10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €
Ein Killer mit Künstlerseele. Ein neuer Fall für Robert Hunter. "Seit 37 Jahren bei der Truppe, und das Einzige, was ich vergessen möchte, ist das, was in diesem Zimmer ist." Ein Polizist vom LAPD warnt die Sonderermittler Robert Hunter und Carlos Garcia vor dem schockierenden Anblick. Die beiden Detectives sind auf Morde spezialisiert, bei denen der Täter mit extremer Brutalität vorgegangen ist. Im Morddezernat intern als ultra violent, kurz "UV" eingestuft. Hunter und Garcia, ausgebildete Kriminologen und Psychologen, sind die UV-Einheit, und der neue Fall sprengt selbst für sie alle Grenzen des Verbrechens. Sie jagen einen Serienkiller, der die Welt einlädt, seine Galerie der Toten zu besichtigen. Der 9. Fall für Hunter und Garcia. Die härtesten Profiler der Welt!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 586
Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller. Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:One Dead (E-Book)Der Kruzifix-KillerDer VollstreckerDer KnochenbrecherTotenkünstlerDer TotschlägerDie stille BestieI am Death – Der TotmacherDeath Call – Er bringt den TodBlutrausch – Er muss töten
»Ich bin jetzt seit einunddreißig Jahren bei der Polizei, und in den Jahren habe ich so einiges gesehen. Aber wenn ich, bevor ich sterbe, nur eine einzige Sache ungesehen machen könnte …« Er deutete mit dem Kinn in Richtung Haus. »Dann wäre es das da drinnen.«Ein Polizist vom LAPD warnt die Sonderermittler Robert Hunter und Carlos Garcia vor dem schockierenden Anblick. Die beiden Detectives sind auf Morde spezialisiert, bei denen der Täter mit extremer Brutalität vorgegangen ist. Im Morddezernat intern als ultra violent, kurz »UV« eingestuft. Hunter und Garcia, ausgebildete Kriminologen und Psychologen, sind die UV-Einheit, und der neue Fall sprengt selbst für sie alle Grenzen des Verbrechens. Das Schlafzimmer der jungen Frau ist in Blut getränkt, die Tote wurde gehäutet. Bei ihrer Obduktion entdeckt das FBI eine Botschaft des Mörders, der von Schönheit besessen ist. Und der einen perfiden Plan verfolgt.
Chris Carter
Thriller
Aus dem Englischen von Sybille Uplegger
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2018© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018© Chris Carter 2018Published by Arrangement with Luiz MontoroTitel der englischen Originalausgabe:Gallery of the Dead (Simon & Schuster Inc.)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © PrivatE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-1775-5
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
1
Linda Parker betrat ihr kleines Haus in Silver Lake im Nordosten von Los Angeles, schloss die Tür hinter sich und seufzte tief. Es war ein langer, harter Tag gewesen. Fünf Fotoshootings in ebenso vielen verschiedenen Studios, quer über die ganze Stadt verstreut. Die Arbeit selbst war nicht besonders anstrengend, Linda liebte das Modeln und hatte das große Glück, davon leben zu können, aber in einer Stadt wie L.A., wo der Verkehr selbst unter Idealbedingungen allenfalls als zähflüssig zu bezeichnen war, stundenlang im Auto zu sitzen, konnte auch den leidensfähigsten Menschen müde und reizbar machen.
Linda hatte am Morgen gegen sieben Uhr dreißig das Haus verlassen, und als ihr roter VW Beetle am Abend in die Einfahrt einbog, zeigte die Uhr am Armaturenbrett zweiundzwanzig Uhr vierzehn an. Sie war völlig zerschlagen, und sie hatte einen Bärenhunger. Aber das Wichtigste zuerst.
»Wein«, sagte sie, ehe sie das Licht im Wohnzimmer anknipste und sich die Schuhe von den Füßen streifte. »Jetzt brauche ich unbedingt erst mal ein schönes, großes Glas Wein.«
Linda teilte sich ihr eingeschossiges, weiß gestrichenes Haus mit Mr Boingo, einem schwarz-weißen Kater, den sie elf Jahre zuvor auf der Straße aufgelesen hatte. Infolge seines fortgeschrittenen Alters wagte sich Mr Boingo nur noch selten vor die Tür. Durch die Gegend zu streifen und Vögeln nachzustellen, die er sowieso nie erwischen würde, hatte bereits vor geraumer Zeit seinen Reiz verloren, und nun verbrachte er den Großteil seiner Tage entweder schlafend oder indem er auf der Fensterbank saß und reglos auf die menschenleere Straße hinausblickte.
Sobald das Licht anging, erhob sich Mr Boingo aus seinem Lieblingssessel, in dem er die letzten drei Stunden über geschlummert hatte, und streckte die Vorderbeine, ehe er lange und genüsslich gähnte.
Linda schmunzelte. »Na, Mr Boingo? Wie war dein Tag? Viel zu tun gehabt?«
Mr Boingo, der sich freute, sein Frauchen wiederzusehen, sprang auf den Boden und kam langsam näher.
»Und, hast du Hunger, mein Kleiner?«, fragte Linda, ehe sie sich bückte, um ihn hochzuheben.
Mr Boingo schmiegte sich in ihre Arme.
»Hast du schon alles aufgefressen?« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Linda hatte gewusst, dass es ein langer Arbeitstag werden würde, und Mr Boingo ausreichend Futter dagelassen. Trotzdem machte sie einen Schritt nach rechts, um einen Blick auf Futternapf und Wasserschüssel werfen zu können, die nebeneinander in der Ecke standen. Beide waren noch gut gefüllt.
»Hunger hast du nicht, oder?«
Mr Boingo begann zu schnurren und blinzelte sie zweimal aus schläfrigen Augen an.
»Nein, hab ich nicht.« Linda verstellte ihre Stimme und tat so, als wäre sie Mr Boingo. »Ich will einfach nur knuddeln, weil ich mein Frauchen so vermisst hab.«
Sie begann den Kater sanft am Hals und unter dem Kinn zu kraulen. Sogleich verzog sich das Maul des Tiers zu einem zufriedenen Grinsen.
»Ja, das gefällt dir, was?« Erneut küsste sie ihn auf die Stirn.
Mit dem Kater auf dem Arm ging Linda in die Küche, nahm ein sauberes Glas aus der Geschirrspülmaschine und goss sich eine großzügige Menge aus der bereits geöffneten Flasche südafrikanischem Pinotage ein. Dann setzte sie Mr Boingo auf dem Boden ab und hob das Glas an die Lippen.
»Ahhh«, seufzte sie laut, als sie spürte, wie ihr Körper sich sogleich entspannte. »Flüssige Seligkeit.«
Dann holte sie ihr Abendessen aus dem Kühlschrank – eine kleine Schale mit Salat. Viel lieber hätte sie einen doppelten Cheeseburger mit Chili Fries oder eine große, extrascharfe Peperoni-Pizza gegessen, aber solche Kalorienbomben sah ihr strikter Diätplan nicht vor. Nur an ganz wenigen Abenden erlaubte sie sich eine Ausnahme, und heute war kein solcher Abend.
Nach einem weiteren Schluck Wein nahm Linda Glas und Salat in die Hand und verließ die Küche.
Mr Boingo folgte ihr.
Im Wohnzimmer stellte sie alles auf den Esstisch und schaltete ihren Laptop ein. Während sie darauf wartete, dass er hochfuhr, holte sie aus ihrer Handtasche eine Tube Feuchtigkeitscreme, von der sie sich eine großzügige Menge erst in die Hände, dann in die Füße einmassierte.
Mr Boingo beobachtete die Prozedur mit gleichmütiger Miene von seinem Platz am Fußboden aus.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Linda damit, Mails zu beantworten und neue Termine in ihren Kalender einzutragen. Als das erledigt war, beendete sie das E‑Mail-Programm und beschloss, noch kurz auf ihrer Facebook-Seite vorbeizuschauen. Sie hatte zweiunddreißig Freundschaftsanfragen, neununddreißig neue Nachrichten und sechsundneunzig Kommentare erhalten. Sie warf einen raschen Blick zur Uhr links an der Wand – es war bereits neun Minuten vor elf. Während sie noch hin und her überlegte, ob sie wirklich Lust auf Facebook hatte, sprang Mr Boingo mit einem langen Satz auf ihren Schoß.
»Na, du? Willst du noch ein bisschen gestreichelt werden?« Wieder antwortete sie mit verstellter Stimme. »Klar will ich das. Ich war ja den ganzen Tag alleine. Böses Frauchen.«
Linda kraulte ihren Kater noch ein wenig unter dem Kinn, dann kam ihr plötzlich eine Idee. Es gab da etwas, das sie schon seit Tagen unbedingt ausprobieren wollte.
