Der Knochenbrecher - Chris Carter - E-Book
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Der Knochenbrecher E-Book

Chris Carter

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Beschreibung

Wenn es Nacht wird in Los Angeles gibt es einen Mann, der keinen Schlaf findet. Von Albträumen geplagt, ist er auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Er ist ein kaltblütiger Killer. Nur einer kann ihn aufhalten: Robert Hunter – Polizist, Profiler, Held des LAPD. Er weiß, wo er suchen muss. Die Jagd hat längst begonnen. Schlaf schön, L.A.! Ein Lesevergnügen mit Gänsehaut-Effekt vom Meister des Psychothrills.

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Das Buch

Eine nicht identifizierte Frauenleiche wird in die Rechtsmedizin des Los Angeles County gebracht. Die Todesursache: unklar. Der Körper scheint unverletzt – bis auf die Vagina, die zugenäht worden ist. Was den Pathologen noch mehr schockiert: Bevor die Frau zugenäht wurde, hat der Täter ein Objekt in ihr platziert.

Detective Robert Hunter wird auf den Fall angesetzt. Seine Ermittlungen führen ihn in die Künstlerszene Hollywoods, in der Geld, Liebe, Besessenheit und Größenwahn regieren. Die Ermittlungen bekommen eine neue Richtung, als die attraktive Privatermittlerin Whitney Meyers auftaucht und Hunter auf eine Reihe vermisst gemeldeter Frauen aufmerksam macht, die, einem Informanten zufolge, angeblich von einem Psychopathen gefangengehalten werden …

Hunter jagt ein Monster, einen Täter, der gefährlicher ist, als ein Mensch es sich vorzustellen vermag, und in dessen Vergangenheit ein dunkles Geheimnis ruht – der Schlüssel zu diesem Fall.

Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang im Psychologenteam der Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Die beiden ersten Fälle mit Profiler Robert Hunter standen wochenlang auf der Bestsellerliste; Der Knochenbrecher ist der dritte Fall.

Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:Der Kruzifix-KillerDer Vollstrecker

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Mai 2012 © für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 © Chris Carter 2011, Published by Arrangement with Luiz Montoro Titel der englischen Originalausgabe:The Night Stalker (Simon & Schuster Inc.) Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic®, München Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0253-9

1

Dr. Jonathan Winston zog sich die Maske über Mund und Nase und warf einen Blick auf die Uhr des Sektionssaals Nummer 4 im Untergeschoss des Rechtsmedizinischen Instituts von Los Angeles. Es war achtzehn Uhr zwölf.

Vor ihm auf dem Stahltisch lag die Leiche einer nicht identifizierten Frau. Sie war Ende zwanzig bis Anfang dreißig, ihre schulterlangen schwarzen Haare klebten in nassen Strähnen am Tisch. Im Licht der OP-Lampe sah ihre bleiche Haut aus wie Gummi, beinahe als wäre sie nicht menschlich. Die Todesursache hatte am Fundort der Leiche nicht festgestellt werden können. Es gab kein Blut, keine Schuss- oder Stichverletzungen, keine Hämatome, keine Abschürfungen an Kopf oder Körper und keine Würgemale am Hals. Ihr Körper wies nicht eine einzige Verletzung auf – abgesehen davon, dass jemand ihr Mund und Vagina zugenäht hatte. Das dafür verwendete Garn war dick und steif, die Stiche waren unregelmäßig und ohne jede Sorgfalt ausgeführt.

»Sind wir dann so weit?«, wandte sich Dr. Winston an seinen jungen Sektionsassistenten Sean Hannay.

Dessen Blick war starr auf die zugenähten Lippen der Toten gerichtet. Aus irgendeinem Grund war er nervöser als sonst vor einer Obduktion.

»Sean, können wir anfangen?«

»Äh, ja, Doktor, tut mir leid.« Hannay sah zu Dr. Wins­ton auf und nickte. »Es ist alles vorbereitet.« Er nahm seinen Platz rechts vom Tisch ein, während Dr. Winston das digitale Diktiergerät einschaltete, das er neben sich auf den Tresen gestellt hatte.

