Die stille Bestie - Chris Carter - E-Book

Die stille Bestie E-Book

Chris Carter

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der SPIEGEL-Bestseller von Chris Carter: verstörend, fesselnd und voller menschlicher Abgründe! Profiler Robert Hunter muss sich bei diesem Fall mehr mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, als ihm lieb ist… Chris Carter hat jahrelang als Kriminalpsychologe für die Polizei in Los Angeles gearbeitet, das macht seine Bücher so einzigartig. Dieser Killer ist der Liebling aller Carter-Fans! Profiler Robert Hunter vertraut nur wenigen Menschen. Eigentlich gibt es nur einen, für den er immer seine Hand ins Feuer legt. Lucien Folter, seinen Freund aus Studientagen. Beide können Menschen besser lesen als jeder andere. Hunter vertraute Folter seine engsten Geheimnisse an. Bis dieser plötzlich verschwand. Jetzt kommt ein Anruf. Die Körperteile unzähliger Mordopfer sind aufgetaucht, grausige Trophäen. Angeklagt ist Lucien Folter. Und er will nur mit einem reden: Robert Hunter … »Super spannender und packender Thriller in gewohnt hoher "Krankheitsskala" à la Carter.« Amazon Kunde »Die vorigen Bücher waren schon sehr fesselnd und man konnte nicht aufhören zu lesen - bis jetzt. Denn dieses Buch bringt alles zum Überlaufen, es ist genial! Die Story ist wirklich herzzerreißend und schockierend zugleich. Es packt ab Seite 1 die Leser und ist eines der besten Bücher, die ich bis jetzt gelesen habe!« Amazon Kundin *** Ein absolutes Muss für Chris Carter Fans! Gewohnt schockierend und Pageturner für schlaflose Nächte. ***

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 559

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Profiler Robert Hunter wird vom FBI um Hilfe bei einem besonders grausamen Fall gebeten: Ein Serienmörder bringt mit geradezu wissenschaftlicher Präzision Menschen um. Von jedem Opfer behält er genau eine Trophäe. Nur zufällig ist ihm die Polizei auf die Spur gekommen. Die Anzahl der Trophäen deutet auf eine unsagbar große Menge von Opfern hin. Der Hauptverdächtige Lucien Folter schweigt. Er möchte nur mit einem sprechen: Robert Hunter.

Der bekannte Profiler ist schockiert, denn Folter ist ein alter Freund aus Studientagen. Eigentlich sogar Hunters einziger Freund, denn er vertraut niemandem. Wie konnte er sich so in einem Menschen täuschen? Ist sein alter Freund überhaupt der, für den Hunter ihn immer gehalten hat? Ein teuflisches Spiel beginnt, denn Lucien Folter kennt Hunters verborgene Ängste und dunkelste Geheimnisse …

Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.

Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:

One Dead

Der Kruzifix-Killer

Der Vollstrecker

Der Knochenbrecher

Totenkünstler

Der Totschläger

Die stille Bestie

Chris Carter

Die stilleBestie

THRILLER

Aus dem Englischen von

Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1092-3

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2015

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

© Chris Carter 2014

Published by Arrangement with Luiz Montoro

Titel der englischen Originalausgabe: An Evil Mind (Simon & Schuster Inc.)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Dieser Roman unterscheidet sich radikal von all meinen vorangegangenen – hauptsächlich darin, dass dies der erste von mir verfasste Thriller ist, in dem große Teile der Handlung auf Tatsachen beruhen und die Figuren auf Personen, mit denen ich während meiner Zeit als forensischer Psychologe in Kontakt gekommen bin. Ihre Namen wurden aus naheliegenden Gründen geändert.

Ich möchte dieses Buch all jenen Lesern widmen, die an dem Preisausschreiben in Großbritannien teilgenommen haben, bei dem es darum ging, eins der Opfer in diesem Thriller zu werden – insbesondere der Gewinnerin Karen Simpson, die in South Wales lebt und alles gut gelaunt mitgemacht hat. Ich hoffe, die Geschichte gefällt euch.

Erster Teil

Der falsche Mann

1

»Morgen, Sheriff. Morgen, Bobby«, rief die rund­liche, dunkelhaarige Kellnerin mit dem kleinen Herz-Tattoo am linken Handgelenk von ihrem Platz hinter dem Tresen. Sie brauchte gar nicht erst auf die Uhr zu sehen, die rechts neben ihr an der Wand hing. Sie wusste auch so, dass es kurz nach sechs war.