»Ich weiß was«, verkündete sie und blickte Mr Boingo tief in seine kleinen Katzenaugen. »Lass uns eins dieser Face-Swap-Fotos machen. Was hältst du davon?«
Einige Tage zuvor hatte Lindas beste Freundin Maria auf Instagram ein Face-Swap-Bild von sich und ihrem zuckersüßen kleinen Bichon Frisé geteilt. Der Hund litt an einer angeborenen Fehlstellung des Unterkiefers, wegen der ihm permanent die Zunge aus dem Maul hing. Um sich anzupassen, hatte Maria für das Foto ebenfalls die Zunge herausgestreckt. Die Kombination aus wuscheligem, weißem Fell, platinblonden Haaren, zwei herausgestreckten Zungen und Marias wie immer übertriebenem Make‑up war zum Totlachen gewesen, und Linda hatte sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit die Face-Swap-App an sich und Mr Boingo zu testen.
»Ja, genau das machen wir«, sagte sie begeistert und nickte ihrer Katze zu. »Das wird lustig, versprochen.«
Sie nahm Mr Boingo auf den Arm, angelte sich ihr Smartphone und tippte auf das Icon der App, die bereits heruntergeladen und installiert war.
»Alles klar, es geht los.«
Sie setzte sich gerade hin und überprüfte den Bildausschnitt auf dem Handydisplay. An der Wand hinter ihr hingen einige gerahmte Bilder sowie eine silberne Lampe. Links von den Bildern befand sich die Tür, die in den kurzen Flur und von dort zu den anderen Zimmern des Hauses führte.
Linda war sehr kritisch, was Fotos anging, auch bei privaten Schnappschüssen.
»Hmm, nee, das gefällt mir so nicht«, murmelte sie und sah Mr Boingo kopfschüttelnd an.
Das Licht im Flur war ausgeschaltet, aber die Wandlampe brannte, weshalb das Display-Bild an der Stelle einen unschönen Lichtfleck hatte. Linda rutschte ein Stück nach links und warf sich erneut in Pose. Schon war der störende Lichtfleck verschwunden.
»Viel besser. Findest du nicht auch?«, fragte sie Mr Boingo.
Dessen Antwort war ein träges Blinzeln.
»Okay. Bringen wir’s hinter uns, ehe du mir wieder einpennst, du Schlafmütze.«
Die Face-Swap-App war kinderleicht zu bedienen. Man musste nur ein Foto schießen, und die App identifizierte automatisch die Gesichter im Bildausschnitt, markierte sie mit einem roten Kreis und vertauschte sie miteinander.
Linda hielt den Kater höher und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Hier«, sagte sie und zeigte auf ihr Handydisplay. »Da musst du hinschauen.«
Mr Boingo, der tatsächlich so aussah, als würde er jeden Moment eindösen, gähnte herzhaft.
»Nein, du dummer Kater, du sollst nicht mich anschauen, sondern das Telefon. Da.« Abermals deutete sie auf ihr Handy, und diesmal schnippte sie dabei mit den Fingern. Das Geräusch zeigte Wirkung. Endlich hob Mr Boingo den Kopf und wandte sich dem Telefon zu.
»Na bitte, geht doch.«
Linda verlor keine Zeit. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und tippte auf den Auslöser.
Gleich darauf erschien ein erster roter Kreis um ihr Gesicht. Der zweite folgte wenig später – und als sie ihn sah, war ihre Brust auf einmal wie zugeschnürt, als hätte jemand einen Druckverband um ihr Herz festgezogen.
Die App hatte nicht Mr Boingos Gesicht markiert, sondern etwas im dunklen Türrahmen hinter ihr.
»Guten Abend, alle zusammen.«
Obwohl ihr ein Mikrofon nebst leistungsstarken Verstärkern zur Verfügung stand, sprach Dozentin Tracy Adams an diesem Abend etwas lauter als sonst – verständlicherweise, denn sie stand in einem bis auf den letzten seiner einhundertfünfzig Plätze besetzten Hörsaal, in dem es durch das Gemurmel zahlreicher Unterhaltungen summte wie in einem Bienenstock. Ihr Publikum bestand nicht nur aus interessierten Studenten der Kriminologie und Kriminalpsychologie. Auch einige von Tracys Kollegen waren gekommen und fieberten dem Gastvortrag mit großer Spannung entgegen.
Tracy, wie immer mit ihrer altmodischen Katzenaugenbrille auf der Nase, ließ den Blick ihrer ungewöhnlich grünen Augen durch den Saal schweifen.
»Wir wollen gleich anfangen«, verkündete sie. »Deshalb wäre es hilfreich, wenn jeder, der jetzt noch steht, so schnell wie möglich einen Platz finden könnte.« Sie hielt inne und wartete geduldig.
Tracy Adams war ohne Zweifel eine faszinierende Frau – intelligent, attraktiv, gebildet, charismatisch, elegant und ein wenig geheimnisvoll. Kein Wunder also, dass viele ihrer Studenten – sowohl männliche als auch weibliche – ein klein wenig in sie verschossen waren. Für ihre Kollegen aus der Fakultät galt dasselbe. Und trotzdem war nicht sie der Grund, weshalb der im nordöstlichen Teil des UCLA-Campus gelegene große Vorlesungssaal an diesem Abend aus allen Nähten platzte.
Eine geschlagene Minute verging, ehe endlich alle saßen.
»Also«, sagte Tracy. »Zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen bedanken. Wenn doch nur alle meine Veranstaltungen so gut besucht wären …«
Gedämpftes Gelächter schwappte durch den Raum.
»Nun denn«, fuhr sie fort. »Bevor es losgeht, möchte ich noch kurz ein paar einleitende Worte zu unserem heutigen Gast sagen.« Dabei ging ihr Blick zu dem großen, athletisch gebauten Mann, der links neben dem Podium stand.
Der Mann, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte, antwortete mit einem scheuen Lächeln.
Tracy konsultierte schnell die Notizen, die sie vor sich auf dem Pult liegen hatte, dann hob sie den Kopf und wandte sich wieder ans Publikum.
»Er hat seinen Abschluss in Psychologie an der Stanford University gemacht«, begann sie, »und zwar bereits im zarten Alter von neunzehn Jahren.« Die nächsten drei Wörter sagte sie absichtlich langsam und betont. »Summa cum laude.«
Im Saal erhob sich beeindrucktes Raunen.
»Ebenfalls an der Stanford University«, fuhr sie fort, »erlangte er wenig später seinen Doktortitel in Kriminal- und Biopsychologie – da war er gerade dreiundzwanzig. Seine Dissertation mit dem Titel Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltensmuster ist bis heute Pflichtlektüre im NCAVC des FBI.« Eine kurze Pause. »Für alle diejenigen unter Ihnen, die nicht oder nicht mehr wissen, was diese Abkürzung bedeutet: Die Rede ist vom Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen.«
Erneut warf sie einen kurzen Blick in ihre Aufzeichnungen, ehe sie sich wieder ihren Zuhörern widmete.
»Obwohl ihm wiederholt eine Stelle als Profiler in der Einheit für Verhaltensanalyse des NCAVC angeboten wurde, ist unser heutiger Gast eisern geblieben und hat es stattdessen vorgezogen, beim LAPD zu arbeiten.«
Diesmal war das Gemurmel noch ein bisschen lauter.
Tracy wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann sprach sie weiter.
»Bei der Polizei von Los Angeles hat er nahezu mit Lichtgeschwindigkeit die Karriereleiter erklommen. Beispielsweise war er der jüngste Polizist in der Geschichte des LAPD, dem jemals der Dienstgrad eines Detective verliehen wurde. Seine Aufklärungsquote ist unerreicht.«
Erneut hielt sie inne, diesmal allerdings um des Effekts willen.
»Unser Gast ist ein mehrfach ausgezeichneter Detective beim Morddezernat I des LAPD – einer Eliteeinheit innerhalb der Abteilung für Kapitalverbrechen, die ins Leben gerufen wurde, um sich mit aufsehenerregenden Gewalt- und Serienverbrechen zu befassen, die zeitaufwendige Ermittlungen und spezielles Fachwissen erfordern.«
Tracy hob den rechten Zeigefinger, um ihren nächsten Satz zu unterstreichen. »Und damit nicht genug. Aufgrund seines wissenschaftlichen Hintergrunds in Kriminalpsychologie und in Anbetracht der Tatsache, dass unsere so wundervolle Stadt eine ganz eigene Sorte von Psychopathen hervorzubringen scheint …«
Diese Bemerkung sorgte erneut für Gelächter im Saal.
»… wurde unser Gast einer noch erleseneren Einheit innerhalb des Morddezernats I zugeteilt. Alle Morde, bei denen ein besonders hohes Ausmaß an Sadismus oder Brutalität im Spiel ist, werden LAPD-intern als sogenannte UV‑Morde klassifiziert. UV für ultra violent. Unser Gast heute Abend hat einen Job, den die meisten Detectives in diesem Land nicht für eine Million Dollar machen würden. Er ist der Leiter der UV‑Einheit des LAPD.« Erneut drehte sie sich zu dem Mann neben dem Podium um.
Einhundertfünfzig Augenpaare folgten ihr.
»Ich habe sehr lange gebraucht, um ihn zu überreden, hier an die UCLA zu kommen und mit Ihnen über eines der faszinierendsten Themen innerhalb der Kriminologie und Kriminalpsychologie zu sprechen: den modernen Serienmörder.«
Von einem Moment auf den anderen herrschte eine geradezu gespenstische Stille im Saal.
»Ich habe die große Ehre, Ihnen heute Abend Detective Robert Hunter vom LAPD vorstellen zu dürfen.«
Applaus brandete auf.
