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SPIEGEL-Bestseller Thriller rund um das berühmte Ermittlerduo Hunter und Garcia: blutig, spannend und nervenaufreibend! »Ein Band mit besonderem Gänsehautfeeling, der tief berührt und definitiv nichts für zarte Gemüter ist. Für Fans des Genres gilt: unbedingt lesen.« leser-welt.de Eine entsetzlich zugerichtete Frauenleiche - und Furcht ist nur der Anfang Robert Hunter und Carlos Garcia stehen vor der entsetzlich zugerichteten Leiche einer Frau. Bei der Autopsie entdecken sie, dass der Mörder ein Gedicht in ihrem Körper hinterlassen hat. Die blutige Art des Tötens ist nicht das Einzige, was diesen Killer antreibt. Für ihn sind Angst, Schmerz und der Tod Teil einer Lektion. Und er ist der Lehrmeister. Als eine zweite Frau grausam umgebracht wird, fragen Hunter und Garcia sich, wie viele Gedichte dieser Serienkiller noch schreiben wird. Ihnen bleibt nicht viel Zeit … Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. *** Ein absolutes Lesehighlight für Thriller Fans! ***
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Seitenzahl: 675
Blutige Stufen
CHRIS CARTER wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.
Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:
One Dead (E-Book) · Der Kruzifix-KillerDer Vollstrecker · Der KnochenbrecherTotenkünstler · Der TotschlägerDie stille Bestie · I am Death – Der TotmacherDeath Call – Er bringt den Tod · Blutrausch – Er muss tötenJagd auf die Bestie · Bluthölle · Blutige Stufen
Chris Carter
Thriller
Aus dem Englischen von Sybille Uplegger
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage September 2022© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© Chris Carter 2022Published in Arrangement with Luiz MontoroTitel der englischen Originalausgabe: Genesis (Simon & Schuster Inc.)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © privat E-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2665-8
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Der Autor / Das Buch
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Cover
Titelseite
Inhalt
1
Ich möchte diesen Roman all jenen von uns widmen, die unter psychischen Problemen leiden. Die tagtäglich einen der schwersten Kämpfe ausfechten, mit denen ein Mensch konfrontiert werden kann – den Kampf gegen die eigenen Gedanken … gegen eine Dunkelheit, die sonst niemand sieht.
Bitte bleibt stark.
Der Kampf lohnt sich.
Das Leben ist lebenswert.
Sucht weiter nach Momenten des Glücks; es gibt sie.
Wir haben das Recht, Fehler zu machen.
Wir haben das Recht, es immer wieder aufs Neue zu versuchen.
Wir haben das Recht, hier zu sein.
Bitte gebt nicht auf.
Mit besorgtem Blick beobachtete die Taxifahrerin, wie eine stark alkoholisierte Melissa Hawthorne die hintere Tür des silbernen Mazda 3 aufstieß und ungelenk auf den Gehsteig vor ihrem Haus taumelte. Es war kurz vor zwei an einem Sonntagmorgen, und Melissa hatte seit etwa einundzwanzig Uhr die ganze Nacht hindurch getrunken. Normalerweise machte sie so etwas nicht, aber ihre beste Freundin war achtundzwanzig geworden, und sie hatten im Broken Shaker gefeiert, einer Cocktailbar mit Pool und einem entspannten South-Beach-Vibe auf dem Dach des historisch einzigartigen Freehand Hotels in Downtown Los Angeles. Fruchtige Cocktails und Jägerbombs waren, wie Melissa nun feststellen musste, eine nahezu tödliche Mischung, und obwohl sie sich großartig amüsiert hatte, graute ihr bereits vor dem monumentalen Kater, der ihr garantiert beim Aufwachen bevorstand.
»Die Tür …«, rief die Taxifahrerin. »Könnten Sie bitte die Tür zumachen?«
»Ach so, ja. Sorry!«, lallte Melissa, ehe sie der Tür des Mazda mit der Hüfte einen Schubs versetzte. Das war erstens recht mühsam, und zweitens nahm sie nicht genug Schwung, um die Tür vollständig zu schließen.
»Sie ist immer noch nicht richtig zu«, rief die Fahrerin und zog eine Grimasse.
Melissa grinste schief, ehe sie einen zweiten Versuch unternahm. Doch statt die halb eingerastete Tür einfach zuzudrücken, riss sie sie wieder auf und gab ihr abermals einen kraftlosen Stoß mit der Hüfte.
»Ups!«
»Ist schon gut«, meinte die Fahrerin kopfschüttelnd. »Ich mach es selbst. Kein Stress.«
Während sie ausstieg und um den Wagen herumging, torkelte Melissa langsam in Richtung Haustür. Dort angekommen, brauchte sie annähernd zweieinhalb Minuten, um in der Tasche ihren Schlüssel zu finden und ihn ins Schlüsselloch zu stecken.
Sobald sie im Haus war, schloss sie die Tür hinter sich, goss sich ein Glas Wasser ein und ging weiter ins Schlafzimmer. Sie warf ihre Handtasche auf den Nachttisch und sprang noch schnell unter die Dusche, ehe sie endlich ins Bett kroch. Noch ein letzter Blick auf ihr Smartphone. Es war zwei Uhr achtundzwanzig.
Keine neuen Nachrichten.
Ehrlich gesagt, war sie ein bisschen enttäuscht. Sie hatte im Broken Shaker einen Mann kennengelernt, der ihr ziemlich sympathisch gewesen war. Er hieß Mark, und nach einigen Cocktails, ein paar Shots und viel Gelächter hatten sie Telefonnummern ausgetauscht.
Kurz bevor sie gegangen war, hatte Mark gefragt, ob er mit ihr nach Hause kommen solle. Ein verlockendes Angebot. Sie hatte seit einem halben Jahr keinen Sex mehr gehabt – seit sie herausgefunden hatte, dass ihr Freund, mit dem sie zwei Jahre lang zusammen gewesen war, sie mit einer Kollegin betrog. Aber trotz ihres Alkoholpegels und des unleugbaren Knisterns zwischen ihr und Mark hatte sie abgelehnt. Sie wollte nicht zu bedürftig erscheinen, denn wie sie immer zu sagen pflegte: Sie spielte dieses Spiel nicht zum ersten Mal. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es keinen guten Eindruck bei einem Mann hinterließ, wenn man gleich am ersten Abend mit ihm ins Bett ging.
»Vielleicht beim nächsten Mal«, hatte sie gesagt und Mark zum Abschied ihr schönstes Lächeln geschenkt.
Insgeheim hatte sie gehofft, er würde ihr noch eine Nachricht schreiben, ehe sie ins Bett ging. Nichts Außergewöhnliches, einfach nur Ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen oder War schön, dich heute Abend kennengelernt zu haben. Irgendetwas, das ihr verriet, dass er an sie dachte. Er war ihr nicht wie einer dieser Männer vorgekommen, die immer mindestens drei Tage warteten, ehe sie sich bei einer Frau meldeten.
Zwei Uhr dreißig.
Keine Nachrichten, keine verpassten Anrufe.
»Du machst dir zu viele Gedanken, Mel«, sagte sie zu sich selbst. »Du bist keine Anfängerin mehr, schon vergessen? Bestimmt schreibt er dir morgen.«
Sie legte das Telefon weg, schaltete das Licht aus und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfkissen, doch als sie gerade einschlafen wollte, hörte sie ein Summen, gefolgt von dem Signalton, der den Eingang einer neuen Nachricht ankündigte. Sie blinzelte kurz, dann griff sie mit einem glücklichen Lächeln nach ihrem Smartphone.
Hattest du Spaß auf der Party?
Melissas Lächeln wurde breiter.
Und wie, schrieb sie zurück. Sie gehörte zu den Menschen, die blitzschnell mit beiden Daumen tippen konnten. Du auch?
Ich war gar nicht dort.
Stirnrunzelnd las Melissa die Antwort. Weil sie so betrunken war und mit einer Nachricht von Mark gerechnet hatte, war sie gar nicht auf die Idee gekommen, nach dem Absender zu schauen.
Unbekannt.
Ihr Lächeln verflog.
Wer ist denn da?, tippte sie. Mein Handy erkennt die Nummer nicht.
Etwa fünfzehn Sekunden vergingen, bis eine Antwort kam.
Oh, das kann es auch nicht. Ich stehe definitiv nicht in deiner Kontaktliste.
Melissa setzte sich im Bett auf und schaltete die Nachttischlampe ein.
Wer bist du denn dann?, tippte sie. Und woher hast du meine Nr, wenn du nicht in meinen Kontakten bist?
Wer ich bin? … Nun ja … für dich bin ich ein Mentor, Melissa. Eine Art Lehrer, wenn man so will.
Melissa legte die Stirn in Falten. Was sollte sie denn damit anfangen?
Ein Mentor?, schrieb sie.
Ganz genau. Ich lehre. Ich unterweise. All das hier ist Teil einer großen Lektion, Melissa.
In dem Moment fiel bei ihr der Groschen. Mark hatte ihr gesagt, dass er Lehrer an einer Highschool war. Wenn sie sich recht erinnerte, unterrichtete er Mathe.