Er nannte Datum und Uhrzeit, die Namen der Anwesenden sowie das Aktenzeichen des Falls. Gemessen und gewogen war die Tote bereits, also konnte direkt mit der äußeren Leichenschau begonnen werden. Bevor er zum Skalpell griff, untersuchte Dr. Winston die Leiche gründlich, wobei er insbesondere nach körperlichen Merkmalen Ausschau hielt, die eventuell bei der Identifikation hilfreich sein konn­ten. Als sein Blick zu den Stichen am Unterleib des Opfers wanderte, stutzte er plötzlich und kniff die Augen zusammen.

»Einen Moment mal«, murmelte er, trat näher an die Tote heran und schob ihr behutsam die Beine auseinander. »Sean, geben Sie mir bitte mal die Taschenlampe.« Ohne aufzuschauen, streckte er dem Sektionsassistenten die Hand hin. Ein Ausdruck der Besorgnis trat in sein Gesicht.

»Stimmt was nicht?«, wollte Hannay wissen, während er Dr. Winston eine kleine Taschenlampe reichte.

»Ich weiß noch nicht genau.« Winston richtete den Strahl der Lampe auf die Stelle an der Leiche, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Hannay trat von einem Fuß auf den anderen.

»Für die Naht wurde kein chirurgischer Faden verwendet«, sagte Dr. Winston ins Diktiergerät. »Die Stiche sind dilettantisch und ungleichmäßig ausgeführt.« Er ging noch ein Stück dichter heran. »Außerdem sind die Abstände zwischen den einzelnen Stichen sehr groß, und …« Er hielt inne und legte den Kopf schief. »… Das kann doch nicht sein.«

Hannay spürte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. »Was ist denn?« Er trat näher.

Dr. Winston holte tief Luft, bevor er langsam den Kopf hob. »Ich glaube, der Täter hat ihr etwas in den Unterleib eingeführt.«

»Was?«

Dr. Winston sah noch einige Sekunden lang aufmerksam in den Strahl der Taschenlampe, dann hatte er Gewissheit. »Irgendwas in ihrem Körper reflektiert das Licht.«

Hannay beugte sich vor und folgte dem Blick des Rechtsmediziners. Es dauerte eine Weile, dann sah auch er es. »Verdammt, Sie haben recht. Das Licht wird tatsächlich reflektiert. Aber wovon?«

»Ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall ist es groß genug, dass man es zwischen den Stichen hindurch sehen kann.«

Dr. Winston richtete sich auf und nahm einen kleinen metallenen Zeigestab vom Instrumententablett.

»Sean, halten Sie bitte das Licht für mich. So.« Er übergab dem jungen Assistenten die Taschenlampe und zeigte ihm, wohin er leuchten sollte. Dann beugte er sich vor und schob die Spitze des Stabs langsam zwischen zwei Stichen hindurch.

Hannay hielt die Taschenlampe ganz ruhig.

»Es ist irgendwas Metallisches«, verkündete Dr. Wins­ton, der den Zeigestab benutzte, um das Objekt vorsichtig abzutasten. »Aber ich kann immer noch nicht genau sagen, was. Geben Sie mir Fadenschere und Pinzette, wären Sie so gut?«

Es dauerte nicht lange, bis er die Naht vollständig geöffnet hatte. Nach jedem Stich, den er durchtrennt hatte, zog er mit Hilfe der Pinzette ein Stück dicken schwarzen Faden aus dem Gewebe des Opfers und legte es in eine kleine Asservatendose aus Plastik.

»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Hannay.

»Im Vaginalbereich sind Abschürfungen und Hämatome zu erkennen, die von einer gewaltsamen Penetration herrühren könnten«, lautete Dr. Winstons Antwort, »allerdings könnten sie genauso gut beim Einführen des Gegenstands entstanden sein. Ich nehme ein paar Abstriche und schicke sie zusammen mit dem Faden ins Labor.« Er legte Schere und Pinzette auf das Tablett mit den bereits benutzten Instrumenten. »Dann wollen wir mal sehen, was der Täter uns hinterlassen hat.«

Hannays Körper spannte sich unwillkürlich an, als Wins­tons rechte Hand im Unterleib des Opfers verschwand. »Ich hatte recht. Es ist nicht gerade klein.«

Mehrere unangenehme Sekunden verstrichen.

»Die Form ist auch merkwürdig«, fuhr er fort. »Eckig, und an einer Seite hat es eine kleine Ausbuchtung.« Endlich bekam er den Gegenstand zu fassen. Als er ihn herauszog, war ein leises Klicken zu hören.