Tracy forderte Hunter durch Gesten auf, zu ihr aufs Podium zu kommen.
Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und ging langsam die drei Schritte bis zur Bühne. Als er Tracys Blick begegnete, schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln, gefolgt von einem verführerischen, aus größerer Entfernung jedoch kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern. Hunter brach den Blickkontakt mit ihr ab, wandte sich dem Saal zu, in dem immer noch eifrig Beifall geklatscht wurde, und senkte bescheiden den Kopf. Er war so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt.
»Hals- und Beinbruch«, wisperte Tracy ihm noch zu, bevor sie Hunter das Mikrofon übergab und auf demselben Weg das Podium verließ, wie er heraufgekommen war.
Hunter wartete, bis der Applaus einigermaßen abgeebbt war.
»Gut. Zunächst mal ein ganz herzliches Dankeschön an Sie alle dafür, dass Sie heute Abend hergekommen sind. Ich muss gestehen, dass ich nicht mit so großem Zulauf gerechnet habe.«
Bei diesen Worten warf er Tracy einen vielsagenden Blick zu.
»Ich dachte, ich würde hier vor zwanzig, wenn es hochkommt, vielleicht fünfundzwanzig Studenten sprechen.«
Erneutes Gelächter aus der Menge.
Tracy schmunzelte und zuckte von ihrem Platz am Rand des Podiums aus mit den Schultern.
»Bevor ich anfange, möchte ich noch vorausschicken, dass ich kein geborener Redner bin und ganz sicher auch kein besonders talentierter Lehrer. Aber ich werde so gut wie möglich versuchen, Ihnen nahezubringen, was ich weiß, und danach alle Fragen beantworten, die Sie vielleicht zu dem Thema haben.«
Abermals applaudierte das Publikum.
Da Hunter den Wissensstand seiner Zuhörer nicht kannte, begann er seinen Vortrag mit einigen grundlegenden Definitionen wie etwa dem Unterschied zwischen Serienmörder, Amokläufer und Massenmörder. Er spickte seine Erklärungen mit verschiedenen Beispielen aus Fällen, die sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte in den USA ereignet hatten.
Danach erläuterte er die sieben Phasen im Tatzyklus eines Serienmörders, angefangen von der Aura-Phase, in der für den zukünftigen Täter Fantasie und Wirklichkeit Stück für Stück verschwimmen, bis hin zur Depressionsphase, dem vernichtenden emotionalen Tief, das in den meisten Fällen auf den Mord folgt.
»Ehe ich weitermache«, schloss Hunter, nachdem er die letzte Phase beschrieben hatte, in deutlich ernsterem Ton, »möchte ich noch eine Sache betonen: Wenn es um Mordserien geht, müssen Sie eines immer im Hinterkopf behalten, nämlich dass …«
In diesem Augenblick wurde er vom Vibrieren seines Handys in seiner Jackentasche unterbrochen.
Er verstummte und holte es hervor.
»Es tut mir sehr leid«, sagte er, während er gleichzeitig entschuldigend die Hand hob. »Wenn Sie sich alle einen ganz kurzen Moment gedulden würden.« Er schaltete das Mikrofon aus und legte es auf das Pult. »Detective Hunter«, meldete er sich. »UV‑Einheit.«
Während er der Person am anderen Ende lauschte, suchte sein Blick den von Tracy. Worte waren überflüssig, seine Miene sagte alles. Außerdem erlebte sie nicht zum ersten Mal, wie er einen solchen Anruf bekam.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, murmelte sie resigniert, ehe sie erneut das Podium betrat und sich neben Hunter stellte. »Wieso überrascht es mich nicht, dass so was ausgerechnet heute Abend passiert?«
Hunter beendete das Telefonat und drehte sich zu ihr um.
»Es tut mir wirklich furchtbar leid, Tracy«, sagte er leise und gepresst. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Aber ich muss weg.«
Sie nickte verständnisvoll. »Schon gut, Robert. Geh nur. Ich erkläre es dem Publikum.«
Während Hunter im Laufschritt das Podium verließ, nahm Tracy das Mikrofon in die Hand, stieß einen leidgeprüften Seufzer aus und stellte sich den verwirrten Zuhörern.
Als Hunter bei der Adresse ankam, die man ihm am Telefon genannt hatte, war es einundzwanzig Uhr einunddreißig. Selbst um diese Zeit an einem Dienstagabend hatte er für die knapp neunzehn Meilen zwischen Westwood und Silver Lake, einem Multikulti-Bezirk östlich von Hollywood, annähernd eine Dreiviertelstunde gebraucht. Als er in westliche Richtung in die Berkeley Avenue einbog, sah er sofort die zahlreichen Einsatzfahrzeuge, die an der Einmündung zum North Benton Way auf der Straße parkten.
Hunter wusste, dass in einer Stadt wie L.A. nichts so schnell die Gaffer anzog wie die Kombination aus Blaulicht und gelb-schwarzem Flatterband. Insofern wunderte er sich auch nicht über die stetig anwachsende Menge von Schaulustigen, die sich jenseits der Absperrung eingefunden hatten und nun, selbstverständlich mit dem Handy im Anschlag, darauf hofften, ein paar Sekunden Film oder wenigstens einige gute Schnappschüsse zu ergattern, die sie dann später stolz im Netz posten konnten, als handle es sich um Pokémon‑Go-Trophäen.
Auch die Presse war schneller am Ort des Geschehens gewesen als Hunter selbst. Zwei Ü‑Wagen mit auf dem Dach montierten Kameras hatten bereits auf dem Gehweg gegenüber der Absperrung Stellung bezogen, und zwei Live-Reporter mühten sich redlich, jedem, der mit ihnen zu sprechen bereit war, verwertbare Informationen zu entlocken.
Nachdem er seinen Wagen endlich durch die Menge manövriert hatte, ließ Hunter die Scheibe herunter und zeigte einem der uniformierten Polizisten, die die Einmündung zur Straße bewachten, seine Dienstmarke. Der Officer nickte und ließ Hunter passieren.
Der North Benton Way war eine ruhige, südlich des berühmten Silver-Lake-Stausees gelegene Wohnstraße. Hohe Platanen säumten auf beiden Seiten die Fahrbahn. Tagsüber schützten sie vor der sengenden Sonne, doch sobald die Dämmerung hereingebrochen war, warfen sie gespenstische Schatten auf Straßen und Häuser.
Hunters Ziel war das sechste Haus auf der rechten Seite. Auf den zwei Stellplätzen in der Einfahrt parkten ein roter VW Beetle und ein blauer Tesla S. An der Straße, ein Stück rechts, standen drei weitere Streifenwagen sowie ein Transporter der Gerichtsmedizin.
Hunter hielt vor dem Transporter und stieg aus. Sobald er sich zu seiner vollen Größe von einem Meter dreiundachtzig aufgerichtet hatte, überragte er das sonnengebleichte Dach seines uralten Buick LeSabre um ein gutes Stück. Er nahm sich einen Moment Zeit, die Straße in Augenschein zu nehmen. Sämtliche Nachbarhäuser waren hell erleuchtet. Die meisten Bewohner spähten entweder neugierig aus den Fenstern oder standen mit geschockten, fassungslosen Mienen vor ihren Haustüren. Gerade als Hunter damit beschäftigt war, seine Marke an den Gürtel zu klemmen, kam ein weiteres Auto durch die Polizeiabsperrung am Anfang der Straße gefahren. Hunter erkannte den metallicblauen Honda Civic auf den ersten Blick. Er gehörte seinem Partner Detective Carlos Garcia.
»Bist du gerade erst gekommen?«, fragte dieser, nachdem er neben einem der Streifenwagen geparkt hatte und ausgestiegen war.
»Vor nicht mal einer Minute«, gab Hunter Auskunft.
Garcias halblange braune Haare waren noch nass von einer abendlichen Dusche und zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden.
Beide Detectives wandten sich dem weißen Haus zu. Auf dem Gehweg davor standen mit düsteren Mienen drei Streifenpolizisten. Hinter ihnen leuchtete ein Kriminaltechniker im Tyvek-Overall mit einer ProTac-Taschenlampe akribisch jeden Quadratzentimeter des gepflegten Rasens ab. Auf der Veranda, halb hinter einem blauen Zelt verborgen, untersuchte ein anderer Kollege von der Spurensicherung Griff und Rahmen der Haustür auf Fingerabdrücke.
Als der älteste der drei Streifenpolizisten sie sah, löste er sich aus der Gruppe und nahm Kurs auf sie.
Hunter sprang sofort das Abzeichen an seinem Hemdkragen ins Auge, das ihn als First Lieutenant des LAPD auswies.
»Sie müssen die Kollegen von der UV‑Einheit sein.« Die Stimme des Polizisten war rau vor Müdigkeit.
»Ja, Sir«, antwortete Garcia. »Die sind wir.«
Der Lieutenant war schätzungsweise Anfang fünfzig, gut sieben Zentimeter kleiner als Hunter und mindestens zwanzig Kilo schwerer, wobei sich die überflüssigen Kilos ausschließlich um seine Taille herum angesammelt hatten.