»Okay, jetzt verstehe ich«, sagte sie laut und nickte. Bestimmt hatte er die Rufnummernunterdrückung aktiviert, damit ihr Telefon seine Nummer nicht anzeigte, und diese Nachrichten sollten charmant oder witzig oder mysteriös sein oder was auch immer. Vermutlich war er genauso betrunken wie sie.
Irgendwie süß, dachte sie. Ich hoffe nur, er macht das nicht bloß, weil er mich gleich fragen will, ob ich ihm ein paar Nacktbilder schicke.
Obwohl sie müde war, beschloss Melissa, sich auf das Spiel einzulassen – wenigstens für den Moment. Mal sehen, wohin es führen würde.
Eine Lektion, aha, schrieb sie. Du willst mir also was beibringen, ja? Was denn?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Bei der ersten Lektion, Melissa, geht es um Angst.
Melissa kniff die Augen zusammen.
»Angst?«, wiederholte sie laut.
War das ein Fehler der Autokorrektur? Hatte er eigentlich etwas anderes schreiben wollen?
Kurz darauf folgte eine zweite Nachricht.
Und dann lehre ich dich, was Schmerz bedeutet …
Wieder runzelte Melissa die Stirn.
Dann kam eine dritte.
Und sobald du verstanden hast, was diese zwei Worte wirklich bedeuten, Melissa, lernst du von mir etwas über den Tod.
Halb erschrocken, halb angewidert riss Melissa die Augen auf. Wenn das wirklich Mark war, hatte er einen ziemlich beschissenen Sinn für Humor.
Was soll der Mist?, schrieb sie zurück. Mark, bist du das? Das ist überhaupt nicht komisch, sondern echt unheimlich. Weißt du, wie spät es ist? Du bist betrunken, geh ins Bett.
Mark? Wer ist Mark? Der Typ, den du gerade vögelst?
»Was?«, keuchte Melissa, und ihr Kopf zuckte leicht zurück.
Nein, das konnte nicht Mark sein. In der Bar war er so nett, höflich, intelligent und humorvoll gewesen. Diese Nachrichten klangen kein bisschen nach ihm, ob er nun betrunken war oder nicht.
Ihr reichte es.
Hör mal zu, tippte sie. Wer auch immer du bist, so was geht gar nicht. Ich blockiere jetzt deine Nr.
Warte noch …, kam im nächsten Moment die Antwort.
Melissa zögerte.
Es gibt da etwas, was du unbedingt wissen solltest.
Sie starrte auf das Display ihres Telefons wie eine Mutter, die darauf wartet, dass ihr Kind sich für etwas entschuldigt.
Bist du noch da?
Ja, ich warte. Was sollte ich unbedingt wissen?
Statt aus Worten bestand die nächste Nachricht lediglich aus vier Emojis. Das erste war ein Mond, dann kam ein Auto, eine Tür, und das letzte war ein Haus.
Melissa schüttelte den Kopf und zuckte verständnislos mit den Schultern.
»Was zum Geier soll das bedeuten?«, brummelte und tippte sie gleichzeitig.
Das bedeutet, Melissa, dass du, nachdem du vor etwa einer halben Stunde von deiner kleinen Soiree zurückkamst und aus dem Taxi gestolpert bist, vergessen hast, die Haustür abzuschließen.
Während sie diese Worte las, spürte Melissa ein Kribbeln der Angst im Nacken. Instinktiv schaute sie zur Schlafzimmertür.
Erlaubt sich hier jemand einen Scherz mit mir?, fragte der rationale Teil ihres Verstandes.
Vielleicht.
Aber falls dem so war, warf dies zwei weitere, weitaus beunruhigendere Fragen auf:
Wer aus ihrem Bekanntenkreis wäre zu so einem geschmacklosen Scherz fähig?
»Keiner«, murmelte sie.
Und was noch besorgniserregender war: Woher wusste der Absender der Nachrichten, dass sie vor ungefähr einer halben Stunde nach Hause gekommen war? Die Zeitangabe war zu präzise, als dass es sich um eine bloße Vermutung handeln konnte.
War es die Taxifahrerin?
»Nein.« Melissa verwarf den Gedanken gleich wieder. »Ausgeschlossen.«
Sie zögerte, jedoch nicht lange, da schon im nächsten Moment eine weitere Nachricht einging.
Aber das macht nichts, Melissa. Ich war so freundlich, sie für dich abzuschließen.
Melissa hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Antworten? Die Nummer blockieren? Nachschauen, ob die Haustür verschlossen war? Sollte sie die Polizei verständigen? Oder jemand anders? Was?
Ding, ding, machte ihr Smartphone, als die nächste Nachricht kam.
Hier, sieh mal.
Diesmal hing an der Nachricht ein acht Sekunden langer Videoclip.
Melissa zauderte einen Sekundenbruchteil, ehe ihre Neugier die Oberhand gewann und sie das Video antippte. Zu Beginn sah man ihren Hausschlüssel, der innen im Schlüsselloch der Haustür steckte. Eine Sekunde später erschien eine behandschuhte Hand im Bild, die nach dem Schlüssel griff und ihn im Schloss herumdrehte, ehe sie ihn abzog.
»Was soll der Scheiß?«, murmelte Melissa halblaut – doch das Video war noch nicht zu Ende. Als der Schlüssel aus dem Schloss gezogen wurde, schwenkte die Kamera nach rechts in ihre Küche und zu der Digitaluhr, die neben der Obstschale auf dem Tresen stand. Sie zeigte 2:24 Uhr an.
Automatisch schaute Melissa auf die Zeitanzeige oben rechts am Display ihres Handys – 2:38 Uhr.
Vor vierzehn Minuten. Sie hatte unter der Dusche gestanden, als das Video aufgenommen worden war.
Kurz vor Ende des Clips hörte sie jemanden etwas flüstern, allerdings war es so leise, dass sie es nicht verstehen konnte. Sie spulte das Video ein paar Sekunden zurück, erhöhte die Lautstärke und hielt sich das Telefon ganz dicht ans Ohr.
Doch sie bekam nicht mehr mit, was gesagt wurde.
Als sie das Handy hochhob, neigte sie gleichzeitig den Kopf leicht zur Seite – in Richtung der Schlafzimmertür, die sie immer angelehnt ließ.
In dem Moment erkannte sie, dass sie nicht allein im Haus war.
Aus der Dunkelheit des Flurs, unmittelbar hinter ihrer Schlafzimmertür, blickte ihr ein lächelndes Gesicht entgegen.
»Hallo«, sagte die große Frau mit dunklem Teint, als sie dem Neuankömmling die Tür öffnete. »Du musst Robert sein.«
Detective Robert Hunter von der Ultra Violent Crimes Unit des LAPD ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Stattdessen lächelte er höflich und nickte.
»Stimmt, der bin ich.«
Die Frau hatte pechschwarze Haare, die ihr bis weit über die Schultern reichten und wundervoll zu ihren intensiv goldbraunen Augen passten. Ihre zarten, fast jugendlichen Gesichtszüge wurden durch zwei Grübchen akzentuiert, die jedes Mal sichtbar wurden, wenn sie sprach.
»Ich bin Denise«, sagte sie, erwiderte sein Lächeln und reichte ihm ihre perfekt manikürte Hand. Ihre Fingernägel, genau wie ihre Lippen, glänzten in einem satten Karminrot. »Ich bin eine gute Freundin von Anna.«
»Freut mich sehr«, sagte Hunter und schüttelte ihr die Hand.
Denise trug weiße Sneaker und ein weißes T-Shirt zu ausgeblichenen Jeans, in denen oberhalb des linken Knies ein Riss klaffte. Ihre silberne Halskette hatte ein kleines, aber sehr detailreich gearbeitetes anatomisches Herz als Anhänger.
»Da bist du ja«, rief Detective Carlos Garcia, Hunters Partner in der UV-Einheit, als er hinter Denise auftauchte. Er hatte sich eine dunkle Schürze umgebunden, auf deren Brust in großen weißen Buchstaben »Küss den Koch« geschrieben stand.
»Ich verzichte dankend«, sagte Hunter und deutete auf die Schrift.
Garcia lachte. »Ein Geschenk von Anna«, erklärte er. »Als hättest du dir das nicht denken können.«
»Soll ich dir das vielleicht abnehmen?«, fragte Denise und griff nach der Einkaufstüte, die Hunter mitgebracht hatte. Die Grübchen in ihren Wangen zeigten sich kurz, als sie lächelte.
»Gern.« Er reichte ihr die Tüte. »Danke schön.«
»Komm rein, Mann«, sagte Garcia und bedeutete Hunter mit dem Grillspatel in seiner rechten Hand, ihm zu folgen.
»Ich bringe die Sachen in die Küche«, verkündete Denise, ehe sie verschwand.
»Ausgezeichnetes Timing«, meinte Garcia, als Hunter den kleinen Eingangsflur des Hauses betrat und die Tür hinter sich schloss. »Die erste Ladung Picanha ist fertig. Anna schneidet es gerade.«
Picanha war ein in Brasilien sehr beliebtes Stück vom Rind. Aufgrund seiner nahezu perfekten Marmorierung und Zartheit galt es als ideales Grillfleisch. Hunter hatte noch nie davon gehört, bis Garcia ihn vor einigen Jahren zum ersten Mal zum Barbecue eingeladen hatte.
