Bluthölle - Chris Carter - E-Book
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Chris Carter

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Beschreibung

Wenn er deinen Namen schreibt, wirst du sterben Taschendiebin Angela Wood hatte einen guten Tag. Sie gönnt sich einen Cocktail, als ihr in der Bar ein Gast auffällt, der sich rüpelhaft benimmt. Um ihm eine Lektion zu erteilen, stiehlt sie seine teure Ledertasche. Ein schwerer Fehler, die Tasche enthält nichts Wertvolles, nur ein kleines Notizbuch. Ein Albtraum beginnt. Das Buch enthält Skizzen und Fotos von 16 Folter-Morden. 16 Polaroids der Opfer, 16 DNA-Analysen. In Panik schickt Angela das Buch an das LAPD, wo Robert Hunter und Carlos Garcia sofort erkennen, dass der sadistische Täter ein Experte sein muss. Das ist ihr einziger Hinweis. Eine blinde Jagd beginnt, bis der Killer Hunter ein Ultimatum stellt. Der 11. Fall für Robert Hunter und Carlos Garcia

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Seitenzahl: 538

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Bluthölle

Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen: One Dead (E-Book)Der Kruzifix-KillerDer VollstreckerDer KnochenbrecherTotenkünstlerDer TotschlägerDie stille BestieI am Death – Der TotmacherDeath Call – Er bringt den TodBlutrausch – Er muss tötenJagd auf die BestieBluthölle

Das Buch

Taschendiebin Angela Wood hatte einen guten Tag. Sie gönnt sich einen Cocktail, als ihr in der Bar ein Gast auffällt, der sich rüpelhaft benimmt. Um ihm eine Lektion zu erteilen, stiehlt sie seine teure Ledertasche. Ein schwerer Fehler, die Tasche enthält nichts Wertvolles, nur ein kleines Notizbuch. Ein Albtraum beginnt. Das Buch enthält Skizzen und Fotos von 16 Folter-Morden. 16 Polaroids der Opfer, 16 DNA-Analysen. In Panik schickt Angela das Buch an das LAPD, wo Robert Hunter und Carlos Garcia sofort erkennen, dass der sadistische Täter ein Experte sein muss. Das ist ihr einziger Hinweis. Eine blinde Jagd beginnt, bis der Killer Hunter ein Ultimatum stellt.Der 11. Fall Robert Hunter und seinem Partner Garcia.

Chris Carter

Bluthölle

Thriller

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© Chris Carter 2020Published in Arrangement with Luiz MontoroTitel der englischen Originalausgabe:Written in Blood (Simon & Schuster Inc.)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © PolskapresseE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2218-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Ursprünglich sollte dieses Buch dem liebenden Andenken an meine Lebensgefährtin Kara Louise Irvine gewidmet sein, die im September 2019 verstorben ist. Als sie ging, hat sie mein Herz mitgenommen und eine Leere in mir hinterlassen,die für immer bleiben wird.

Doch seitdem hat die Welt einen unsanften Weckruf erhalten.

Für die meisten von uns hat sich sehr viel verändert.

Deshalb möchte ich diesen Roman nicht nur meiner Kara widmen, sondern darüber hinaus auch all jenen, die den Kampf gegen Covid-19 verloren haben. Wir waren nicht vorbereitet.

Für uns andere geht der Kampf weiter, also bitte: Bleibt sicher.

Der einsamste Moment im Leben eines Menschen ist der, in dem er machtlos zusehen muss, wie seine ganze Welt zusammenbricht.

2

Montag, 7. Dezember

Das Büro der Ultra Violent Crime Unit des LAPD lag am hinteren Ende der Etage, auf der das Raub- und Morddezernat untergebracht war, im berühmten Police Administration Building mitten im Zentrum von Los Angeles. Detective Robert Hunter, Leiter der UV-Einheit, war gerade aus der Mittagspause zurückgekommen, als der Festnetzapparat auf seinem Schreibtisch klingelte.

Nach dem zweiten Klingeln nahm er ab. »Detective Hunter, UV-Einheit?«

»Robert, hier ist Susan. Haben Sie einen Moment Zeit?«

Dr. Susan Slater galt als eine der besten Forensikerinnen Kaliforniens. Sie hatte schon bei mehreren Fällen eng mit der UV-Einheit zusammengearbeitet.

»Klar, Doc. Stimmt irgendwas nicht?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Dr. Slater und machte eine kurze Pause. »Möglicherweise.«

Neugierig geworden, setzte Hunter sich bequemer auf seinem Bürostuhl zurecht. »Okay. Ich bin ganz Ohr.« Sein Blick ging zu dem Terminkalender auf seinem Schreibtisch, und er blätterte ein paar Seiten darin zurück, nur um ganz sicherzugehen, dass keine Testergebnisse ausstanden.

Nichts.

»Es ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit«, begann Dr. Slater. »Als ich heute früh aus dem Haus ging, um ins Labor zu fahren, habe ich wie jeden Morgen in den Briefkasten geschaut. Abgesehen von den üblichen Werbesendungen, die man übers Wochenende so bekommt, lag auch ein dicker Umschlag drin. Darauf stand in großen Buchstaben mein Name geschrieben, sonst nichts.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Hunter.

»Dass meine Adresse nicht draufstand, Robert«, erklärte Dr. Slater. »Nur mein Name. Keine Briefmarke, kein Poststempel, auch keine Absenderadresse.«

»Jemand hat Ihnen den Umschlag also direkt in den Briefkasten gesteckt.«

»Genau«, sagte Dr. Slater.

»Haben Sie ihn schon aufgemacht?«

»Ja, habe ich – natürlich nicht ohne die üblichen Vorsichtsmaßnahmen. In dem Umschlag war ein Buch.«

»Aha?« Hunter runzelte die Stirn.

»Um genauer zu sein … eine Art Notizbuch.«

»Was für ein Notizbuch denn?«

Diesmal wirkte Dr. Slaters Schweigen deutlich angespannter.

»Ein Notizbuch, von dem ich finde, dass Sie und Carlos es sich dringend ansehen sollten.«

3

Hunters langjähriger Partner in der UV-Einheit war Detective Carlos Garcia. Sie teilten sich ein Büro – eine zweiundzwanzig Quadratmeter große Betonschachtel mit einem einzigen Fenster, zwei Schreibtischen und ein paar alten Aktenschränken. Immerhin war es ein separater Raum, in dem sie vor neugierigen Kollegen und dem Stimmengewirr des übrigen Raub- und Morddezernats größtenteils geschützt waren.

Während Hunter mit Dr. Slater telefonierte, saß Garcia an seinem Rechner und füllte Formulare aus.

»Lust auf einen Ausflug zum Kriminallabor?«, fragte Hunter, sobald er aufgelegt hatte. Er griff bereits nach seiner Jacke.

Das kriminaltechnische Labor, Teil der Forensics Science Division, kurz FSD, bestand aus insgesamt acht Speziallaboren, die die verschiedenen Dezernate des LAPD bei ihren Ermittlungen unterstützten. Die meisten dieser Labore waren im Hertzberg-Davis Forensic Science Center auf dem Campus der California State University in Alhambra im westlichen San Gabriel Valley untergebracht.

»Ins Kriminallabor?« Garcia sah seinen Partner mit zusammengekniffenen Augen an. »Stehen noch irgendwelche Ergebnisse aus?«

»Nein«, antwortete Hunter, ehe er in knappen Worten seine Unterhaltung mit Dr. Slater wiedergab.

»Ein Notizbuch?«

»So hat sie es genannt.«

»Mehr hat sie nicht gesagt?« Garcia stand auf und schnappte sich ebenfalls seine Jacke.

»Nur, dass wir unbedingt einen Blick drauf werfen sollen.«

»Klar komme ich mit«, sagte Garcia. »Ich stehe drauf, wenn man mich auf die Folter spannt.«

4

An einem Montagnachmittag und im dichten Stadtverkehr benötigten Hunter und Garcia rund achtundzwanzig Minuten für die knapp sechs Meilen vom Police Administration Building in der West 1st Street bis zur Universität in Alhambra. Nachdem sie den Wagen auf einem eigens für Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden reservierten Parkplatz abgestellt hatten, machten sich die beiden auf den Weg zum Hertzberg-David Forensics Science Center – einem imposanten fünfstöckigen Gebäude im südwestlichen Teil des Campus. Nachdem sie den Empfang passiert hatten, nahmen sie die Treppe in den zweiten Stock, wo sich die Abteilung für Spurenanalyse befand. Dort wollte Dr. Slater sich mit ihnen treffen.

»Und? Freust du dich schon auf morgen?«, erkundigte sich Garcia, als sie am ersten Treppenabsatz ankamen.