Jeden Mittwochmorgen, ohne Ausnahme, betraten Sheriff Walton und sein Deputy Bobby Dale Noras Truck Stop Diner am Rande des Städtchens Wheatland im südöst­lichen Wyoming, um ihren Hunger auf Süßes zu stillen. Man munkelte, dass es in Noras Diner die beste Pie von ganz Wyoming gab. Jeden Tag ein anderes Rezept. Mittwochs war Apfel-und-Zimt-Pie an der Reihe – Sheriff Waltons Lieblingssorte. Er wusste, dass die erste Ladung um Punkt sechs Uhr aus dem Ofen kam, und es gab einfach nichts Köstlicheres als den Geschmack von frisch gebackener Pie.

»Morgen, Beth«, grüßte Bobby zurück, während er sich das Regenwasser von Jacke und Hose wischte. »Ich sag’s Ihnen, da draußen haben sich alle Schleusentore geöffnet«, setzte er noch hinzu und schüttelte sein Bein aus, als hätte er in die Hose gemacht.

Sommerliche Regenschauer waren im Südosten Wyomings nichts Ungewöhnliches, doch das Unwetter an diesem Morgen war das bislang heftigste der Saison.

»Morgen, Beth«, sagte nun auch Sheriff Walton. Er tupfte sich Gesicht und Stirn mit einem Taschentuch trocken und ließ dann den Blick flüchtig durch den Gastraum des Diners schweifen. Zu dieser frühen Stunde, noch dazu bei strömendem Regen, herrschte deutlich weniger Betrieb als sonst. Nur drei der fünfzehn Tische waren besetzt.

Am Tisch unmittelbar neben der Tür saßen ein Mann und eine Frau und frühstückten Pancakes. Sie mochten etwa Mitte zwanzig sein, und der Sheriff vermutete, dass ihnen der zerbeulte silberne VW Golf gehörte, der draußen auf dem Parkplatz stand.

Am Nachbartisch saß ein großer, verschwitzter Mann mit kahlrasiertem Schädel. Er brachte gut und gerne hundertsechzig Kilo auf die Waage, und die Berge an Essen, die er vor sich stehen hatte, wären ausreichend gewesen, um zwei sehr hungrige Menschen satt zu machen. Vielleicht auch drei.

Der letzte der drei Fenstertische war von einem großen, grauhaarigen Mann mit buschigem Hufeisenschnurrbart und krummer Nase belegt. Seine beiden Unterarme waren mit verblassten Tätowierungen bedeckt. Er war bereits mit dem Frühstück fertig und hing nun schlaff auf seinem Stuhl, spielte mit einer Zigarettenschachtel und sah nachdenklich vor sich hin, als habe er eine schwierige Entscheidung zu treffen.

Sheriff Walton zweifelte keine Sekunde lang daran, dass diesen beiden Männern die zwei großen Trucks draußen gehörten.

Am Ende des Tresens schließlich saß ein adrett gekleideter Mann irgendwo zwischen vierzig und fünfzig, trank schwarzen Kaffee und aß einen Donut mit Schokoladenglasur. Sein Haar war kurz geschnitten und wohlfrisiert, sein modischer Bart akkurat gestutzt. Er blätterte in einer Ausgabe der Morgenzeitung. Ihm musste der dunkelblaue Ford Taurus gehören, schätzte Sheriff Walton.

»Sie kommen gerade richtig«, sagte Beth und zwinkerte dem Sheriff zu. »Ich habe sie eben aus dem Ofen geholt.« Sie deutete ein Schulterzucken an. »Als ob Sie das nicht ganz genau wüssten.«

Der Duft von frischer Apple Pie mit einem Hauch Zimt erfüllte das Lokal.

Sheriff Walton grinste breit. »Wir nehmen das Übliche, Beth«, sagte er und setzte sich an den Tresen.

»Kommt sofort«, antwortete Beth, ehe sie in der Küche verschwand. Sekunden später kam sie mit zwei dampfenden, extragroßen Stücken Pie garniert mit Honig und Sahne zurück. Sie versprachen Genuss in Vollendung.

