Der Totenarzt - Chris Carter - E-Book
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Der Totenarzt E-Book

Chris Carter

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Beschreibung

Nr. 1 Bestseller Platz 1 der Bestsellerliste: gewohnt blutig, grausam und am Abgrund der menschlichen Psyche! Ein absoluter Pageturner! »Carter bietet wieder Höchstspannung mit überzeugenden Twists.« Westfälische Nachrichten Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. Schließ deine Augen und bitte um einen schnellen Tod Robert Hunter bekommt einen Tipp aus der Gerichtsmedizin. Die Leiche eines Verkehrsopfers weist Foltermale auf. Der Mörder tötet so, dass man ihm nicht auf die Schliche kommt. Ein Killer, der seine Opfer versteckt, sucht den Kick des Tötens. Immer wieder. Bei der Autopsie eines Verkehrsopfers entdeckt Gerichtsmedizinerin Dr. Hove etwas Seltsames. Tödliche Wunden unter der Haut, die nicht vom Unfall stammen können. Sie ist auf das Werk eines Serienkillers gestoßen. Unbemerkt und mit enormer Expertise lässt er jeden seiner brutalen Morde wie ein zufälliges Unglück aussehen. Dr. Hove meldet ihren Verdacht Robert Hunter und Carlos Garcia vom LAPD Ultra Violent Crimes Unit. Die Detectives stehen vor einem Problem. Wie ermittelt man in einer Mordserie, wenn die Opfer nicht bekannt sind? Wie fängt man einen Killer, wenn es keinen Tatort gibt? Wie stellt man einen sadistischen Jäger, der ausgesprochen vorsichtig vorgeht? Wie hält man einen Unsichtbaren auf, dessen Existenz nicht zu beweisen ist? *** Eine Lektüre, die Sie zwingen wird, das Licht anzulassen! Für Krimi und Thriller Fans ein absolutes Muss. ***

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Der Totenarzt

CHRIS CARTER wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.

Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:One Dead (E‑Book) · Der Kruzifix-Killer · Der Vollstrecker · Der Knochenbrecher · Totenkünstler · Der Totschläger ·Die stille Bestie · I am Death – Der Totmacher · Death Call – Er bringt den Tod · Blutrausch – Er muss töten · Jagd auf die Bestie · Bluthölle · Blutige Stufen 

Bei der Autopsie eines Verkehrsopfers entdeckt Gerichtsmedizinerin Dr. Hove etwas Seltsames. Tödliche Wunden unter der Haut, die nicht vom Unfall stammen können. Sie ist auf das Werk eines Serienkillers gestoßen. Unbemerkt und mit enormer Expertise lässt er jeden seiner brutalen Morde wie ein zufälliges Unglück aussehen. Dr. Hove meldet ihren Verdacht Robert Hunter und Carlos Garcia vom LAPD Ultra Violent Crimes Unit. Die Detectives stehen vor einem Problem. Wie ermittelt man in einer Mordserie, wenn die Opfer nicht bekannt sind? Wie fängt man einen Killer, wenn es keinen Tatort gibt? Wie stellt man einen sadistischen Jäger, der ausgesprochen vorsichtig vorgeht? Wie hält man einen Unsichtbaren auf, dessen Existenz nicht zu beweisen ist?

Chris Carter

Der Totenarzt

Thriller

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2024© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte fürText und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.© Chris Carter 2024Published in Arrangement with Luiz MontoroTitel der englischen Originalausgabe:The Death Watcher (Simon & Schuster Inc.)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Neil Spence PhotographyE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-3153-9

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Motto

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Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Motto

Widmung

Diese Geschichte wurde von wahren Begebenheiten inspiriert.

Motto

Ich möchte diesen Roman allen Leserinnen und Lesern da draußen widmen, die mir während der letzten fünfzehn Jahre die Treue gehalten und mir so viel Liebe geschenkt haben. Ich hatte das große Privileg, im Laufe der Zeit viele von euch persönlich kennenzulernen, und ich staune immer wieder, was für freundliche, geduldige und rundum großartige Menschen ihr seid.

Ihr seid der Grund, weshalb ich diese Arbeit mache. Ihr seid der Grund, weshalb ich noch hier bin. Ich danke euch aus tiefstem Herzen, dass ihr mich und meinen Traum am Leben gehalten habt.

Bis bald auf einer meiner Lesereisen.

1

Als Shaun Daniels zu Bewusstsein kam, geschah dies schubweise. Erst ein träges Flattern der Augenlider, dann ein verzweifeltes Atemholen. Die Luft, die seine Lungen füllte, schmeckte muffig und war gesättigt von einer eigentümlichen Mischung verschiedener Gerüche, die er nicht identifizieren konnte. Als er die wenigen Tropfen hinunterschluckte, die seine Speicheldrüsen produziert hatten, brannte und kratzte es in seiner Kehle, als hätte er eine mit Glassplittern garnierte Schüssel voller Chili gegessen. Er verzog vor Schmerzen das Gesicht und hielt einige Sekunden lang den Atem an. Sein verschwommener Blick zuckte umher.

Nichts.

Da war nur Dunkelheit.

»Wo bin ich?« Die Worte kamen ihm nur mühsam über die spröden Lippen. Seine Lider waren so schwer, dass er die Augen nur einen Spaltbreit öffnen konnte. »Habe ich wieder zu viel gesoffen? Hatte ich einen Filmriss?«

Das wäre eine durchaus plausible Erklärung gewesen. Die Kopfschmerzen, die seinen Schädel zu sprengen drohten, fühlten sich in der Tat wie die Begleiterscheinung eines mörderischen Katers an.

»Urgh«, stöhnte er, als er die abgestandene Luft einatmete. Noch einmal versuchte er zu schlucken, doch stattdessen musste er husten, was wiederum das Brennen in seiner Kehle neu entfachte. Es gesellte sich zu dem Dröhnen im Kopf, bis sein ganzes Gesicht vor Schmerz zu pochen schien.

»Fuck«, flüsterte er benommen. »Was zum Teufel habe ich gestern Abend getrunken? Benzin?«

In dem Moment merkte er, dass er mit dem Rücken auf einem harten Untergrund lag. Das war definitiv nicht sein Bett.

»Scheiße, wo bin ich? In der Küche?« Ein weiterer erschöpfter Atemzug. »Ich sollte wohl besser aufstehen. Keine Ahnung, wie spät es ist.«

Doch als er versuchte, sich zu bewegen, geschah nichts.

»Was soll das?«

Er unternahm einen zweiten Versuch.

Ohne Erfolg. Seine Zehen, seine Füße, seine Beine, Arme, Hände und Finger, sein Hals … alles war wie gelähmt.

»Was zum Teufel geht hier vor?«

Kurz darauf hörte er irgendwo zu seiner Rechten ein Geräusch. Es klang, als würde jemand auf einem Stuhl sein Gewicht verlagern.

Sofort zuckte Shauns Blick in die entsprechende Richtung, aber er konnte nach wie vor nichts sehen.

»Hallo? Wer ist da?«, wollte er rufen, doch seine Kehle war ausgedörrt. Seine Stimmbänder waren so schwach, dass sie lediglich ein heiseres Flüstern zustande brachten. Trotzdem ließ er sich nicht beirren. »Bitte, können Sie mir helfen? Ich kann mich nicht bewegen.«

Shaun erhielt keine Antwort.

»Hallo?«, versuchte er es erneut. »Ist da jemand?«

Stille.

»Scheiße, was ist denn hier los? Ist das ein Traum? Warum kann ich mich nicht bewegen?«

Er kniff die Augen zusammen, so fest er konnte, ehe er sie blinzelnd öffnete. Er hatte nicht das Gefühl zu träumen. Alles war noch genauso wie zuvor – die Dunkelheit, der pochende Kopfschmerz, das Brennen in seiner Kehle, die schale Luft … und von der Stelle rühren konnte er sich immer noch nicht.

Verzweiflung überkam ihn.

»Gut. Sie sind wach.«

Die ausdruckslose, leicht heisere Männerstimme kam von rechts.