Hannay trat einen Schritt vor, um einen Blick darauf zu werfen.

»Metall, relativ schwer, sieht selbstgebaut aus …«, stellte Dr. Winston fest, während er den Gegenstand in seiner Hand betrachtete. »Aber ich habe immer noch keine Ahnung, was …« Mitten im Satz brach er plötzlich ab. Er spürte das Herz in seiner Brust wie wild schlagen. Seine Augen weiteten sich. »O mein Gott …«

2

Detective Robert Hunter von der Abteilung für Mord und bewaffneten Raubüberfall des Los Angeles Police Department brauchte für die Fahrt vom Gericht in Hollywood bis zu der leerstehenden Fleischerei in East L. A. über zwei Stunden. Dass man ihn angepiept hatte, war schon mehr als vier Stunden her, aber das Verfahren, bei dem er als Zeuge geladen gewesen war, hatte sich länger als erwartet hingezogen.

Hunter war Teil einer handverlesenen Elite, wenngleich die meisten Polizisten in L. A. ihren rechten Arm dafür gegeben hätten, nicht dazuzugehören. Das Morddezernat I der Abteilung für Mord und bewaffneten Raubüberfall widmete sich ausschließlich Serienverbrechen, die stark im ­Fokus der Öffentlichkeit standen, sowie schweren Gewaltdelikten – Fällen also, deren Aufklärung spezielles Fachwissen und aufwendige Ermittlungen erforderte. Innerhalb des Dezernats kam Hunter eine ganz besondere Aufgabe zu: Da er einen Doktortitel in Kriminalpsychologie besaß, wurden ihm all jene Fälle anvertraut, in denen der Täter mit besonderer Brutalität vorgegangen war. Das Dezernat bezeichnete solche Fälle als UV – ultra violent.

Die Fleischerei war das letzte in einer Reihe verlassener Ladenlokale. Die Gegend machte einen vernachlässigten, heruntergekommenen Eindruck. Hunter parkte seinen ­alten Buick neben dem weißen Lieferwagen der Spurensi­cherung. Beim Aussteigen musterte er das Gebäude. Sämtliche Fenster waren mit massiven Eisenplatten verbarri­ka­diert, und die Fassade wies so viele Graffiti auf, dass sich unmöglich feststellen ließ, welche Farbe sie ursprünglich einmal gehabt hatte.

Er ging auf den Officer zu, der am Eingang Wache hielt, zeigte ihm seine Dienstmarke und duckte sich unter dem gelben Flatterband hindurch. Der Officer nickte ihm zu, je­doch ohne ihn anzusehen.

Hunter stieß die Tür auf und trat ein.

Der Geruch, der ihm entgegenschlug, warf ihn fast um. Hunter musste würgen. Es war eine Mischung aus fau­ligem Fleisch, schalem Schweiß, Erbrochenem und Urin, die in seine Nase stach und in seinen Augen brannte. Er blieb kurz stehen, um sich den Kragen seines Hemds als provi­sorischen Atemschutz über Mund und Nase zu ziehen.

»Die hier sind besser«, sagte Carlos Garcia, der aus dem hinteren Raum auftauchte und Hunter einen medizinischen Mundschutz hinhielt. Er selbst trug auch einen.

Garcia war groß und schlank, hatte knapp schulterlanges dunkles Haar und hellblaue Augen. Der einzige Makel in seinem jungenhaft attraktiven Gesicht war der kleine Höcker auf seiner Nase, die er sich vor einiger Zeit gebrochen hatte. Im Gegensatz zu anderen Detectives in der Abteilung hatte Garcia ganz bewusst und zielstrebig auf eine Aufnahme ins Morddezernat I hingearbeitet. Er war seit mittlerweile drei Jahren Hunters Partner.

»Da hinten wird der Gestank noch schlimmer.« Garcia deutete mit einem Nicken auf die Tür, durch die er gerade gekommen war. »Wie war der Prozess?«

»Lang«, sagte Hunter nur, während er sich die Maske umband. »Was haben wir?«

Garcia legte den Kopf schief. »Was ziemlich Unschönes. Das Opfer ist eine weiße Frau, vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Sie wurde auf dem Fleischertisch da hinten gefunden.« Erneut zeigte er auf den hinteren Raum.

