der schmale Waldweg scheint die einzige Zufahrt zu sein. Der Täter muss hier raufgefahren sein.«

Captain Bolter nickte. »Sie haben recht. Der Weg ist die einzige Zufahrt, und inzwischen ist die komplette Polizeiflotte samt Spurensicherungsteam hier auf und ab gefahren. Wenn da je eine Spur war, ist sie inzwischen zerstört. Und dafür werde ich ein paar Leuten die Hölle heiß machen.«

»Na großartig.«

Stille trat ein. Sie alle sahen so was nicht zum ersten Mal. Ein Opfer, das gegen seinen wahnsinnigen Mörder keine Chance gehabt hatte – eine leere Leinwand bemalt mit den grellen Farben des Todes –, doch das hier war anders. Es fühlte sich anders an.

Schließlich brach Hunter das Schweigen. »Das sieht alles nicht gut aus. Gar nicht gut. Das ist nicht irgendein Mord, der aus einem Moment heraus geschieht. Das hier war genauestens geplant, und zwar schon seit langem. Stellt euch mal vor, was für eine Geduld und Entschlossenheit dahinterstecken muss.« Hunter rieb sich die Nase. Der Geruch des Todes setzte ihm allmählich zu.

»Ein Verbrechen aus Leidenschaft vielleicht? Rache, für eine beendete Affäre oder etwas in der Art?«, schlug Garcia vor.

»Das ist kein Verbrechen aus Leidenschaft«, sagte Hunter mit einem Kopfschütteln. »Niemand, der sie einmal geliebt hat, hätte ihr so etwas antun können. Egal, wie verletzt er war. Es sei denn, sie hatte eine Affäre mit dem Teufel persönlich. Schaut sie euch doch an, das ist einfach grotesk, und das macht mir Sorgen. Das wird hier nicht enden.« Hunters Worte lösten ein neues Frösteln unter den Anwesenden aus. Das Letzte, was die Stadt Los Angeles brauchen konnte, war der nächste psychopathische Serienkiller, der Jack the Ripper sein wollte.

»Hunter hat recht, das ist kein Verbrechen aus Leidenschaft. Es war nicht die erste Tat unseres Killers«, sagte Captain Bolter auf einmal im Ton einer Feststellung und trat vom Fenster weg. Die anderen standen wie vom Donner gerührt.

»Wissen Sie etwas, was wir nicht wissen?« Garcia stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag.

»Erst seit kurzem. Da wäre noch eine Sache, die ich Ihnen zeigen will, bevor ich die Jungs von der Spurensicherung ranlasse.«

Hunter hatte sich darüber schon von Anfang an gewundert. Normalerweise nimmt das Team von der Spurensicherung den Tatort ab, bevor die Detectives sich dort umsehen dürfen, doch diesmal hatte der Captain darauf bestanden, dass Hunter zuerst an Ort und Stelle war. Und Captain Bolter brach eigentlich nie das Protokoll.

»Sehen Sie sich mal ihren Nacken an«, sagte er und neigte den Kopf in Richtung der Leiche.

Hunter und Garcia wechselten einen beunruhigten Blick und traten dann erneut zu der Frauenleiche.

»Ich brauche irgendwas, womit ich ihren Kopf anheben kann«, sagte Hunter. Dr. Winston reichte ihm einen ausziehbaren Metallzeigestock.

Hunter nahm ihn und richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf den entblößten Nacken der Frau. Was er sah, löste einen Wirbelsturm an Gedanken in seinem Kopf aus. Er starrte ungläubig auf die Stelle – kreidebleich im Gesicht.

Garcia konnte von da, wo er stand, nicht sehen, was Hunters konsternierten Blick verursachte. Doch was immer es auch war, es hatte Hunter eine Heidenangst eingejagt.

6

Hunter war neununddreißig, doch sein jugendliches Gesicht und sein durchtrainierter Körper ließen ihn wie einen Mann Anfang dreißig wirken. Er war etwas über eins achtzig groß, breitschultrig, hatte hohe Wangenknochen und kurze blonde Haare. Sein Outfit beschränkte sich in der Regel auf Jeans, T-Shirt und eine ausgebeulte Lederjacke. In jeder seiner Bewegungen lag eine geballte, konzentrierte Körperkraft, doch das Fesselndste an ihm waren seine durchdringend hellblauen Augen: Aus ihnen sprachen Intelligenz und absolute Entschlossenheit.