»Meinst du den Weihnachtsball des LAPD?« In Hunters Miene spiegelte sich nicht mal ein Hauch von Vorfreude wider. »Freust du dich etwa?«

»Ja.« Garcia wirkte regelrecht aufgekratzt. »Ich habe sogar schon ein Zombie-Weihnachtsmannkostüm.«

»Zombie-Weihnachtsmannkostüm?« Hunters Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Ernsthaft?«

»Klar doch! Solche Partys sind so langweilig, da muss man selber für ein bisschen Spaß sorgen.«

»Und ein Zombie-Weihnachtsmannkostüm ist deine Vorstellung von Spaß?«

»Du bist bloß neidisch, weil du dich nicht verkleiden darfst«, konterte Garcia. »Du und Captain Blake sitzt am Tisch des Bürgermeisters, oder?«

Hunter nickte und verdrehte gleichzeitig die Augen. »Wird bestimmt ein richtig toller Abend.«

Garcia lachte leise. »Ja, jede Wette.«

Wie der Name bereits andeutete, bestand die Hauptaufgabe der Abteilung für Spurenanalyse darin, organisches sowie anorganisches Spurenmaterial zu analysieren, das im Zusammenhang mit Straftaten entweder vom Täter auf das Opfer übertragen oder in der Umgebung eines Tatortes sichergestellt worden war.

Als sie die Doppeltür erreichten, die zu den Räumlichkeiten des Labors führte und die stets verschlossen gehalten wurde, betätigte Hunter den Summer. Sie warteten. Wenige Sekunden später ertönte das gedämpfte Zischen der Türentriegelung.

Im Labor, das mindestens so viel Raum einnahm wie das gesamte Raub- und Morddezernat, war es unangenehm kühl, wenngleich immer noch etwas wärmer als im Freien. Mehrere Kriminaltechniker in langen weißen Laborkitteln waren an verschiedenen Arbeitsplätzen beschäftigt. Im Hintergrund lief leise Klassik.

»Hier drüben, Gentlemen«, hörten sie Dr. Slater rufen, während sich hinter ihnen die Türen langsam wieder schlossen.

Dr. Slater saß unweit von Hunter und Garcia vor einem inversen Mikroskop.

Sie war Mitte dreißig, etwa eins siebzig groß, schlank und athletisch gebaut, mit hohen Wangenknochen und einer schmalen Nase. Ihre langen blonden Haare waren oben auf dem Kopf zu einem unordentlichen Knoten zusammengedreht. Wie meistens trug sie nur ein ganz dezentes Make-up, das das Blau ihrer Augen betonte.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Sie begrüßte die Detectives mit einem Nicken.

»Tja. Ihr rätselhafter Anruf hat uns neugierig gemacht«, gab Garcia mit einem Lächeln zurück. »Was haben Sie denn Spannendes für uns?«

»Genau das, was ich Robert am Telefon bereits erklärt habe«, antwortete sie. Ihre Stimme klang sanft und freundlich, aber kein bisschen unsicher. Man hörte ihr die langjährige Berufserfahrung an. »Jemand hat mir irgendwann im Laufe des Wochenendes ein Päckchen in den Briefkasten gesteckt – wahrscheinlich gestern Nacht oder heute am sehr frühen Morgen. Schon allein der Umschlag hat mich stutzig gemacht.« Sie lenkte die Aufmerksamkeit der beiden auf einen großen transparenten Asservatenbeutel, der vor ihr auf dem Tisch lag. Darin befand sich ein großer brauner Umschlag, auf dessen Vorderseite in großen schwarzen Buchstaben »Susan Slater« stand.

»Darf ich?«, fragte Hunter.

»Nur zu.«

Er hob den Asservatenbeutel auf, sodass er und Garcia den Umschlag aus der Nähe betrachten konnten.

»Ich nehme mal an, Sie haben ihn schon auf Fingerabdrücke untersucht?«, fragte Garcia.

Dr. Slater nickte. »Es gab keine – nur meine eigenen.«

»Und die Handschrift?«, wollte Hunter wissen.

»Alles Versalien, keine hervorstechenden Merkmale erkennbar. Der Stift war irgendein billiger Filzstift mit dünner Spitze. Es hat keinen Sinn, sich die Mühe zu machen, die Tinte einer bestimmten Marke zuzuordnen, höchstwahrscheinlich ist es ein handelsüblicher Fineliner, der sogar in allen größeren Supermärkten geführt wird.«

Hunter nickte und legte den Asservatenbeutel wieder hin. »Sie erwähnten etwas von einem Notizbuch?«

»Ja«, sagte Dr. Slater und zeigte in den hinteren Bereich des Labors. »Jetzt wird es interessant. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Hunter und Garcia folgten ihr, vorbei an einer Gruppe von Kriminaltechnikern, die allesamt zu beschäftigt waren, um die Detectives auch nur wahrzunehmen. Als sie einen von insgesamt zwei separaten Räumen am hinteren Ende des Labors erreichten, warteten sie, während Dr. Slater einen achtstelligen Code in das Keypad unterhalb des Türgriffs eingab.

Der Raum, den sie betraten, war etwa acht Meter lang und sechs Meter breit. Darin befanden sich drei einzelne Arbeitsplätze mit insgesamt fünf Computern und sechs verschiedenen Mikroskopen – zwei Laserrastermikroskope, zwei Stereolupen, ein inverses Mikroskop sowie ein konfokales Lasermikroskop. Hier war es noch kälter als im großen Labor nebenan.

Dr. Slater führte sie zu einer freien Arbeitsfläche gleich links neben der Tür.

»Als ich den Umschlag heute Morgen aus dem Briefkasten geholt habe«, begann sie, »war ich so kurz davor, ihn einfach aufzumachen.« Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger einen praktisch nicht existenten Zwischenraum an. »Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, irgendwas im Internet bestellt zu haben, aber hin und wieder kommt es vor, dass ich was vergesse, vor allem wenn die Lieferzeit länger als drei Tage beträgt. Außerdem schicken mir das FSD oder andere forensische Labore manchmal unaufgefordert Proben oder Materialien zu – einfach nur weil …« Sie hob die Schultern. »Na ja, so ist es eben. Wie auch immer. Ich wollte den Umschlag schon aufreißen, kam dann aber noch gerade rechtzeitig zur Besinnung.«

»Als Sie gemerkt haben, dass keine Adresse oder Briefmarke drauf ist«, sagte Hunter. »Sondern nur Ihr Name.«

»Genau. Niemand vom FSD oder einem anderen Labor im Land würde mir einfach so eine Sendung zu Hause vorbeibringen. Allerhöchstens, wenn es sich um etwas Dringendes handelt – und dann würden sie klingeln und mir das Päckchen persönlich übergeben, statt es in den Briefkasten zu werfen.«

»Also haben Sie es hergebracht«, sagte Garcia. »Der ideale Ort, um ein paar Tests zu machen.«

Dr. Slater nickte. »Der Umschlag ist bereits durch drei verschiedene Scanner gewandert: ein normales Röntgengerät, das gezeigt hat, dass es sich bei dem Inhalt um ein Notizbuch handelt; dann ein Gerät, das Sprengstoffe nachweist – mit negativem Ergebnis; und schließlich wurde der Umschlag noch auf giftige oder anderweitig gesundheitsschädliche Substanzen getestet, das fiel ebenfalls negativ aus. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel, weil ich in meiner Paranoia öffentliche Gelder für so einen Unsinn verschwendet hatte. Aber dann habe ich den Umschlag aufgemacht.« Sie deutete auf einen zweiten Asservatenbeutel, der hinter ihr auf der Arbeitsfläche lag. Darin lag ein in Leder gebundenes Notizbuch. »Und dabei kam das hier zum Vorschein. Vergessen Sie nicht die Handschuhe, bevor Sie den Beutel öffnen.«

Hunter und Garcia zogen jeweils ein Paar blaue Einmalhandschuhe aus einem Spender an der Wand und streiften sie sich über.

Auch ohne dass sie das Notizbuch aus dem Beutel nehmen mussten, fiel ihnen gleich als Erstes auf, dass der schwarze Ledereinband ungewöhnlich dick und stabil war. Er hatte keinen Aufdruck, keine Prägung und war auch sonst weder vorne noch hinten in irgendeiner Weise gekennzeichnet.

Das Zweite, was sie bemerkten, war, dass das Buch deutlich mehr wog als ein normales Notizbuch, obwohl es nur etwa einhundertzwanzig Seiten stark zu sein schien. Wenn man es von der Seite betrachtete, sah man außerdem sofort, dass die Seiten nicht bündig aufeinanderlagen. Das Papier war gewellt und stellenweise dicker, mit Ausnahme der letzten fünfzehn bis zwanzig Blätter. Das deutete darauf hin, dass die Seiten entweder feucht geworden waren oder etwas hineingeklebt worden war – vielleicht auch beides.

Hunter und Garcia stellten sich nebeneinander vor die Arbeitsfläche, ehe Hunter das Notizbuch aus dem durchsichtigen Beutel holte, es hinlegte und aufschlug.

Entgegen dem, was man von einem persönlichen Tagebuch erwartete, enthielt die erste Seite keine persönlichen Angaben über den Besitzer. Auch auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels stand nichts geschrieben – kein Name, keine Anschrift, keine Handynummer oder E-Mail-Adresse.

Sie warfen einen Blick auf den ersten Eintrag. Dort war nirgends ein Datum oder eine Zeitangabe verzeichnet, weder ganz oben auf der Seite noch an einer anderen Stelle. Der Text selbst wies keinerlei Absätze oder Zeilenumbrüche auf. Ein Wort folgte auf das andere in einem scheinbar endlosen Block. Immerhin hatte der Verfasser Satzzeichen verwendet, was das Ganze ein wenig lesbarer machte.