Garcia, der in Brasilien geboren, jedoch nach dem Scheitern der Ehe seiner Eltern mit zehn Jahren in die USA umgezogen war, hatte die Affinität zum Grillen von seinem Vater geerbt. Er war ein wahrer Meister am Rost.
»Die anderen sind alle draußen«, teilte Garcia seinem Partner mit einer Kopfbewegung mit. »Geh ruhig schon mal vor, ich muss noch was aus der Küche holen. Wir sehen uns dann gleich.«
Hunter war nicht direkt schüchtern, aber er war auch kein besonders extrovertierter Mensch, schon gar nicht, wenn es um gesellige Zusammenkünfte ging.
»Robert«, rief Anna, kaum dass er nach draußen in den Garten getreten war.
Garcia hatte unmittelbar nach dem Schulabschluss seine Freundin von der Highschool geheiratet. Anna war nicht nur eine unverbesserliche Optimistin, verständnisvoll und extrem gescheit, sondern auch der warmherzigste Mensch, den Garcia jemals getroffen hatte. Sie mochte vielleicht nicht im konventionellen Sinne schön sein, war aber nichtsdestotrotz eine faszinierende Persönlichkeit.
Mit einem strahlenden Lächeln trat sie auf Hunter zu und küsste ihn auf beide Wangen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren ein wenig zerzaust, weil sie sich kurz zuvor die Sonnenbrille aus den Haaren genommen und aufgesetzt hatte. Als Hunter in den Garten trat, hatte sie sie gerade wieder ins Haar geschoben.
»Du bist gekommen«, sagte sie.
Hunter runzelte die Stirn. »Komme ich nicht immer?«
Anna lachte. »Wenn wir grillen, schon.«
»Danke, dass ihr mich eingeladen habt.«
»Jederzeit gern, Robert, das weißt du doch. Komm, ich stelle dich den anderen Gästen vor, die du noch nicht kennst.«
Drei Personen saßen entspannt um einen runden Gartentisch herum, ein weiterer Gast stand neben dem beeindruckenden Backsteingrill, den Garcia selbst gebaut hatte.
»Das hier ist Martin.« Anna deutete auf einen großen, dünnen Mann, der ein paar Jahre älter aussah als die Frau neben ihm. »Und das ist seine Freundin Charlotte.«
»Freut mich.« Hunter gab beiden die Hand. »Ich bin Robert.«
»An Paulo erinnerst du dich noch, oder?« Anna meinte den Mann, der am Grill die Würstchen wendete. »Ihr habt euch beim letzten Mal kennengelernt.«
»Na klar«, sagte Paulo, der Hunter mit einem Nicken und einem breiten Lächeln grüßte. »Hey, wie geht’s?«
»Ganz gut, und selbst?«
»Mir geht’s fantastisch«, sagte Paulo, dessen brasilianischer Akzent immer noch deutlich zu hören war. »Du musst unbedingt diese Würstchen probieren. Argentinische Chorizo. Die sind so gut, davon kriegt man Gänsehaut.«
»Und Denise hast du ja eben schon kennengelernt.« Anna wies mit einer Kopfbewegung auf ihre alte Freundin, die links neben Charlotte Platz genommen hatte.
»Ja, in der Tat.«
Wieder lächelte Denise ihn an, aber diesmal gesellte sich noch ein diskretes Augenzwinkern dazu.
»Für den Anfang gebe ich dir erst mal einen Teller mit Picanha«, sagte Anna und bot ihm einen freien Stuhl an. »Getränke sind in der Küche.«
»Tausend Dank, Anna.« Hunter wandte sich an den Rest der Gruppe. »Kann ich sonst noch jemandem was zu trinken mitbringen?«
»Wir haben noch, danke«, sagte Martin und deutete auf zwei Bierdosen, die vor Charlotte und ihm auf dem Tisch standen.
»Ich bin auch versorgt, danke«, sagte Paulo, der sich mit einem Teller voller Chorizo wieder zu der Runde gesellte.
»Anna?«, fragte Hunter.
»Vielen Dank, Robert, aber Carlos ist drinnen und macht mir einen Caipirinha.«
»Ah, sehr gut.« Als Letztes wanderte sein Blick zu Denise.
»Ich nehme gerne was, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Natürlich nicht. Ist mir ein Vergnügen. Was kann ich dir bringen?«
»Einen Rotwein, bitte.« Sie reichte ihm ihr leeres Glas.
»Kommt sofort.« Er machte kehrt und verschwand im Haus.
Auf dem Tresen in der Küche standen drei Flaschen Rotwein sowie eine kleine Auswahl an Spirituosen bereit. Garcia hatte soeben einige Limetten für einen Krug Caipirinha ausgepresst.
»Magst du auch einen?«, fragte er, auf den Krug deutend. »Du weißt ja, wie gut meine Caipirinhas sind.«
»Und ob«, sagte Hunter, als er nach einem frischen Glas und einer Flasche argentinischem Malbec griff. »Vor allem weiß ich um ihre tödliche Wirkung. Vielleicht später. Ich glaube, ich fange erst mal mit Wein an.«
Garcia hielt inne und betrachtete seinen Partner mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich nehme mal an, das zweite Glas ist für … Denise?«
»Sonst wollte niemand was zu trinken.«
Garcia lächelte. »Sie ist nett, oder?«
»Wer? Denise?«
Garcia lachte leise und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Du weißt, dass dir so was überhaupt nicht steht, oder?«
»Was steht mir nicht?« Hunter hatte das zweite Glas Wein eingegossen.
Garcia zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. »Das, was du da gerade machst, Robert. Dich dumm stellen. Das ist nicht dein Stil, und du kannst es auch nicht gut, also lass es einfach bleiben.«
Mit einem Weinglas in jeder Hand drehte Hunter sich zu Garcia um.
»Sie ist übrigens Single«, setzte dieser hinzu.
»Wer?«
»Ach, hau bloß ab.« Garcia scheuchte ihn hinaus.
Draußen im Garten reichte Hunter Denise ihr Weinglas. »Ist Malbec in Ordnung?«
»Perfekt«, antwortete sie, ehe sie auf den freien Platz neben sich wies. »Setz dich doch.«
Kaum hatte Hunter Platz genommen, als Garcia mit einem Tablett nach draußen kam, auf dem der Krug mit frischem Caipirinha sowie mehrere Gläser standen.
»Macht euch bereit fürs Kopfkarussell«, sagte er und stellte den Krug auf den Tisch. »Der ist ziemlich stark geworden.«
Während Garcia einschenkte, klingelte Hunters Diensthandy in seiner hinteren Hosentasche. Er holte es heraus und warf einen Blick auf das Display.
Unbekannte Nummer.
»Entschuldigt mich kurz«, sagte er und sah, wie sich Annas Gesichtsausdruck veränderte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Garcia plötzlich sehr ernst.
Hunters einzige Antwort war eine unverbindliche Kopfbewegung, ehe er aufstand und sich einige Schritte von den anderen Gästen entfernte.
»Detective Hunter«, meldete er sich. »UV-Einheit.«
»Detective Hunter«, kam eine Männerstimme aus der Leitung. »Detective William Barnes hier, LAPD Southwest Division. Tut mir leid, dass ich Sie an Ihrem freien Sonntag behelligen muss.«
»Schon gut«, wiegelte Hunter ab. »Was kann ich denn für Sie tun, Detective Barnes?«
»Ehrlich gesagt, versuche ich nur, uns allen ein bisschen Zeit und Papierkram zu ersparen.«
Diese Antwort veranlasste Hunter zu einem Stirnrunzeln. »Wie ist das gemeint, Detective?«
»Vor ungefähr vierzig Minuten habe ich einen Anruf aus der Zentrale erhalten, weil in einem Haus in Leimert Park eine Leiche entdeckt worden war. Afroamerikanerin, neunundzwanzig Jahre alt. Mein Partner und ich sind vor etwa zwanzig Minuten dort eingetroffen. Draußen vor dem Haus standen zwei Streifenpolizisten. Kreidebleich. Beide hatten schon ihr Mittagessen, ihr Frühstück und wahrscheinlich auch das gestrige Abendessen von sich gegeben.« Eine kurze Pause. »Was ich damit sagen will, Detective Hunter … Wenn ich mir den Tatort so anschaue – was übrigens niemand länger als ein paar Sekunden lang durchhält –, würde ich sagen, dass es definitiv ein Fall für die UV-Einheit ist. Deshalb dachte ich mir, ich beschleunige die Sache ein bisschen und sage Ihnen auf dem kurzen Dienstweg Bescheid.«
Hunter seufzte, ehe er unmerklich den Kopf schüttelte. Er sah auf und suchte Garcias Blick, der immer noch bei seinen Gästen am Tisch stand.
»Worum geht es denn genau?«, fragte Hunter.
Detective Barnes lachte leise. »Ich glaube, das lässt sich mit Worten gar nicht richtig beschreiben, Detective. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, sonst glaubt man es nicht.«
»Wie lautet die Adresse?«
Im Gegensatz zu seinem Partner konnte Garcia nicht von den Lippen ablesen, doch das musste er auch nicht, um zu begreifen, dass der Grillabend für ihn und Hunter vorbei war.
»Detective Hunter«, sagte Barnes noch, nachdem er Hunter die Adresse des Tatorts genannt hatte. »Glauben Sie an den Teufel?«
»Wie bitte?« Hunter verzog verständnislos das Gesicht.