Hunter war als einziges Kind eines Ehepaars aus der Arbeiterschicht in Compton aufgewachsen, einem sozial schwachen Viertel im Süden von Los Angeles. Als er sieben war, verlor seine Mutter den Kampf gegen den Krebs. Sein Vater heiratete nicht wieder und musste zwei Jobs annehmen, um alleine mit einem Kind über die Runden zu kommen.

Hunter machte schon als Kind auf sich aufmerksam – es war offensichtlich, dass er anders war als seine Altersgenossen. Er hatte eine schnellere Auffassungsgabe als die meisten um ihn herum. Die Schule langweilte und frustrierte ihn. Den Sechstklässler-Stoff bewältigte er in gerade mal zwei Monaten und las sich danach, einfach um sich zu beschäftigen, den Stoff der siebten, achten und neunten Klasse an. Mr Fratelli, der Schuldirektor, war so beeindruckt von dem begabten Jungen, dass er ihm einen Termin an der Mirman School in Mulholland Drive verschaffte, einer Schule für Hochbegabte im Nordwesten von Los Angeles. Dr. Tilby, der Schulpsychologe der Mirman School, ließ Hunter ein ganzes Arsenal von Tests absolvieren: Hunter bestand sie alle, mit einem Ergebnis »jenseits der Skala«. Eine Woche später wechselte Hunter in die achte Klasse der Mirman School. Da war er gerade mal zwölf.

Mit vierzehn arbeitete er sich bereits mühelos durch den Highschool-Lehrplan in Englisch, Geschichte, Biologie und Chemie. Vier Jahre Highschool waren in zwei Schuljahren zusammengefasst, und so hatte Hunter bereits mit fünfzehn seinen Abschluss mit Bestnoten absolviert. Mit den Empfehlungsschreiben seiner sämtlichen Lehrer in der Tasche wurde Hunter als Ausnahmestudent mit Stipendium an der Stanford University angenommen – Amerikas Top-Universität für Psychologie zu der Zeit.

Eigentlich war Hunter gutaussehend, doch so jung und spindeldürr, wie er war, und dazu noch mit seinem eigenwilligen Kleidungsstil hatte er wenig Erfolg bei Mädchen und war ein bevorzugtes Opfer für die Schikanen tyrannischer Mitschüler. Er hatte weder den Körperbau noch eine besondere Begabung für Sport und verbrachte seine Freizeit am liebsten in der Bibliothek. Er las mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit, die Bücher wurden von ihm regelrecht verschlungen. Die Welt der Kriminologie faszinierte ihn ebenso wie die Psyche der sogenannten »Bösen«. Mühelos hielt er sein gesamtes Studium hindurch einen Top-Notendurchschnitt. Doch die ständigen Hänseleien und das Image der »halben Portion« nervten ihn. Also suchte er sich ein Fitnessstudio und nahm an Kampfsport-Kursen teil. Zu seiner eigenen Überraschung genoss er die physische Anstrengung des Trainings. Er trainierte wie ein Besessener, und nach einem Jahr waren die Erfolge nicht mehr zu übersehen: Er hatte massiv Muskulatur aufgebaut. Aus der »halben Portion« war ein Athlet geworden. Es dauerte nicht einmal zwei Jahre, bis er seinen schwarzen Gürtel in Karate hatte. Die Schikanen hörten auf, und plötzlich rissen sich die Mädchen um ihn.

Mit neunzehn hatte Hunter seinen Universitätsabschluss in Psychologie, mit dreiundzwanzig seinen Doktor in Kriminal- und Bio-Psychologie. Seine Doktorarbeit mit dem Titel »Eine vertiefende Studie zur Psychologie kriminellen Verhaltens« war als Buch erschienen und inzwischen zur Pflichtlektüre beim Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen beim FBI avanciert.

Alles lief bestens, doch zwei Wochen nachdem Hunter seinen Doktortitel erhalten hatte, brach seine Welt in Scherben. In den vorausgegangenen dreieinhalb Jahren hatte sein Vater beim Sicherheitsdienst einer Filiale der Bank of America am Avalon Boulevard gearbeitet. Bei einem Bankraub, der zu einer wilden Schießerei eskalierte, traf ihn eine Kugel in die Brust. Zwölf Wochen lang rang er im Koma mit dem Tod. Hunter wich keinen Augenblick von seiner Seite.