Sämtliche Texte waren mit schwarzer Tinte und in sauberer Schreibschrift geschrieben. Fehler waren mit einer einzelnen horizontalen Linie durchgestrichen worden. Der Verfasser hatte weder irgendwo Tipp-ex benutzt noch einzelne Stellen ausradiert oder durch Gekritzel unkenntlich gemacht. Alles war sauber und ordentlich. Es gab auch keine Anzeichen von Vergilbung an den Seitenrändern – ein Hinweis darauf, dass das Tagebuch noch nicht sehr alt sein konnte. Hunter staunte über die schnurgeraden Zeilen, denn das Papier war nicht liniert.

Garcia wollte gerade weiterblättern, als Hunter ihm eine Hand auf den Arm legte. Sein Blick war an der ersten Textzeile hängen geblieben, und er hatte zu lesen begonnen.

Ihr Name war Elizabeth Gibbs, geboren am 22. 10. 1994. Nicht, dass es mich interessiert, wie sie heißen oder wer sie sind. Ihr Leben ist mir vollkommen egal. Mittlerweile waren es schon so viele, dass sie nichts weiter sind als Gesichter in der Dunkelheit. Eins verschwimmt mit dem anderen … und das wieder mit nächsten … und immer so weiter. Der Kreislauf endet nie. Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher. Ich vergesse Dinge. Ich vergesse sehr viele Dinge, und es wird immer schlimmer. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich entschieden habe, dieses Tagebuch anzufangen. Der zweite dreht sich um Sicherheit. Ich hätte schon vor langer Zeit auf die Idee kommen sollen, alles aufzuschreiben – gleich als das mit den Stimmen anfing. Aber das ist Schnee von gestern, und jetzt habe ich ja dieses Buch. Ich habe versucht, mich an die Fakten zu erinnern … an Einzelheiten über die früheren Subjekte, aber wie gesagt, mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste, und ich muss mich damit abfinden, dass es von jetzt an immer nur noch weiter bergab geht. Die Stimmen haben sehr genaue Angaben gemacht, was das Subjekt angeht. Weiblich. Größe: mindestens 1,70 m. Haare: schwarz, lang, glatt. Augen: dunkel. Gewicht: maximal 75 kg. Hautfarbe: weiß. Ich brauchte nur wenige Tage, bis ich sie gefunden hatte. Es war nicht schwer. Nachdem ich ihr eine Zeit lang durch die Stadt gefolgt war, ergab sich schließlich die Gelegenheit zum Zuschlagen. Datum und Uhrzeit: 3. 2. 2018–1930 h. Ort: Parkplatz vor dem Albertsons, Rosecrans Avenue, La Mirada. Foto: aufgenommen am selben Abend, wenige Stunden nach der Entführung.

Hunter blätterte um. Die Rückseite war leer. Der Verfasser hatte sich offenbar dazu entschieden, immer nur die Vorderseite der Blätter zu beschreiben. Die nächste Seite begann mit einer Lücke von circa acht Zentimetern oder, grob geschätzt, fünfzehn Zeilen. Zwei winzige Löcher ganz oben ließen erkennen, dass dort etwas eingeheftet gewesen war. Der rechte Rand der Seite war durch eine kleine Schmierspur verunreinigt, die aussah wie Blut. Hunter hob den Kopf und suchte Dr. Slaters Blick.

»Da war ein Foto drin?«, fragte er.

»Ja, ganz richtig«, antwortete sie, ehe sie zu einem anderen Arbeitsplatz ging, um einen dritten Asservatenbeutel zu holen, den sie an Hunter weiterreichte. Darin steckte ein Foto wie von einer Instax-Mini-Sofortbildkamera – zweiundsechzig mal zweiundvierzig Millimeter groß. Es zeigte das Gesicht einer Frau von schätzungsweise Mitte zwanzig. Ihre langen schwarzen Haare fielen ihr offen über die Schultern. Der Ausdruck in ihren dunklen Augen spiegelte sich auch in ihrem restlichen Gesicht wider und war unverkennbar: Sie litt Todesangst. Sie musste geweint haben, denn ein Großteil ihrer Mascara und ihres Eyeliners war verlaufen und hatte ein Geflecht aus wässrig schwarzen Zickzacklinien auf ihren Wangen hinterlassen. Der hellrote Lippenstift, den sie getragen hatte, war verschmiert. Der Kragen und die Schultern ihrer himmelblauen Bluse waren offenbar durchgeschwitzt. Das Foto war vor dem Hintergrund einer Betonziegelwand aufgenommen worden.

»Das ist der Grund, weshalb ich mich entschieden habe, Sie anzurufen«, erklärte Dr. Slater. »Ich war so frei und habe schon mal ihren Namen und das Foto mit der Vermisstendatenbank abgeglichen. Es gibt sie wirklich … und das Datum passt.«

Hunter und Garcia wechselten einen unbehaglichen Blick.

»Sie wurden alle eingetütet«, fügte Slater hinzu. »Für die Analyse.«

»Sie?«, fragte Garcia, dessen Blick von dem Foto zu Dr. Slater wanderte.

Sie nickte und atmete tief ein. »In dem Buch waren insgesamt sechzehn Fotos. Sechzehn verschiedene ›Subjekte‹.«

Hunter und Garcia hatten bereits den kleinen Stapel Asservatenbeutel auf der Arbeitsplatte unmittelbar hinter Dr. Slater bemerkt, allerdings waren sie davon ausgegangen, dass es sich um Beweismittel für einen anderen Fall handelte.

»Was ist mit der Schmierspur hier oben auf der Seite?«, wollte Hunter wissen. »Ist das Blut?«

»Ja. Neben jedem Bild, das ich aus dem Buch entfernt habe, gab es einen solchen Blutfleck. Die logische Schlussfolgerung ist wohl, dass es sich um das Blut der Person auf dem dazugehörigen Foto handelt. Ich habe von diesem Schmierfleck hier einen Abstrich genommen und ihn sofort zur Sequenzierung in die DNA-Abteilung geschickt.« Dr. Slater verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber bitte, lesen Sie nur weiter. Die richtig gute Stelle kommt erst noch.«

Hunter legte den Asservatenbeutel mit dem Foto neben das Notizbuch, ehe er sich wieder dem Text widmete und direkt unterhalb der Lücke weiterlas. Auf der Seite befand sich auch eine Skizze, die eine rechteckige Kiste darstellte. Darunter stand das Wort »Holz«. Die Maße der Kiste, auch die des Deckels, waren fein säuberlich angegeben.

Anders als beim letzten Mal, das extrem aufwendig und schmutzig war, liefen Vorbereitung und Durchführung diesmal ziemlich simpel. Kein Blut. Keine Folter. Keine Erniedrigung. Die Anweisung der Stimmen war eindeutig: »Sie soll lebendig begraben werden.«

5

Hunter schwieg. Er betrachtete noch einmal kurz das Polaroid im Asservatenbeutel, ehe er sich erneut an Dr. Slater wandte.

»Ist das alles überhaupt echt?«, fragte Garcia mit skeptischer Miene. »Sind Sie sicher, dass das nicht bloß ein dummer Scherz ist?«

»Na ja«, sagte Slater. »Sonst hätte ich Sie wohl kaum angerufen. Ich verschwende nur ungern Ihre Zeit, deshalb habe ich, wie ich eben bereits sagte, das Foto mit den Einträgen in der Vermisstendatenbank abgeglichen.« Sie zog die Augenbrauen hoch, ehe sie in die Tasche ihres Laborkittels langte und einen Ausdruck hervorholte. »Elizabeth Gibbs«, las sie ab. »Geboren am 22. Oktober 1994 hier in Los Angeles. Wohnhaft in La Mirada. Sie wurde am 4. Februar 2018 von ihrem Freund Phillip Miller, mit dem sie zu der Zeit zusammengelebt hat, als vermisst gemeldet. Sie wohnte unweit des Ortes, der im Buch erwähnt wird – der Parkplatz vor dem Albertsons-Supermarkt an der Rosecrans Avenue. Das Sheriffbüro hat ihr Fahrzeug, einen weißen Nissan Sentra, auf diesem Parkplatz sichergestellt. Spuren gab es keine – weder Fingerabdrücke noch sonst irgendwelche verwertbaren Hinweise. Elizabeth Gibbs wurde nie gefunden. Sie gilt immer noch als vermisst.« Dr. Slater faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in ihre Tasche. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte, das Datum passt genau zum Eintrag in dem Buch.«

»Ja, ist mir aufgefallen«, sagte Hunter, der die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt hatte.

»Steht auf dem Ausdruck auch der Name des Detectives, der in ihrem Fall ermittelt hat?«, fragte Garcia.