»Ich bin Lieutenant Frederick Jarvis vom Central Bureau«, sagte er und streckte ihnen die Hand entgegen. »Northeast Area Division.«
Hunter und Garcia stellten sich ebenfalls vor.
»Waren Sie als Erster am Tatort?«, wollte Garcia von dem Mann wissen.
Lieutenant Jarvis verneinte, drehte sich um und deutete auf die beiden Polizisten, die er auf dem Gehweg hatte stehen lassen. »Das waren Officer Grabowski und Officer Perez. Ich bin bloß derjenige, der entschieden hat, die Sache an die große Glocke zu hängen und Ihnen von der UV‑Einheit den Fall zu übertragen.«
»Dann waren Sie also auch schon drinnen?«, wollte Hunter wissen.
Der Lieutenant atmete aus, und auf einmal wurde er sehr ernst. »War ich. Ja.« Er kratzte sich an der rechten Wange. »Ich bin jetzt seit einunddreißig Jahren bei der Polizei, und in den Jahren habe ich so einiges gesehen. Aber wenn ich, bevor ich sterbe, nur eine einzige Sache ungesehen machen könnte …« Er deutete mit dem Kinn in Richtung Haus. »Dann wäre es das da drinnen.«
Hunter und Garcia trugen sich ins Tatortprotokoll ein, nahmen je einen Einweg-Overall und begannen sich einzukleiden.
Lieutenant Jarvis hingegen verzichtete. Er hatte offenbar nicht die geringste Absicht, den Tatort ein zweites Mal zu betreten.
»Was für Infos liegen uns bislang über das Opfer vor?«, wollte Garcia wissen.
»Nur ein paar grundlegende Dinge«, antwortete der Lieutenant, der seinen Notizblock gezückt hatte. »Ihr Name war Linda Parker«, begann er. »Vierundzwanzig Jahre alt, stammt aus the Harbor, also in L.A. geboren und aufgewachsen. Hat als Model gearbeitet. Soweit bis jetzt bekannt, hatte sie keinerlei Vorstrafen – keine Verhaftungen, keine ausstehenden Bußgeldbescheide, keine gerichtlichen Verfügungen … nichts. Ihr VW Beetle wäre in wenigen Monaten abbezahlt gewesen. Hat immer pünktlich und vollständig ihre Steuern entrichtet.«
»Hat sie allein hier gewohnt?«, fragte Garcia.
»Soweit wir wissen, ja. Auf den Nebenkostenabrechnungen tauchen jedenfalls keine weiteren Namen auf.«
»Gibt es einen Partner? Exfreunde? Irgendwelche Beziehungen?«
Der Lieutenant zuckte mit den Achseln. »Wir hatten noch keine Zeit, uns darum zu kümmern. Tut mir leid, Kollegen. Das werden Sie wohl selbst in die Hand nehmen müssen.«
Abermals blickte Hunter in beide Richtungen die Straße hinunter.
»Irgendwas von den Nachbarn?«, fragte er. Er ging davon aus, dass der Lieutenant bereits eine Haustürbefragung veranlasst hatte.
»Nichts. Keiner scheint etwas gesehen oder gehört zu haben, aber meine Jungs sind noch nicht fertig. Mit ein bisschen Glück, wer weiß …«
»Leider scheint uns Fortuna nicht besonders hold zu sein«, sagte Garcia. Es lag keinerlei Humor in seiner Stimme. »Aber was soll’s. Jeder Tag ist neu.«
»Allem Anschein nach hat sich der Täter über das Schlafzimmerfenster auf der Rückseite Zutritt verschafft«, erklärte Lieutenant Jarvis. »Es wurde von außen eingeschlagen.«
»Wie ist er nach hinten in den Garten gekommen?«, fragte Garcia.
Jarvis machte eine Kopfbewegung in Richtung des hölzernen Tors links neben dem Haus. Dort suchte gerade ein dritter Kriminaltechniker nach Fingerabdrücken. »Keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens, aber vielleicht ist er einfach drübergeklettert, dazu muss man ja kein Supersportler sein.«
»Ist das die Person, die die Leiche gefunden hat?«, fragte Hunter den Lieutenant als Nächstes und deutete zu den Einsatzfahrzeugen am Straßenrand. Schon beim Aussteigen war ihm die Polizistin aufgefallen, die neben der geöffneten Beifahrertür des am weitesten vom Haus entfernten Streifenwagens kniete. Sie war nicht allein. Vor ihr auf dem Beifahrersitz saß eine Frau von schätzungsweise Ende vierzig bis Anfang fünfzig, die tief verstört wirkte.
»Richtig«, sagte Lieutenant Jarvis. »Immerhin können Sie sich den Gang zu den Eltern sparen. Das da ist die Mutter des Opfers.«
Hunter und Garcia hielten beim Umziehen inne. Ihr Blick ging vom Lieutenant zu der Frau auf dem Beifahrersitz. Konnte es für eine Mutter eine grauenhaftere Erfahrung geben, als die Leiche der eigenen Tochter zu finden, die brutal ermordet worden war?
»Sie steht natürlich unter Schock«, setzte der Lieutenant hinzu. »Im Moment bekommt man noch nicht viel aus ihr heraus, aber wenn wir alles richtig verstanden haben, stand sie täglich mit ihrer Tochter in Kontakt, mindestens telefonisch.« Er warf einen Blick in seine Notizen. »Das letzte Mal haben sie vor zwei Tagen miteinander gesprochen – Montagnachmittag, am Telefon. Eigentlich wären sie gestern zum Mittagessen verabredet gewesen, aber dann ist der Mutter was dazwischengekommen. Sie meint, sie hätte ihre Tochter gegen neun Uhr morgens angerufen, um abzusagen, aber es wäre niemand rangegangen. Sie hat eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, aber ihre Tochter hat nicht zurückgerufen. Ungefähr eine Dreiviertelstunde vor dem vereinbarten Treffen hat die Mutter es noch einmal probiert, um sich zu vergewissern, dass ihre Tochter die Nachricht auch tatsächlich erhalten hatte und nicht umsonst zum Restaurant fuhr. Aber es war wieder nur die Mailbox dran. Dann hat sie es gestern Abend noch einmal versucht, und dann noch mal heute Morgen und heute Nachmittag.« Lieutenant Jarvis nickte, wie um die unausgesprochene Vermutung der Detectives zu bestätigen. »Jedes Mal die Mailbox. Langsam hat die Mutter angefangen, sich Sorgen zu machen. Sie meinte, selbst wenn Linda sauer gewesen wäre, weil sie das gemeinsame Mittagessen abgesagt hatte – obwohl sie das für sehr unwahrscheinlich hielt –, hätte sie irgendwann zurückgerufen. Sie hat noch ein allerletztes Mal ihr Glück per Telefon versucht und Linda eine Nachricht hinterlassen, dass sie am Abend vorbeikommen würde.«
»Und wann ist sie vorbeigekommen?«, wollte Hunter wissen.
»So gegen sieben.«
»Wie kam sie rein?« Diese Frage stellte Garcia. »War die Tür nicht abgeschlossen?«
»Doch, aber die Mutter hat einen Zweitschlüssel.«
Hunter wandte sich an den Kriminaltechniker, der die Haustür auf Spuren untersuchte.
»Einbruch?«, fragte er.
»Wenn jemand die Tür geöffnet hat, dann nicht mit Gewalt«, antwortete der Kriminaltechniker und sah zu Hunter auf. »Schloss, Türrahmen – alles unversehrt. Andererseits hat die Tür auch nur ein hundsgewöhnliches Riegelschloss. Um so was zu knacken, braucht es wirklich keinen Experten.«
Hunter und Garcia setzten sich die Kapuzen ihrer Overalls auf und zogen die Reißverschlüsse zu.
»Sie müssen durchs Wohnzimmer«, wies Lieutenant Jarvis ihnen den Weg. »Durch den Flur auf der anderen Seite und dahinter dann ins Schlafzimmer. Falls Sie sich verlaufen, folgen Sie einfach dem Blutgeruch.« Der letzte Satz war eindeutig nicht als Scherz gemeint. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich auch die Atemschutzmaske aufsetzen.«
Von Linda Parkers Haustür gelangte man direkt in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit einer Mischung aus antiken und auf alt gemachten Möbeln im Shabby-Chic-Stil geschmackvoll gestaltet war. Vorhänge in Pastelltönen, farblich auf Teppiche und Kissen abgestimmt, komplettierten die Einrichtung. Nichts wirkte in irgendeiner Weise auffällig. Nichts deutete auf ein Kampfgeschehen hin.
Auch hier trafen sie eine Mitarbeiterin der Spurensicherung an, die auf der Suche nach Fingerabdrücken die zahlreichen Oberflächen im Raum der Reihe nach abarbeitete. Sie grüßte die Detectives mit einem knappen Nicken.
Der Flur, der zu den übrigen Zimmern führte, hatte einen Holzboden und war kurz und breit, mit einer Tür auf der rechten Seite, zwei Türen auf der linken und einer am hinteren Ende. Lediglich die zweite Tür links war verschlossen. Mehrere gerahmte Fotos schmückten die Wände. Sie sahen aus wie die Cover von Modemagazinen und zeigten alle dieselbe, ungewöhnlich schöne junge Frau – schlanker, straffer Körper, herzförmiges Gesicht, volle Lippen, eine zierliche Nase, leicht schräg stehende, fast aquamarinblaue Augen und Wangenknochen, für die viele Frauen ein Vermögen bezahlt hätten.