»Ähm …«, sagte der Mann am anderen Ende des Tresens und hob zaghaft den Finger wie ein Schüler, der sich im Unterricht meldet. »Gibt es davon noch mehr?«

»Reichlich«, antwortete Beth und lächelte ihn an.

»In dem Fall hätte ich auch gern ein Stück.«

»Ich auch«, rief der dicke Truckfahrer von seinem Tisch aus und winkte. Er leckte sich bereits die Lippen.

»Und ich auch«, sagte der Hufeisenschnurrbart, der seine Zigarettenschachtel wieder in der Jackentasche verschwinden ließ. »Das riecht verdammt lecker.«

»Es schmeckt auch lecker«, bekräftigte Beth.

»Lecker beschreibt es nicht mal ansatzweise«, erklärte Sheriff Walton und wandte sich zu den Tischen um. »Es ist ein Gefühl, als wären Sie gestorben und in den Himmel gekommen.« Dann riss er ganz unvermittelt die Augen auf. »Ach du heilige Scheiße«, murmelte er und rutschte von seinem Barhocker.

Das Verhalten seines Vorgesetzten ließ Bobby Dale herumfahren. Er folgte dem Blick des Sheriffs. Durch das große Fenster hinter dem Tisch, an dem das junge Pärchen saß, sah er die hellen Frontscheinwerfer eines Pick-ups, der direkt auf sie zuhielt. Der Wagen schien außer Kontrolle geraten zu sein.

»Was zum Teufel …«, sagte Bobby und stand ebenfalls auf.

Auch die anderen Gäste drehten sich zum Fenster. Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern. Der Pick-up kam auf das Diner zugerast wie eine zielsuchende Rakete. Der Fahrer machte keinerlei Anstalten, auszuweichen oder zu bremsen. Sie hatten zwei, maximal drei Sekunden, dann würde der Wagen durch die Scheibe krachen.

»ALLESINDECKUNG!«, brüllte Sheriff Walton – aber das hätte er sich sparen können. Die Leute waren instinktiv von ihren Plätzen in die Höhe gefahren und versuchten verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner momentanen Geschwindigkeit würde der Pick-up die Front des Gebäudes durchbrechen und vermutlich erst vor der Küche ganz hinten im Lokal zum Stehen kommen. Dabei würde er alles zerstören oder töten, was ihm in die Quere kam.

Im Diner brach ein Tumult aus Schreien und hektischer Bewegung aus. Den Gästen dämmerte, dass die Zeit nicht reichen würde.

KRIIIIEEEETSCH-BUMMMM!

Das Geräusch des Aufpralls war ohrenbetäubend wie eine Explosion und ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern.

Sheriff Walton war der Erste, der danach den Kopf hob. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, dass der Pick-up, aus welchem Grund auch immer, nicht durch die Fensterscheibe des Diners gerast war.

Stirnrunzeln, gefolgt von Verwirrung.

»Sind alle wohlauf?«, rief er schließlich, während er sich hastig nach den anderen umsah.

Aus den Ecken des Raums drang bejahendes Murmeln.

Der Sheriff und sein Deputy verloren keine Zeit. Sie rappelten sich auf und stürzten ins Freie. Die anderen folgten einen Herzschlag später. Der Regen war in den vergangenen Minuten noch stärker geworden. Er fiel in dichten Schleiern vom Himmel und behinderte die Sicht.

Durch einen glücklichen Zufall war der Pick-up wenige Meter vor dem Eingang des Diners durch ein tiefes Schlagloch gefahren, hatte dadurch scharf nach links abgeschwenkt und das Gebäude um einen knappen Meter verfehlt. Dabei hatte er zunächst das Heck des dunkelblauen Ford Taurus gestreift, ehe er frontal in ein kleines Nebengebäude gerast war, in dem sich die Gästetoiletten sowie ein Lagerraum befanden. Man konnte von Glück sagen, dass sich zu dem Zeitpunkt niemand darin aufgehalten hatte.

»Verdammter Mist!«, stieß Sheriff Walton hervor. Sein Herz jagte. Der Pick-up war nur noch ein zerbeultes Wrack, und das Nebengebäude sah aus wie von einer Abrissbirne getroffen.