»Todesursache?«

Garcia schüttelte den Kopf. »Da müssen wir die Autopsie abwarten. Auf den ersten Blick lässt sich nichts erkennen. Aber jetzt kommt der Abschuss: Ihr wurden Lippen und Vagina zugenäht.«

»Was?«

Garcia nickte. »Genau. Richtig krank. Ich habe so was jedenfalls noch nicht gesehen.«

Unwillkürlich ging Hunters Blick zur Tür.

»Die Leiche ist schon weg«, fuhr Garcia fort, bevor Hunter die nächste Frage stellen konnte. »Dr. Winston war heute als Leichenbeschauer eingeteilt. Eigentlich wollte er, dass du die Leiche noch am Fundort zu sehen bekommst, aber irgendwann konnte er nicht länger warten. Die Hitze da drin hat die Fäulnis beschleunigt.«

»Wann wurde sie weggebracht?« Automatisch sah Hunter auf die Uhr.

»Vor ungefähr zwei Stunden. Wie ich den Doc kenne, hat er direkt mit der Obduktion angefangen. Er weiß ja, wie sehr du es hasst, dabei zu sein, deshalb bestand kein Grund, zu warten. Wenn wir hier fertig sind, hat er bestimmt schon ein paar Ergebnisse für uns.«

Hunters Handy klingelte. Er fischte es aus seiner Hosentasche und zog sich den Mundschutz herunter, so dass er ihm lose um den Hals hing. »Detective Hunter.«

Er lauschte ein paar Sekunden. »Was?« Als er zu Garcia herumfuhr, war sein Gesichtsausdruck wie verwandelt.

3

Garcia legte die Strecke von East L. A. zum Rechtsmedizinischen Institut in der North Mission Road in Rekordzeit zurück.

Mit wachsender Verwirrung näherten sie sich der Zufahrt zum Parkplatz vor dem Institut. Sie wurde von vier Streifenwagen und zwei Löschzügen blockiert. Auf dem Parkplatz standen weitere Streifenwagen. Uniformierte Polizisten eilten hierhin und dorthin, riefen Kollegen Befehle zu oder bellten in ihre Funkgeräte.

Die Presse hatte sich am Ort des Geschehens zusammengerottet wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe. Ü-Wagen mehrerer Lokalsender und die Autos der Zeitungsjourna­listen parkten wild durcheinander. Reporter, Kameraleute und Fotografen versuchten alles, um möglichst nahe heranzukommen, doch das Hauptgebäude war bereits abgeriegelt, und das LAPD ließ niemanden durch.

»Was zum Teufel ist hier los?«, raunte Hunter, als Garcia vor der Parkplatzzufahrt hielt.

»Sie können hier nicht stehen bleiben, Sir«, sagte ein junger Officer, der ans Fahrerfenster getreten war und Garcia mit hektischen Bewegungen signalisierte, er solle weiterfahren. »Das ist nicht –«

Er verstummte, sobald er Garcias Marke sah. »Tut mir leid, Detective, ich mache Ihnen sofort den Weg frei.« Er drehte sich zu zwei Kollegen um, die neben ihren Wagen standen. »Los, Jungs, macht Platz.«

Weniger als dreißig Sekunden später stellte Garcia seinen Honda Civic unmittelbar vor der Treppe zum Eingang des Hauptgebäudes ab.

Hunter stieg aus und sah sich um. Am hinteren Ende des Parkplatzes stand eine kleine Gruppe Menschen dicht zusammengedrängt. Die meisten von ihnen trugen weiße Kittel: Mitarbeiter aus dem Labor und der Rechtsmedizin.

»Was ist denn hier passiert?«, wandte er sich an einen Feuerwehrmann, der gerade sein Funkgerät weggesteckt hatte.

»Das müssen Sie den Einsatzleiter fragen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es da drinnen gebrannt hat.« Er zeigte auf das ehemalige Krankenhausgebäude, in dem das Rechts­medizinische Institut untergebracht war.

Hunter zog die Brauen zusammen. »Gebrannt?«

Es kam vor, dass das Morddezernat I auch bei Brandstiftung ermittelte, allerdings wurden solche Fälle nur äußerst selten als ultra violent eingestuft. Hunter persönlich hatte noch nie in einem Fall von Brandstiftung ermittelt.