Dr. Slater holte ihn noch einmal aus der Tasche und faltete ihn erneut auf. »Detective Henrique Gomez. Von der Vermisstenstelle des LAPD. Kennen Sie ihn?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, war Miss Gibbs’ Freund zunächst der Hauptverdächtige, aber er hatte ein wasserdichtes Alibi.«

Garcia rieb sich die Stirn und seufzte unbehaglich. »So langsam kommt mir das hier vor wie ein besonders heftiger Fall von Déjà vu.« Er warf Hunter einen vielsagenden Blick zu. »Schon wieder ein Notizbuch, in dem sich jemand übers Töten auslässt?«

Hunter wusste, dass sein Partner auf Lucien Folter anspielte – den ohne Zweifel gefährlichsten und wahnsinnigsten Serienmörder, den sie jemals gejagt hatten. Dank ihrer gemeinsamen Anstrengungen war Lucien seit einiger Zeit ständiger Bewohner des Hochsicherheitsgefängnisses in Florence, Colorado.

»Das ist nicht vergleichbar, Carlos«, sagte er.

»Das behaupte ich ja auch gar nicht. Ich wollte damit lediglich sagen, dass ein Notizbuch, in dem Opfer und Mordmethoden beschrieben werden, bei mir einige ziemlich unangenehme Erinnerungen weckt.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Dr. Slater neugierig. »Was für Erinnerungen?«

»Ein alter Fall«, antwortete Hunter. Mehr sagte er nicht dazu. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Notizbuch, damit er auch den Rest des Eintrags lesen konnte.

Die Kiste zu zimmern war einfach. Die Stimmen hatten sie nicht näher beschrieben, deshalb konnte ich sie nach meinen eigenen Vorstellungen bauen. Ein paar dicke Bretter und ein Sack Nägel – mehr brauchte ich nicht dafür. Das Innere bequem zu machen war ja nicht notwendig. Es kostete mich einen ganzen Tag, die nötigen Vorbereitungen zu treffen, aber am Ende funktionierte alles reibungslos. Das Subjekt liegt bis heute an seiner letzten Ruhestätte. 34°15'16,9" N/118°14'52,4" W.

Garcia fiel die Kinnlade herunter. »Ist das da, was ich glaube, das es ist?«

Hunter spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen. Der Verfasser hatte seinen Eintrag durch die Angabe geografischer Koordinaten ergänzt.

»Ich denke schon«, sagte er.

Beide Detectives schauten fragend zu Dr. Slater, die mit beinahe entschuldigender Miene nickte.

»Vielleicht bin ich ein sehr neugieriger Mensch, aber ich konnte einfach nicht abwarten. Ich habe die Koordinaten im Internet in eine Karten-App eingegeben.«

»Und?«, fragte Garcia ungeduldig.

»Eine Stelle in der Nähe eines kleinen Baumbestands im Deukmejian Wilderness Park in Glendale. Ziemlich weit abgelegen«, fügte sie hinzu. »Aber man gelangt hin.«

Einen Moment lang war es totenstill im Raum.

Garcia bemerkte Hunters Gesichtsausdruck und brach als Erster das Schweigen.

»Okay.« Er nickte seinem Partner zu. »Den Blick kenne ich, Robert. Ich weiß, was du denkst, aber sollten wir nicht wenigstens die DNA-Ergebnisse vom Blutfleck abwarten, ehe wir damit zu Captain Blake gehen und um grünes Licht für ein Grabungsteam bitten? Elizabeth Gibbs’ DNA müsste doch in der Vermisstendatenbank gespeichert sein. Wenn sie übereinstimmen, kriegen wir sicher das Okay für die Exhumierung, aber wenn wir jetzt sofort zum Captain rennen, obwohl wir nichts weiter in der Hand haben als zwei miteinander übereinstimmende Daten und ein verdächtiges Notizbuch, gibt sie uns niemals die Erlaubnis. Denk an die jüngsten Etatkürzungen, die haben die Abteilung hart getroffen.«

»Wir haben ja auch noch die Polaroids«, gab Slater zu bedenken.

»Trotzdem«, hielt Garcia dagegen. »Das reicht nie im Leben, um Captain Blake davon zu überzeugen, uns die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit wir irgendwo im Wald ein Loch graben. Dafür ist die Abteilung viel zu klamm, und so eine Grabungsaktion ist teuer. Wir müssten eine ganze Mannschaft da rausschicken, einschließlich Bagger … Scheinwerfer … Generatoren … was weiß ich. Blake braucht mehr als ein Datum und ein paar Fotos.«

»Ja, du hast recht«, sagte Hunter. »Aber so eine DNA-Analyse braucht Zeit, selbst wenn sie vorgezogen wird.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

Auch diesmal ahnte Garcia bereits, was sein Partner dachte.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte er ungläubig.

»Es ist kurz vor zwei. Wenn wir sofort losfahren, können wir um drei, spätestens um halb vier dort sein. Dann haben wir noch eine bis anderthalb Stunden Tageslicht. Falls das nicht reicht, kommen wir morgen noch mal wieder.«

Garcia traute seinen Ohren nicht. »Bist du wahnsinnig geworden? Doc Slater hat doch gerade eben gesagt, dass die Koordinaten im Deukmejian Park liegen. Du warst schon mal da, oder? Das ist unwegsames Gelände, Robert. Teilweise felsig, fast überall harter Boden …« Er hob die Schultern. »Du weißt das wahrscheinlich, aber selbst bei optimaler Bodenbeschaffenheit braucht ein Totengräber circa sechs Stunden, um von Hand ein Grab auszuheben. Wie oft schwingst du so die Schaufel?«

»Eher selten«, gab Hunter zu.

»Mit anderen Worten: nicht oft genug«, sagte Garcia. »Und ich auch nicht. Selbst zu zweit würden wir wahrscheinlich einen ganzen Tag brauchen, um so eine Grube zu schaufeln. Wir müssten den gesamten Abend, die ganze Nacht und vermutlich auch noch morgen daran arbeiten, Robert. Für so was brauchen wir Profis.«

»Du hast recht mit allem, was du sagst«, räumte Hunter ein. »Allerdings hast du ein paar Dinge außer Acht gelassen.«

»Ach ja? Welche denn?«

»Kann sein, dass wir es da oben nicht mit optimaler Bodenbeschaffenheit zu tun haben. Aber wir graben ja auch nicht in unberührter Erde, sondern dort, wo schon mal gegraben wurde, das dürfte uns die Arbeit deutlich erleichtern. Außerdem haben wir bereits so einige Fundorte gesehen, wo der Täter seine Leiche oder die Überreste einer solchen vergraben hat. Hast du das vergessen?«

»Nein, natürlich habe ich das nicht vergessen.«

»Dann erinnerst du dich bestimmt auch daran, dass diese Gräber allesamt flach waren. Nicht ein einziges Mal hatten wir es mit einem Grab zu tun, das tiefer als einen Meter war – aus genau den Gründen, die du eben genannt hast: Ein erfahrener Totengräber braucht etwa sechs Stunden, um unter idealen Bedingungen ein zwei Meter tiefes Grab auszuheben. Ein Amateur, noch dazu in unwegsamem Gelände?« Hunter schüttelte den Kopf. »Der würde einen ganzen Tag dafür benötigen – mindestens.«

Garcia kratzte sich am Kinn.

»Im eigenen Garten wäre so was vielleicht machbar«, fuhr Hunter fort. »Aber wir reden hier von einem öffentlich zugänglichen Naturpark. Sicher, da oben gibt es ziemlich abgeschiedene Stellen, trotzdem könnte jederzeit jemand vorbeikommen – zumindest theoretisch. Niemand würde riskieren, an so einem Ort einen ganzen Tag lang ein Loch zu schaufeln, um eine Leiche darin zu vergraben. Ein paar Stunden vielleicht, aber niemals einen ganzen Tag. Deshalb würde es mich sehr wundern, wenn wir tiefer graben müssten als sechzig bis achtzig Zentimeter.«

Dem wusste Garcia nichts entgegenzusetzen.

»Und wo kriegen wir Schaufeln und Ausrüstung her?«, fragte er.

Hunter wandte sich an Dr. Slater.

»Die haben wir da«, sagte sie und nickte Hunter zu. »Unten stehen ein paar Lieferwagen mit den nötigen Gerätschaften. Sie können sich ausborgen, was immer Sie brauchen.«

Garcia legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Diese Schlacht hatte er definitiv verloren.

6

Hunter und Garcia borgten sich zwei Schaufeln, zwei schwere Spitzhacken, zwei Paar robuste Gartenhandschuhe, zwei Brechstangen sowie zwei Stirnlampen mit Zweifachlicht aus einem der Vans der Kriminaltechnik, die hinter dem Hertzberg-Davis Forensic Science Center parkten.

Nachdem sie alles im Kofferraum seines Wagens verstaut hatten, tippte Garcia die Koordinaten aus dem Notizbuch in die Navigations-App seines Smartphones ein.

Der Deukmejian Park erstreckte sich über eine insgesamt knapp zweihundertneunzig Hektar große Fläche in den Ausläufern der San Gabriel Mountains am nördlichen Rand von Glendale. Obschon auch einige von kleinen Bachläufen durchzogene Waldstücke zum Park gehörten, bestand er hauptsächlich aus Buschland, in dem Kreosotbüsche und andere Hartlaubgewächse dominierten – ganz zu schweigen von jeder Menge Felsen und Hügel.

»Definitiv nicht das beste Terrain zum Graben«, meinte Garcia, als sie endlich den Dunsmore Canyon Trail erreicht hatten, der durch den Park führte.