Hunter und Garcia nahmen Kurs auf das Zimmer am Ende des Flurs.
Ein rascher Blick durch die geöffnete Tür rechts offenbarte, dass es sich um eine Art Gästezimmer handelte.
Links war das Bad.
Um die verschlossene Tür würden sie sich später kümmern.
Schließlich gelangten sie zu dem Zimmer, in dem Linda Parker ermordet worden war. Sie blieben im Türrahmen stehen und waren im ersten Moment sprachlos.
Eines war sowohl Hunter als auch Garcia bereits im ersten Moment absolut klar: Lieutenant Jarvis’ Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen. Niemals würde er diesen Anblick aus seinem Gedächtnis löschen können.
Das laute Knattern eines Motorrads draußen auf der Straße riss den Mann aus dem Schlaf. Er lag noch eine Weile regungslos auf dem Rücken und starrte an die Decke. Das Zimmer wurde nur von dem schwachen Mondlicht erhellt, das durch das große Fenster zu seiner Linken hereinfiel. Doch die Dunkelheit machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er mochte sie sogar. Er fand, dass sie am besten zur Farbe seiner Seele passte.
Der Mann versuchte ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ein durch die Nase, dachte er beim Einatmen. Aus durch den Mund. Er atmete aus. Ein durch die Nase. Atmete ein. Und aus durch den Mund. Atmete aus.
Langsam wurde seine Atmung ruhiger.
Der Mann war schweißgebadet, so wie immer, wenn er aus seinem Albtraum erwachte. Es waren jedes Mal die gleichen Bilder – abscheulich … brutal … ekelhaft. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Am liebsten wäre es ihm gewesen, nie wieder daran denken zu müssen. Während er auf seine eigenen Atemzüge lauschte, verbannte er die Bilder zurück in die dunkelsten Winkel seines Bewusstseins, auch wenn er wusste, dass sie ihn früher oder später erneut heimsuchen würden. Das war unvermeidlich.
Er brauchte zehn Minuten, bis er endlich so weit war, dass er sich aufsetzen konnte. Ein Großteil des Schweißes auf seiner Haut war getrocknet, und er fühlte sich klebrig und schmutzig. Er brauchte dringend eine Dusche. Nach dem Albtraum musste er immer duschen.
Im Bad drehte er das Wasser auf und wartete, bis sich Dampfschwaden im Raum ausbreiteten, ehe er unter den starken, warmen Strahl der Brause trat. Er schloss die Augen, während ihm das Wasser über Gesicht und Körper rann. Er spürte, wie die Poren seiner Haut sich öffneten, um das reinigende Wasser willkommen zu heißen.
Er liebte dieses Gefühl.
Der Mann wusch sich zweimal gründlich am ganzen Körper, ehe er eine Rasierklinge und eine Flasche Babyöl aus seinem Duschkörbchen nahm. Er gab etwas Öl in seine rechte Handfläche und verteilte es auf seinem linken Bein. Dann wiederholte er das Ganze mit der linken Hand und dem rechten Bein. Es war eine Reihenfolge, die sich nie änderte. Er hielt die Rasierklinge einige Sekunden lang unter den Wasserstrahl, dann beugte er sich hinab und setzte sie am rechten Schienbein an.
Vor Jahren hatte ihm einmal eine Prostituierte den Tipp gegeben, zum Rasieren Baby- oder Kokosöl zu verwenden, um Rasurpickelchen vorzubeugen, vor allem in den Achselhöhlen und im Schritt. »Musst du echt mal ausprobieren«, hatte sie ihm geraten. »Danach hast du nie wieder Ausschlag oder Brennen, glaub mir.«
Sie hatte recht gehabt. Es funktionierte wirklich. Nicht nur war er die Pickelchen los, seine Haut war seitdem auch viel weicher und zarter geworden.
Der Mann rasierte sich täglich den ganzen Körper, manchmal sogar zweimal am Tag, vom Kopf bis hinunter zu den kleinen Härchen auf seinen Zehen. Er tat es nicht, weil er unter einer Zwangsstörung litt oder ein Fetischist war oder weil irgendwelche Stimmen in seinem Kopf es ihm befahlen. Nein, er tat es, weil er es mochte, wie sich seine Haut ohne Haare anfühlte. Wie viel empfindsamer sie dann war. Der einzige Teil seines Körpers, den er nicht rasierte, waren die Augenbrauen. Das hatte er einmal ausprobiert, und das Ergebnis war nicht zufriedenstellend gewesen. Er hatte seltsam ausgesehen … ja, regelrecht unheimlich, und bislang hatte er noch keine falschen Augenbrauen gefunden, die so gut aussahen wie echte – ganz im Gegensatz zu den falschen Perücken und Bärten, von denen er eine recht umfangreiche Sammlung besaß.
Der Mann schloss die zeitaufwendige Prozedur ab, drehte das Wasser aus, stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Zurück im Schlafzimmer, stellte er sich nackt vor den mannshohen Spiegel und betrachtete seinen Körper.
Voller Stolz drehte er sich zur Seite und schaltete den großen Ventilator ein, der in der Nähe stand. Sobald der Luftzug seine nackte, glatte Haut streifte, erschauerte der Mann, und eine Woge der Ekstase ging durch seinen Körper, stärker und atemberaubender als jede Droge. Es war, als hätte das Rasurritual die Empfindsamkeit seiner Haut um ein Zehnfaches gesteigert.
Der Mann genoss das pure Glücksgefühl mehrere Minuten lang, ehe er den Ventilator wieder ausschaltete.
»Ich glaube, es wird Zeit, sich fertig zu machen«, sagte er zu sich selbst und erschauerte erneut, diesmal in freudiger Erregung.
Er konnte es gar nicht abwarten, es wieder zu tun.
Was Tatorte anging, besaßen Hunter und Garcia ein ziemlich dickes Fell. Das war nicht weiter verwunderlich, hatten sie doch schon mehr blutige und brutale Morde gesehen als die meisten anderen Detectives in der Geschichte des LAPD. Nur sehr wenige Gewaltakte vermochten sie noch emotional zu erschüttern. Was sie an diesem Abend in Linda Parkers Schlafzimmer vorfanden, war das Ergebnis eines solchen Akts.
»Was um alles in der Welt …?«, murmelte Garcia wie betäubt. Trotz seiner langjährigen Berufserfahrung hatte sein Verstand Schwierigkeiten, die Bilder, die seine Augen lieferten, korrekt zu verarbeiten.
Alles an diesem Tatort war zutiefst verstörend – angefangen bei der Temperatur im Raum.
Die durchschnittliche Höchsttemperatur in Los Angeles im März beträgt vierzehn Grad Celsius. In Linda Parkers Schlafzimmer herrschten vielleicht zwei Grad, allerhöchstens fünf.
Unwillkürlich verschränkte Garcia die Arme vor der Brust, um Körperwärme zu konservieren. Und die ungewöhnliche Kälte war erst der Anfang. Das Zimmer war fast vollständig in Rot getaucht – Boden, Teppich, Vorhänge, Möbel, Bett, Wände … alles troff nur so vor Blut. Und doch wirkte dies wie ein harmloser Schülerstreich im Vergleich zu dem Anblick, der sich ihnen auf dem mit dem Kopfende an der südlichen Wand stehenden Bett darbot.
Dort lag Linda Parker auf blutgetränkten Laken, die früher einmal weiß gewesen waren. Sie lag auf dem Rücken, die Arme dicht am Körper, die Beine lang ausgestreckt. Sowohl Hände als auch Füße fehlten. Die Füße waren an den Knöcheln, die Hände an den Handgelenken sauber abgetrennt worden.
Und selbst das war noch nicht der Höhepunkt des Grauens, das der Mörder an ihr verübt hatte.
Linda Parker war vollständig gehäutet worden, sodass man nur noch eine widerwärtige Masse aus rostrotem Muskelgewebe, feuchtglänzenden Organen und bleichen Knochen sah. Der Geruch von verwesendem Fleisch verpestete die Luft im Raum.
»Willkommen in Ihrem neuesten Albtraum, Kollegen.«
Diese seltsame Begrüßung kam von Kevin White, dem Leiter der Kriminaltechnik, der neben dem Bett stand. Er war achtundvierzig Jahre alt, eins achtundsiebzig groß und hatte haselnussbraune Augen, die unter dichten, buschigen Brauen hervorlugten. Seine Haare, momentan von der Kapuze seines Overalls verdeckt, waren blond und am Oberkopf bereits ein wenig schütter. Seine Atemmaske verbarg eine lange Nase und einen dünnen Schnurrbart, der eher wie der Flaum auf einem Pfirsich als wie echte Gesichtsbehaarung aussah.
Er war ein erfahrener Kriminaltechniker, der schon an mehreren Tatorten mit Hunter und Garcia zusammengearbeitet hatte. Darüber hinaus war Kevin White auch ein Fachmann für forensische Entomologie.