Diese zwölf Wochen, in denen er still am Bett seines Vaters saß und mit ansehen musste, wie dieser mehr und mehr aus dem Leben schwand, veränderten Hunter. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Rache. Als die Polizei ihm mitteilte, dass sie keinen Verdächtigen hatten, war Hunter klar, dass der Mörder seines Vaters nie gefasst würde. Eine abgrundtiefe Hilflosigkeit überkam ihn, und das Gefühl widerte ihn an. Nach der Beerdigung seines Vaters traf er eine Entscheidung. Er wollte nicht mehr nur die Psyche von Kriminellen studieren. Er wollte sie selbst jagen.

Also ging er zur Polizei, wo er sich rasch einen Namen machte und mit Lichtgeschwindigkeit durch die Hierarchieebenen aufstieg. Mit gerade mal sechsundzwanzig Jahren brachte er es bereits zum Detective beim Los Angeles Police Department. Bald schon rekrutierte ihn die Abteilung für Mord und bewaffneten Raubüberfall, wo er einem erfahrenen Detective, Scott Wilson, an die Seite gestellt wurde. Sie bildeten ein Team des Morddezernats 1, Zuständigkeit: Serienkiller und besonders schwere Morde und Gewaltverbrechen. All die Sachen, die aufwendige Untersuchungen erforderten.

Wilson war damals neununddreißig, ein Schwergewicht von knapp ein Meter neunzig Körpergröße bei 130 Kilo Fett und Muskelmasse. Das auffallendste Merkmal an ihm war eine leuchtende Narbe auf seinem kahlen Schädel. Sein bedrohliches Aussehen kam ihm natürlich in seinem Beruf nur gelegen. Wer legte sich schon mit einem Polizei-Detective an, der aussah wie ein übellauniger Shrek?

Wilson war bereits seit achtzehn Jahren bei der Polizei, die letzten neun davon als Detective beim Morddezernat. Zuerst war er alles andere als angetan von der Idee, mit einem jungen, unerfahrenen Partner zusammenzuarbeiten, doch Hunter lernte schnell, und seine scharfsinnigen Analysen und Schlussfolgerungen waren immer wieder erstaunlich. Mit jedem Fall, den sie zusammen lösten, wuchs Wilsons Respekt vor Hunter. Zwischen den beiden entwickelte sich eine tiefe Freundschaft auch jenseits der Arbeit.

Der Stadt Los Angeles mangelte es noch nie an schlimmen und brutalen Morden, doch an Detectives, um sie aufzuklären, sehr wohl. Wilson und Hunter arbeiteten nicht selten an bis zu sechs Fällen gleichzeitig. Der Druck störte sie nicht, im Gegenteil, er beflügelte sie. Doch dann kostete sie ein Mordfall um einen Hollywoodstar beinahe ihre Dienstmarken und ihre Freundschaft.

Bei dem Fall ging es um John Spencer, einen berühmten Plattenproduzenten, der mit drei aufeinanderfolgenden Rock-Alben einen Nummer-eins-Hit schaffte und so ein Vermögen gemacht hatte, und seine Frau Linda. John und Linda hatten sich bei einer After-Show-Party kennengelernt, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und drei Monate später waren sie verheiratet. John hatte ein herrliches Haus in Beverly Hills gekauft, ihre Ehe wirkte wie aus dem Bilderbuch, alles schien perfekt. Die beiden luden gern Gäste ein, und mindestens zweimal im Monat gaben sie eine extravagante Party an ihrem Swimmingpool, der die Form eines Konzertflügels hatte. Doch das Märchen hielt nicht lange. Ihre Ehe war kaum ein Jahr alt, als die Liebe erkaltete und mit ihr die Feierlaune. Drogen und Alkohol bestimmten mehr und mehr Johns Leben, bis irgendwann die Streitereien an der Tagesordnung waren, nicht nur privat, sondern auch in aller Öffentlichkeit.

Nach einer Augustnacht, in der es wieder einmal zu einem heftigen Streit gekommen war, wurde Lindas Leiche in der Küche ihres Hauses gefunden. Sie war mit einem einzigen Revolverschuss, Kaliber .38, in den Hinterkopf regelrecht hingerichtet worden. Es gab weder Spuren eines Kampfes oder Einbruchs noch Kratzer oder Blutergüsse an Lindas Händen und Armen, die auf eine Verteidigung hingewiesen hätten. Die Spuren am Tatort und die Tatsache, dass John Spencer nach dem Streit verschwunden und seither nicht wieder aufgetaucht war, machten ihn zum einzigen Tatverdächtigen. Hunter und Wilson wurden mit dem Fall betraut.