»So viel steht fest«, pflichtete Hunter ihm bei. »Aber abseits des Hauptwanderwegs gibt es auch einige bewaldete Gebiete mit weichem Boden. Die sind über den ganzen Park verstreut. Ich bin mir sicher, deshalb hat er die Gegend ausgesucht.«

Garcia wiegte skeptisch den Kopf. »Falls sich diese verrückte Geschichte bewahrheitet und jemand Dr. Slater wirklich ein …« Er suchte nach den richtigen Worten. »… Tagebuch des Todes zugespielt hat, wirft das für mich zwei Fragen auf.«

»Wer hat ihr das Buch in den Briefkasten gesteckt?«, sagte Hunter, der genau denselben Gedanken gehabt hatte.

»Genau.« Garcia nickte. »Das wäre auf jeden Fall meine erste Frage. War es der Verfasser des Tagebuchs, also der Täter selbst? Jemand, der mit dem Täter zusammengearbeitet hat und irgendwann die Nase voll hatte? Oder war es bloß ein armer Tropf, dem das Buch durch Zufall in die Hände gefallen ist? Man weiß es nicht …«

Hunter ließ den Blick über die Landschaft schweifen, die jenseits der Wagenfenster vorbeizog.

»Und dann ist da noch Frage Nummer zwei«, fuhr Garcia fort. »Warum hat die betreffende Person es ausgerechnet Dr. Slater gegeben?«

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Hunter nach einem kurzen Schweigen. Er wollte lieber keine Mutmaßungen anstellen.

»Also, mir fallen dazu nur zwei Möglichkeiten ein«, sagte Garcia. »Wer auch immer ihr das Buch in den Briefkasten gesteckt hat, will entweder aus irgendeinem Grund, dass sie in die Sache verwickelt wird, oder kennt sie zumindest. Nicht unbedingt persönlich – vielleicht weiß er oder sie einfach, was sie beruflich macht, weil im Fernsehen mal ein Interview mit ihr lief. Vielleicht hat die betreffende Person auch einen ihrer Vorträge besucht oder einen Fachaufsatz von ihr gelesen … Keine Ahnung.« Er warf einen Blick auf sein Navi. Sie waren fast am Ziel. »Jedenfalls weiß diese Person, dass sie eine renommierte Forensikerin ist und bei der FSD arbeitet. Wenn man will, dass das Buch so schnell wie möglich analysiert wird, ist es nicht die schlechteste Idee, es Dr. Slater in den Briefkasten zu werfen – allemal schlauer, als es ans LAPD oder ans FBI zu schicken.«

»Das stimmt«, sagte Hunter. »Aber eins stört mich daran: Warum hat die Person es zu ihr nach Hause gebracht statt ins Kriminallabor? Wenn man will, dass Susan sich das Buch so schnell wie möglich ansieht, könnte man das Päckchen doch einfach ans FSD adressieren und ›eilig‹ draufschreiben. Das hätte vollkommen ausgereicht. Warum wurde es an ihrer Privatadresse abgegeben?«

Sie befanden sich immer noch auf dem Dunsmore Canyon Trail. Garcia schaltete einen Gang herunter. Auf dem Display seines Telefons zeigte die kleine karierte Flagge den Zielort an, etwa dreihundertfünfzig Meter von der Straße entfernt unmittelbar zu ihrer Linken. Dort gab es weder einen Abzweig noch eine Piste. Ihnen würde nichts anderes übrig bleiben, als auszusteigen und den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen – allerdings war auch kein Pfad zu sehen. Sie würden sich wohl oder übel selbst einen Weg durch die Sträucher und das felsige Terrain bahnen müssen.

Und genau das taten sie.

An einigen Stellen war die Vegetation so dicht, dass beide ihre Schaufeln als provisorische Macheten benutzen mussten. Obwohl sie ständig den Boden mit Blicken absuchten, rechnete weder Hunter noch Garcia damit, Spuren zu finden. Erstens hätte der Verfasser des Eintrags auch einen anderen Weg nehmen können, um an den Ort zu gelangen, den Garcias Navi anzeigte; zweitens lag das im Eintrag erwähnte Datum über zwei Jahre zurück. Falls es einmal Spuren gegeben hatte, waren sie inzwischen längst von der Witterung ausgelöscht worden.

Für L. A. war es nicht unbedingt ein warmer Tag. Die Wintersonne sorgte für recht kühle vierzehn Grad, doch der Marsch durchs felsige Gelände, gepaart mit dem schweren Gerät, das sie schleppen mussten, sorgte dafür, dass sie schon bald ins Schwitzen kamen.

»Dem Ding hier zufolge«, meinte Garcia, der sich die Stirn abwischte und gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf sein Smartphone deutete, »müsste die Stelle irgendwo hinter den Bäumen da liegen.« Er deutete auf eine Baumgruppe unmittelbar voraus.

Sie umrundeten den Baumbestand und hielten auf der anderen Seite an.

»Hier müsste es sein«, verkündete Garcia, warf noch einen prüfenden Blick auf sein Telefon und schaute sich um. »Entschuldige bitte meine Unwissenheit, aber wie präzise sind solche Angaben der Längen- und Breitengrade eigentlich?«

»Das hängt von zwei Faktoren ab«, antwortete Hunter. »Erstens von der Position auf der Erdoberfläche oder, genauer gesagt, dem Ort, von dem aus die Messung vorgenommen wurde, und zweitens davon, welches Erdmodell man dafür verwendet.«

Garcia sah seinen Partner verständnislos an. »Und jetzt noch mal für diejenigen unter uns, die kein Nerd sprechen …«

Hunter grinste. »Sorry. Grundsätzlich kann man sagen: je mehr Nachkommastellen, desto präziser die Angabe. Wenn man möchte, kann man eine Genauigkeit bis auf den Bruchteil eines Zentimeters erreichen.«

»Nachkommastelle?«, fragte Garcia und warf noch einmal einen Blick auf die Koordinaten – 34°15'16,9" N/118°14'52,4" W. »Mist, wir haben nur eine einzige Nachkommastelle. Dann sind die Koordinaten wohl nur eine grobe Richtlinie.«

»Nicht die Nachkommastelle«, sagte Hunter. »Man muss es erst in Dezimalgrad umrechnen.«

Garcia schwieg kurz. »Und weißt du, wie man das macht?«

»Das brauchen wir gar nicht. Ich glaube, das hat die App schon erledigt. Es müsste neben oder unter den Koordinaten stehen, die du eingegeben hast.«

Abermals schaute Garcia auf sein Smartphone. Hunter hatte recht. Direkt unterhalb der Koordinaten standen zwei Zahlen: 34,254694 N und 118,247889 W.

»Okay, dann haben wir sechs Nachkommastellen.«

Hunter nickte. »Das wird uns wahrscheinlich auf den Zentimeter genau zu der Stelle führen.«

Garcia schaute zu Boden. Dort, wo sie standen, gab es keinen starken Bewuchs, nur Erdboden sowie einige lose Steine. »In dem Fall sind wir da. Wir stehen direkt darauf.«

Hunter ließ Spitzhacke und Stirnlampe fallen. »Na, dann fangen wir mal an zu graben.« Er packte die Schaufel fester.

Garcia legte ebenfalls seine Spitzhacke sowie die Brechstange ab und schob mit der Schaufel zunächst das lose Geröll zur Seite.

Der Boden war hart, aber nicht so hart, wie er auf den ersten Blick aussah. Die Arbeit ging ihnen leichter von der Hand als gedacht. Die Erde war festgeklopft worden, was darauf hindeutete, dass hier zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal jemand gegraben hatte.

Hunter und Garcia arbeiteten Seite an Seite. Trotz allem war es eine anstrengende Arbeit, und sie kamen nur langsam voran.

»Ich habe dir doch gesagt, es wird nicht so leicht, wie du es dir vorstellst«, sagte Garcia und blickte in den Himmel hinauf. Sie gruben noch nicht sehr lange, und die Sonne berührte bereits den Horizont. »Es wird schon langsam dunkel, und wir haben vergessen, Wasser mitzubringen.«

Ihre Hemden waren schweißdurchtränkt.

»Ja«, pflichtete Hunter ihm bei. »Das war ein Fehler. Mein Mund ist trocken wie eine Tüte geröstete Erdnüsse.« Er legte eine Pause ein und griff nach seiner Stirnlampe. »Pass auf, wir machen noch eine halbe Stunde weiter. Wenn wir bis dahin nichts finden, gehen wir morgen früh zu Captain Blake. Vielleicht kriegen wir ja doch die Genehmigung für ein Grabungsteam, obwohl wir nicht viel vorzuweisen haben.«

»Einverstanden.« Garcia nickte. »Aber wenn sie Nein sagt, kommst du morgen wieder hier raus und machst alleine weiter, stimmt’s?«

»Vermutlich«, räumte Hunter ein.

Garcia schüttelte den Kopf und legte ebenfalls seine Stirnlampe an. »Eine halbe Stunde, mehr nicht.«

»Du kannst die Uhr stellen«, sagte Hunter und schaltete seine Stirnlampe ein.

»Das werde ich.« Garcia stellte den Timer auf dreißig Minuten ein und hielt Hunter das Smartphone unter die Nase, der dies mit einem Nicken quittierte, ehe er erneut zu graben begann.