»Robert, hierher!«

Als Hunter sich umdrehte, sah er, wie Dr. Carolyn Hove die Stufen hinunter auf sie zukam. Sie war sechsundvierzig, sah aber normalerweise viel jünger aus. An diesem Tag allerdings nicht. Die sonst perfekt frisierten kastanienbraunen Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, ihre Stimmung war ernst und gedrückt. Im Rechtsmedizinischen Institut gab es keine offiziellen Dienstgrade, aber wenn es welche gegeben hätte, wäre Dr. Hove Dr. Winstons Stellvertreterin gewesen.

»Was um alles in der Welt ist denn hier passiert, Doc?«, wollte Hunter von ihr wissen.

»Ein absoluter Alptraum …«

4

Gemeinsam gingen sie die Stufen hoch und betraten das Hauptgebäude durch die große Doppeltür. Auch im ­Foyer standen Polizisten und Feuerwehrleute herum. Dr. Hove führte die beiden Detectives am Empfangstresen vorbei und über eine Treppe ins Untergeschoss. Obwohl zu hören war, dass die Abluftventilatoren auf höchster Stufe liefen, hing ein übelkeiterregender Gestank von Chemikalien und verbranntem Fleisch in der Luft. Sowohl Hunter als auch Garcia verzogen das Gesicht und hielten sich reflexartig die Hand vor die Nase.

Garcia spürte es in seinem Magen gurgeln.

Am Ende des Gangs, der zum Sektionssaal 4 führte, stand der Fußboden unter Wasser. Die Tür zum Sektionssaal war offen – es sah aus, als sei das Türblatt aus den Angeln gerissen worden.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr gab einem seiner Männer gerade Anweisungen, als er die drei näher kommen sah.

»Chief«, sagte Dr. Hove, »das hier sind Detective Robert Hunter und Detective Carlos Garcia von der Abteilung für Mord und bewaffneten Raubüberfall.«

Kein Händeschütteln, nur höfliches Nicken.

»Was ist hier passiert?«, fragte Hunter und reckte den Hals, um in den Sektionssaal sehen zu können. »Und wo ist Dr. Winston?«

Dr. Hove gab keine Antwort.

Der Einsatzleiter nahm seinen Helm ab und wischte sich mit der behandschuhten Hand über die Stirn. »Es gab eine Explosion.«

Hunter runzelte die Stirn. »Eine Explosion?«

»Ja. Wir haben den Raum gerade überprüft, es gibt keine versteckten Brandherde. Wie es aussieht, war das Feuer räumlich eng begrenzt. Die Sprinkleranlage hatte es schon gelöscht, als wir kamen. Im Augenblick wissen wir noch nicht, was die Explosion ausgelöst hat, dazu werden wir wohl den Bericht des Brandermittlers abwarten müssen.« Er wandte sich an Dr. Hove. »Man hat mir gesagt, dass dies hier der größte Sektionssaal ist und dass er außerdem noch als Labor benutzt wird, stimmt das?«

»Ja, das ist korrekt«, bestätigte sie.

»Werden dort irgendwelche reaktionsfreudigen Chemikalien aufbewahrt? Gasflaschen zum Beispiel?«

Dr. Hove schloss einen Moment lang die Augen und stieß die Luft aus. »Manchmal.«

Der Einsatzleiter nickte. »Vielleicht gab es ein Leck, aber wie gesagt, wir müssen den Bericht des Ermittlers ab­warten. Es ist ein solides Gebäude mit massivem Fundament. Da es sich um einen Kellerraum handelt, sind die Wände um einiges dicker als im restlichen Gebäude, das hat dazu beigetragen, die Explosion einzudämmen. Sie war stark genug, um innerhalb des Raums erheblichen Schaden anzurichten, aber nicht stark genug, um die Statik zu gefährden. Im Moment ist das alles, was ich Ihnen sagen kann.« Der Einsatzleiter zog sich die Handschuhe aus und rieb sich die Augen. »Es sieht übel aus da drinnen, Doktor. Sehr übel.« Er hielt inne, als wisse er nicht genau, was er noch sagen solle. »Es tut mir wirklich leid.« In seinen Worten schwang Trauer mit. Er nickte dem Rest der Gruppe schweigend zu, dann machte er sich auf den Weg zurück nach oben.