Shaun bemühte sich nach Kräften, den Kopf zu drehen, doch seine Nackenmuskeln reagierten einfach nicht. Nur seine Augen bewegten sich.

»Wer ist da?«, fragte er mit erstickter Stimme. »Können Sie mir bitte helfen? Keine Ahnung, was los ist, aber ich kann mich nicht bewegen.«

»Ja. Ich weiß«, entgegnete der Mann ruhig. Dann schaltete er das Licht ein.

Direkt über Shaun flackerte eine Glühbirne auf, und im nächsten Moment war der Raum in gleißendes Licht getaucht. Es war so intensiv, dass es ihm die Netzhaut zu versengen schien, und er schloss reflexartig die Augen, doch da er sich nicht von der Stelle rühren konnte, hatte er keine Möglichkeit, auszuweichen. Mit der Wucht eines Faustschlags drang das Licht durch seine geschlossenen Lider. Von dort aus schoss der Reiz seine Sehbahnen entlang geradewegs in seinen Kopf, wo er sich zu den bestialischen Schmerzen gesellte, die bereits dort wüteten. Es fühlte sich an, als würde sein Gehirn schmelzen.

»Ahhh!«, stöhnte er, wobei ihm der Atem in der Kehle stecken blieb. »Das ist zu hell!«

»Warten Sie einen Moment«, sagte der Mann milde. »Ihre Augen gewöhnen sich bald daran.«

»Was ist hier los?«, fragte Shaun zum wiederholten Mal. In seinem Ton schwang ein Hauch Verzweiflung mit. »Wo bin ich? Warum kann ich mich nicht bewegen? Wer sind Sie?«

»Sie sind in meinem OP«, antwortete der Mann. »Auf meinem OP-Tisch.«

»OP-Tisch?«, wiederholte Shaun und öffnete einen Sekundenbruchteil lang die Augen. Das Licht war immer noch unerträglich hell. »Bin ich im Krankenhaus? Hatte ich einen …« Ihm versagte die Stimme. »Einen Unfall? O Gott, was ist passiert? Bitte, sagen Sie mir nicht, dass ich gelähmt bin … bitte.«

Der Mann schwieg, als müsste er sich seine Antwort gut überlegen. Am Ende entschied er sich, die Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. »Was ist das Letzte, woran Sie sich noch erinnern, Mr Daniels?«

Shaun hörte die Schritte des Mannes, als dieser um ihn herum auf die andere Seite des OP-Tisches ging.

»Ähh …« Shaun gab sich alle Mühe, doch die Kopfschmerzen schienen eine Mauer um sein Gedächtnis errichtet zu haben. »Ich … ich weiß nicht. Mein Kopf tut so weh, ich habe das Gefühl, er platzt gleich.«

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Mann, dessen Stimme nun von der linken Seite kam. »Sie haben ein Beruhigungsmittel bekommen. Die Kopfschmerzen, der trockene Hals, die Taubheit, die Erinnerungslücken, das ist alles ganz normal.«

Im nächsten Moment hörte Shaun ein Geräusch, das wie das Schleifen von Metall auf Metall klang. Er atmete aus, dann wagte er erneut, die Augen zu öffnen. Inzwischen hatten sie sich einigermaßen an die Helligkeit gewöhnt. Hastig sah er sich um und versuchte, sich einen Eindruck von seiner Umgebung zu verschaffen.

Weil er Hals und Kopf nicht bewegen konnte und auf dem Rücken lag, sah er nicht besonders viel.

Die Decke war weiß, genau wie die gekachelten Wände. Alles sah blitzsauber aus. Die Gerüche, die er zuvor nicht hatte einordnen können, ergaben nun etwas mehr Sinn: Reinigungsmittel, Antiseptika … die typische Mischung, wie man sie in jedem Krankenhaus vorfand.

»Hmm …« Shaun schloss die Augen und durchforstete sein Gedächtnis. Die Kopfschmerzen erwiesen sich als harter Gegner. »In meinem Schädel herrscht totales Chaos, und er tut so weh. Könnte ich was gegen die Schmerzen kriegen?«

»Das wäre keine gute Idee«, gab der Mann zurück. »Schmerzmittel wirken nicht zuverlässig in Kombination mit dem Sedativum, das Ihnen verabreicht wurde. Bitte, tun Sie einfach Ihr Bestes.«

Was glaubst du denn, was ich gerade mache?, dachte Shaun, dessen Blick nach links zuckte. Denkst du, ich singe im Kopf »Mambo Number 5«? Ich bemühe mich ja. Er holte tief Luft und kämpfte gegen die Schmerzen an, bis sich einzelne Erinnerungsfetzen formten, die ihm allerdings nur wenig Aufschluss gaben.

»Ich bin so benebelt wie eine Nutte auf Crystal«, murmelte er, während er abermals gegen das helle Licht anblinzelte. »Aber ich … ich glaube, ich weiß noch, dass ich auf ein paar Drinks in meine Stammkneipe gegangen bin.«

»Wo war das?«, fragte der Mann. »Erinnern Sie sich noch an den Namen der Kneipe? Wissen Sie, wo Sie wohnen?«

Shaun zögerte kurz. Sein Gedächtnis stotterte wie ein alter Motor.

»Hmm, ich wohne in South L. A.«

Der Mann wartete, doch Shaun fügte nichts weiter hinzu. Also hakte er nach. »Können Sie das präzisieren? Erinnern Sie sich noch daran, in welcher Gegend von South L. A. Sie wohnen?«

»Ja«, sagte Shaun, als die Dinge in seinem Kopf allmählich Gestalt annahmen. »Ich wohne in Lomita, an der Ecke Eshelman Avenue und 250th Street.«

»Sehr gut, Mr Daniels«, sagte der Mann, ehe er näher trat, sodass Shaun ihn zum allerersten Mal sehen konnte.

Der Mann beugte sich über den OP-Tisch, doch aus seiner liegenden Position heraus und geblendet vom Licht, war es Shaun unmöglich, auch nur grob zu schätzen, wie groß er war. Seine Haare waren vollständig unter einer türkisfarbenen OP-Kappe verborgen, und er trug einen medizinischen Atemschutz über Nase, Mund und Kinn. Alles, was Shaun sehen konnte, waren dunkle, tief liegende Augen hinter einer Chirurgenbrille.

»Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?«

Erneut strengte Shaun sein Gedächtnis an.

»Also, ich glaube, ich habe mich mit jemandem unterhalten. Aber ich weiß nicht mehr, mit wem.«

»In der Kneipe?«

»Ich glaube schon, ja.«

»Gut. Noch mehr?«

Shaun gab sich alle Mühe, doch seine Erinnerungen waren wie ein undurchdringlicher Morast.

»Nein, mehr ist da nicht«, gestand er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, sagen Sie mir, was mit mir passiert ist. Wieso bin ich hier? Warum kann ich mich nicht bewegen? Warum kann ich mich an fast nichts mehr erinnern?«

Der Mann trat einen Schritt vom OP-Tisch zurück und verschwand aus Shauns Blickfeld.

»Das ist überhaupt nicht schlimm, Mr Daniels. Machen Sie sich keine Sorgen. Um ehrlich zu sein, kann man Erinnerungen sowieso nicht trauen, wussten Sie das? Vor allem den Erinnerungen, die unmittelbar auf ein traumatisches Ereignis folgen. Sie verschieben sich, sie zerbrechen in einzelne Fragmente, und wenn wir versuchen, sie wieder zusammenzusetzen, tun wir dies oft auf eine Art und Weise, die nichts mehr mit dem ursprünglichen Erleben zu tun hat. Und dann gehen die Probleme erst richtig los. Die Menschen vertrauen ihrem Gedächtnis viel zu viel. Sie sind überzeugt, woran sie sich erinnern, wäre eins zu eins so passiert, dabei ist das kaum jemals der Fall. Wo es in unserem Gedächtnis Lücken gibt, füllt das Gehirn diese nach eigenem Ermessen aus. Wichtige Details, die einem entfallen sind, werden durch Fiktionen ersetzt. Verstehen Sie, wie problematisch das sein kann?«

Das war Shaun nicht bewusst gewesen.