»Ich meine nur … Falls Sie nicht an den Teufel glauben, ändern Sie vielleicht Ihre Meinung, wenn Sie das hier sehen.«
Dank seiner Vielzahl unabhängiger Kunstgalerien, Musiklokale, Bars und sogar einem eigenen Freilichtmuseum war Leimert Park im Süden von Los Angeles bekannt als Zentrum für historische und zeitgenössische afroamerikanische Kultur. Mehrere mittlerweile international bekannte Sänger, Musiker und Künstler hatten ihre Karriere in einem der vielen kleinen Klubs oder Theater in Leimert Park begonnen.
Der Bezirk lag nur eine fünfundzwanzigminütige Autofahrt von Garcias Haus in West Hollywood entfernt. Hunter versuchte, seinen Partner dazu zu bewegen, auf der Party zu bleiben, schließlich war es ihr freier Tag, und Garcia hatte Gäste. Doch sein Partner hatte dieselbe kompromisslose Arbeitsauffassung wie er selbst, und sie beide wussten, wie wichtig es war, einen Tatort mit eigenen Augen gesehen zu haben, statt ihn nur anhand von Fotos und Protokollen zu studieren. Als Hunter ihm daher vorschlug, zu Hause bei Anna und den Gästen zu bleiben, war dessen Antwort lediglich ein kurzes »Als ob« gewesen.
Als Anna die entschuldigenden Mienen der beiden registrierte, schenkte sie ihnen ein aufmunterndes Lächeln. Für sie waren solche Situationen nichts Neues. »Na los, Jungs. Geht und macht die Welt ein bisschen sicherer«, sagte sie schicksalsergeben.
Nachdem Hunter und Garcia vom West Martin Luther King Boulevard nach links in die 4th Avenue abgebogen waren, ging es noch anderthalb Blocks weiter geradeaus, ehe sie voraus die Blaulichter der Streifenwagen erblickten. Garcia hielt unmittelbar hinter einem der drei Einsatzfahrzeuge des LAPD, die auf der rechten Straßenseite vor einem dunkelgrauen Haus parkten.
Das Grundstück war von einer etwa einen Meter hohen Ziegelmauer mit einem alten Holztor umgeben, das schon bessere Tage gesehen hatte. Die Mauer war keine Sicherheitsmaßnahme, sondern diente einzig und allein dekorativen Zwecken.
Als sie aus Garcias Honda Civic stiegen, fielen ihnen sofort die verkniffenen Mienen der drei uniformierten Polizisten auf, die in der Nähe des gelb-schwarzen Flatterbands standen, mit dem das Grundstück abgeriegelt worden war. Was auch immer sie im Innern des Hauses gesehen hatten, musste sie sehr mitgenommen haben.
Die Absperrung reichte bis auf die Straße und schloss auch ein Stück des Gehwegs vor dem Haus mit ein. Wie üblich hatten sich bereits zahlreiche Schaulustige vor Ort eingefunden. Jeder Einzelne von ihnen hatte sein Smartphone gezückt und hoffte darauf, etwas Spannenderes als gelbes Plastikband und herumstehende Polizisten einfangen zu können.
Mit ihren Dienstmarken am Gürtel bahnten Hunter und Garcia sich einen Weg durch die Menge. An der Absperrung wurden sie von einem der Polizisten mit einem Nicken begrüßt, ehe er das Flatterband anhob, damit sie darunter hindurchschlüpfen konnten. Kaum hatten sie dies getan, als ein großer, hagerer Mann im hellgrauen Anzug Kurs auf sie nahm. Zuvor hatte er an der Haustür gestanden und mit leerem Blick vor sich hin gestarrt, als stelle er seine gesamte Existenz infrage.
»Detective Hunter?«, fragte er mit einem forschenden Blick auf die beiden Neuankömmlinge. Seine Krawatte war gelockert, der oberste Kragenknopf geöffnet.
Hunter nickte.
Garcia schob die Sonnenbrille auf seiner Nase zurecht.
»Ich bin Detective Barnes«, sagte der Mann. »Wir haben telefoniert.«
Hunter stellte ihm Garcia vor, und die drei Männer gaben einander die Hand.
»Die Spurensicherung ist noch nicht da?«, erkundigte sich Garcia, der nirgendwo Fahrzeuge der Kriminaltechnik sehen konnte.
»Wie ich bereits am Telefon gesagt habe«, antwortete Barnes, »dieser Tatort ist wie gemacht für die UV-Einheit, und ich wollte niemandem auf die Zehen treten. Manche Detectives sind da ziemlich eigen. Außerdem wissen wir ja, dass die UV-Einheit viel schneller ein Team der Kriminaltechnik bekommt als die gewöhnliche Mordkommission. Deshalb habe ich Sie ja angerufen …« Er nickte in Hunters Richtung. »Das hier ist Ihre Show. Handhaben Sie die Sache, wie Sie wollen. Dass ich zum Tatort gerufen wurde, war ein Missverständnis. Ich habe bloß die Umgebung absperren lassen, um die Social-Media-Geier auf Abstand zu halten.« Er drehte sich zu der Menge jenseits der Absperrung um. »Heutzutage ist jeder ein Kameramann … jeder ist ein Reporter … und jeder ist ein Kritiker.« Er zuckte missbilligend mit den Schultern. »Diesen Stress kann keiner von uns brauchen.«
Hunter und Garcia nickten verständnisvoll, ehe Garcia sein Handy herausholte. Barnes hatte recht. Bei bestimmten Anliegen genoss die UV-Einheit innerhalb des LAPD höchste Priorität.
Rasch wählte er die Nummer der Kriminaltechnik.
»Das Opfer scheint eine gewisse Melissa Hawthorne zu sein«, fuhr Barnes fort. »Neunundzwanzig Jahre alt, wohnhaft an dieser Adresse. Lebte allein.«
»Sie scheint das Opfer zu sein?«, fragte Garcia.
Barnes verzog den Mund und legte den Kopf schief. »Ich halte mich sicherheitshalber bedeckt, weil es noch keinen offiziellen Befund gibt«, erklärte er. »Wenn Sie erst mal drin sind, werden Sie schon verstehen, was ich meine. Eine Identifikation durch Augenschein war selbst für ihre Schwester so gut wie unmöglich.« Er brach ab und berichtigte sich. »Ihre Stiefschwester, um genau zu sein. Sie hat die Leiche gefunden.«
Das wäre Hunters nächste Frage gewesen.
Barnes atmete aus, ehe er mit seinem kantigen Kinn in Richtung eines der Streifenwagen am Straßenrand deutete.
»Sie heißt Janet Lang. Sitzt gerade mit einer Kollegin in dem Einsatzfahrzeug da drüben. Wir mussten einen Notarzt rufen, der hat ihr was zur Beruhigung verabreicht. Hysterisch war gar kein Ausdruck.« Er schüttelte den Kopf, und eine tiefe Traurigkeit trat in seine Augen. »Wie schrecklich, wenn man seine eigene Schwester so zum letzten Mal sieht. Die Arme tut mir unfassbar leid. Sie ist erst sechsundzwanzig.«
Hunter drehte sich zu dem Streifenwagen um, auf den Barnes gedeutet hatte. Durchs Fenster konnte er eine junge schwarze Frau erkennen, die das Gesicht in den Händen vergraben hatte. Selbst aus der Entfernung sah er, dass sie zitterte. Neben ihr saß eine Polizistin und hatte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter gelegt.
»Der Officer an der Tür kann Ihnen Schuhüberzieher und Handschuhe geben«, sagte Barnes. »Nichts wurde angerührt. Der Tatort ist noch frisch.« Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor zwei am Nachmittag. »Ich muss langsam los. Kurz bevor Sie hier waren, kam ein Funkspruch über eine Schießerei in Baldwin Hills rein. So was entspricht eher meiner Besoldungsstufe.«
»Okay«, sagte Hunter. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Barnes machte einen Schritt in Richtung Straße, blieb jedoch noch einmal stehen und drehte sich zu den beiden Detectives um.
»Viel Glück bei den Ermittlungen«, sagte er in einem Tonfall, der deutlich machte, wie froh er war, für diesen Fall nicht zuständig zu sein. »Ich hoffe sehr, Sie schnappen den Kerl.«
Hunter und Garcia sahen zu, wie Detective Barnes unter dem Absperrband hindurchschlüpfte und sich in einen blauen Toyota Camry schwang, der auf der anderen Straßenseite parkte. Als er losgefahren war, wandten sie sich wieder dem Haus zu.
Es war ein kleines, eingeschossiges Gebäude mit einem ziegelgedeckten Walmdach und dunkelblau gestrichenen Fensterrahmen. Eine Veranda gab es nicht. Ein geschwungener Weg aus quadratischen Betonplatten führte vom Tor über eine gepflegte Rasenfläche bis zur Haustür. Eine Garage schien offenbar nicht zum Haus zu gehören.
Obschon die Tür fast zugezogen war und die Vorhänge vor den zwei großen Fenstern an der Frontseite geschlossen waren, sahen Hunter und Garcia auf Anhieb, dass im vorderen Zimmer Licht brannte. Mit der Dienstmarke in der Hand traten sie zu dem Officer, der an der Haustür Wache hielt und sie, genau wie Detective Barnes es gesagt hatte, mit Schuhüberziehern und Latexhandschuhen ausstattete.