John Spencer wurde einige Tage später gefasst: Er war betrunken und vollgepumpt mit Heroin. Im Verhör stritt er keineswegs ab, in jener Nacht wieder heftig mit seiner Frau gestritten zu haben. Er gab offen zu, dass ihre Ehe zuletzt nicht gut gelaufen war. Er erinnerte sich an den Streit und daran, das Haus aufgebracht und betrunken verlassen zu haben, doch was er in den paar Tagen bis zu seiner Verhaftung getrieben hatte, wusste er nicht mehr. Er hatte kein Alibi. Doch er behauptete unerschütterlich, dass er Linda nie etwas angetan hätte. Schließlich liebe er sie noch immer über alles.

Mordfälle, in die Hollywoodstars involviert sind, erregen immer eine Menge Publicity, und auch in diesem Fall hatten die Medien im Nu ihre eigene Version der Geschichte kreiert: »BERÜHMTER PLATTENPRODUZENT ERMORDET IN TOBSUCHTSANFALL SEINE SCHÖNE EHEFRAU.« Sogar der Bürgermeister verlangte lautstark nach einer raschen Aufklärung des Falls.

Die Untersuchungen ergaben, dass John tatsächlich einen Revolver Kaliber .38 besaß, der jedoch nie gefunden wurde. Auch mangelte es nicht an Zeugen, die die ständigen, unverhohlenen Streitereien zwischen John und Linda bestätigen konnten. Meist sei John derjenige gewesen, der laut herumschrie, während Linda einfach nur weinte. John Spencer ein aufbrausendes Temperament zu attestieren war praktisch ein Kinderspiel.

Wilson war von Spencers Schuld überzeugt, Hunter hingegen war sich sicher, dass ihnen der Falsche ins Netz gegangen war. In Hunters Augen war John nur ein verängstigter Junge, der zu schnell reich geworden war, und mit Ruhm und Reichtum kamen die Drogen. Er hatte keine gewalttätige Vorgeschichte. In der Schule war er nie besonders aufgefallen – ein normaler, leicht versponnener Jugendlicher, der in zerrissenen Bluejeans herumlief, einen komischen Haarschnitt zur Schau trug und permanent Heavy Metal hörte. Hunter redete wiederholt auf Wilson ein.

»Na gut, er hat sich mit seiner Frau gestritten. Zeig mir eine Ehe, in der es keinen Streit gibt«, argumentierte Hunter. »Aber er hat Linda bei keiner einzigen dieser lautstarken Auseinandersetzungen geschlagen oder verletzt.«

»Die Ballistik hat eindeutig bewiesen, dass die Kugel, die Linda getötet hat, aus dem Munitionsvorrat in Johns Schreibtischschublade stammt«, rief Wilson.

»Das beweist noch lange nicht, dass er auch den Abzug gedrückt hat.«

»Sämtliche Fasern am Opfer stammen von den Kleidern, die Spencer in der Nacht trug, als er gefunden wurde. Frag irgendwen, der die beiden kannte, und er wird dir bestätigen, dass Spencer ein aufbrausendes Temperament hatte, dass er sie ständig anschrie. Du bist der Psychologe. Du weißt doch, wie solche Sachen eskalieren.«

»Genau, sie eskalieren. Und zwar allmählich. Aber nicht vom bloßen Anschreien bis zu einem gezielten Schuss in den Hinterkopf in einem einzigen Schritt.«

»Hör zu, Robert. Ich habe deine Einschätzungen eines Verdächtigen immer respektiert. Sie haben uns viele Male in die richtige Richtung geführt, aber ich vertraue auch meinem Instinkt. Und mein Instinkt sagt mir, dass du diesmal falschliegst.«

»Der Mann hat eine Chance verdient. Wir sollten mit der Untersuchung noch weitermachen. Vielleicht haben wir irgendwas übersehen.«

»Wir können nicht weitermachen.« Wilson lachte. »Diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Das weißt du ganz genau. Wir haben unseren Teil erledigt. Wir haben die Beweise gesichert und den Verdächtigen festgenommen, hinter dem wir her waren. Überlass den Rest seinen Anwälten.«

Hunter wusste, was einen Mörder ausmachte, und John Spencer passte einfach nicht ins Bild. Doch seine Meinung allein konnte nichts ausrichten. Wilson hatte recht. Es lag nicht mehr in ihren Händen. Sie waren bereits mit fünf weiteren Fällen im Rückstand, und Captain Bolter drohte Hunter, ihn zu suspendieren, wenn er noch mehr Zeit an einen Fall verschwendete, der offiziell abgeschlossen war.