Der Sheriff stieg über die Trümmer hinweg und war als Erster beim Truck. Darin saß nur eine Person, der Fahrer – ein grauhaariger Mann, vielleicht Ende fünfzig. Sheriff Walton kannte den Mann nicht, war sich jedoch sicher, den Truck noch nie in Wheatland oder Umgebung gesehen zu haben. Es war ein alter, rostiger Chevy 1500 aus den frühen Neunzigern, ohne Airbags, und obwohl der Fahrer einen Sicherheitsgurt getragen hatte, war der Aufprall viel zu heftig gewesen. Der vordere Teil des Trucks, einschließlich des Motorblocks, war zusammengeschoben und in die Fahrerkabine gedrückt worden. Armaturenbrett und Lenkrad hatten den Fahrer in seinem Sitz eingeklemmt. Sein Gesicht war blutüberströmt und von den Glassplittern der Windschutzscheibe zerfetzt. Eine Scherbe hatte ihm sogar die Kehle aufgeschlitzt.

»Gottverdammich!«, zischte Sheriff Walton durch zusammengebissene Zähne, als er bei der Fahrertür ankam. Er musste nicht erst nach dem Puls des Mannes fühlen, um zu erkennen, dass er den Unfall nicht überlebt hatte.

»O mein Gott!«, hörte er Beth wenige Meter hinter sich mit zitternder Stimme ausrufen. Sofort drehte er sich um und hob in einer abwehrenden Geste die Hand.

»Beth, kommen Sie nicht näher«, befahl er energisch. »Gehen Sie wieder rein, und bleiben Sie drinnen.« Sein Blick glitt zu den Gästen, die ebenfalls auf den Truck zugeeilt kamen. »Das gilt für Sie alle. Gehen Sie zurück ins Diner. Das ist ein Befehl. Der ganze Bereich hier ist für Sie tabu, haben Sie verstanden?«

Alle blieben stehen, doch niemand kehrte um.

Der Sheriff hielt nach seinem Deputy Ausschau und sah ihn weiter hinten neben dem Ford Taurus stehen. In Bobbys Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Furcht.

»Bobby«, rief Sheriff Walton. »Ruf einen Krankenwagen und die Feuerwehr, schnell!«

Bobby rührte sich nicht vom Fleck.

»Bobby, komm zu dir, verdammt noch mal! Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich will, dass du dich ans Funkgerät hängst und den Krankenwagen und die Feuerwehr rufst, und zwar ein bisschen plötzlich.«

Doch Bobby stand weiterhin da wie angewurzelt. Er sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Erst verspätet wurde dem Sheriff klar, dass Bobby weder ihn noch den zerstörten Pick-up ansah. Stattdessen klebte sein Blick an dem Ford Taurus. Bevor der Pick-up in das Nebengebäude gerast war, hatte er den Taurus heftig genug gestreift, dass dessen Kofferraumklappe aufgesprungen war.

Da erwachte Bobby urplötzlich aus seiner Trance und griff nach seiner Dienstwaffe.

»Keiner rührt sich!«, brüllte er. Die Pistole in seinen zitternden Händen haltend, zielte er mal auf den einen, mal auf den anderen Diner-Gast. »Sheriff«, rief er mit unsteter Stimme. »Sie sollten besser mal rüberkommen und sich das hier ansehen.«

2

Fünf Tage später

Huntington Park, Los Angeles, Kalifornien

Die zierliche, dunkelhaarige junge Frau an der Kasse scannte den letzten Artikel ein und sah dann zu dem jungen Mann auf, der vor ihr stand.

»Das macht vierunddreißig zweiundsechzig, bitte«, sagte sie in neutralem Ton.

Der Mann packte die Einkäufe in Plastiktüten, ehe er ihr seine Kreditkarte reichte. Er konnte nicht älter sein als einundzwanzig.

Die junge Kassiererin zog die Karte durch das Lesegerät, wartete einige Zeit, dann biss sie sich auf die Unterlippe und schaute bedauernd zu dem Mann hoch.

»Tut mir leid, Sir, aber Ihre Karte wurde abgelehnt«, sagte sie und wollte sie ihm zurückgeben.

Der Mann starrte die Kassiererin an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.

»Was?« Sein Blick ging zu der Karte, verharrte dort einen Moment und kehrte dann zur Kassiererin zurück. »Das muss ein Irrtum sein. Da müsste eigentlich noch was drauf sein. Könnten Sie es noch mal probieren?«

Die Kassiererin zuckte leicht mit den Schultern und zog die Karte ein zweites Mal durchs Lesegerät.