Garcia schaltete ebenfalls seine Stirnlampe ein und machte sich wieder ans Werk.

Sie brauchten keine halbe Stunde. Bereits zwölf Minuten später hörten sie ein dumpfes, hohles Geräusch, als Hunters Schaufel auf etwas Hartes stieß.

Beide hielten abrupt inne.

»Was auch immer das ist«, sagte Garcia. »Es ist keine Erde …«

Mit dem Rand seiner Schaufel kratzte Hunter noch etwas Dreck beiseite, ehe er sich auf die Knie niederließ und mit den Händen weitergrub.

»Holz«, verkündete er, als er mit den Knöcheln gegen die Oberfläche klopfte.

Er richtete sich wieder auf. Die Sicht war schlecht aufgrund der mondlosen Nacht, aber ihre Stirnlampen spendeten ausreichend Licht, sodass sie noch eine Stunde weitermachen konnten, bis sie die Oberseite einer rechteckigen, etwa zwei Meter langen und sechzig Zentimeter breiten Kiste freigelegt hatten. Das Holz, aus dem sie bestand, war hell und sehr dick. Der Täter hatte den Deckel mit insgesamt zwölf Nägeln verschlossen.

»Soll ich es durchgeben?«, fragte Garcia und legte seine Schaufel weg. »Wir brauchen auf jeden Fall ein Team hier – Spurensicherung, Grabungsteam, Licht, alles. Und der gesamte Umkreis muss nach weiteren Gräbern abgesucht werden.«

»Erst mal müssen wir die hier aufmachen.« Hunter deutete auf die hölzerne Kiste.

»Findest du nicht, dass es besser wäre, auf die Kriminaltechnik und Verstärkung zu warten? Die können den Sarg bergen, außerdem haben sie die notwendige Ausrüstung, um alle Spuren zu konservieren, die der Luft ausgesetzt sind, sobald wir den Deckel abnehmen.«

»Stimmt«, sagte Hunter. »Aber bislang haben wir nichts weiter vorzuweisen als eine Kiste in der Erde, Carlos. Das hier ist keine Ermittlung des LAPD – jedenfalls noch nicht. Prinzipiell könnte da auch eine Ladung Marshmallows drin sein. Damit wir es durchgeben können, brauchen wir erst eine Leiche.«

Garcia blies sich in die Handflächen, die rot und wund waren und höllisch wehtaten. Er hätte gerne widersprochen, wusste aber, dass sein Partner recht hatte.

»Alles, was wir noch tun müssen«, sagte der, »ist, die Nägel mit der Brechstange zu entfernen und den Deckel aufzuhebeln.«

Doch die Nägel aus dem Holzdeckel zu ziehen war nicht so einfach, wie sie sich erhofft hatten. Wer auch immer die Kiste zugenagelt hatte, hatte dicke, fünf Zentimeter lange Eisennägel verwendet. Sie wären schneller ans Ziel gekommen, wenn sie den Deckel einfach mit der Brechstange zertrümmert hätten, statt die Nägel einzeln zu entfernen, aber es war wichtig, den Sarg so weit wie möglich zu erhalten.

Es war harte, unangenehme Arbeit, zumal sie immer darauf achten mussten, dass das Holz nicht splitterte. Deshalb benötigten sie annähernd fünfundzwanzig Minuten, bis sie alle zwölf Nägel entfernt hatten. Als der letzte endlich draußen war, sahen sie einander an. Von ihren Stirnen perlte der Schweiß, und ihre Gesichter waren staubverschmiert. Mit ihren Stirnlampen sahen sie aus wie zwei Männer im Kohlebergwerk.

»Du nimmst diese Seite«, sagte Hunter. »Ich nehme die hier. Dann heben wir den Deckel zusammen hoch.«

Abermals ließen sie sich auf die Knie nieder und packten den Deckel, der etwa zweieinhalb Zentimeter dick war und zwischen fünf und acht Kilo wog. Die gesamte Kiste schien von Hand aus massiven Brettern gezimmert worden zu sein.

Sie bemühten sich, den Deckel möglichst gerade zu halten, damit keine Erde ins Innere der Kiste rieselte. Vorsichtig hoben sie ihn aus der Grube und legten ihn zur Seite. Dann konnten sie endlich sehen, was sich im Inneren verbarg.

»Also.« Garcia war der Erste, der das Schweigen brach. »Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet.«

7

»Um Himmels willen!« Als der helle Lichtstrahl der Taschenlampe das Innere des geöffneten Sargs traf, verschlug es Dr. Slater fast den Atem. Sie war als Erste im Park eingetroffen, der Rest ihres Teams würde bald nachkommen.

Im Sarg lag eine Frauenleiche im frühen Stadium der Verwesung. Augen, Nase und Lippen waren vollständig verschwunden, sodass ihr ursprüngliches Gesicht nur noch aus vier unheimlich wirkenden schwarzen Höhlen sowie zwei Reihen fleckiger Zähne bestand. Abgesehen davon hing noch relativ viel Haut und Muskelgewebe an dem Skelett.

Doch es war nicht der Zustand der Leiche, der Hunter, Garcia und Dr. Slater so verblüffte. Sie alle wussten, dass ein nicht einbalsamierter menschlicher Körper, der ohne Sarg in zwei Meter Tiefe begraben wurde, zwischen acht und zwölf Jahren brauchte, um bis auf die Knochen zu verwesen. Mit Sarg dauerte der Prozess natürlich wesentlich länger, je nachdem, welches Holz verwendet wurde. Da die von Hunter und Garcia entdeckte Leiche in einer stabilen Holzkiste gelegen hatte und etwa zwei Jahre zuvor in einem sechzig Zentimeter tiefen Grab unter die Erde gelangt war, entsprach der noch nicht sehr weit fortgeschrittene Verwesungsprozess absolut ihren Erwartungen.

Womit sie jedoch nicht gerechnet hatten, war das Hochzeitskleid.

»Der Täter hat ihr ein Brautkleid angezogen?«, sagte Dr. Slater. »Wieso?«

Hunter und Garcia wussten, dass sie nicht wirklich eine Antwort erwartete.

Dr. Slater legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch nicht viel weiter gelesen als Sie zwei. Wir sind bei so vielen Fällen mit der Arbeit im Rückstand, dass ich schlichtweg nicht die Zeit dazu gefunden habe. Bis zu der Stelle, an der ich stehen geblieben bin, wurde nichts davon erwähnt.«

»Ist das Notizbuch denn noch im Labor?«, wollte Garcia wissen.

»Ja, aber in einem anderen. Ich habe es zur Analyse ins DNA-Labor geschickt, zusammen mit den Polaroidfotos.«

Das Serologie/DNA-Labor war die einzige Abteilung des FSD, die nicht auf dem Campus der California State University in Alhambra untergebracht war. Es lag viereinhalb Meilen entfernt im C. Erwin Piper Technical Center in Downtown Los Angeles, in unmittelbarer Nachbarschaft des PAB.

»Rein aus Interesse«, sagte Dr. Slater, »habe ich die ersten paar Seiten abfotografiert, damit ich sie später noch lesen kann.«

»Könnten Sie uns die Fotos so schnell wie möglich in die UV-Einheit schicken?«, fragte Hunter.

»Sicher.«

»Jetzt, wo wir wissen, dass es kein Scherz ist«, sagte Garcia, »müssen wir das komplette Buch abfotografieren lassen.«

»Kein Problem«, sagte Dr. Slater. »Ich rufe morgen im DNA-Labor an und bitte jemanden darum.« Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Sarg. Wenige Sekunden später runzelte sie die Stirn. »Moment mal. Irgendwas stimmt hier doch nicht.«

Hunter nickte. Er und Garcia hatten sich bereits darüber unterhalten, während sie auf Dr. Slater gewartet hatten.

»Haben Sie sie in dieser Position vorgefunden?«, wollte sie wissen.

»Wir haben nichts angerührt, Doc«, beteuerte Garcia.

Die Tote lag auf dem Rücken in der für Bestattungen üblichen Position – die Beine lang ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet. Ihre langen schwarzen Haare waren wie ein Fächer um ihren Kopf herum ausgebreitet.

»Aber im Notizbuch steht doch, dass das Opfer bei lebendigem Leib begraben wurde.« Slater sah fragend zwischen den beiden Detectives hin und her.

Hunter nickte.

»Sie fragen sich, wie es sein kann, dass sie so ruhig daliegt, stimmt’s?«, sagte Garcia. »Als sie in einer dunklen Kiste aufgewacht ist, muss ihr doch nach wenigen Sekunden klar geworden sein, dass sie eingesperrt ist. Sie muss in Panik geraten sein. Bestimmt hat sie getreten, geschlagen, gekratzt und geschrien … Sie muss alles versucht haben, um sich zu befreien. Jede andere Position wäre realistisch, nur diese nicht. Und dann noch die Haare. Sie umrahmen perfekt ihr Gesicht, als würde sie für ein Foto posieren.«

»Sie hat auf jeden Fall gekämpft.« Hunter wies auf den Deckel, den sie einige Meter entfernt an einen Baum gelehnt hatten. »An der Innenseite sind zahlreiche Kratzspuren und Blutflecke zu sehen. Es stecken sogar abgebrochene Fingernägel im Holz. Sie hat um ihr Leben gekämpft.«

Dr. Slater richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Baum mit dem Sargdeckel, ging jedoch nicht hin. Die Spuren konnte sie später im Labor noch eingehend untersuchen.