Sie standen eine Zeitlang schweigend vor dem Eingang des Raums, der früher einmal Sektionssaal 4 gewesen war, und betrachteten die Verwüstung. Tische, Tabletts, Schränke und Rollwagen lagen umgestürzt und verbogen herum. Alles war übersät mit Schutt, Haut- und Fleischfetzen. Ein Teil der Decke und der hinteren Wand war beschädigt und blutbespritzt.

»Wann ist das passiert?«, wollte Carlos wissen.

»Vor etwas über einer Stunde. Ich hatte eine Besprechung im anderen Gebäude. Es gab einen dumpfen Knall, und dann ist der Feueralarm losgegangen.«

Was Hunter zu denken gab, waren die Menge an Blut und die unverhältnismäßig große Anzahl schwarzer Planen, die an verschiedenen Stellen im Raum ausgebreitet waren, um Leichen oder Leichenteile abzudecken. Die Kühlzellen, in denen die Toten gelagert wurden, befanden sich auf der Raumseite, die am weitesten vom Explosionsherd entfernt gewesen war. Keine der Zellen schien beschädigt worden zu sein.

»Wie viele Leichen waren denn zur Zeit der Explosion draußen, Doc?«, fragte er zögerlich.

Dr. Hove wusste, dass Hunter bereits begriffen hatte. Sie hob die rechte Hand und streckte den Zeigefinger aus.

Hunter atmete aus. »Es war also gerade eine Autopsie im Gange?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage, und er spürte, wie ihm kalt wurde. »Dr. Winstons Autopsie?«

»Ach du Scheiße!« Garcia schlug sich die Hand vors Gesicht. »Nein.«

Dr. Hove wandte den Blick ab, aber nicht schnell genug, um die Tränen zu verbergen, die in ihren Augen glänz­ten.

Hunters Blick verweilte noch kurz auf ihr, bevor er sich wieder dem verwüsteten Raum zuwandte. Die Kehle wurde ihm trocken, und sein Herz krampfte sich vor Trauer zusammen. Hunter kannte Dr. Jonathan Winston seit mehr als fünfzehn Jahren. Solange er denken konnte, hatte Wins­ton das Rechtsmedizinische Institut von Los Angeles geleitet. Er war ein Arbeitstier und ein Meister seines Fachs, und er legte Wert darauf, sämtliche Leichen, bei denen die Todesumstände als ungewöhnlich gelten konnten, persönlich zu obduzieren. Aber vor allem war Dr. Winston für Hunter so etwas wie Familie. Ein echter Freund. Jemand, auf den er sich unzählige Male verlassen hatte. Jemand, den er achtete und bewunderte wie kaum einen Zweiten. Jemand, dessen Tod ein großes Loch in seinem Leben hinterlassen würde.

»Es waren zwei Leute anwesend.« Einen Moment lang versagte Dr. Hove die Stimme. »Dr. Winston und Sean Hannay, ein einundzwanzigjähriger Sektionsassistent.«

Hunter schloss die Augen. Er konnte nichts sagen.

»Ich habe Sie angerufen, sobald ich Bescheid wusste«, sagte Dr. Hove.

In Garcias Miene spiegelte sich fassungsloses Entsetzen. Er hatte im Laufe seiner Karriere schon viele Leichen ge­sehen, darunter einige, die von einem sadistischen Killer grausam zugerichtet worden waren. Aber noch nie hatte er eins der Opfer persönlich gekannt. Und obwohl er Dr. Wins­­ton erst drei Jahre zuvor kennengelernt hatte, waren sie in der kurzen Zeit gute Freunde geworden.

»Was ist mit dem Assistenten?«, fragte Hunter schließlich. Zum ersten Mal überhaupt hörte Garcia die Stimme seines Partners zittern.

Dr. Hove schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Sean Hannay war im dritten Jahr Pathologie an der UCLA. Er wollte Forensiker werden. Ich selbst habe vor sechs Monaten seinen Praktikumsantrag bewilligt.« Ihre Augen glänzten. »Er hätte eigentlich gar nicht hier sein sollen. Er ist nur eingesprungen.« Hove verstummte. Ihre nächsten Worte wählte sie sehr sorgfältig. »Ich hatte ihn darum gebeten. Eigentlich hätte ich Jonathan assistieren sollen.«

Hunter sah, dass die Hände der Ärztin zitterten.