Als Hunter die Hand nach der Türklinke ausstreckte, machte der Officer, ein kleiner, untersetzter Mann mit buschigem Schnauzbart und ebenso buschigen Koteletten, einen Schritt nach rechts, bekreuzigte sich hastig und murmelte etwas auf Spanisch.
Von der Haustür gelangte man direkt in das kleine Wohnzimmer des Hauses. Sie hatten gerade einen Schritt hinein gemacht, als sie wie angewurzelt stehen blieben. Dort war die Leiche, ein Stück zu ihrer Linken an der Stelle, wo das Wohnzimmer in den offenen Küchenbereich überging.
Garcia nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren groß wie Untertassen.
»Was zur Hölle?«
Hunter stand vollkommen still, während sich in seinem Hals ein schmerzhafter Kloß bildete.
»In all deinen Jahren bei der Polizei«, sagte Garcia, ohne den Blick von der toten Frau abzuwenden, »als Detective oder vorher, hast du da jemals so was wie das hier gesehen?«
Hunters Antwort war ein raues Flüstern.
»Nein.«
Melissa Hawthornes Wohnzimmer war relativ klein und bescheiden möbliert. Ein rotes Dreisitzer-Sofa und zwei nicht zueinanderpassende Sessel waren mit Blick auf einen mittelgroßen Flachbildfernseher ausgerichtet, der an der nördlichen Wand hing. Auf dem Fußboden lag ein abgewetzter langfloriger Teppich, die Mitte des Raumes wurde von einem Couchtisch mit Glasplatte eingenommen. Der Küchenbereich, der sich links von der Haustür befand, war klein, aber gut ausgestattet und verfügte unter anderem über eine recht neue Spülmaschine sowie einen Herd mit fünf Platten und doppeltem Backofen. An den Wänden im Wohnzimmer hingen farbenfrohe gerahmte Drucke in unterschiedlichen Größen, und zwei Vasen mit künstlichen Blumen spendeten Behaglichkeit, aber die Hauptattraktion waren ohne Zweifel die beiden massiven Holzbalken, die ein Stück unterhalb der Decke parallel zueinander von Ost nach West verliefen.
Dort hatte der Mörder die Leiche aufgehängt. Sie hing an dem Balken, der dem Küchenbereich am nächsten war.
Weder für Hunter noch für Garcia war dies der erste Tatort mit einer von der Decke hängenden Leiche, doch was ihnen einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte, war die Tatsache, dass diese Leiche nicht am Hals aufgehängt worden war.
Der Täter hatte ein Kletterseil oben über den Balken geführt, dessen eines Ende mehrmals um den massiven Griff der Ofentür gewickelt und mit einem dreifachen Knoten gesichert war. Am anderen Ende des Seils war ein großer Angelhaken aus Edelstahl befestigt, wie er etwa zum Haiangeln verwendet wurde. Dieser Haken ging mitten durch den Mund der Toten, als wäre sie ein Fisch an der Angel. Er hatte von unten ihr Kinn durchbohrt, dabei Haut und Muskelgewebe, Arterien und Nerven zerrissen und ragte weiter oben aus ihrem geöffneten Mund. Die Tote hing etwa sechzig Zentimeter über dem Boden.
Jetzt begriffen sie auch, weshalb Detective Barnes gesagt hatte, dass eine Identifikation durch Augenschein praktisch unmöglich gewesen sei.
Da das gesamte Körpergewicht der Frau auf ihrem Unterkiefer lastete, war ihr Kopf weit nach hinten überstreckt, sodass es so aussah, als würde sie die Zimmerdecke und das Kletterseil anstarren, das aus ihrem Mund zu kommen schien. Sie war eine zierlich gebaute, schlanke Frau, die bestimmt nicht mehr als fünfundfünfzig Kilo wog, aber selbst dieses relativ geringe Körpergewicht hatte ausgereicht, um ihr den Kiefer auszurenken. Man musste kein Mediziner sein, um zu erkennen, dass die Unterkiefergelenke sich vom Rest des Schädelskeletts gelöst hatten. Sehnen, Bänder und Muskeln hatten dem enormen Zuggewicht nicht standgehalten. Ihr Unterkiefer war auf höchst brutale Weise immer weiter nach vorne verschoben worden, bis ihr Kinn um etwa fünf Zentimeter über die Nase hinausragte.
Aus ihrem offenen Mund und der Eintrittswunde des Hakens war Blut über ihren Hals, ihren Oberkörper und ihre Beine gelaufen und hatte am Boden direkt unter ihren Füßen eine hässliche, klebrige Lache gebildet. Auch ihr Gesicht war fast vollständig mit Blut bedeckt.
Damit sie sich nicht wehren und nach dem Seil greifen konnte, hatte der Täter ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Hunter drehte sich der Magen um. Sie musste also noch am Leben gewesen sein, als der Mörder sie aufgehängt hatte.
Ein weiterer Hinweis darauf waren die Schwellungen an Gesicht und Hals. Es sah aus, als hätte ihr jemand einen kleinen Ballon in die Kehle gesteckt und dann aufgeblasen. Diese Schwellungen, gepaart mit dem Gewicht, das auf ihrem Kiefer lastete, hatten dazu geführt, dass sich Haut und Gewebe der unteren Gesichtshälfte dermaßen stark gedehnt hatten, dass sie irgendwann gerissen waren. Dies sah man vor allem in den Mundwinkeln.
»Warum tut ein Mensch einem anderen so etwas an?«, fragte Garcia, der endlich den Atem ausstieß, den er seit einer ganzen Weile angehalten hatte. »Das ist doch einfach nur krank.« Er schüttelte den Kopf, während er versuchte, etwas derart Sinnloses zu begreifen. »Das ist … das pure Böse.«
Hunter riss den Blick von der Leiche los und begann sich umzuschauen. Auch er seufzte traurig.
»Genau das ist das Problem, Carlos«, entgegnete er, ehe er einige Schritte nach links in den Küchenbereich machte.
Garcia ging in die andere Richtung. Obwohl er sich Mühe gab, den Rest des Raums zu inspizieren, fiel es ihm schwer, den Blick von der Toten abzuwenden.
»Das ist mehr als nur krank«, fuhr Hunter fort. »Mehr als nur böse. Wenn jemand sich die Zeit nimmt, einem anderen Menschen so etwas anzutun, dann muss dieser Akt eine ganz besondere Bedeutung für ihn haben.« Er hatte den Herd erreicht und begann das Kletterseil zu inspizieren, das um den Ofengriff gewickelt war. »Sie wurde aus einem bestimmten Grund auf diese Art und Weise ermordet, und dieser Grund … muss ein sehr spezieller gewesen sein. Ein sehr persönlicher.« Vom Herd ausgehend, ließ Hunter seinen Blick das Seil entlangwandern, bis er bei dem Haken im Mund des Opfers angekommen war. Der hatte ihren Kiefer durchstoßen und beim Austreten mehrere ihrer unteren Schneidezähne abgebrochen.
»Das alles hier«, sagte Hunter, »der Mord, die Inszenierung, die Requisiten – das alles ist wohldurchdacht, gut vorbereitet und mit höchster Präzision in die Tat umgesetzt worden. Sofern sie keine Kletterin und gleichzeitig passionierte Anglerin war, hatte sie die Tatwerkzeuge sicher nicht bei sich im Haus herumliegen, Carlos. Der Mörder wird sie wohl kaum in einer Schublade gefunden haben.«
Garcia ging bis zur anderen Seite des Wohnzimmers.
»Das heißt, er hat sie mitgebracht«, schlussfolgerte er.
Hunter nickte. Jedes einzelne Element des Tatorts hatte für den Täter eine ganz bestimmte Bedeutung.
Während sie auf das Team der Kriminaltechnik warteten, suchten Hunter und Garcia den Rest des Hauses nach Anzeichen eines Einbruchs ab. Ohne Ergebnis. Keins der Fenster war eingeschlagen, und es schien sich auch niemand an den Rahmen zu schaffen gemacht zu haben. Die Haustür sowie die Tür, die von der Küche nach hinten in den kleinen Garten führte, waren ebenfalls intakt.
In Melissa Hawthornes Schlafzimmer fanden sie ihre Handtasche auf dem Nachttisch. Sie enthielt ein Portemonnaie mit achtzehn Dollar in bar, einige Make-up-Produkte, ihren Führerschein, ein Päckchen Kaugummi, zwei Kreditkarten, eine Haarbürste sowie ein paar alte Kassenbons. Kein Handy. Sie suchten in jeder Schublade, tasteten sämtliche Kleidungsstücke im Schrank ab und schauten in jede Umhängetasche, die sie im Haus finden konnten – nirgends eine Spur von ihrem Telefon. Sie warfen einen Blick unter das Bett, unters Sofa, hoben sogar die Sofakissen hoch – nichts. Das fanden sowohl Hunter als auch Garcia bemerkenswert.