»Das zweite Problem mit diesem Anblick«, fuhr Hunter fort, »ist, dass das Kleid wenigstens ein paar Risse aufweisen müsste. Und es müsste definitiv schmutzig sein.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tote. »Aber schaut es euch an. Es ist praktisch makellos weiß.«

In dem Moment fiel bei Dr. Slater der Groschen.

»Mein Gott!«, stieß sie hervor. »Das heißt, wer auch immer sie lebendig begraben hat, hat gewartet, bis sie gestorben war, dann ist er noch mal zurückgekommen, hat sie wieder ausgegraben, den Sarg geöffnet, ihr das Brautkleid angezogen, sie so hingelegt und dann ein zweites Mal beerdigt?«

»Davon gehen wir aus«, sagte Hunter.

Dr. Slater seufzte schwer. Sie wollte noch einmal »Wieso?« fragen, aber momentan hätte wohl nur der Täter diese Frage beantworten können. Stattdessen sah sie sich in ihrer Umgebung um.

»Das hier ist ein ziemlich weitläufiges Areal. Glauben Sie, es könnte noch mehr Gräber geben?«

»Im Moment wissen wir praktisch noch gar nichts«, antwortete Hunter. »Fürs Erste würde ich aber keine größere Suchaktion veranlassen. Wir haben das Buch. Wer auch immer die Frau hier begraben hat, hat uns die exakten Koordinaten geliefert …« Abermals deutete er auf die Leiche. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass er auch die Koordinaten seiner weiteren Gräber dokumentiert hat, ob sie sich nun hier befinden oder anderswo.«

»Klingt vernünftig«, sagte Dr. Slater. Im selben Moment klingelte ihr Telefon. »Entschuldigen Sie mich eine Sekunde.« Sie wandte sich ab und nahm den Anruf entgegen.

»Doc.« Es war Kenneth Morgan, ein erfahrener Kriminaltechniker, der genau wie Dr. Slater in der FSD arbeitete. »Wir sind jetzt da. Wir parken direkt hinter Ihrem Wagen. Wie kommen wir an den Fundort?«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich hole Sie ab.«

Aufgrund der Vegetation und des hügeligen, steinigen Geländes war es nicht möglich, mit dem Fahrzeug bis zu der Stelle vorzudringen. Sie mussten am Dunsmore Canyon Trail parken und die komplette Ausrüstung zu Fuß an den Fundort tragen, einschließlich Lichtern, Grabungsgeräten und Stromgeneratoren. So war es fast dreiundzwanzig Uhr dreißig, als das Team der Kriminaltechnik endlich die Scheinwerfer anwarf.

»Einen Kran herzuschaffen kommt nicht infrage«, teilte Dr. Slater Hunter und Garcia mit. »Wir müssen die Kiste wieder verschließen, damit kein Dreck hineingelangt, und sie dann per Hand ausgraben.«

Damit hatten die beiden bereits gerechnet.

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1

Los Angeles, Kalifornien, Samstag, 5. Dezember

Es waren noch knapp drei Wochen bis Weihnachten. Für Angela Wood markierte dieser Samstag den Startschuss dessen, was sie gerne als »Hochsaison« bezeichnete. Shoppingmalls, Einkaufsstraßen, selbst die kleinen Eckläden waren mit Kunstschnee, Lichterketten und buntem Weihnachtsschmuck herausgeputzt, und überall wimmelte es von Leuten, denen das Geld lockerer saß als sonst, weil sie nach dem perfekten Geschenk suchten. Es war die Zeit im Jahr, in der die meisten Menschen nicht an ihren Kontostand dachten. Stattdessen lautete das Motto: »Ach, was soll’s? Schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten« – eine Haltung, die sie dazu veranlasste, tief in die Tasche zu greifen und mehr auszugeben, als vielleicht ratsam gewesen wäre. Mitunter sogar deutlich mehr, als der Dispo hergab.

Für Angela bedeutete die Vorweihnachtszeit gut gelaunte Menschen mit prall gefüllten Portemonnaies in Hosen-, Jacken- oder Handtaschen. Wenn das Fest der Liebe vor der Tür stand, feierte das Bargeld ein Comeback. Normalerweise trug der Großteil der Einwohner von Los Angeles kein Bares mehr mit sich herum, viele hatten nicht einmal Kleingeld dabei – alles lief bargeldlos ab, egal ob man im Kiosk an der Ecke ein Päckchen Kaugummi kaufen wollte oder auf dem Rodeo Drive ein Vermögen ausgab. Kein Cash, keine Umstände. Man war endgültig und unwiderruflich in der Ära des elektronischen Zahlungsverkehrs angekommen.

Für die meisten Verkäufer und Ladenbesitzer machte das natürlich keinen Unterschied. Aber Angela war keine Verkäuferin. Sie war auch keine Ladenbesitzerin. Sie war eine professionelle Taschendiebin, und als solche logischerweise nicht unbedingt ein Fan des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Klar, sie konnte auch geklaute Kreditkarten und Smartphones zu Geld machen, aber in ihrer Welt war nach wie vor nur Bares wirklich Wahres, und deshalb war auch sie in der Vorweihnachtszeit fröhlicher gestimmt als sonst.

In diesem Jahr hatte Angela beschlossen, die Hochsaison in einer lauschigen kleinen Einkaufsstraße in Tujunga Village einzuläuten.

Die Tujunga Avenue lag in der Nähe des Ventura Boulevards in Studio City, zwischen den Vierteln Colfax Meadows und Woodbridge Park. Die unter dem Namen Tujunga Village oder einfach nur »The Village« bekannte Gegend umfasste ein drei Blocks langes Straßenstück zwischen Moorpark und Woodbridge, und es gab hier eine Vielzahl hübscher Läden, Boutiquen, Restaurants, Bars und Cafés. Das Village zog ganzjährig viele Menschen an, vor allem an den Wochenenden. Während der Adventszeit jedoch stieg die Zahl der Besucher exponentiell an, und die Straßen waren überschwemmt von einem Meer glücklicher Menschen mit dicken Geldbörsen.

Nach Möglichkeit zog Angela es vor, abends zu arbeiten. Das war ein weiterer Grund, weshalb sie die Vorweihnachtszeit so mochte. Um der großen Zahl von Einkäufern gerecht zu werden, hatten viele Geschäfte länger geöffnet. Angela wusste dies natürlich und machte sich auf den Weg nach Tujunga Village, gerade als die Sonne im Begriff war, hinter dem Horizont zu verschwinden. Zufrieden stellte sie fest, dass die Anzahl der Menschen, die die Straßen bevölkerten, sich im Vergleich zum letzten Jahr beinahe verdoppelt zu haben schien.

»Ach, ich liebe die Adventszeit«, sagte sie zu sich selbst und ließ die Fingerknöchel knacken, ehe sie sich ein Paar dünne rote Lederhandschuhe überstreifte.

Da die Sonne schon fast untergegangen war, waren die Temperaturen draußen auf den Straßen auf etwa acht Grad gesunken – nicht schlecht für einen Winterabend, aber in einer Stadt, in der Hitze und Sonne gewissermaßen als ständige Ehrenbürger betrachtet wurden, brachten solche Temperaturen jeden stolzen Angelino dazu, seinen Kleiderschrank nach der dicksten, wärmsten Jacke zu durchforsten, die er finden konnte. Für jemanden wie Angela waren dicke Winterjacken und Mäntel ein Segen. Die Leute trugen jede Menge Zeug in den Außentaschen mit sich herum, und dicke Jacken waren wie eine Schutzschicht zwischen dem Körper des Trägers und dem Inhalt der Tasche, sodass man nicht einmal besonders geschickt sein musste, um einem Opfer seine Habe abzunehmen. Im Gedränge, das auf den Straßen und in den Geschäften herrschte und in dem sich die Leute ständig gegenseitig anrempelten, war es sogar noch einfacher. Für einen routinierten Profi wie Angela war das Gewimmel in Tujunga Village, wo sich achtzig Prozent der Passanten dick eingemummelt hatten, der reinste Selbstbedienungsladen.

»Los geht’s«, sagte sie, ehe sie sich ins Getümmel stürzte und mit scharfem Blick nach potenziellen Opfern Ausschau hielt.

Bevor sie auch nur die Hälfte des Blocks zurückgelegt hatte, waren bereits drei Geldbörsen in ihren Rucksack gewandert. Sie hätte mit Leichtigkeit noch mehr stehlen können, aber während der Hochsaison hatte Angela keinen Grund, wahllos zuzugreifen, ohne wenigstens eine grobe Vorstellung davon zu haben, ob es sich überhaupt lohnte.

Ihre Methode war ebenso unkompliziert wie effektiv: Sie beobachtete zunächst, wie jemand im Laden oder auf der Straße für etwas bezahlte. Dieser simple Ansatz war doppelt vorteilhaft: Erstens ließ sich auf diese Weise schnell ermitteln, wer Bargeld dabeihatte und wer nicht. Zweitens fand sie dabei heraus, wohin die Zielperson ihr Portemonnaie steckte. Danach musste sie der betreffenden Person nur noch folgen und den richtigen Moment zum Zuschlagen abpassen. Dabei ging sie nie übereilt vor. Trotzdem war es diesmal schon nach fünfzehn Minuten Zeit für eine erste Inventur.