»Zu viele Menschen messen Erinnerungen den Wert von Fakten bei«, fuhr der Mann fort. »Aber sie sind keine Fakten. Sie sind weniger konkrete Realität als eine subjektiv gefärbte Version davon.«

Shaun zögerte, während sich die Tränen an seinen unteren Augenlidern sammelten. »Wollen Sie mir sagen, dass ich mich vielleicht nie mehr daran erinnern werde, was passiert ist?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte der Mann. »Ich kann es Ihnen erzählen. Sie haben in Ihrem Stammlokal etwas getrunken, Mr Daniels, und dabei kam es zu, sagen wir, Schwierigkeiten.«

Wieder hörte Shaun das metallische Schleifen. Es war kein dumpfes, schweres Geräusch – eher so, als würden Werkzeuge auf eine stählerne Oberfläche gelegt.

»Schwierigkeiten?«, fragte er zaghaft und beunruhigt zugleich. »Was meinen Sie damit? Was für Schwierigkeiten?« Eine Träne lief über und rann ihm seitlich die Wange hinab.

Der Mann kehrte in Shauns Blickfeld zurück. Diesmal schob er einen kleinen Wagen vor sich her, auf dem verschiedene Gerätschaften lagen.

»Sie haben sich in der Kneipe mit jemandem unterhalten, Mr Daniels«, sagte er. »Und dieser Jemand hat Sie in Schwierigkeiten gebracht.«

»Was?«, fragte Shaun. Er blinzelte ins Licht und strengte noch einmal sein Gedächtnis an.

Hatte er sich geprügelt? War er mit einem Messer verletzt oder gar angeschossen worden? Von demjenigen, mit dem er sich unterhalten hatte? War sein Rückgrat in Mitleidenschaft gezogen worden? Konnte er sich deshalb nicht mehr bewegen? War es das, was der Arzt ihm mitzuteilen versuchte?

Inmitten all dieser Fragen trieb ein neuer Gedanke an die Oberfläche seines Bewusstseins und ließ Shaun nicht mehr los. Er versuchte, sich auf das Gesicht des Mannes zu konzentrieren.

»Ich verstehe das nicht. Woher wissen Sie denn, dass die Person in der Kneipe mich in Schwierigkeiten gebracht hat?«

Der Mann lachte leise und hielt die Spannung einige Sekunden lang aufrecht. »Weil ich diese Person bin.«

Shaun runzelte die Stirn. »Was?«

Der Mann griff nach etwas auf dem Wägelchen zu seiner Rechten. »Ich habe eine Frage an dich, Shaun.«

Der plötzliche Wechsel der Anrede war eindeutig beabsichtigt. Der Mann nahm einen kleinen Hammer vom Tablett und etwas, das nach einem Meißel aussah, nur dass er kein spitzes, sondern ein dickes, abgerundetes Ende hatte.

»Meinst du, man kann mit diesem Meißel Knochen zertrümmern? Oder sollte ich dafür lieber etwas Schwereres nehmen, vielleicht etwas Schärferes?«

»Was?« Shauns Blick ging kurz zu dem Hammer und Meißel, ehe er ihn wieder auf das Gesicht des Mannes richtete.

»Ich möchte nämlich die Haut nicht verletzen«, führte der Mann aus. »Ich will den Knochen brechen, aber ohne eine Schädigung von Haut oder Muskeln herbeizuführen.« Er zuckte mit den Achseln. »Hämatome und Blutergüsse sind da logischerweise nicht mit eingeschlossen. Es ist schwer, jemandem die Knochen zu brechen, ohne dass es ein paar blaue Flecke gibt, nicht wahr?«

Shauns Herzschlag geriet aus dem Takt. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Oh, entschuldige«, sagte der Mann und legte Hammer und Meißel zurück auf den Wagen. »Ich kläre dich auf. Gestern Abend in der Kneipe habe ich dir was ins Getränk gemischt.«

Shaun betrachtete den Mann durch zusammengekniffene Augen. Er versuchte zu ergründen, ob dieser sich einen Scherz mit ihm erlaubte.

»Es war ungefähr Viertel nach elf. Du hast gesagt, dass du gehen müsstest. Ich habe dir angeboten, noch eine Runde auszugeben – für den Weg, gewissermaßen. Ich wusste, dass du zu einem weiteren Whiskey nicht Nein sagen würdest. Während du auf dem Klo warst, habe ich dir Drogen in den Drink gemischt.«

»Ist das ein Witz?«

Der Mann machte eine ausladende Geste in den Raum hinein. »Offensichtlich doch wohl nicht.«

Shaun blinzelte. Abermals lief ihm eine Träne über.

»Ich habe das schon häufiger gemacht und kann guten Gewissens behaupten, dass ich meine Technik und mein Timing mittlerweile perfektioniert habe. Wir hatten schon ausgetrunken und wollten gehen, als das Mittel zu wirken begann. Als du das Bewusstsein verloren hast, waren wir gerade bei deinem Wagen angekommen. Keine Augenzeugen. Es war ein Kinderspiel, dich ins Auto zu verfrachten.«

»Ich verstehe immer noch nicht.« Inzwischen zitterte Shauns Stimme vor Angst. »Warum? Warum tun Sie das?«

»Die Kurzversion?«, sagte der Mann. »Weil ich dir Schmerzen zufügen werde, Shaun. Sehr große Schmerzen.« Seine Stimme war todernst.

Wieder versuchte Shaun, sich zu bewegen, doch kein einziger Muskel in seinem Körper gehorchte ihm.

»Und das ist das Großartige an deinem Zustand, Shaun«, fuhr der Mann fort. »Egal, was ich dir antue – ob ich deine Knochen zertrümmere, dir die Zehennägel ausreiße, einen deiner Hoden zerquetsche – was auch immer, du wirst nichts spüren.« Eine bewusst gesetzte Pause. »Für den Moment. Aber die Wirkung des Muskelrelaxans, das ich dir verabreicht habe und das dich vom Hals abwärts lähmt, wird in …« Der Mann warf einen Blick auf seine Uhr. »Etwa einer Stunde und fünfzehn Minuten nachlassen. Dann kommt der Schmerz. Anfangs noch dezent, während die Reizempfindlichkeit deines Nervensystems langsam wieder hochfährt. Wahrscheinlich wird es mit Muskelschmerzen anfangen, die sich allmählich zu Spasmen auswachsen. Dann werden sich deine Gelenke anfühlen, als hätte ich sie dir rausgerissen und durch Glasscherben ersetzt.«

Shauns angsterfüllter Blick ruhte auf dem Mann, der nun wieder am OP-Tisch stand.

»Als Nächstes …«, der Mann war noch nicht fertig, »wird sich dein Magen mit Galle füllen, und du wirst dich übergeben. Du kannst nichts dagegen tun. Es wird sich anfühlen, als hätte dir jemand eine brennende Faust in den Hals gerammt. Sie wird die Wände deiner Luftröhre verätzen, bis dir das Blut die Kehle hinabrinnt und du kaum noch Luft bekommst. Du wirst das Gefühl haben zu ertrinken. Je mehr dein Nervensystem wieder zum Leben erwacht, je mehr Schmerzsignale es an dein Gehirn sendet, und je mehr dieser Signale dein Gehirn verarbeitet, desto heftiger wirst du dich übergeben müssen, weil die Schmerzen irgendwann unerträglich werden. Dafür werde ich sorgen. Und zum großen Finale habe ich noch eine ganz besondere Überraschung für dich.«

Shaun hatte das Gefühl, als wäre die Luft um ihn herum auf einmal dicker geworden. Er konnte kaum noch atmen.

Abermals griff der Mann nach Hammer und Meißel. Obwohl seine Nase und sein Mund von der Maske verdeckt wurden, konnte Shaun sehen, dass er lächelte.