Sie waren gerade ins Wohnzimmer zurückgekehrt, als Dr. Slater, gefolgt von drei Mitarbeitern der Spurensicherung, zur Tür hereinkam. Alle trugen Overalls mit Kapuze. Als ihre Blicke auf die vom Deckenbalken hängende Leiche fielen, blieben sie abrupt stehen. Trotz langjähriger Berufserfahrung und der vielen grausamen Tatorte, mit denen sie es im Laufe der Jahre zu tun bekommen hatten, waren sie von dem Anblick sichtlich erschüttert.
»Mein Gott!«, murmelte der jüngste der Kriminaltechniker, ehe er langsam seinen Instrumentenkoffer auf den Boden stellte. »Hängt sie nur am Unterkiefer?«
»Ja«, sagte Hunter.
Dr. Slater wandte sich an den Fotografen im Team. »Schnell, fotografieren wir alles.«
»Ich lege sofort los«, antwortete der Mann, rückte seine Brille zurecht und umrundete die Blutlache auf dem Fußboden, bis er das Opfer von vorne betrachten konnte.
»Robert, Carlos.« Dr. Slater grüßte die beiden Detectives mit einem knappen Nicken. »Seit wann sind Sie hier?« Auch sie näherte sich der Leiche.
Dr. Susan Slater war eine der besten und erfahrensten Kriminaltechnikerinnen in ganz Kalifornien. In den vergangenen Jahren hatte sie mehr forensische Untersuchungen für die UV-Einheit geleitet als jeder ihrer Kollegen.
Die anderen beiden Kriminaltechniker machten sich ohne Umschweife daran, zwei lichtstarke Scheinwerfer aufzustellen.
»Ungefähr vierzig Minuten«, antwortete Garcia. »Plus minus.«
»Nur das eine Opfer?«, fragte Slater. »Oder gibt es noch weitere?« Sie deutete mit einer vagen Handbewegung in den Rest des Hauses.
»Nein, nur dieses hier«, sagte Hunter und trat einige Schritte zurück, um den Kriminaltechnikern mehr Platz zum Arbeiten zu geben.
»Wurde sonst noch irgendwo Blut gefunden?« Dr. Slater legte den Kopf schief, um den Haken, der aus dem Mund des Opfers ragte, eingehender betrachten zu können. »Kampfspuren?«
»Nicht direkt«, sagte Garcia. »Das Bett ist nicht gemacht, aber auch nicht zerwühlt. Es sieht einfach so aus, als wäre es entweder morgens nicht gemacht worden oder als hätte die Frau bereits im Bett gelegen. Vielleicht hat sie ein Geräusch gehört und ist noch mal aufgestanden, um nachzusehen oder an die Tür zu gehen. Das ist alles. Ansonsten haben wir nichts Ungewöhnliches gefunden. Bis auf das hier.« Er deutete auf die hängende Leiche.
»Das ist … extrem grotesk«, sagte Dr. Slater, die nach wie vor den Angelhaken und den brutal ausgerenkten Unterkiefer des Opfers beäugte. Einen Moment später glitt ihr Blick langsam über den Rest der Leiche. »Die Arme.« Sie schüttelte den Kopf. »Allein an den Schwellungen in ihrem Gesicht und am Hals kann ich erkennen, dass sie noch gelebt hat, als der Haken durch ihren Kiefer gestochen wurde.« Sie machte eine Pause und sah die beiden Detectives an. »Aber das wussten Sie sicher schon?«
»Sonst hätte er ihr die Hände nicht hinter dem Rücken fesseln müssen«, sagte Garcia. »Er wollte, dass sie sich nicht wehren kann.«
Die Kriminaltechnikerin nickte.
»Licht steht«, verkündete einer ihrer Kollegen, nachdem sie die Scheinwerfer angeschlossen hatten. Er betätigte einen Schalter, und im nächsten Moment war der Raum in grellweißes Licht getaucht.
Vorsichtig ging Dr. Slater um die Leiche herum. »Wir können von Glück sagen, dass sie noch in einem Stück ist.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Garcia.
»Ihr Unterkiefer ist fast abgetrennt.« Sie deutete auf die entsprechenden Stellen, während sie erklärte. »Beide Kiefergelenke haben sich vollständig aus den Gelenkgruben gelöst, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn der Körper mit seinem ganzen Gewicht daran hängt. Die stark ausgeprägte Schwellung deutet darauf hin, dass am Hals und im unteren Bereich ihres Gesichts auch Bänder und Muskeln nachgegeben haben, und hier …«, sie zeigte auf die Stelle, wo der Unterkiefer des Opfers normalerweise mit dem restlichen Schädel verbunden war, »… kann man Anzeichen dafür erkennen, dass die Haut sowie ein Teil des Muskelgewebes gerissen sind.«
»Wenn sie acht oder zehn Kilo schwerer wäre«, sagte Hunter, der verstand, worauf Dr. Slater hinauswollte, »hätte ihr Kiefer das Gewicht vielleicht nicht so lange getragen.«
»Ganz genau«, sagte die Kriminaltechnikerin. »Aber selbst bei ihrem relativ niedrigen Körpergewicht hätte der Kiefer jederzeit nachgeben und die Frau herunterfallen können. Das wäre zweifellos noch grauenhafter gewesen.«
Garcia schüttelte sich bei der Vorstellung.
»Glauben Sie, das war ursprünglich das Ziel des Täters?«, fragte er, nur um gleich darauf in einer entschuldigenden Geste die Hände zu heben. Er wusste, dass Dr. Slater dazu keine Aussage treffen konnte. »Tut mir leid. Blöde Frage.«
»Wer weiß?«, antwortete sie nichtsdestotrotz. »Aber es würde mich nicht wundern. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass vermutlich die Leichenstarre dafür verantwortlich ist, dass sie noch dort hängt. Sie führt zu einer Versteifung von Muskelgewebe und Bänderapparat. Das hat den Widerstand vergrößert, wodurch ein vollständiges Ablösen des Unterkiefers verhindert wurde.« Mit Daumen und Zeigefinger drückte sie leicht den Bizeps der Toten. »Totenstarre ist voll ausgeprägt. Grobe Schätzung … Ich würde sagen, sie ist seit mindestens zehn Stunden tot. Sie wurde definitiv nicht gestern Abend getötet, eher in den frühen Morgenstunden.«
Garcia warf einen Blick auf die Uhr. »Ich sage den Kollegen draußen, sie sollen von Tür zu Tür gehen und die Nachbarn befragen«, teilte er Hunter mit. »Auch in den Parallelstraßen. Vielleicht hat jemand was Ungewöhnliches bemerkt – ein Fahrzeug, eine Person … entweder gestern Nacht oder sehr früh heute Morgen.«
Hunter nickte.
»Ich bin dann mit der Leiche so weit fertig«, verkündete der Fotograf. »Ich mache jetzt mit den anderen Details weiter.«
»Sehr gut«, erwiderte Dr. Slater. »Nehmen wir sie herunter.« Sie wandte sich an den größten Kriminaltechniker in ihrem Team. »Mike und ich halten sie fest. Shaun, Sie machen sie vom Seil los.«
Shaun nickte und ging um die Leiche herum.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Hunter.
»Nein, es geht schon.«
Hunter und Garcia machten Platz, während Dr. Slater und Mike die Leiche hochhoben, um ihren Kiefer zu entlasten. Gleichzeitig langte Shaun nach oben zum Haken.
»Vorsicht, Shaun«, warnte Dr. Slater. »Der Haken hat ihr bestimmt an mehreren Stellen den Kiefer gebrochen. Kann gut sein, dass der Knochen splittert.«
Shaun ging so behutsam wie möglich vor. Trotzdem brauchte er etwa anderthalb Minuten, ehe er Melissa Hawthorne endlich vom Haken befreit hatte. Als der sich aus ihrem Kiefer löste, fiel ein etwa sieben mal sieben Zentimeter großes Stück Fleisch in die Lache am Boden, sodass Blut in alle Richtungen spritzte.
»Mist«, sagte Garcia und zuckte zusammen.
»Das muss eingetütet werden.« Dr. Slater deutete mit einer Kopfbewegung nach unten. »Das ist ihre Zunge.«
Hunter und Garcia blieben bei der Spurensicherung, bis diese mit dem Tatort und dem Rest des Hauses fertig war. Statt danach zur Grillparty zurückzukehren, trat Hunter nach draußen, um mit Melissa Hawthornes Stiefschwester Janet Lang zu sprechen, während Garcia die Streifenpolizisten bei der Befragung der Nachbarschaft unterstützte.
Die Kriminaltechniker hatten im Haus Fingerabdrücke von zwei Personen sichergestellt. Die einen waren überall verteilt und ganz offensichtlich von dem Opfer selbst, was sich durch einen schnellen Abgleich vor Ort bestätigte. Die anderen beschränkten sich hauptsächlich auf den Wohn- und Essbereich, und obschon eine endgültige Analyse noch ausstand, war davon auszugehen, dass sie von der jüngeren Schwester des Opfers hinterlassen worden waren, die die Leiche gefunden hatte.
Außerdem waren auf dem Fußboden im Schlafzimmer sowie auf dem Bett auch noch verschiedene Haare und Fasern gefunden worden, doch darüber hinaus und abgesehen von den Gegenständen, die der Täter verwendet hatte, um das Opfer in der Küche aufzuhängen, gab es keine nennenswerten Spuren.
Die Kriminaltechnik bestätigte außerdem, dass es weder an den Türen noch an einem der Fenster Hinweise auf gewaltsames Eindringen gab.