Angela blieb stets bescheiden. Nur ein einziges Mal hatte sie sich von ihrer Gier leiten lassen, und das war ihr prompt zum Verhängnis geworden. Sie hatte eine kurze Zeit im Gefängnis verbracht – ein Ort, an den sie unter keinen Umständen zurückwollte. Seitdem stahl sie nie mehr als drei Börsen, ehe sie die nach Bargeld und Kreditkarten durchsuchte. Bei guter Ausbeute machte sie Feierabend. Wenn es noch nicht reichte, warf sie die ausgeräumten Geldbörsen weg und begab sich auf eine zweite Tour.

Nachdem sie die dritte Börse an sich gebracht hatte, suchte sie sich einen sicheren Ort, um ihr Diebesgut in Augenschein zu nehmen. In einer Seitenstraße hinter dem alteingesessenen und stets gut besuchten Restaurant Vitello’s mitten im Herzen von Tujunga Village lag der Rendition Room – eine billige Cocktailbar im Stil der Dreißigerjahre. Die Toilette dort war der ideale Ort für das, was Angela vorhatte.

Sie war bereits häufiger im Rendition Room gewesen, aber sie hatte die Bar noch nie so voll erlebt wie an diesem Abend. Auf der Damentoilette musste sie über fünf Minuten anstehen.

Sobald eine Kabine frei wurde, holte sie die Börsen heraus und prüfte sie auf Bargeld. Sie hatte einen sehr guten Fang gemacht.

»Sechshundertsiebenundachtzig Dollar für nicht mal fünfzehn Minuten Arbeit«, murmelte sie, ehe sie den Großteil des Geldes in ihren BH stopfte. »Nicht schlecht für den ersten Tag.«

Einen Sekundenbruchteil lang spielte sie mit dem Gedanken, noch mal rauszugehen und weiterzumachen. »Da draußen lauert fette Beute auf dich«, raunte die leichtsinnige Angela ihr ins Ohr. »Am Ende des Abends könntest du genug haben für den ganzen Monat.«

Aber die vernünftige Angela war auch noch da, und sie schmetterte den Vorschlag sofort ab.

»Nein, das reicht für heute. Statt leichtsinnig zu werden, geh lieber und feiere deinen Erfolg mit einem Drink. Schließlich bist du in einer Cocktailbar.«

Angela war besonnener als früher. Seit sie im Knast gesessen hatte, siegte bei ihr immer die Vernunft.

Ehe sie die Kabine verließ, zog sie sich noch ihre schwarze Perücke vom Kopf, dann nahm sie die dunklen Kontaktlinsen heraus und verstaute sie sorgfältig.

Draußen in der belebten Bar dauerte es mehrere Minuten, bis die Bedienung auf sie aufmerksam wurde. Sie hatte die Cocktailkarte überflogen und sich für einen Klassiker entschieden – den Sidecar. Was einen freien Tisch anging, hatte sie mehr Glück. Gerade als sie der Theke den Rücken kehrte, wurde wenige Meter entfernt ein kleiner runder Stehtisch frei. Rasch nahm Angela ihn in Beschlag.

Während sie ihren Cocktail schlürfte, blickte sie sich aufmerksam um. Nicht, dass sie ihre Entscheidung, für heute Schluss zu machen, bereut hätte. Sie hatte einfach die Angewohnheit, die Menschen in ihrem Umfeld zu beobachten, ganz egal, wo sie war. Es war wie eine Art Reflex … oder eine Berufskrankheit, wenn man so wollte. Oft merkte sie es nicht einmal.

Innerhalb von zwanzig Sekunden hatte sie drei Gäste identifiziert, die leichte Beute für sie gewesen wären.

Vier Tische rechts von ihr standen zwei Männer in den Vierzigern. Beide waren stark angetrunken. Einer der beiden, der mit der Brille, hatte sein Portemonnaie in der Sakkotasche stecken und das Sakko neben sich auf einen freien Barhocker gelegt, die Tasche mit dem Portemonnaie nach oben.

Drei Tische vor ihr saßen zwei Frauen Anfang zwanzig und schlürften Margaritas. Eine von ihnen, die mit dem Rücken zu Angela saß, hatte ihre Handtasche über die Stuhllehne gehängt. Der Reißverschluss stand offen.

Am Tisch rechts neben ihr stand ein großer Mann, der ganz in sein Handy vertieft zu sein schien. Er hatte eine sehr elegante Ledertasche bei sich, die er zu seinen Füßen auf den Boden gestellt hatte. Angela hatte keine Ahnung, was sich in der Tasche befand, aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass es etwas Wertvolles war.

Manche Leute sind wirklich unfassbar dumm, dachte sie und schüttelte kaum merklich den Kopf. Lernen die denn nie dazu?

Als ihr Blick von der Tasche am Boden zurück zu ihrem Besitzer und dessen Handy wanderte, trat ein älterer Mann auf ihn zu. Angela konnte hören, was er sagte.

»Entschuldigen Sie, hätten Sie was dagegen, wenn ich mein Getränk bei Ihnen auf dem Tisch abstelle? Ist ganz schön voll heute.«

Der große Mann riss den Blick nicht von seinem Telefon los.

»Ja, hätte ich.«

Angela runzelte verdutzt die Stirn und fragte sich, ob sie sich verhört hatte.

Auch der ältere Herr wirkte ein wenig irritiert.

»Ich brauche auch nicht viel Platz«, versuchte er es aufs Neue. »Ich möchte nur mein Glas abstellen. Ich störe Sie auch nicht.«

»Das tun Sie bereits«, sagte der Typ mit dem Handy, der nun endlich den Kopf hob und den älteren Herrn ansah. »Suchen Sie sich einen anderen Tisch für Ihr Glas, alter Mann. Der hier ist besetzt.«

Angela war fassungslos. Was für ein Vollarsch.

Im ersten Moment wirkte der ältere Mann wie erstarrt. Er hatte keine Ahnung, wie er auf die Abfuhr reagieren sollte.

»Verpiss dich, Alter«, sagte der Handytyp mit schneidender Stimme.

Schockiert wandte sich der alte Herr ab und ging.

Angela wollte ihm gerade ihren Tisch anbieten, als die leichtsinnige Angela ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Der Typ ist ein Wichser, Angie. Du solltest ihm eine Lektion erteilen.«

Abermals beäugte Angela die teure Ledertasche.

Der Kerl hatte sich längst wieder seinem Smartphone zugewandt.

Angela leerte ihr Glas und ging ein Stück um ihren Tisch herum, bis sie direkt hinter dem Mann stand. Zur Sicherheit, um keinen Verdacht zu erregen, zückte sie ihr eigenes Handy und hob es ans Ohr. Während sie so tat, als würde sie telefonieren, bewegte sich ihr rechter Fuß unauffällig nach vorn, bis sie den Schulterriemen der Tasche angeln konnte.

Der Mann tippte emsig auf seinem Smartphone.

Angela drehte ihm die Seite zu und machte zwei Schritte in seine Richtung. Dabei reckte sie den Hals und sah sich in der Bar um, als suche sie nach jemandem. Gleichzeitig zog sie mit dem rechten Fuß vorsichtig die Ledertasche zu sich heran.

Der Mann war so sehr mit seinem Smartphone beschäftigt, dass er nichts bemerkte. Und selbst wenn er auf sie aufmerksam geworden wäre, hätte Angela ganz einfach behauptet, ihr Fuß habe sich im Riemen der Tasche verfangen, weil es so voll war. Ein dummes Missgeschick, nichts weiter.

Noch ein kleiner Schritt, noch ein kurzer Ruck am Riemen, und dann kam ihr der Zufall zu Hilfe. Einige Tische entfernt ließ jemand ein volles Tablett fallen. Der Lärm zerbrechender Gläser und Flaschen führte dazu, dass alle sich umdrehten, auch der Mann. Als er sich wenige Sekunden später wieder seinem Telefon zuwandte, war Angela bereits auf dem Weg zum Ausgang – mit seiner Tasche unter der Jacke. Weitere fünf Minuten später saß sie im Bus Nummer 237 Richtung Colfax Avenue.

Sie platzte fast vor Neugier und brannte darauf, nachzuschauen, was in der Tasche war, doch obwohl sie sich einen Platz ganz hinten gesucht hatte, widerstand sie der Versuchung. Sie wollte keine neugierigen Blicke auf sich ziehen.

Von Tujunga Village aus brauchte sie eine gute Dreiviertelstunde bis nach Hause. Sie wohnte in einem kleinen Zweizimmer-Apartment am südlichen Ende der Colfax Avenue. Sobald sie die Wohnungstür hinter sich zugeworfen hatte, streifte sie die Schuhe von den Füßen und machte es sich im Schneidersitz auf dem Bett bequem. Sie legte die Ledertasche vor sich hin und öffnete den Reißverschluss.

Eine Woge der Enttäuschung überkam sie.