»Bestimmt ist es dir inzwischen klar geworden«, sagte der Mann. »Du befindest dich nicht in einem Krankenhaus. Und ich bin auch kein Arzt. Aber ich werde mein Bestes geben.« Er wandte sich ab und konsultierte einen Zettel auf dem Wägelchen. »Also gut. Wollen wir anfangen?«

»Bitte«, flehte Shaun mit tränenerstickter Stimme. »Was immer Sie mit mir vorhaben, bitte, tun Sie es nicht. Ich habe nicht viel Geld, aber Sie können alles haben. Bitte, tun Sie das nicht. Bitte … lassen Sie mich gehen.«

»Schhhhh«, hauchte der Mann, ehe er den Meißel auf Shauns rechtem Oberschenkel ansetzte und den Hammer hob. »Schön die Augen offen lassen.« Er nickte. »Genau hinsehen.«

2

Dreiunddreißig Tage später

Die UV-Einheit des LAPD lag im fünften Stock des berühmten Police Administration Buildings in Downtown L. A., im hinteren Bereich des Raub- und Morddezernats. Obwohl sie als »Einheit« bezeichnet wurde, bestand die Abteilung in Wahrheit nur aus zwei Detectives: Robert Hunter, dem Leiter, und seinem Partner Carlos Garcia. Beide waren gerade im Begriff, ihr Büro zu verlassen, als Barbara Blake, Captain des Raub- und Morddezernats, im Türrahmen auftauchte.

»Wollen Sie irgendwohin?«, fragte sie. Ihre langen pechschwarzen Haare waren zu einem eleganten Knoten frisiert, der von zwei Metallstäbchen gehalten wurde. Sie trug eine weiße Bluse aus einem fließenden Material und einen exzellent geschnittenen marineblauen Bleistiftrock. Ihre schwarzen flachen Lackschuhe waren an der Spitze mit einem silbernen Detail verziert.

»Wir wollten gerade was zu Mittag essen«, sagte Garcia, der unwillkürlich einen Blick auf die Uhr warf. Es war Viertel nach zwei. »Wieso, Captain? Was gibt’s?« Erst jetzt fiel ihm die gelbe Mappe auf, die Blake bei sich trug.

Normalerweise waren die Mappen der Fälle, die der UV-Einheit zugeteilt wurden, entweder schwarz oder dunkelgrau.

»Ich wollte Sie bitten, sich kurz was anzuschauen«, antwortete sie, betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Sicher«, sagte Hunter, der aufstand, um ihr entgegenzugehen. »Was ist das?«

»Ein Autopsiebericht.« Blake reichte jedem Detective eine Kopie der Akte.

»Für welchen Fall?«, wollte Hunter wissen.

»Momentan ist es noch ein Verkehrsunfall.«

Hunter und Garcia sahen sie mit gerunzelter Stirn an.

»Vor etwa einer Dreiviertelstunde habe ich einen Anruf von Dr. Hove bekommen. Sie hatte gerade die Obduktion eines gewissen Shaun Daniels abgeschlossen. Sechsundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Lomita. Seine Leiche wurde am Straßenrand an der Lake Hughes Road in den Sierra Pelona Mountains gefunden, dem Anschein nach wurde er Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht.«

»Unfall mit Fahrerflucht?« Garcia schlug den Bericht auf. Hunter folgte dem Beispiel seines Partners.

»Dem Anschein nach«, betonte Captain Blake und deutete mit einem Kopfnicken auf die zwei Akten. »Werfen Sie einen kurzen Blick darauf, und sagen Sie mir, was Sie denken.«

»Na ja«, sagte Garcia, noch ehe er zu lesen begonnen hatte. »Wenn die Leiterin des rechtsmedizinischen Instituts die Chefin des Raub- und Morddezernats wegen eines mutmaßlichen Verkehrsunfalls anruft, muss ihr bei der Autopsie ja wohl was Ungewöhnliches aufgefallen sein.«

Captain Blake hob in einer Geste der Kapitulation die Hände. »Wie gesagt – schauen Sie rein, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.« Sie zog sich einen Stuhl von Hunters Schreibtisch heran und machte es sich bequem.

Garcia sah sie mit großen Augen an. »Was denn – jetzt sofort?«

Schweigen.

»Aber unser Mittagessen …«

Captain Blake lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und ließ die Hände in den Schoß sinken, ehe sie Garcia einen finsteren Blick zuwarf.

»… kann warten«, beendete er seinen Satz und hockte sich auf die Kante seines Schreibtisches. Er klang alles andere als begeistert.

Hunter war bereits in die Akte vertieft, die mit einem Protokoll der Verkehrspolizei begann.

Die Leiche war vier Tage zuvor in den frühen Morgenstunden von einem gewissen Marcus Stamford und seinem Sohn Julian entdeckt worden, als die beiden auf dem Weg zu ihrer Lieblingsangelstelle die Lake Hughes Road entlanggefahren waren. Gegen zehn nach fünf hatten Vater und Sohn etwa hundertfünfzig Meter jenseits des Eingangs zur Kirche in nördlicher Richtung etwas am Straßenrand entdeckt, das nach einer Leiche aussah – einer menschlichen Leiche. Besorgt hatte Mr Stamford den Wagen angehalten und war nachschauen gegangen. Dabei war er auf den Leichnam eines erwachsenen Mannes gestoßen, der so aussah, als wäre er von einem Auto erfasst worden. Mr Stamford hatte sofort die Polizei verständigt.

Das L. A. County Sheriff’s Department war zuerst am Tatort gewesen, kurz darauf waren der Krankenwagen sowie Detective William Sharp von der zuständigen Verkehrspolizei eingetroffen.

Hunter blätterte eine Seite des Protokolls um und studierte die dazugehörigen Fotos. Insgesamt waren es sechsundzwanzig. Die ersten acht zeigten die Leiche in der Totalen aus unterschiedlichen Perspektiven. Bei den nächsten zwölf handelte es sich um Nahaufnahmen, auf denen die verschiedenen Verletzungen zu erkennen waren. Es gab eine offene Fraktur am rechten Handgelenk und eine weitere am rechten Schienbein, bei der der Knochen durch den schwarzen Stoff der Hose ragte. Die linke Schulter sowie das linke Schlüsselbein des Toten waren ausgekugelt und gebrochen, und er hatte zahlreiche Schürfwunden im Gesicht, am Kopf, an Armen, Beinen und Händen.

Die letzten sechs Fotos zeigten die Straße mit den Bremsspuren auf dem Asphalt. Es waren vier, alle gleichermaßen deutlich zu erkennen. Dies sowie der Abstand zwischen Vorder- und Hinterreifen deutete darauf hin, dass das Fahrzeug, das Shaun Daniels überfahren hatte, höchstwahrscheinlich ein Pick-up-Truck mit Allradantrieb gewesen war. Auf einem der Fotos war neben den Bremsspuren ein Maßstab platziert worden. Die Spuren der Vorderreifen waren etwa einen Meter vierzig lang, die der Hinterreifen nur wenige Zentimeter kürzer.

Detective Sharp zufolge korrespondierte der Abstand zwischen Leiche und Bremsspuren mit einem Unfallgeschehen, bei dem das Opfer von einem Fahrzeug erfasst worden war, bei einer Geschwindigkeit zwischen vierzig und fünfzig Meilen pro Stunde. Die Bremsspuren begannen erst kurz vor dem Punkt der tödlichen Kollision, was nahelegte, dass der Fahrer des Pick-ups den Fußgänger zu spät gesehen hatte. Beim Aufprall war dieser über die Motorhaube geschleudert worden, gegen die Windschutzscheibe geprallt und schließlich rechts neben der Fahrbahn liegen geblieben.