Die Zeugenbefragung war bislang ebenfalls ergebnislos verlaufen. Weder die unmittelbaren Nachbarn noch jemand anders aus der Straße hatte am Samstagabend oder Sonntag früh etwas Verdächtiges beobachtet. Die Bewohner des Nebenhauses sagten zudem aus, im fraglichen Zeitraum auch nichts Ungewöhnliches gehört zu haben – keine Schreie oder andere Geräusche, die auf eine gewalttätige Auseinandersetzung hingedeutet hätten.
»Das kann nicht seine erste Tat gewesen sein«, meinte Garcia, als er und Hunter zurück zu seinem Wagen gingen. »Dafür ist sie viel zu sauber … zu aufwendig … zu komplex.«
Hunter blieb stehen und blickte in den sternenübersäten Himmel hinauf. Insgeheim stimmte er seinem Partner zu. Es war eine allseits bekannte Tatsache, dass Serienmörder ihre Methodik im Laufe der Zeit immer weiter verfeinerten, weil sie an Selbstvertrauen gewannen. Ihre ersten Taten, ob es sich nun um Morde handelte oder nicht, waren meistens unsauber, impulsiv und schlecht geplant. Nur sehr, sehr selten traf man auf jemanden, der gleich beim ersten Mal ausgeklügelt und präzise vorging, und wenn, dann deutete dies fast immer auf ein extrem hohes Maß an emotionaler Kälte hin.
Der Mangel an Beweismitteln am Tatort – seien es Fingerabdrücke, DNA, Fuß- oder Einbruchsspuren – war keine große Überraschung. Es gab eine Fülle von Filmen und Serien, die sich mit forensischen Themen befassten, sodass man praktisch an einem einzigen Tag lernen konnte, wie man sich verhalten musste, um keine Spuren zu hinterlassen.
Im Moment gab es nichts, was darauf hindeutete, dass es sich um das Werk eines Serientäters handelte, und sowohl Hunter als auch Garcia hofften inständig, dass dies auch so blieb. Doch das änderte nichts daran, dass die Charakteristik des Tatorts einen Ersttäter praktisch ausschloss.
»Ich weiß«, sagte Hunter.
»Vielleicht sollten wir in der nationalen Datenbank nach Morden mit dem gleichen Tatmuster suchen …« Garcia überlegte kurz. »Oder nach solchen, die zumindest grobe Ähnlichkeiten mit unserem aufweisen.«
Hunter nickte zustimmend.
»Ich sage in der Recherche Bescheid, sie sollen gleich morgen früh anfangen.«
Um neun Uhr am nächsten Morgen hatte sich Dr. Carolyn Hove, die Leiterin des rechtsmedizinischen Instituts von Los Angeles County, bereits umgezogen und befand sich auf dem Weg zu Sektionssaal eins am Ende eines langen, hell erleuchteten Korridors im Untergeschoss des Hauptgebäudes.
Das rechtsmedizinische Institut in Los Angeles war eins der betriebsamsten in den gesamten USA, und obschon die dort angestellten Rechtsmediziner insgesamt zwischen zwanzig und vierzig Obduktionen pro Tag durchführten, waren sie fast immer mit der Arbeit im Rückstand, vor allem nach dem Wochenende.
Die meisten Leichen wurden bei ihrer Ankunft unten auf die Liste der anstehenden Obduktionen gesetzt, allerdings gab es einige Ausnahmen von dieser Regel. Fälle, die von den ermittelnden Detectives als »dringend« markiert waren, hatten für gewöhnlich Vorrang, wobei die endgültige Entscheidung darüber der leitenden Rechtsmedizinerin oblag. Eine weitere Ausnahme stellten Leichen dar, die zu Ermittlungen der UV-Einheit gehörten. Aufgrund des speziellen Charakters der UV-Fälle genossen sie sogar Priorität gegenüber den dringenden Fällen anderer Dezernate.
Daher war der Leichnam von Melissa Hawthorne bereits in den Sektionssaal eins gebracht und auf dem zweiten der beiden großen Edelstahltische in der Mitte des sterilen Raums bereitgelegt worden.
Die Tote lag auf dem Rücken, die Arme seitlich vom Körper. Sie war nicht zugedeckt. Durch die Leichenflecke, die nach dem Tod entstanden, wenn das Blut unter Einfluss der Schwerkraft nach unten sank, sahen ihre Beine wesentlich dunkler aus als der Rest des Körpers. Ihre Haut war wächsern und gummiartig, was darauf hindeutete, dass sie etwa vierundzwanzig Stunden nach Todeseintritt ins Leichenschauhaus gebracht und in der Zwischenzeit in einem Kühlfach gelagert worden war.
»Wow«, sagte Dr. Hove, als sie vor dem Sektionstisch stehen blieb. »Das ist … definitiv mal was anderes.«
Obwohl Melissas Hinterkopf flach auf der Oberfläche des Tisches auflag, waren die Verletzungen an Kiefer, Gesichtsmuskeln und Bänderapparat so massiv, dass ihr ausgerenktes Kinn nach unten Richtung Brust gefallen war.
»Wie kann so was überhaupt passieren?«, fragte Nathan Reese, einer der drei jungen Rechtsmediziner, die Dr. Hove für gewöhnlich assistierten, während sein Blick auf dem deformierten Gesicht der Toten ruhte. »Ich meine … hat ihr jemand den Mund aufgerissen, bis sie irgendwann daran gestorben ist?«
»Sie wurde am Unterkiefer aufgehängt«, erklärte Dr. Hove. Diese Information hatte sie dem Bericht entnommen, den sie bei sich hatte. »Der Täter hat einen Angelhaken verwendet.«
»O mein Gott!«
»Das trifft es.« Dr. Hove legte den Einlieferungsbericht weg und streifte sich Einmalhandschuhe über. »Ich nehme an, die Gelenke wurden schon gebeugt?«
Um sicherzustellen, dass die Totenstarre sich gelöst hatte, wurden die Gelenke bei neu eingelieferten Leichen routinemäßig gebeugt, sofern die Autopsie aus wie auch immer gearteten Gründen vorgezogen werden musste.
»Ja, wir können sofort loslegen, Doc.«
»Okay, dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren.«
Nathan richtete das von der Decke hängende Mikrofon so aus, dass es sich direkt über dem Sektionstisch befand, und schaltete das digitale Aufnahmegerät ein.
Dr. Hove nannte zunächst Datum, Uhrzeit sowie die Fallnummer, ehe sie einige Minuten damit verbrachte, den Zustand der Leiche zu beschreiben. Dann folgte eine ausführliche äußere Leichenschau, die mit dem Hals des Opfers begann.
Keine Strangulationsmarken.
Ein schnelles Abtasten ergab, dass weder Kehlkopf noch Luftröhre eingedrückt waren. Auch das Zungenbein wies keine Frakturen auf.
Mit Daumen und Zeigefinger schob Dr. Hove die Augenlider der Leiche auseinander. Sie setzte eine Vergrößerungsbrille mit einem kleinen Licht auf und untersuchte sorgsam die Augäpfel. Wie zu erwarten, war die Hornhaut milchig eingetrübt, doch die Medizinerin hielt nach etwas anderem Ausschau – nach sogenannten Petechien, winzigen roten Pünktchen, die auf den Augäpfeln und an den Innenseiten der Lider mancher Mordopfer zu finden waren. Diese winzigen Einblutungen konnten aus verschiedensten Gründen an unterschiedlichen Stellen des Körpers auftreten. In den Augen waren sie in aller Regel ein Hinweis auf eine Blockade der Atemwege wie bei einem Tod durch Ersticken oder Strangulation.
Die Augen und Lider der Leiche wiesen zahlreiche Petechien auf.
»Tod durch Sauerstoffmangel«, sagte Dr. Hove ins Mikrofon. »Allerdings nicht von einer Strangulation herrührend.«
»Die arme Frau«, meinte Nathan kopfschüttelnd. »Niemand hat es verdient, so zu sterben.«
Dr. Hove warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Ich weiß«, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. »Keine Angst, Doc, ich werde schon nicht emotional. Ich habe lediglich angemerkt, dass kein menschliches Wesen es verdient hat, auf diese Weise abzutreten, das ist alles.«
Der Rest der äußeren Leichenschau dauerte noch etwa fünf Minuten und hielt keine weiteren Überraschungen bereit.
Als Nächstes musste Dr. Hove sämtliche Körperöffnungen der Leiche auf Anzeichen von Gewalt hin untersuchen. Sie begann mit der Vagina.
Die Haut um die Vulva, einschließlich der Schenkel, wies keinerlei Hämatome, Abschürfungen oder sonstige Verletzungen auf, die Anlass zur Sorge gegeben hätten. Im nächsten Schritt wollte Dr. Hove die Innenwände der Geschlechtsorgane untersuchen, doch so weit kam sie gar nicht.
Als sie mit Daumen und Zeigefinger die äußeren Schamlippen auseinanderhielt, stutzte sie und kniff die Augen zusammen.
»Moment mal«, murmelte sie und neigte den Kopf zur Seite, um besser sehen zu können.
»Stimmt was nicht?«, fragte Nathan, der um den Sektionstisch herum auf ihre Seite kam.