Auf der anderen Seite des Bettes stand ein Fotograf der Spurensicherung und machte Bilder von der Leiche, wobei er sich bemühte, sie aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln aufzunehmen. Jedes Mal, nachdem er zwei- oder dreimal auf den Auslöser gedrückt hatte, hielt er inne, schüttelte den Kopf, wandte kurz den Blick ab und kniff die Augen zusammen. Ihm war anzusehen, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um sich nicht zu übergeben.
Endlich betraten Hunter und Garcia den Raum und näherten sich der Toten, wobei sie achtgaben, nicht in die getrockneten Blutlachen zu treten.
White ließ ihnen ein wenig Zeit, die Szene zu betrachten, ehe er erneut das Wort ergriff.
»Wir sind erst seit knapp einer halben Stunde hier«, erklärte er. »Und wie Sie sehen können, wird es noch eine ganze Weile dauern, bis wir fertig sind, aber ich kann Ihnen schon mal sagen, was wir bislang rausgefunden haben – auch wenn es nicht viel ist.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zu der Klimaanlage an der Wand gegenüber. »Die war voll aufgedreht, als wir ankamen, deshalb ist es hier drinnen so kalt wie in einem Kühlschrank.«
»Der Täter wollte die Leiche konservieren?«, fragte Hunter.
»Möglicherweise«, antwortete White. »In jedem Fall hat die Kälte genau das bewirkt, ob es nun die erklärte Absicht des Täters war oder nicht.«
Beide Detectives schauten ihn neugierig an.
»Wenn Sie den exakten Todeszeitpunkt wissen wollen, müssen Sie den Autopsiebericht abwarten«, fuhr White fort, »aber bei solchen Temperaturen wird der normale Verwesungsprozess um etwa dreißig bis vierzig Stunden verzögert. In Anbetracht der Tatsache also, dass bei ihr gerade erst die Leichenstarre einsetzt, würde ich schätzen, dass sie ungefähr vor vierzig bis zweiundfünfzig Stunden getötet wurde.«
»Also am Montagabend«, sagte Garcia und sah Hunter an. »Lieutenant Jarvis hat uns draußen gesagt, dass ihre Mutter zuletzt am Montagnachmittag mit ihr gesprochen hat.« Er richtete sich erneut an White. »Klingt so, als wäre Ihre Schätzung ziemlich exakt, Kevin.«
Whites Augen leuchteten stolz. »Die niedrige Temperatur und die geschlossenen Fenster im ganzen Haus erklären auch, warum es hier drinnen keine Schmeißfliegen gibt.« Er hielt inne und warf einen Blick auf die Leiche. »Sonst wäre längst nicht mehr so viel von ihr übrig.«
Wird ein toter Körper unter normalen Bedingungen sich selbst überlassen, finden sich – auch bei Nacht oder innerhalb von Gebäuden – bereits nach wenigen Minuten Schmeißfliegen ein, die auf der Leiche ihre Eier ablegen, wobei sie zunächst Mundhöhle, Nase, Augen sowie offene Wunden besiedeln. Da im Fall einer gehäuteten Leiche der gesamte Körper eine offene Wunde war, gab er eine ideale Brutstätte für Fliegenlarven ab. Innerhalb weniger Stunden hätten die Tiere bis zu einer halben Million Eier überall auf der Leiche abgelegt. Die Maden wiederum, die nach etwa vierundzwanzig Stunden aus den Eiern geschlüpft wären, hätten die Leiche eines erwachsenen Menschen innerhalb eines einzigen Tages um die Hälfte seines Volumens reduziert. Über diesen Sachverhalt wussten Hunter und Garcia selbstverständlich Bescheid.
»Was die Todesursache angeht«, fuhr White fort, »werden Sie auf jeden Fall die Obduktion abwarten müssen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es keine sichtbaren Stich- oder Schussverletzungen gibt. Auch keine stumpfe Gewalteinwirkung am Kopf. Keine Knochenverletzungen – mit Ausnahme der abgetrennten Hände und Füße, natürlich. Der Brustkorb sieht intakt aus, und ihr wurde auch nicht das Genick gebrochen.«
»Vielleicht verblutet?«, wagte Garcia eine Vermutung.
»Die Wahrscheinlichkeit ist hoch«, pflichtete White ihm bei. »Aber wie gesagt, das wird sicher alles im Autopsiebericht stehen.«
Beide Detectives schwiegen einen Moment lang.
»Die fehlenden Extremitäten wurden bislang nicht gefunden«, setzte White hinzu. »Die Haut auch nicht, aber wir hatten auch noch keine Zeit, das Haus vollständig zu durchsuchen.«
»Gibt es irgendeine Möglichkeit, festzustellen, ob ihr all das angetan wurde, während sie noch gelebt hat?«, wollte Garcia als Nächstes wissen.
»Nicht mit Gewissheit«, antwortete White. »Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, Carlos: Wenn Sie endgültige Antworten wollen, müssen Sie sich gedulden, bis der Autopsiebericht fertig ist.«
Garcia ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Angesichts der schieren Menge an Blut hätte er sich nicht gewundert, wenn die Obduktion ergab, dass das Opfer in der Tat bei lebendigem Leib gehäutet worden war. Aber trotzdem – irgendetwas ergab keinen Sinn.
»Eins verstehe ich nicht«, meinte er nach einer Weile. »Wie kommt das viele Blut überallhin?« Sein Blick ruhte auf Hunter, doch die Frage war an alle gerichtet. »Sogar auf der anderen Seite des Zimmers. Schlagader-Spritzspuren sind das nicht, darin sind wir uns ja wohl alle einig.« Er trat näher an die östliche Wand heran und betrachtete eine lange Blutschliere. »In meinen Augen sieht das nach Wischspuren aus. Als hätte sie jemand mit Absicht auf die Wände aufgebracht.«
»Kann gut sein«, stimmte White ihm zu.
Hunter näherte sich dem Bett und begann das zu inspizieren, was noch von Linda Parkers Gesicht übrig war. Ohne Haut war der Anblick gleichermaßen grausig wie faszinierend.
Weil die dünne Muskelschicht auf den Gesichtsknochen mehr als vierzig Stunden ungeschützt der Luft ausgesetzt gewesen war, war sie trotz der Kälte zu einem seltsamen Braunton nachgedunkelt, als wäre sie bei niedriger Temperatur gegart worden. Der Nasenknorpel saß noch an Ort und Stelle, aber Lider und Lippen fehlten, sodass Zahnfleisch, Zähne, Kieferknochen, Schädelkalotte und Augenhöhlen freilagen. Die Augäpfel hatte der Täter unversehrt gelassen, allerdings fehlten sie ebenfalls. Der Großteil der Glaskörperflüssigkeit – der transparenten gallertartigen Substanz, aus der der Augapfel besteht – war eingetrocknet. Infolgedessen waren Linda Parkers Augen zusammengeschrumpft und praktisch in ihren Höhlen versunken.
»Wurde sie bewegt?«, wollte Hunter wissen.
»Nein, noch nicht«, sagte White. »Ich habe auf Sie gewartet, damit Sie sich die Leiche erst mal in situ anschauen können, denn hier kommt der Clou: Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass der Mörder sie nicht komplett gehäutet hat.«
Hunter trat einen Schritt zurück und neigte den Kopf zur Seite.
»Sie haben recht«, befand er. »Es sieht so aus, als wäre an ihrem Rücken noch ein Stück Haut übrig.«
Garcia gesellte sich zu seinem Partner. »Komisch. Wieso hat der Täter sie gehäutet und am Rücken eine Stelle ausgelassen?«
»Schauen wir uns die Sache doch mal an«, schlug White vor und kam um das Bett herum. »Könnten Sie mir vielleicht kurz helfen?«, fragte er Hunter und Garcia.
»Sicher.«
Der Fotograf machte ihnen Platz und zog sich auf die andere Seite des Zimmers zurück.
»Am besten, wir bringen sie in eine Sitzposition«, sagte White und nickte den Detectives zu, die die Geste erwiderten. »Auf drei … Eins, zwei, drei.«
Kaum hatten sie die Leiche angehoben, reckten Hunter, Garcia und White gleichzeitig die Hälse, um den Rücken betrachten zu können.
Als das verbliebene Hautstück sichtbar wurde, erstarrten sie.
»Großer Gott!«, entfuhr es White. »Was in Dreiteufelsnamen ist das?«
Noch immer unbekleidet, nahm der Mann an seinem Frisiertisch Platz und studierte einen Moment lang sein Gesicht in dem dreiteiligen Spiegel, wobei er sich auch von beiden Seiten im Profil betrachtete.
Er liebte diese ganz besondere Stimmung, die ihn jedes Mal überkam, wenn er im Begriff war, mit seiner Verwandlung zu beginnen. Es war ein komplexer Zustand, den er nur schwer in Worte fassen konnte – wie die Gewissheit, etwas Großes geleistet zu haben, gepaart mit einem Gefühl, das sich als beinahe rauschhafte Ekstase bezeichnen ließ.
Eine volle Minute lang schwelgte er darin. Spürte, wie es sich in seinem ganzen Körper ausbreitete wie das Blut, das durch seine Adern floss.