»Meine erste Frage«, sagte Garcia, während er im Bericht blätterte, »lautet: Was hatte das Opfer um die Uhrzeit da oben in den Bergen zu suchen?«

»Vielleicht war er angeln?«, spekulierte Captain Blake. »Oder wandern?«

»Möchte man meinen«, gab Garcia zurück. »Aber es gibt weder einen Vermerk dazu noch weitere Fotos von irgendwelchen Gegenständen, die am Straßenrand gefunden wurden – kein Rucksack, keine Tasche, keine Angel, kein Zubehör … nichts.« Er zuckte die Achseln. »Ja, dort in der Gegend gibt es eine Menge guter Angelstellen, auch in der Nähe des Picknickplatzes. Aber selbst wenn er wandern oder fischen war oder ganz allein im Dunkeln ein Picknick machen wollte – wieso hat er da oben die Straße überquert? Ich meine … sowohl die Picknickplätze als auch die Angelstellen liegen ein gutes Stück von der Lake Hughes Road entfernt.«

»Gute Frage«, pflichtete Captain Blake ihm bei.

»Sein Kombi parkte an einer unbefestigten Piste unweit vom Fundort der Leiche«, zitierte Hunter aus dem Bericht. »Hier ist auch keine Rede von einem Picknickkorb, einer Tasche, einem Rucksack oder Angelzeug …«

»Hat man sein Smartphone gefunden?«, fragte Garcia.

Hunter blätterte kurz hin und her. »Davon steht hier nichts, also wahrscheinlich nicht.«

»Was ist dann die Theorie?«, wollte Garcia wissen. »Er fährt in die Berge, parkt seinen Wagen, macht einen Spaziergang und wird von einem Pick-up überfahren, dessen Fahrer sich dann unerlaubt vom Unfallort entfernt?« Mit hochgezogenen Brauen sah er Captain Blake an.

»Selbstmord?«, fragte sie ohne große Überzeugung.

»Nein.« Garcia und Hunter schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Er hat in Lomita gewohnt, Captain. Wenn er sich umbringen wollte, indem er vor ein Auto läuft, warum hätte er sich dafür eine abgelegene Straße oben in den Sierra Pelona Mountains aussuchen sollen, wenn er den extrem stark befahrenen Pacific Coast Highway direkt vor der Tür hatte? Das war kein Suizid, und falls doch, dann kein geplanter, das steht fest.«

Captain Blake nickte. »Ich wollte nur sichergehen, dass wir alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben …«

»… ehe wir von Mord reden«, ergänzte Hunter, der geahnt hatte, worauf seine Chefin hinauswollte.

Blake neigte leicht den Kopf zur Seite und zog ihre perfekt nachgemalten Augenbrauen hoch. »Lesen Sie weiter.«

Hunter und Garcia vertieften sich wieder in den Autopsiebericht. Dr. Hove hatte festgestellt, dass ein Großteil der Verletzungen, vor allem die offenen Frakturen am rechten Handgelenk und am rechten Unterschenkel, zu einem Unfallgeschehen passten, bei dem ein Fußgänger von einem schnell fahrenden Auto erfasst worden war.

Hunter zögerte einen Moment, dann blätterte er rasch zu den Fotos vom Fundort zurück. Eins davon war aus größerer Entfernung aufgenommen worden, sodass sowohl die Leiche als auch die Bremsspuren zu sehen waren. Etwas an dem Bild machte ihn stutzig, doch sein Gedankengang wurde wenig später von Garcia unterbrochen, der direkt zur letzten Seite des Berichts weitergeblättert hatte, um die Todesursache nachzulesen.

»Was? Stimmt das wirklich?« Sein Kopf schnellte in die Höhe, und er suchte Captain Blakes Blick.

»Die Todesursache?«, fragte sie.

Garcia nickte.

»Dr. Hove war sich zu hundert Prozent sicher.«

Hunter blätterte ebenfalls bis zur letzten Seite vor und stutzte.

»Hypothermie?«, sagte er ungläubig. »Sie wollen mir sagen, dass er an Unterkühlung gestorben ist?«

»Nicht ich«, gab Captain Blake zurück. »Der Autopsiebericht.«

»In Kalifornien?«, fragte Garcia. »Im Juni? Draußen sind es dreiundzwanzig Grad.«

Blake bemerkte ein Funkeln in Hunters Augen. Er sah seinen Partner an.

Garcia, der diesen Blick nur zu gut kannte, zuckte mit den Schultern. »Ich liebe Rätsel und Geheimnisse, das weißt du ja.«

Ohne ein weiteres Wort stand Captain Blake auf und verließ das Büro der UV-Einheit.

Die Akten nahm sie nicht mit.

3

Sekunden nachdem Captain Blake ihr Büro verlassen hatte, rief Hunter die leitende Rechtsmedizinerin von L. A. County, Dr. Carolyn Hove, an. Diese war eben im Begriff, mit einer neuen Leichenschau zu beginnen, und teilte Hunter mit, dass sie in etwa einer Stunde Zeit für ein Gespräch haben würde. Also machten Hunter und Garcia nach dem Mittagessen einen schnellen Abstecher zum rechtsmedizinischen Institut in der North Mission Road.

Nachdem sie die Stufen zum Haupteingang des imposanten ehemaligen Hospitals hinaufgestiegen waren, betraten sie das Foyer und nahmen Kurs auf den Empfangstresen. Die Mitarbeiterin, eine freundlich aussehende Afroamerikanerin Mitte fünfzig, empfing sie mit einem routinierten Lächeln.

»Guten Tag, Detectives.«

»Guten Tag, Sandra«, antworteten Hunter und Garcia im Chor und erwiderten ihr Lächeln.

Sandra arbeitete seit mehr als dreizehn Jahren für das rechtsmedizinische Institut.

»Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sich Hunter.

»Gut, danke.«

Hunter wusste, dass sie ihnen nicht dieselbe Frage stellen würde. Keiner der Mitarbeiter vom Empfang fragte jemals eine Person, die das Leichenschauhaus betrat, nach ihrem Befinden.

»Möchten Sie zu Dr. Hove?« Sandra schaute bereits in ihrem Rechner nach.

»Genau.« Hunter warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Sie meinte, sie hätte jetzt Zeit für uns.«

Abermals lächelte Sandra. »Perfektes Timing. Sie ist vor fünf Minuten mit der Autopsie fertig geworden. Ich sage ihr Bescheid.«

Hunter und Garcia warteten, während Sandra ein zehnsekündiges Telefonat führte.

»Dr. Hove erwartet Sie in Sektionssaal vier«, verkündete sie und deutete auf die Schwingtüren rechts vom Tresen.

Hunter und Garcia bedankten sich, gingen durch die Tür und einen langen, blitzsauberen weißen Gang entlang. Am Ende bogen sie rechts in einen kürzeren Gang ab, an dessen linker Wand zwei leere Liegen standen.

Hunter tat so, als müsste er sich kratzen, doch in Wahrheit hielt er sich die Hand vor die Nase, weil der Geruch, der in diesen Gängen hing, ihm jedes Mal zu schaffen machte. Und er wurde von Minute zu Minute beißender. Anfangs, vor Jahren, hatte ihm das nichts ausgemacht, doch je häufiger er ins rechtsmedizinische Institut kam, desto unangenehmer wurde ihm der Geruch … zumal er immer ein und dieselbe Assoziation in ihm weckte: Tod.

Nachdem sie die zwei Liegen passiert hatten, bogen sie ein weiteres Mal rechts ab. Sektionssaal vier war der erste auf der rechten Seite. Hunter stieß die Doppeltüren auf, und sie betraten einen unangenehm kalten Raum.

Verglichen mit den Sektionssälen eins, zwei und drei war Saal Nummer vier ein eher kleiner Raum mit lediglich zwei Sektionstischen aus Edelstahl. Die waren mit einem langen Tresen verbunden, der sich die gesamte östliche Wand entlangzog. An der Decke direkt über den Tischen hing eine große, runde OP-Leuchte, die bereits eingeschaltet war und den Raum in helles, aber warmes Licht tauchte. Die westliche Wand bestand zur Gänze aus Kühlfächern, die ein bisschen an überdimensionierte Aktenschubladen mit großen Griffen erinnerten. Interessanterweise war der Geruch aus dem Gang hier etwas weniger intensiv.