»Schwer zu sagen. Würden Sie mir bitte eine Fixierpinzette reichen?«
»Brauchen Sie auch das Spekulum?«, fragte Nathan, ehe er Dr. Hove die medizinische Pinzette reichte.
»Vielleicht gleich.« Vorsichtig führte Dr. Hove die Spitze der Pinzette in die Scheidenöffnung der Leiche ein. »Es sieht so aus, als befände sich ein Fremdkörper in der Vagina«, sagte sie ins Mikrofon.
Nathan beugte sich vor, um Dr. Hove über die rechte Schulter schauen zu können. Im nächsten Moment war ein Klicken zu hören, als die Pinzette einrastete.
»Ich hab’s«, sagte Dr. Hove, ehe sie das Objekt langsam herauszog.
Zwischen den Spitzen des chirurgischen Instruments klemmte ein etwa fünf Zentimeter großer, durchsichtiger Plastikbeutel mit Druckverschluss. Man konnte deutlich erkennen, dass sich etwas darin befand.
»Sind das Drogen?«, fragte Nathan.
Dr. Hove richtete sich auf und hielt die Pinzette ins Licht.
»Ich bin mir nicht sicher.«
Für das digitale Protokoll erklärte sie noch einmal ausführlich, was sie im Körper der Leiche gefunden und entfernt hatte.
Nathan neigte nachdenklich den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite und versuchte, sich einen Reim auf den Fund zu machen.
Dr. Hove bewegte die Pinzette mit dem Beutel leicht hin und her.
»Sieht nach einem zusammengefalteten Stück Papier aus.«
»Vielleicht ein Umschlag?«, meinte Nathan.
»Ich glaube nicht.« Dr. Hove schüttelte den Kopf, nachdem sie den Inhalt des Beutels durch ihr Vergrößerungsglas betrachtet hatte. »Aber finden wir es heraus.«
Sie klappte ihre Vergrößerungsbrille herunter, ehe sie sich umdrehte und den kleinen Beutel auf den Edelstahltresen legte.
Rasch gesellte Nathan sich an ihre Seite.
Dr. Hove nahm eine zweite Pinzette vom Tablett mit den Instrumenten. Wenig später hatte sie den Verschluss des Beutels geöffnet und das gefaltete Stück Papier entnommen.
»Nach einem Drogenpäckchen sieht es nicht aus«, stellte Nathan fest.
Dr. Hove warf ihm einen Blick zu.
»Ich meine ja nur.« Er zuckte die Achseln.
»Es sieht mir überhaupt nicht nach einem Umschlag aus«, pflichtete sie ihm bei, ehe sie das Papier mithilfe der beiden Pinzetten auseinanderfaltete. Es war insgesamt dreimal gefaltet. Als sie den letzten Knick öffnete, stutzte sie.
»Was ist denn das?«, fragte Nathan. »Was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass wir so schnell wie möglich in der UV-Einheit anrufen sollten.«
Für Hunter begann der Montagmorgen mit einer Fahrt zu Melissa Hawthornes Haus. Er erreichte es noch vor Sonnenaufgang.
Obschon notwendig, sorgten die kriminaltechnischen Untersuchungen für so viel Trubel, Lärm und Licht, dass es praktisch unmöglich war, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie der Tatort ursprünglich ausgesehen hatte. Hunter wollte ihn noch einmal allein und ohne Ablenkung von außen besichtigen, bei ausgeschaltetem Licht und zu einer Zeit, zu der es so ruhig war, wie es in der Nacht von Samstag auf Sonntag gewesen sein musste.
Er glaubte nicht an Vorsehung, Omen und derlei Dinge. Er glaubte auch nicht daran, dass er, indem er noch einmal allein an den Tatort zurückkehrte, in irgendeiner Weise erspüren konnte, was sich in der Tatnacht ereignet hatte. Allerdings glaubte er – nein, er wusste –, dass es das Böse gab … das menschliche Böse, das jemanden dazu veranlassen konnte, einer jungen Frau auf die abscheulichste Weise das Leben zu nehmen, die Hunter sich nur vorstellen konnte.
Und manchmal hinterließ das Böse Spuren.
Er verbrachte fast zwei Stunden in Melissas Haus. Den Großteil dieser Zeit hielt er sich im Wohn-Küchenbereich auf. Die Blutlache war weggewischt worden, doch ein Fleck war geblieben und markierte die Stelle, an der die junge Frau brutal aus dem Leben gerissen worden war. Wie an jedem Tatort lag auch hier ein ganz spezieller Geruch in der Luft. Es war nicht der stechende Geruch von Verwesung. Als man Melissas Leiche gefunden hatte, war sie noch mehrere Tage von diesem Zustand entfernt gewesen. Nein, dieser Geruch war anders und unverwechselbar – süßlich, metallisch und scharf wie Desinfektionsmittel. Die Tatortreiniger hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet.
Hunter stellte sich genau an die Stelle, wo Melissas Leiche gehangen hatte, mit beiden Füßen in der Mitte der Blutlache. Er ließ die Arme hängen, reckte den Hals und legte den Kopf in den Nacken, so weit es ging. In dieser Position verharrte er einige Sekunden lang, ehe er den Unterkiefer nach vorne schob. Er spürte die Dehnung unter der Zunge und gleich darauf ein Engegefühl in der Kehle.
Er blieb noch eine Weile so stehen und versuchte, sich die schrecklichen Qualen vorzustellen, die Melissa Hawthorne gelitten haben musste … ihre Verzweiflung … ihre Schmerzen … ihre Panik … ihre Todesangst … als sie erkannt hatte, dass niemand kommen und sie retten würde. Sie hatte gewusst, sie würde sterben.
Auf einmal breitete sich auf seinen Armen eine Gänsehaut aus, und ein Gefühl der Beklemmung ergriff von ihm Besitz, als würde sich in seinem Magen ein Loch auftun.
Es war, als könnte er es spüren – das Böse. Seine unsichtbare Aura, die immer noch in der Luft hing und an den Wänden haftete. Ihm war, als wolle es ihn verhöhnen.
Er hielt es nicht einmal eine Minute lang in der Position aus, dann musste er aufhören.
Er trat aus der Blutlache und sah sich noch einmal in der Küche um.
Die Gänsehaut wollte nicht verschwinden.
Das dumpfe Gefühl in seinem Magen ebenso wenig.
Ja, der Tod und das Böse hatten dieses Haus für immer gezeichnet. Doch das war es nicht, was einen bitteren Nachgeschmack in Hunters Mund hinterließ. Es war die Tatsache, dass es bei einem solchen Ausmaß an Brutalität, ob die Tat nun einen persönlichen Aspekt hatte oder nicht, nur selten bei einer einzelnen Dosis blieb. Der Trieb, anderen Schmerzen zuzufügen und erneut zu töten, war in den meisten Fällen zu stark, um auf Dauer unterdrückt zu werden, das wusste er aus Erfahrung. Es war lediglich eine Frage der Zeit.
Das Büro der UV-Einheit lag im hinteren Teil der Etage des Raub- und Morddezernats im berühmten Police Administration Building im Zentrum von L. A. Als Hunter, eine halbe Stunde nachdem er von Melissa Hawthornes Haus aufgebrochen war, dort ankam, stand Garcia vor der Pinnwand, die er an die südliche Wand geschoben hatte. Er hatte soeben die letzten Tatortfotos aufgehängt, die ihnen die Kriminaltechnik geschickt hatte.
»Morgen«, sagte Hunter, ehe er die Jacke über die Lehne seines Stuhls hängte und seinen Computer einschaltete.
»Je länger ich mir die hier ansehe«, meinte Garcia, ohne den Blick von der Pinnwand abzuwenden, »desto weniger Sinn ergeben sie.«
Hunter gesellte sich nicht zu seinem Partner. Er setzte sich auch nicht an seinen Schreibtisch. Stattdessen betrachtete er schweigend die Fotos aus einiger Entfernung.
»Ja«, fuhr Garcia fort, »ich weiß, dass alle Morde im Grunde sinnlos sind – vor allem die, mit denen wir es zu tun bekommen. Aber ich meine gar nicht die Tat als solche oder das Motiv oder die Tatsache, dass dieses Ausmaß an Sadismus einen persönlichen Hintergrund haben muss. Ich rede von der Vorgehensweise.« Er schüttelte den Kopf, während sein Blick langsam von einem Bild zum nächsten wanderte. »Der Täter hat sie nicht erwürgt, er hat sie nicht zerstückelt, er hat sie nicht ausgeweidet, er hat nicht mal Teile von ihr gegessen. Nein, er hat sie allen Ernstes am Mund aufgehängt … wie einen Fisch … in ihrem eigenen Wohnzimmer. Sinnlos ist gar kein Ausdruck für so was.«
Ehe Hunter etwas erwidern konnte, öffnete Captain Barbara Blake, die Leiterin des Raub- und Morddezernats, die Tür zu ihrem Büro. Grußlos trat sie ein, durchquerte den Raum und blieb schließlich neben Garcia stehen. Dann betrachtete sie eingehend die Fotos, als versuche sie, sich einen Reim darauf zu machen.
»Was um alles in der Welt …«, murmelte sie halblaut.
»Guten Morgen, Captain«, sagte Garcia, der sie nur flüchtig ansah.