Einige Sekunden verstrichen in angespanntem Schweigen.

»Tut mir leid, Sir, aber sie wurde wieder nicht akzeptiert«, sagte sie schließlich und gab ihm die Karte zurück. »Möchten Sie vielleicht eine andere Karte probieren?«

Peinlich berührt nahm der Mann seine Karte und schüttelte den Kopf. »Ich hab keine andere«, murmelte er scheu.

»Coupons?«, fragte sie.

Wieder ein betretenes Kopfschütteln.

Die Kassiererin wartete, während der Mann in seinen Taschen nach Bargeld suchte. Er förderte ein paar Dollarscheine sowie mehrere Vierteldollar- und Zehncentstücke zutage. Nachdem er rasch alles Kleingeld zusammengezählt hatte, hielt er kurz inne und sah die Kassiererin entschuldigend an.

»Tut mir leid, mir fehlen ungefähr sechsundzwanzig Dollar. Ein paar von den Sachen müssen dann wohl hierbleiben.«

Der Großteil seiner Einkäufe bestand aus Babyprodukten – Windeln, mehrere Gläschen Brei, eine Dose Folgemilch, Feuchttücher und eine kleine Tube Windelsalbe. Der Rest waren alltägliche Dinge – Brot, Milch, Eier, ein bisschen Gemüse und Obst, eine Dosensuppe –, allesamt preiswerte Marken. Die Babysachen rührte der Mann nicht an, alles andere jedoch ließ er zurückgehen.

»Könnten Sie nachsehen, wie viel das jetzt kostet, bitte?«, fragte er die Kassiererin.

»Ist schon gut«, sagte der Mann, der hinter ihm an der Kasse wartete. Er war groß und athletisch gebaut, mit attraktiven, wie gemeißelten Gesichtszügen und freundl­ichen Augen.

Er reichte der Frau an der Kasse zwei Zwanzig-Dollar-Scheine.

Diese runzelte fragend die Stirn.

»Ich übernehme das«, erklärte er und nickte ihr zu, ehe er sich an den jungen Mann wandte. »Sie können die Sachen wieder einpacken. Ich zahle.«

Der junge Mann starrte ihn verdattert an und brachte kein Wort heraus.

»Ist kein Problem«, bekräftigte der große Mann erneut mit einem aufmunternden Lächeln. »Ich mache das gern.«

Noch immer sprachlos vor Staunen sah der junge Mann die Kassiererin, dann wieder den großen Mann an.

»Vielen, vielen Dank, Sir«, stammelte er schließlich und streckte ihm die Hand hin. Die Stimme blieb ihm dabei fast im Halse stecken, und seine Augen waren ein wenig glasig.

Der Mann schüttelte ihm die Hand und nickte ihm aufmunternd zu.

»Das war das Netteste, was ich hier je erlebt hab«, erklärte die Kassiererin, sobald der junge Mann seine Einkäufe genommen und den Supermarkt verlassen hatte. Auch in ihren Augen schimmerten Tränen.

Der große Mann lächelte sie schweigend an.

»Im Ernst«, beteuerte sie. »Ich sitze schon seit fast drei Jahren hier an der Kasse. Ich hab schon oft erlebt, dass Leute nicht genug Geld haben, um alles zu bezahlen, und dass sie Sachen zurückgehen lassen müssen. Aber ich hab noch nie gesehen, dass jemand so was gemacht hat wie Sie gerade.«

»Jeder braucht irgendwann mal Hilfe«, gab der Mann zurück. »Das ist keine Schande. Heute habe ich ihm geholfen. Eines Tages hilft er vielleicht jemand anderem.«

Die junge Frau lächelte. Wieder wurden ihre Augen feucht. »Es stimmt, dass jeder ab und zu mal Hilfe braucht. Das Problem ist nur, dass die wenigsten bereit sind, anderen Hilfe zu geben. Erst recht, wenn sie dazu in die eigene Tasche greifen müssen.«

Der Mann nickte zustimmend.

»Ich hab Sie schon öfter hier gesehen«, fuhr die Kassiererin fort und scannte die wenigen Artikel, die der Mann aufs Band gelegt hatte. Sie kamen auf insgesamt neun Dollar neunundvierzig.