Dr. Hove, groß, schlank, mit wachen grünen Augen und wie üblich in einem langen weißen Laborkittel, stand auf der hinteren Seite des leeren Sektionstisches. Ihre langen kastanienbraunen Haare waren oben am Kopf zu einem schlichten Knoten gedreht.

»Robert, Carlos.« Sie grüßte beide Detectives mit einem Nicken. »Ich schätze, Sie sind wegen der Akte hier, die ich Barbara Blake heute Vormittag geschickt habe, stimmt’s? Männliches Opfer, gefunden oben in den Sierra Pelona Mountains?«

»Sie wussten, dass Captain Blake damit zu uns kommen würde, oder, Doc?«, fragte Garcia grinsend.

Dr. Hove reagierte mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Ich gebe zu, dass dieses Opfer nicht wirklich in die Kategorie extrem brutaler Verbrechen fällt, aber es ist ein kurioser Fall, und ich weiß ja, dass Sie ein Faible für Kuriositäten haben. Insofern war ich mir ziemlich sicher, dass Barbara mit der Akte als Erstes zu Ihnen geht.«

»Na ja«, meinte Garcia, während er und Hunter näher traten. »Die Todesursache war auf jeden Fall mal was anderes.«

»Stimmt«, pflichtete Dr. Hove ihm bei. »Und es gab noch ein paar weitere Kleinigkeiten, die mir seltsam vorkamen.«

»Ach ja?«, fragte Hunter. »Welche denn?«

»Hier«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung zu den Kühlfächern. »Ich zeige es Ihnen.«

Hunter und Garcia folgten Dr. Hove und warteten, während sie die Tür von Fach 3C öffnete und die in einem weißen Kunststoffsack gehüllte Leiche herauszog. Dr. Hove öffnete den Reißverschluss vom Kopf bis zu den Füßen, sodass der Tote vollständig zum Vorschein kam. Shaun Daniels war ein durchschnittlich großer, allerdings leicht untergewichtiger Mann gewesen.

Aus der Nähe betrachtet, sahen die Verletzungen in seinem Gesicht noch furchterregender aus als auf den Fotos, die Hunter und Garcia etwa eine Stunde zuvor betrachtet hatten. Die linke Augenhöhle wirkte eingedrückt, vermutlich aufgrund einer Fraktur. Die grotesk verformte und aufgeschürfte Nase war ebenfalls gebrochen. Obwohl die Leiche mehrere Tage zuvor entdeckt worden war, wiesen Gesicht, Hände und Füße noch immer Anzeichen von Schwellungen auf. Die Haut wirkte gummiartig und porös, allerdings nicht leichenblass. Stattdessen hatte sie eine seltsame violette Farbe, was es schwerer machte, die große Anzahl von Hämatomen zu erkennen, mit denen der Körper übersät war.

»Eigentlich hätte ich die Sektion gar nicht machen sollen«, begann Dr. Hove. »Leichen mit offensichtlichen Todesursachen wie Autounfälle, Kopfschüsse, Suizide und so weiter werden meistens an die Fakultät für forensische Pathologie weitergegeben. Sie gehen oft an Studierende, aber aufgrund eines Fehlers in den Unterlagen an der Uni ist sie hier gelandet. Normalerweise wäre ich den ganzen Vormittag in einem Meeting gewesen, aber dann wurde es abgesagt, und um mit der liegen gebliebenen Arbeit zu helfen, habe ich heute Vormittag ein paar Sektionen übernommen.« Sie deutete auf den Toten. »Das hier war die zweite.«

Sie schwieg einen Moment und ließ den Detectives Zeit, die Leiche zu inspizieren. Hunter war der Erste, dem etwas Ungewöhnliches auffiel.

»Ihm fehlen vier Zehennägel am linken Fuß«, sagte er und sah die Medizinerin stirnrunzelnd an. Diese lächelte.

»Gut beobachtet, Robert.« Sie nickte. »Das war einer der Hinweise, dass irgendwas an diesem angeblichen Verkehrsunfall nicht so war, wie es schien.«

Garcia, der noch dabei war, die Verletzungen im Gesicht des Toten zu studieren, richtete seine Aufmerksamkeit nun auf dessen Füße. »Was ist denn da passiert?«

Hunter versuchte, sich an die Fotos zu erinnern. Er brauchte nur einen kurzen Moment. »Er hatte Sneaker an«, sagte er und suchte Dr. Hoves Blick. »Auf den Fotos in der Akte, die Sie uns geschickt haben.«

Dr. Hove nickte stumm.

»Haben Sie die noch?«

»Im Lager. Seine Zehennägel waren nicht drin, falls Sie darauf hinauswollten.«

»Das kann nicht durch den Unfall passiert sein, Robert.« Garcia schüttelte den Kopf.

»Ich weiß«, sagte Hunter. »Ich habe nur gefragt, weil er unmöglich ohne Zehennägel am linken Fuß in Sneakern durch die Gegend gelaufen sein kann. Viel zu schmerzhaft.«

»Ist er auch nicht«, sagte Dr. Hove. »Er war tot, bevor er an den Fundort gebracht wurde.«

Hunter kratzte sich am Kinn. »Wie lange? Was ist der Todeszeitpunkt?«

Die Ärztin griff nach ihren Aufzeichnungen. »Laut Bericht der Verkehrspolizei wurde seine Leiche am Sonntag, den 16. Juni, gegen zehn nach fünf Uhr morgens am Straßenrand gefunden. Also vor vier Tagen.«

»Stimmt«, bestätigte Hunter.

»Zu dem Zeitpunkt«, fuhr Dr. Hove fort, »war er seit mindestens sechs bis acht und höchstens achtzehn Stunden tot.«

»Das heißt, er ist irgendwann am Samstagnachmittag oder Samstagabend gestorben?«, fragte Garcia. »Nicht am Sonntagmorgen?«

»Richtig.«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Aber laut Aussage der Kollegen von der Verkehrspolizei«, sagte Garcia, »und Ihrem Autopsiebericht passen seine Verletzungen zu einem Unfallgeschehen, bei dem er bei hoher Geschwindigkeit von einem Auto erfasst wurde.«

»Das stimmt.« Dr. Hove nickte.

»Okay«, fuhr Garcia fort. »Aber er kann unmöglich am Samstagabend überfahren worden sein. Dann hätte man ihn viel früher gefunden. Die Lake Hughes Road verbindet Santa Clarita mit Lancaster. Nachts und frühmorgens nimmt der Verkehr zwar ab, trotzdem kommt alle paar Minuten ein Auto vorbei.«

»Wie ich sagte«, beharrte Dr. Hove. »Die Frakturen in Kombination mit den Hämatomen, den Verletzungen am Schädel, den Hautabschürfungen und der zerrissenen Kleidung legen nahe, dass er von einem Auto erfasst wurde, nur …« Abermals zog sie die Augenbrauen hoch.

»Aber der Unfall hätte auch inszeniert worden sein können, um die wahre Todesursache zu verschleiern«, beendete Hunter ihren Satz. »Und mit ›inszeniert‹ meine ich, dass es gar keinen Unfall gab. Der Täter könnte die Leiche mit dem Pick-up auf der Fahrbahn hinter sich hergeschleift und so die Abschürfungen hervorgerufen haben. Danach hat er sie einfach liegen lassen.«

»Ganz genau«, sagte Dr. Hove. »Die Theorie des Verkehrsunfalls beruhte in erster Linie auf den Begleitumständen: Die Leiche wurde am Straßenrand gefunden, noch dazu an einer Stelle, wo deutliche Bremsspuren auf dem Asphalt zu sehen waren. Der Abstand zwischen Leiche und Bremsspuren passte zu einem Unfallgeschehen zwischen einem Fußgänger und einem Fahrzeug, das etwa fünfzig Meilen pro Stunde fuhr …«

»So was lässt sich ja leicht kalkulieren«, warf Garcia ein.