Freudig erregt, lächelte er sich im Spiegel an.
Er wusste, dass er sich optisch in jede beliebige Person verwandeln konnte. Er konnte die Form seiner Nase verändern, die Farbe seiner Augen, die Kontur seiner Wangenknochen, den Schnitt seines Kinns, die Fülle seiner Lippen, die Gestalt seiner Ohren, das Aussehen seiner Zähne … seinem Gestaltungsspielraum waren praktisch keine Grenzen gesetzt. Sein Wissen darüber, wie man Latex-Prothesen herstellte, und sein maskenbildnerisches Können suchten ihresgleichen. Und wenn er dann noch einige ausgewählte elektronische Geräte zu Hilfe nahm, konnte er sogar Klang und Kraft seiner Stimme verändern, so wie er es bereits unzählige Male getan hatte.
Der Mann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete das Foto, das er in die rechte obere Ecke seines Spiegels geklemmt hatte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer der Mann auf dem Foto war, er hatte es einfach von einer der zahlreichen Stock-Foto-Websites heruntergeladen. Aber das Aussehen des Unbekannten sprach ihn irgendwie an: runde Nase, relativ niedrige Wangenknochen, volle Lippen, blaue Augen und schräg stehende Brauen, die dem Gesicht etwas Trauriges verliehen. Aus unerfindlichen Gründen gefiel ihm das besonders. Die Hautfarbe des Unbekannten auf dem Foto war eine Nuance dunkler als seine eigene.
Der Mann hatte bereits mehrere Teile modelliert, um Nase, Lippen und Wangen entsprechend anzupassen, und während er eine dünne Schicht Spezialkleber auf eins der Teile auftrug, fragte er sich, wie die Person, in die er sich gleich verwandeln würde, wohl im wahren Leben war – wie sie redete, sich bewegte, lächelte oder lachte … Hatte sie eine eher leise, zaghafte Stimme oder eine kraftvolle, Respekt einflößende? Oder eine Mischung aus beidem?
Und was ist mit seinen Charaktereigenschaften?, überlegte der Mann weiter. Ist er extrovertiert, redselig, schüchtern, zurückhaltend, lustig, ernst, nachdenklich? Die Möglichkeiten waren schier endlos, und genau das war das Aufregende daran. Der Mann liebte es, sich jede neue Rolle, in die er schlüpfte, ganz zu eigen zu machen. Er liebte es, weil niemand diesen Vorgang besser beherrschte als er. Dabei waren die optische Verwandlung und die Konstruktion der dazugehörigen Persönlichkeit nur ein Teil des Vergnügens. Der wahre Höhepunkt, der wahre kreative Prozess kam erst später.
Er war ein Künstler, ganz ohne Frage.
Hunter, Garcia und White staunten, als sie sahen, dass Linda Parkers Rücken noch ein großes, exakt rechteckiges Stück Haut aufwies. Es reichte von knapp unterhalb der Schultern bis zu ihrem Gesäß und bedeckte somit praktisch ihren gesamten Rücken. Doch das war noch nicht alles. Trotz des getrockneten Blutes, das fast überall an der Haut klebte, konnte man deutlich erkennen, dass jemand etwas in die Haut geritzt hatte.
»Was ist denn das für ein kranker Scheiß?«, raunte Garcia, der die Schnitte mit zusammengekniffenen Augen betrachtete.
»Tommy«, rief White und bedeutete dem Fotografen, zu ihnen zu kommen. »Das musst du unbedingt fotografieren.«
Tommy sah White an, als wolle er sagen: Was denn? Noch mehr Abartigkeiten?
»Jetzt gleich«, forderte White ihn ungeduldig auf.
Tommy rückte seine Brille zurecht und ging zur linken Bettseite.
»O Mann!«, stieß er hervor und schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nur noch widerlich.«
Die Schnitte am Rücken des Opfers muteten wie eine rätselhafte Mischung aus Symbolen und Buchstaben an. Sie waren in vier horizontalen Reihen angeordnet und recht ungeschickt, mit ausschließlich geraden Schnitten, in die Haut geritzt worden.
Der Fotograf brauchte eine Weile, bis er sich gefangen hatte, dann begann er sofort damit, Bilder zu schießen. Trotz des Blitzlichtes, das immer wieder hinter ihnen aufflammte, ließ sich Hunter nicht ablenken.
Während sein Blick über die Zeichen glitt und von einer Zeile zur nächsten sprang, spürte er, wie eine schreckliche Beklommenheit von seiner Seele Besitz ergriff und sich immer weiter ausbreitete.
»Ist das Satanisten-Sprache oder irgend so ein Schwachsinn?«, fragte Garcia.
Hunter schüttelte langsam den Kopf.
»Na ja, Englisch ist es schon mal definitiv nicht«, entschied White.
»Vielleicht Außerirdisch«, schlug der Fotograf vor. »Es wäre jedenfalls angenehmer, sich vorzustellen, dass Aliens für das hier verantwortlich sind, als zu glauben, dass ein Mensch zu so was in der Lage ist.«
Erst jetzt brach Hunter sein Schweigen. »Nein«, sagte er ruhig. »Das ist Latein.«
»Latein?«
Garcia und der Fotograf sahen Hunter stirnrunzelnd an, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Rücken der Toten zuwandten und sie diesen erneut angestrengt betrachteten.
Auch White wirkte skeptisch. »Kann ich nicht erkennen, Robert«, meinte er nach einer Weile, während er den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite neigte. »Und so schlecht ist mein Latein nicht.«
»Wenn das Latein sein soll«, meldete sich Garcia zu Wort, »was bedeuten dann die komischen Symbole?«
»Das sind keine Symbole«, gab Hunter zurück, auch wenn er nachvollziehen konnte, weshalb sein Partner – oder sonst jemand – einige der Buchstaben fälschlich dafür gehalten hatte. »Sie sehen nur so aus, weil sie schlampig geschrieben sind.«
Weder Garcia noch White schienen seiner Erklärung folgen zu können.
»Könnt ihr sie mal kurz alleine halten?«, fragte Hunter. »Damit ich die Hände frei habe?«
»Alles klar, wir haben sie«, sagte White.
Hunter ließ die Leiche los.
Garcia und White hielten sie aufrecht.
»Diese Schnitte hier«, begann Hunter, wobei er auf die entsprechenden Stellen deutete, »sehen so aus, als hätte sie jemand recht grob mit irgendeiner Art von Messer in die Haut geschnitten.« Er ahmte die Schneidebewegung mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach.
»Ja, okay«, sagte Garcia.
Auch White nickte.
»Und wie man sehen kann«, fuhr Hunter, noch immer zeigend, fort, »hat der Betreffende ausschließlich gerade Linien zum Schreiben der Buchstaben benutzt. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Entweder hat er sie ganz bewusst so geschrieben, oder die Lesbarkeit war ihm nicht so wichtig. Wir haben hier mehrere Linien, die sich eigentlich treffen müssten, es aber nicht tun – entweder weil sie zu kurz sind, oder weil sie einander verfehlen. Das ist der Grund, weshalb einige der Buchstaben so merkwürdig aussehen.«
Garcia, White und Tommy, der zwischenzeitlich aufgehört hatte, Fotos zu schießen, um sich ganz auf Hunters Ausführungen konzentrieren zu können, machten noch immer ratlose Gesichter.
Hunter unternahm einen zweiten Versuch.
»Hier zum Beispiel. Das soll ein P sein.« Hunter zog den Buchstaben mit dem Zeigefinger nach, ohne die Haut der Toten zu berühren, allerdings benutzte er für den Bogen des P eine runde statt zweier gerader, spitz aufeinander zulaufender Linien. »Und das hier ist ein D.« Er wiederholte den Vorgang. »Einige der Buchstaben sind auch sehr krumm oder stehen nicht auf der Grundlinie, deshalb kann man sie nur schlecht erkennen – so wie der hier zum Beispiel. Das soll ein H sein. Dies hier ist ein M, der da ein S, und das hier ist ein C.«
Sobald Hunter die Buchstaben einzeln mit der Fingerspitze nachzeichnete, ergaben seine Erklärungen mehr Sinn.
»Ich fasse es nicht«, sagte White und machte große Augen. Mittlerweile war es ihm gelungen, den Text fast vollständig zu entziffern, doch verstanden hatte er ihn immer noch nicht ganz.
»Ein weiteres Problem«, führte Hunter aus, »besteht darin, dass es vier untereinanderstehende Zeilen gibt, wie jeder sehen kann. Das suggeriert, dass es sich um vier einzelne Wörter handelt – was aber nicht stimmt.«
Garcia starrte noch immer mit leicht verlorenem Blick die eingeritzten Buchstaben an.
»Wie viele Wörter sind es denn?«, fragte White.
»Drei«, antwortete Hunter. »Und sie wurden vollkommen willkürlich getrennt. Wenn mir jemand Zettel und Stift bringt, kann ich sie aufschreiben.«
»Ich hole was«, erbot sich Tommy und ging rasch zu seiner Kameratasche, die er in der Nähe der Schlafzimmertür abgestellt hatte. Wenige Sekunden später war er zurück und reichte Hunter einen Schreibblock nebst Bleistift.