»Es waren ungewöhnliche Todesumstände«, fuhr sie fort. »Bei solchen Fällen wollte Jonathan immer mich als Assistentin dabeihaben. Und ich hätte es auch gemacht, aber die Besprechung hat länger gedauert als erwartet, deswegen habe ich Sean gefragt, ob er für mich übernehmen kann.« Verzweiflung trat in ihre Augen. »Ich hätte heute hier sterben sollen, nicht er.«

5

Hunter wusste genau, was in Dr. Hove vorging. Unmittelbar nach der Explosion hatte ihr Selbsterhaltungstrieb die Kontrolle übernommen, und sie hatte vor allem Erleichterung empfunden: Sie war davongekommen. Doch jetzt meldete sich ihr Verstand zurück, und mit ihm kam das schlechte Gewissen, das sie auf die schlimmste nur denkbare Weise bestrafte. Wenn meine Besprechung nichtlänger gedauert hätte, wäre Sean Hannay jetzt noch am Leben.

»Nichts davon ist Ihre Schuld, Doc«, versuchte Hunter, sie zu trösten, obwohl er wusste, dass Worte nicht viel ausrichten würden. Bevor sie das Geschehene verarbeiten konnten, mussten sie erst einmal herausfinden, was überhaupt passiert war.

Hunter machte einen Schritt auf die Tür des Sektionssaals zu und versuchte, das, was er sah, zu begreifen. Im Augenblick ergab noch nichts einen Sinn. Dann blieb sein Blick plötzlich an etwas hängen, und er kniff kurz die Augen zusammen, bevor er sich zu Dr. Hove umdrehte.

»Werden die Obduktionen manchmal auf Video aufgezeichnet?«, fragte er und deutete auf etwas am Boden, das Ähnlichkeit mit dem Bein eines Kamerastativs hatte.

Dr. Hove schüttelte den Kopf. »Nur ganz selten, und die Anfrage muss entweder von mir oder…« Ihr Blick glitt an Hunter vorbei in den Raum hinein. »… dem Institutsleiter genehmigt werden.«

»Also von Dr. Winston.«

Ein kurzes, zögerliches Nicken.

»Halten Sie es für möglich, dass er diese Autopsie aufzeichnen wollte?«

Dr. Hove dachte einen Augenblick lang nach. Hoffnung glomm in ihren Augen auf. »Möglich wäre es. Wenn er den Fall ungewöhnlich genug fand.«

»Aber selbst wenn«, mischte sich Garcia ins Gespräch, »inwiefern würde uns das weiterhelfen? Die Kamera muss doch in tausend Stücke zerrissen worden sein wie alles andere hier. Sieh dich doch mal um.«

»Nicht notwendigerweise«, sagte Dr. Hove langsam.

Alle Augen ruhten auf ihr.

»Wissen Sie was, was wir nicht wissen?«, fragte Hunter.

»Sektionssaal4 wird manchmal auch für Seminare benutzt«, erklärte die Rechtsmedizinerin. »Es ist der einzige Sektionssaal, der mit einem digitalen Videoanschluss ausgestattet ist. Der wiederum ist direkt mit unserem Hauptrechner verbunden, das heißt, die Bilder werden dort automatisch auf der Festplatte gespeichert. Um ein Seminar oder eine Obduktion aufzuzeichnen, muss man nichts weiter machen, als eine Digitalkamera aufzustellen, sie anzuschließen, und schon kann es losgehen.«

»Können wir nachsehen, ob Dr. Winston das getan hat?«

»Folgen Sie mir.«

Dr. Hove ging zielstrebig voran. Sie stiegen dieselbe Treppe hinauf, die sie heruntergekommen waren, und passierten im Erdgeschoss erneut den Empfangsbereich, bevor sie durch eine Metalldoppeltür in einen langen Flur kamen. Nach etwa einem Drittel des Wegs zweigte rechts ein weiterer Flur ab, an dessen Ende eine einzelne hölzerne Tür mit einem Fenster aus Milchglas zu sehen war. Dr. Hoves Büro. Sie schloss die Tür auf, öffnete sie und ließ die beiden Detectives eintreten.

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