»Ich wohne in der Nachbarschaft«, sagte er und reichte ihr einen Zehner.

Sie überlegte kurz, dann sah sie ihn an. »Ich bin Linda«, sagte sie, deutete mit dem Kinn auf ihr Namensschild und streckte ihm die Hand hin.

»Robert«, antwortete der Mann und schüttelte ihr die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Hören Sie mal«, sagte sie, als sie ihm sein Wechselgeld aushändigte. »Wie wär’s … Meine Schicht ist um sechs zu Ende. Da Sie ja in der Nachbarschaft wohnen, könnten wir danach doch vielleicht noch einen Kaffee zusammen trinken gehen.«

Der Mann zögerte einen Augenblick. »Das Angebot ist wirklich sehr verlockend«, sagte er schließlich. »Nur leider fliege ich heute Abend in den Urlaub. Mein erster Urlaub seit …« Er verstummte und kniff die Augen zusammen. »Ich kann mich nicht mal mehr dran erinnern, wann ich das letzte Mal Urlaub hatte.«

»Das Gefühl kenne ich«, sagte sie, klang dabei allerdings ein wenig geknickt.

Der Mann nahm seine Einkäufe und sah sie an.

»Wie wär’s, wenn ich Sie anrufe, sobald ich wieder da bin – so in zehn Tagen? Vielleicht können wir dann einen Kaffee trinken gehen.«

Sie begegnete seinem Blick, und ihre Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln. »Das wäre schön«, sagte sie und schrieb ihm rasch ihre Nummer auf.

Als der Mann aus dem Supermarkt trat, klingelte das Handy in seiner Jackentasche.

»Detective Robert Hunter, Morddezernat I«, meldete er sich.

»Robert, sind Sie noch in L. A.?«

Es war die Chefin des Raub- und Morddezernats des LAPD, Captain Barbara Blake. Sie war diejenige gewesen, die Hunter und seinem Partner Detective Carlos Garcia erst vor wenigen Tagen befohlen hatte, nach sehr langen und aufreibenden Ermittlungen in einem Serienmörderfall zwei Wochen Urlaub zu nehmen.

»Momentan noch, ja«, sagte Hunter vorsichtig. »Mein Flug geht heute Abend, Captain. Wieso?«

»Ich tue das wirklich sehr ungern, Robert«, sagte Blake in aufrichtigem Bedauern. »Aber ich muss Sie in meinem Büro sprechen.«

»Wann?«

»Jetzt gleich.«

3

Im mittäglichen Stadtverkehr brauchte Hunter für die siebeneinhalb Meilen von Huntington Park bis zum LAPD-Hauptquartier in Downtown Los Angeles etwas mehr als eine Dreiviertelstunde.

Das Raub- und Morddezernat im fünften Stock des berühmten Police Administration Building in der West 1st Street war ein schlichter, großer, offener Raum vollgestellt mit Schreibtischen – hier gab es nirgendwo wacklige Trennwände oder Linien auf dem Fußboden, die einzelne Arbeitsplätze voneinander abgrenzten. Es ging zu wie auf einem Markt am Sonntagmorgen, überall Gewimmel, Murmeln und lautes Rufen.

Captain Blakes Büro lag ganz am Ende des großen Raums. Ihre Tür war geschlossen, was angesichts des Lärms nicht weiter bemerkenswert war – allerdings galt dasselbe für die Jalousien vor dem Panoramafenster mit Blick in den Raum. Das war definitiv ein schlechtes Zeichen.

Langsam bahnte sich Hunter einen Weg durch Menschen und Tische.

»He, was zum Geier machst du denn noch hier, Robert?«

Detective Perez sah von seinem Computerbildschirm auf, als Hunter sich an seinem und Hendersons Arbeitsplatz vorbeischlängelte.

»Ich dachte, du hast Urlaub?«

Hunter nickte. »Habe ich auch. Ich fliege heute Abend. Muss nur noch kurz was mit dem Captain besprechen.«

»Du fliegst?« Perez sah ihn staunend an. »Du musst es ja dicke haben. Wohin denn?«

»Hawaii. Mein erstes Mal.«

Perez lächelte. »Toll. Einen Urlaub auf Hawaii könnte ich im Moment auch ganz gut gebrauchen.«

»Soll ich dir einen Lei oder ein Hawaiihemd mitbringen?«

Perez zog eine Grimasse. »Nein, aber wenn du eine oder zwei von diesen hawaiianischen Tänzerinnen in deinem Koffer schmuggeln könntest – die würde ich nehmen. Die können dann jede Nacht in meinem Bett Hula tanzen. Wenn du verstehst, was ich meine.« Er nickte dabei, als wäre jedes Wort sein voller Ernst.