»Also. Das hier ist die erste Zeile.«
Hunter sprach jeden Buchstaben laut aus, während er ihn den anderen zunächst am Rücken der Toten zeigte und dann aufschrieb.
Ganz am Ende zeigte er den anderen das Ergebnis.
PULCHR.
ITUDOCI.
RCUMD.
ATEAM.
»Und was soll das jetzt bedeuten?«, fragte Garcia genervt, während er und White die Leiche behutsam wieder aufs Bett zurücklegten.
Er wusste, dass Hunter die Welt oft anders wahrnahm als normale Menschen. Gewisse Prozesse in seinem Gehirn liefen einfach schneller ab, vor allem, wenn es um das Lösen von Rätseln ging. Trotzdem: Manchmal überraschte Hunter seinen Partner nicht nur mit seinen Fähigkeiten, manchmal machte er ihm regelrecht Angst.
»Wie zum Geier hast du das in all dem Durcheinander erkannt, noch dazu so schnell?«
»Das wollte ich Sie auch gerade fragen«, sagte White. »Haben Sie so was Ähnliches schon mal gesehen?«
Hunter schüttelte den Kopf, ehe er bescheiden antwortete: »Nein, noch nie. Vielleicht lag es einfach am Blickwinkel.«
White wandte sich dem Zettel zu, den Hunter ihnen gezeigt hatte. »Pulchritudocircumdateam«, las er ganz langsam als ein einziges Wort, ehe er die drei Wörter korrekt voneinander trennte. »Pulchritudo circumdat eam.« Seine Aussprache war fehlerfrei.
Garcias Augenbrauen schnellten in die Höhe. Sein Blick sprang zwischen Hunter und White hin und her. »Tja, tut mir leid, aber als ich zum letzten Mal Latein gesprochen habe, da war es … Oh. Ich habe noch nie Latein gesprochen. Was bedeutet das auf Englisch? Kann mir das vielleicht mal irgendjemand übersetzen? Wird hier der Teufel beschworen, oder was?«
»Nein.« Diesmal war es White, der antwortete und gleichzeitig den Kopf schüttelte. »Ich glaube nicht.«
»Und? Was heißt es denn dann«?
»Wenn ich mich nicht irre«, sagte White, »bedeutet es so viel wie: ›Schönheit umgibt sie‹.«
»Das ist richtig«, bestätigte Hunter. »›Schönheit umgibt sie‹ … ›Schönheit ist um sie herum‹. Im Wortlaut kann die Übersetzung variieren, aber die Bedeutung bleibt immer die gleiche.«
Garcia überlegte eine Zeit lang. Dann sah er sich in fassungslosem Schweigen im Zimmer um. Sein Blick streifte das Blut an den Wänden. »Schönheit umgibt sie? Wo denn, bitte?«
Whites Blick war seinem gefolgt. Im nächsten Moment kam ihm ein Gedanke. »Sie wollten doch wissen, wo das viele Blut herkommt?«, fragte er. »Und wie es ohne erkennbaren Grund an Wände und Möbel gelangt ist? Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht hat der Täter es ja wirklich mit Absicht im Raum verteilt. Vielleicht hält er sich für …«, White schien es angesichts seiner eigenen Idee kalt zu überlaufen, »einen Künstler oder so ähnlich. Und das hier …« Er deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die grausam entstellte Leiche, »… das Opfer, das Zimmer, das Blut, die Position, in der er sie aufs Bett gelegt hat … Vielleicht ist das alles für ihn so was wie ein … makabres Kunstwerk.«
Hunter spürte, wie er eine Gänsehaut im Nacken bekam. Er trat einen Schritt vom Bett zurück und versuchte das Zimmer noch einmal in seiner Gesamtheit zu betrachten.
»Und die Buchstaben auf dem Rücken …«, sagte White abschließend, »könnten dann doch gewissermaßen die Stelle sein, wo der Mörder sein Werk signiert hat.«
Ehe jemand etwas zu dieser These sagen konnte, tauchte die Kriminaltechnikerin, die zuvor das Wohnzimmer nach Fingerabdrücken untersucht hatte, im Türrahmen auf.
»Grundgütiger«, sagte sie mit einer Miene abgrundtiefen Ekels. »Wer auch immer dieser Mörder ist, er ist ein ganz krankes Schwein.«
Die anderen drehten sich fragend zu ihr um.
»Sie müssen kommen und sich das mit eigenen Augen ansehen.«
Hunter, Garcia und White folgten der Frau durch den kurzen Flur zurück ins Wohnzimmer. Doch statt ihnen dort, an der Haustür oder draußen einen Befund zu zeigen, wie sie es erwartet hatten, bog sie nach rechts ab und betrat eine schlicht und modern eingerichtete, überraschend geräumige Küche. Die Arbeitsflächen aus schwarzem Granit bildeten einen gelungenen Kontrast zum glänzenden Weiß des Bodens sowie den weißen Küchenschränken. Die Dunstabzugshaube aus Chromstahl über dem in Schwarz gehaltenen Kochfeld wiederum passte perfekt zur Stahlspüle und dem Einbau-Backofen an der Wand. Ein großes Doppelfenster über der Spüle sorgte für ausreichend Tageslicht. Kühlschrank, Gefrierschrank und Geschirrspülmaschine waren allesamt Einbaugeräte mit denselben Fronten wie die Schränke, wodurch die Küche klar und aufgeräumt wirkte.
Genau das war es auch, was Hunter beim Betreten des Raums als Erstes ins Auge fiel: wie sauber und ordentlich alles war. Nirgendwo lag etwas herum, nicht einmal Krümel oder irgendwelche Reste. Auch der Fußboden war blitzsauber. Lediglich in der Spüle befanden sich eine Gabel, eine kleine Salatschüssel sowie ein Weinglas. Glas und Salatschüssel waren beide leer. Am Boden des Glases befand sich noch ein kleiner Rest Rotwein, und oben am Rand war ein roter Lippenstiftabdruck zu erkennen.
»Ich war mit dem Wohnzimmer fertig«, erklärte die Kriminaltechnikerin. »Danach habe ich mir die Küche vorgenommen.« Sie deutete auf ihren Spurenkoffer, der rechts neben der Tür auf dem Boden stand.
Trotz ihrer klaren, festen Stimme nahm Hunter an ihrem Tonfall wahr, dass irgendetwas sie aus der Bahn geworfen haben musste. Während sie sprach, suchte er mit Blicken den Raum ab.
»Sie haben ja sicher schon bemerkt«, fuhr die Frau fort, »dass es sich bei sämtlichen Elektrogeräten mit Ausnahme des Ofens und der Mikrowelle um Einbaugeräte handelt, die von vorn genauso aussehen wie die Schränke.«
Sie deutete auf die erste Tür auf der linken Seite. »Das ist der Geschirrspüler«, sagte sie, ehe sie die Aufmerksamkeit der drei Männer auf die zwei hohen Türen lenkte, die den Backofen an der Westseite der Küche flankierten. »Da drüben befinden sich einmal links der Kühlschrank und rechts die Gefriertruhe.« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Warum werfen Sie nicht mal einen Blick in Letztere?«
Kevin Whites fragender Blick ruhte noch einige Sekunden lang auf seiner Kollegin, ehe er zu Hunter und Garcia trat, die ein Stück links von ihm standen. Er konnte sich bereits denken, was sie im Gefrierschrank vorfinden würden. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, bevor er endlich einen Schritt nach vorn machte und die Tür öffnete.
»Ach du … heiliger Jesus Christus!«
Sein Schock war nicht gespielt. Er war davon ausgegangen, dass sie die fehlenden Hände und Füße des Opfers im Tiefkühlschrank finden würden. Doch er hatte sich geirrt. Und wie er sich geirrt hatte.
Hunter und Garcia waren White gefolgt, und was sie sahen, als er die Tür des Gefrierschranks vollständig aufzog, ließ das ohnehin schon grausame Treiben des Mörders noch eine Spur abscheulicher erscheinen.
Zwei der Zwischenböden waren aus dem Gefrierschrank entfernt worden, um Platz zu schaffen. In dem dadurch entstandenen großen Fach befand sich, am Boden festgefroren, eine schwarz-weiße Katze.
Es war schon fast Viertel nach eins, als Hunter endlich bei seiner kleinen Zweizimmerwohnung in Huntington Park im Südosten von Los Angeles ankam. Kevin White und sein Team waren noch am Tatort. Obwohl sie so schnell arbeiteten, wie sie konnten, würde es noch mindestens drei oder vier Stunden dauern, bis sie alles untersucht hatten – und das auch nur, falls nicht noch mehr unangenehme Überraschungen auf sie warteten. Hunter und Garcia hatten am Tatort ausgeharrt, bis Linda Parkers Leiche auf dem Weg ins Rechtsmedizinische Institut war, erst dann hatten sie sich verabschiedet und waren nach Hause gefahren. Trotzdem: Als Hunter die Wohnungstür hinter sich schloss, fragte er sich, warum er nicht noch zusammen mit der Spurensicherung geblieben war. Dann hätte er wenigstens etwas zu tun gehabt. Er ahnte bereits, dass er in dieser Nacht nur schwer in den Schlaf finden würde.