Die Geschworenen brauchten nicht einmal drei Stunden, um sich auf ein »Schuldig im Sinne der Anklage« zu einigen, so wurde John Spencer zu lebenslanger Haft verurteilt. Und genau das bekam er: Achtundzwanzig Tage nach seiner Verurteilung erhängte sich John mit Hilfe seines Bettlakens in seiner Zelle. Neben ihm fand man eine Notiz: Linda, bald bin ich bei dir. Kein Streit mehr, versprochen.

Zweiundzwanzig Tage nach John Spencers Selbstmord wurde der Pool-Reiniger der Spencers in Utah in seinem Wagen angehalten. Darin fand man Johns Kaliber-.38-Revolver sowie eine Auswahl an Schmuck und Wäsche, die Linda Spencer gehört hatten. Forensische Untersuchungen erbrachten, dass die Kugel, die Linda getötet hatte, aus ebendiesem Revolver abgefeuert worden war. Der Pool-Reiniger gestand wenig später den Mord an ihr.

Hunter und Wilson gerieten unter heftigen Beschuss seitens der Medien, des Polizeichefs, der internen Ermittler und des Bürgermeisters. Man warf ihnen Nachlässigkeit und unterlassene Sorgfalt bei einer Untersuchung vor. Wäre Captain Bolter nicht für sie eingetreten und hätte einen Teil der Schuld auf sich genommen, hätten sie ihre Dienstmarken abgeben können. Hunter verzieh es sich nie, dass er damals nicht hartnäckig geblieben war, und seine Freundschaft mit Wilson hatte einen schweren Knacks erlitten. All das war sechs Jahre her.

7

Was denn? Was ist da?«, fragte Garcia und trat näher zu seinem Partner, der noch immer kein Wort gesagt hatte. Hunter stand reglos da und starrte auf etwas, das in den Nacken der Frauenleiche eingeritzt war, etwas, das er nie vergessen würde.

Garcia stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Hunters Schulter hinweg einen Blick auf den Nacken der Leiche zu erhaschen, doch was er sah, sagte ihm nichts. Ein eingeritztes Symbol, das er noch nie gesehen hatte. »Was bedeutet es?«, fragte er in der Hoffnung, von irgendjemandem eine Auskunft zu erhalten.

Schweigen.

Garcia trat näher. Das Symbol sah aus wie zwei ineinandergeschobene Kreuze, eines richtig herum, das andere auf dem Kopf stehend, wobei die Querbalken relativ weit voneinander entfernt waren, nämlich fast ganz an den Enden des Längsbalkens. Garcia konnte noch immer nichts damit anfangen.

»Soll das irgendein perverser Scherz sein, Captain?«, fragte Hunter, endlich aus seiner Trance auftauchend.

»Pervers schon, aber kein Scherz«, entgegnete der Captain mit fester Stimme.

»Würde vielleicht mal irgendwer die Güte besitzen, mit mir zu reden?«, fragte Garcia mit wachsender Ungeduld.

»Verdammt!«, stieß Hunter hervor und ließ die Haare der Toten wieder fallen.

»Hallo!« Garcia wedelte ihm mit der Hand vor den Augen herum. »Ich kann mich nicht daran erinnern, heute Morgen meine Tarnkappe aufgesetzt zu haben. Also, wäre vielleicht irgendwer so nett, mir zu verraten, was zum Teufel hier los ist?« Er klang allmählich ärgerlich.

Hunter war, als wäre der Raum noch dunkler, die Luft noch drückender geworden. In seinem Kopf pochte es inzwischen so heftig, dass ihm jeder logische Gedanke schwerfiel. Er rieb sich die verklebten Augen in der schwachen Hoffnung, dass dies alles nur ein böser Traum war.

»Sie setzen am besten mal Ihren Partner ins Bild, Hunter«, sagte Captain Bolter und bereitete damit Hunters Hoffnungen ein jähes Ende.

»Danke«, bemerkte Garcia, froh, endlich einen Verbündeten gefunden zu haben.