»Eben«, bestätigte die Medizinerin. »Nichts am Ort des Geschehens deutete auf vorsätzliche Tötung hin, deshalb ist verständlicherweise auch niemand auf die Idee gekommen, dass es sich um etwas anderes als einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht gehandelt haben könnte.«

Hunter richtete seine Aufmerksamkeit abermals auf die Füße des Toten. »Sie sagten, die fehlenden Zehennägel wären einer der Hinweise gewesen, dass an der Sache was faul ist. Welche Hinweise gab es denn sonst noch? Die Hautfarbe?«

»Ja, auf jeden Fall«, antwortete Dr. Hove. »Diese blauviolette Verfärbung kann unterschiedliche Ursachen haben – Verlust der Körperwärme ist eine davon. Sein Gesicht, seine Hände und Füße weisen außerdem Schwellungen auf, die nicht von den Frakturen stammen. Das war eigenartig.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Leiche. »Aber das wichtigste Indiz waren die Trümmerfrakturen – und zwar beide.«

Hunter und Garcia betrachteten mehrere Sekunden lang die Knochenbrüche.

»Keine Ekchymosen.« Hunter war der Erste, der etwas sagte.

»Volltreffer«, sagte Dr. Hove. »Es gibt keine Hautblutungen, keinerlei Hämatome im unmittelbaren Wundbereich, obwohl durch das heftige Trauma eindeutig Blutgefäße zerstört wurden. Bei normaler Blutzirkulation hätte es im Wundbereich der Frakturen sofort zu einer Ekchymose kommen müssen, so wie man sie zum Beispiel auch an den Nagelbetten sehen kann.

»Sie wollen damit sagen …«, meinte Garcia, »dass er noch lebte, als er seine Zehennägel verloren hat, aber bereits tot war, als die Frakturen an Hand und Bein entstanden sind?«

»Darauf deuten die Ergebnisse der Leichenschau hin, ja«, sagte Dr. Hove. »Das wiederum legt nahe, dass der Täter nicht nur die Bremsmarken auf der Fahrbahn absichtlich hinterlassen und die Leiche am Straßenrand abgelegt hat, so wie Robert meinte.«

»Er hat ihn tatsächlich überfahren«, sagte dieser. »Daher auch die Frakturen. Allerdings ist das erst einige Zeit nach seinem Tod passiert.«

Dr. Hove nickte. »Deshalb gibt es auch keine Ekchymosen. Aber das ist noch nicht alles. Er hat außerdem noch drei gebrochene Rippen, sechs gebrochene Finger – drei an jeder Hand – sowie eine Fraktur der linken Augenhöhle. Diese Verletzungen sind allerdings entstanden, während er noch am Leben war.«

Abermals betrachtete Hunter die Füße des Opfers, ehe er sich seinen Händen zuwandte. An fast allen Fingern, einschließlich der Daumen, waren die Nägel eingerissen oder abgebrochen. Trotz der violetten Verfärbung der Haut sah Hunter keine Anzeichen auf Erfrierungen an den Extremitäten. Allerdings wusste er, dass sichtbare Erfrierungserscheinungen kein Muss bei einer Hypothermie waren, da diese auch bei Temperaturen oberhalb des Gefrierpunkts auftreten konnte. Normalerweise kam es zu einer Unterkühlung, wenn jemand nass war, schwitzte, zu lange in kaltem Wasser festsaß oder über unzulängliche Isolationsmöglichkeiten, sprich Kleidung verfügte. Denkbar war auch eine Kombination mehrerer Faktoren. Der Umstand, dass Shaun Daniels einen eher niedrigen Körperfettanteil gehabt hatte, hätte das Absinken der Kerntemperatur weiter beschleunigt. Alles in allem war eine Hypothermie nicht ausgeschlossen, aber um eine solche Diagnose zu stellen, hätte Dr. Hove konkrete Befunde benötigt.

»Was hat Sie zu dem Schluss geführt, dass er an Unterkühlung gestorben ist, Doc?«, wollte er wissen.

»Gute Frage, Robert.« Dr. Hove neigte den Kopf zur Seite. »An dem Punkt wurde das Ganze nämlich ein bisschen kniffliger.«

»Inwiefern?«, fragte Garcia.

»Na ja, Hypothermie als Todesursache ist in der forensischen Pathologie immer ein etwas problematischer Befund. Bei einem Großteil der Fälle sind der wichtigste Hinweis auf eine Unterkühlung die äußeren Umstände: Die betreffende Person wurde im Schnee oder in kaltem Wasser aufgefunden und so weiter … und weil es in diesem Fall solche Umstände nicht gab, habe ich natürlich nach anderen Erklärungen für gewisse Symptome gesucht. Die Violettfärbung der Haut zusammen mit den Schwellungen im Gesicht, an Händen und Füßen kann durchaus eine Begleiterscheinung von Hypothermie sein, aber beispielsweise auch bei einer …«

»Vergiftung auftreten«, kam Hunter ihr zuvor.

»Exakt.« Dr. Hove zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und Vergiftung klingt nach einer wesentlich plausibleren Todesursache, wenn man bedenkt, dass wir in Kalifornien sind und Frühsommer haben.«

»Klingt logisch«, meinte Garcia.

»Also habe ich nach Spuren von Toxinen gesucht«, fuhr Dr. Hove fort. »Bis ich mehrere schwarze Verfärbungen in seiner Magenschleimhaut entdeckt habe.«

»Reden Sie von Wischnewski-Flecken?«, fragte Hunter.

»Ganz genau.«

Garcia lachte leise. »Ich wundere mich gar nicht darüber, dass du den Fachausdruck für schwarze Flecken in der Magenschleimhaut kennst. Was mich verblüfft, ist, dass du auch noch weißt, wie man dieses Wort ausspricht.«

Hunter zuckte die Achseln. »Ich lese viel.«

»Der Klassiker.« Garcia hob die Hände, als gäbe es dazu mehr nicht zu sagen.

»Wischnewski-Flecken gelten als einer der verlässlichsten und wichtigsten Befunde für die Feststellung einer Hypothermie«, führte Dr. Hove aus. »Ich war ziemlich überrascht, als ich sie fand, aber das hat mich dazu veranlasst, nach weiteren Symptomen zu suchen – Einblutungen in die Gelenkinnenhaut, blutiger Verfärbung der Synovialflüssigkeit im Knie und noch andere Dinge mehr.«

»Und die haben Sie alle gefunden?«, wollte Hunter wissen.

»Alle.« Die Antwort wurde von einem energischen Nicken begleitet. Abermals lenkte Dr. Hove die Aufmerksamkeit der beiden Detectives auf die Leiche. »Letzten Endes hat sein Herz versagt, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die Ursache dafür eine akute Unterkühlung war.« Sie streifte sich ihre Latexhandschuhe ab und warf sie in einen Abfallbehälter. »So verrückt es sich auch anhört, der Mann ist erfroren … in Los Angeles … mitten im Juni.«

4

Draußen war die Temperatur auf bestimmt zwanzig Grad gestiegen, und die Sonne stand hoch am wolkenlos blauen Himmel. Es hatte in Los Angeles seit zwei Wochen nicht mehr geregnet, und im Fernsehen, Radio und Internet wurde bereits vor den Risiken unabsichtlich verursachter Waldbrände gewarnt – ein Phänomen, mit dem die Stadt leider fast jedes Jahr während der Sommermonate zu kämpfen hatte und das enorm hohe Sachschäden, zahlreiche Todesfälle und viel Leid verursachte.

Als Hunter und Garcia ins Freie traten, griffen sie unwillkürlich nach ihren Sonnenbrillen. Garcias Brille hatte eckige Gläser, während Hunter eine klassische Pilotenbrille besaß.

»Du siehst aus wie jemand vom FBI«, sagte Garcia, während er Hunter von oben bis unten musterte.

»Echt?« Hunter grinste. »Ist es das alte T-Shirt, die verblichene schwarze Jeans, oder sind es die Bikerstiefel?« Er wartete nicht auf eine Antwort seines Partners. Stattdessen nahm er die Sonnenbrille wieder ab und zeigte mit dem Zeigefinger auf sein rechtes Auge.

»Schau in mein Auge«, sagte er mit ungewöhnlich tiefer Stimme.

»Was soll das denn?«, fragte Garcia verständnislos.

»Das ist meine FBI-Stimme.«

»Meinst du das ernst?«

»Ja. Das ist aus einem alten Film.«

Garcia sah ihn mit offenem Mund an. »Du willst mich verarschen, oder? Das Zitat stammt aus Aliens, Robert. Der Film hat absolut nichts mit dem FBI zu tun. Und der Sergeant benutzt seinen Mittelfinger, nicht den Zeigefinger. Darum geht es doch gerade – dass er in Wahrheit dem Marine den Stinkefinger zeigt – so.« Mit dem Mittelfinger zog er leicht sein rechtes Unterlid herunter. »Schau in mein Auge.«

Hunter sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Bist du sicher, dass das aus Aliens ist?«

»Ja, ganz sicher. Du hast echt keine Ahnung, weißt du das?«

»Ich sehe mir nicht oft Filme an.«

»Was du nicht sagst.« Sie waren bei Garcias Auto angelangt.

Garcia schloss die Tür auf und schwang sich auf den Fahrersitz. »Ich muss gestehen, dass der Fall mir mit jeder Minute seltsamer vorkommt.«

Hunter nahm auf dem Beifahrersitz Platz, sagte jedoch nichts. Er wirkte nachdenklich.

»Im Moment sieht es danach aus, als hätten wir einen Toten«, fuhr Garcia fort und zeigte mit dem Daumen hinter sich auf das Gebäude der Rechtsmedizin, »der irgendwo gestorben ist, möglicherweise ermordet wurde, ehe jemand, möglicherweise der oder die Mörder, mit ihm in die Berge gefahren ist, um es so aussehen zu lassen, als wäre er von einem Pick-up überfahren worden.«

»Das fasst es ganz gut zusammen, ja«, stimmte Hunter ihm zu.

Garcia ließ sich gegen die Lehne seines Sitzes sinken und lachte. »Ich habe so viele Fragen.«

»Okay, schieß los. Was ist die erste Frage, die dir in den Sinn kommt?«

Hinter seiner Sonnenbrille kniff Garcia die Augen zusammen.

»Nicht nachdenken. Frag einfach drauflos. Was fällt dir als Erstes ein?« Rasch hob Hunter die Hand. »Ich meine jetzt nicht so was Grundsätzliches wie ›Warum wurde er ermordet?‹. Lass uns die Frage fürs Erste überspringen.«

»Okay.« Garcia zuckte mit den Schultern. »Wieso wurde er gefoltert?«

Hunter nickte. Das war ein guter Startpunkt.

»Denn so muss es doch gewesen sein. Wir wissen nicht, wie lange die Folter gedauert hat, aber jemand hat ihm einzeln die Zehennägel rausgerissen. Jemand hat ihm sechs Finger, drei Rippen und die linke Augenhöhle gebrochen, ehe er ihn in eine Gefriertruhe gesperrt hat … während er noch am Leben war … Eine andere Erklärung dafür, wieso er mitten im Juni in L. A. erfroren ist, gibt es ja wohl nicht. Und ist dir aufgefallen, dass er keine Fesselmarken hatte?«

Hunter nickte. »Weder an Hand- noch an Fußgelenken.«

»Eben. Er scheint also nicht gefesselt gewesen zu sein. Seine Fingernägel waren eingerissen, und die Fingerspitzen waren wund, weil er versucht hat, sich zu befreien – wahrscheinlich aus der Tiefkühltruhe, in die er eingesperrt war. Also … wie foltert man jemanden, ohne ihn zu fesseln?«

»Nichts leichter als das«, gab Hunter zurück. »Man betäubt ihn.«

Garcia trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Was soll das für eine Art von Folter sein, bei der der Täter sein Opfer vorher betäubt?«

»Eine besonders perfide. Überleg mal: Zunächst spürt er nichts. Vielleicht ist er sogar bei Bewusstsein und sieht, wie der Täter ihm die Verletzungen zufügt – wie er ihm die Zehennägel ausreißt, die Finger bricht und so weiter. Er empfindet keinerlei Schmerzen. Aber irgendwann lässt das Betäubungsmittel nach, und dann fängt das Leiden an … ganz langsam … bis es sich immer weiter steigert. Schmerzen am ganzen Körper, die von Sekunde zu Sekunde stärker werden. Der Täter könnte ihm die Verletzungen sukzessive oder auch alle gleichzeitig zugefügt haben. Das ist eine schreckliche Art, jemanden zu quälen.«

»Absolut krank.« Garcia schüttelte den Kopf. »Aber es führt uns zurück zu meiner Frage von eben: Warum wurde er auf diese Weise gefoltert?«

Hunter schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Es gibt Standardantworten.« Er zählte sie an seinen Fingern ab. »Um an Informationen zu gelangen, um das Opfer zu etwas zu zwingen, was es nicht tun wollte, aus Rache, als Bestrafung, um Geld zu erpressen oder aus purem Sadismus, weil der Täter seinen Trieb befriedigen wollte. Manche Mörder brauchen diesen Kick.«

»Wem sagst du das?« Garcia zog das Kinn ein und sah Hunter über den Rand seiner Brille hinweg an. »Aber Täter, die sich an so was aufgeilen, machen nicht nach einem Opfer Schluss, stimmt’s? Sie werden früher oder später zu Serientätern, weil sie einfach nicht aufhören können. Sie erleben nie wirkliche Befriedigung, egal wie oft sie töten.«

Hunter schwieg.

»Für mich gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass das auf diesen Fall zutrifft, für dich etwa? Es kommt mir einfach nicht wie die Tat eines Serienmörders vor.«

»Ja, finde ich auch.«

»Aber die anderen Möglichkeiten kämen infrage«, fuhr Garcia fort. »Wir wissen nicht, wer dieser Shaun Daniels ist. Vielleicht war er ein Drogendealer, Kredithai oder wohlhabender Geschäftsmann … was auch immer.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder andersrum: Vielleicht schuldete er den falschen Leuten Geld, hat mit der Frau des falschen Mannes geschlafen oder die falsche Person verraten … So was kann schon mal dazu führen, dass man gefoltert und ermordet wird, vor allem in einer Stadt wie L. A.«

»Die Rechercheabteilung ist schon dabei, Infos über ihn zu sammeln. Heute Abend oder spätestens morgen früh müsste uns eine Akte über Mr Daniels vorliegen, inklusive Kreditkartenabrechnungen und Gesprächsnachweisen.«

»Da ist noch was«, sagte Garcia. »Es beschäftigt mich, seit ich das Unfallprotokoll gelesen habe.«

Hunter studierte einige Zeit lang die Miene seines Partners. »Wie kommt es, dass sein Auto da oben gefunden wurde?«

Garcia hob den Zeigefinger. »Genau. Er kann damit ja nicht in die Berge gefahren sein. Wenn er erschossen, erschlagen oder erwürgt worden wäre oder was weiß ich – selbst wenn ihn tatsächlich jemand überfahren hätte –, dann wäre das denkbar gewesen.«

»Aber er ist an Unterkühlung gestorben.« Hunter lehnte sich gegen die Innenseite der Beifahrertür.

»Das ist der Haken. Noch dazu war er bereits mehrere Stunden tot, als er gefunden wurde. Das bedeutet, es kann nicht in den Bergen passiert sein. Er ist nicht mit einem Lover oder wegen eines Drogendeals in die Berge gefahren, und dann ist irgendwas schiefgelaufen. Ihm hat da oben auch niemand aufgelauert … Und er hat sich ganz sicher nicht bei einem Spaziergang entlang der Lake Hughes Road den Arsch abgefroren.«

»Und dennoch«, warf Hunter ein, »parkte sein Kombi dort.«

»Was bedeutet, dass jemand anders ihn dorthin gebracht haben muss. Wahrscheinlich der oder die Mörder. Aber selbst, wenn nicht – ich würde zu gern ein Wörtchen mit der Person reden.«

Hunter nickte, ehe er sich die Sonnenbrille wieder aufsetzte. »Ich auch.«