»Träumen ist nicht verboten«, entgegnete Hunter. Er musste lachen, weil Perez so nachdrücklich nickte.

»Genieß die Zeit, Mann.«

»Mache ich«, versprach Hunter, ehe er weiterging. Vor Blakes Tür blieb er stehen, und Instinkt und Neugier veranlassten ihn dazu, den Hals zu recken und einen Versuch zu unternehmen, durchs Fenster zu spähen – ohne Erfolg. Durch die Jalousien war nicht das Geringste zu sehen. Er klopfte zweimal.

»Herein«, hörte er Captain Blakes wie gewohnt leicht barsche Stimme rufen.

Hunter öffnete die Tür und trat ein.

Barbara Blakes Büro war geräumig, hell und penibel aufgeräumt. Die südliche Wand war voller Regale mit exakt nach Farben sortierten Büchern, alles Hardcover. An der Nordwand hingen, in schnurgeraden Reihen, gerahmte Fotos, Belobigungen und Auszeichnungen. Die Ostwand bestand aus einem riesigen Fenster mit Blick auf die South Main Street. Vor Blakes wuchtigem englischen Schreibtisch standen zwei Ledersessel.

Captain Blake selbst stand am Fenster. Ihre langen pechschwarzen Haare waren zu einem eleganten Knoten gedreht, der von zwei Holzstäbchen gehalten wurde. Sie trug eine weiße Bluse aus einem fließenden Material und einen eleganten marineblauen Bleistiftrock. Neben ihr stand eine schlanke, sehr attraktive Frau im konservativen Hosenanzug und mit einer Tasse dampfendem Kaffee in der Hand. Hunter hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie schien etwa Anfang dreißig zu sein, hatte langes blondes Haar und tiefblaue Augen. Sie sah aus wie jemand, der in so ziemlich jeder Lage die Ruhe bewahrte, und doch verriet ihre Kopfhaltung eine Spur nervöse Anspannung.

Als Hunter das Büro betrat und die Tür hinter sich schloss, drehte sich der große schlanke Mann, der in einem der beiden Sessel saß – auch er trug einen schlichten schwarzen Anzug – zu ihm herum. Er war Mitte fünfzig, doch die ausgeprägten Tränensäcke unter seinen Augen und die fleischigen Hängebacken, die ihm das Aussehen einer Dogge verliehen, ließen ihn mindestens zehn Jahre älter erscheinen. Die wenigen grauen Haare, die noch auf seinem Kopf wuchsen, waren über den Ohren säuberlich nach hinten gekämmt.

Verdutzt blieb Hunter stehen. Seine Augen wurden schmal.

»Hallo, Robert«, sagte der Mann und erhob sich. Seine von Natur aus heisere Stimme – ein Zustand, der sich durch jahrelanges Rauchen noch verschlimmert hatte – klang erstaunlich kräftig für einen Mann, der aussah, als habe er tagelang nicht geschlafen.

Hunters Blick verweilte mehrere Sekunden auf ihm, bevor er zu der blonden Frau und schließlich zu Captain Blake weiterwanderte.

»Es tut mir leid, Robert«, sagte diese mit einer leichten Neigung des Kopfes, ehe ihre Miene steinhart wurde und sie den sitzenden Mann fixierte. »Vor einer Stunde standen die zwei einfach bei mir auf der Matte. Hatten nicht mal die Manieren, vorher anzurufen«, erklärte sie.

»Ich entschuldige mich erneut«, sagte der Mann mit ­ruhiger, aber gebieterischer Stimme. Er war definitiv jemand, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, und der davon ausgehen konnte, dass sie auch befolgt wurden. »Gut sehen Sie aus.« Diese Worte waren an Hunter gerichtet. »Aber Sie sehen ja immer gut aus, Robert.«

»Sie auch, Adrian«, gab Hunter wenig überzeugend zurück. Er trat auf den Mann zu und reichte ihm die Hand.

Adrian Kennedy war der Leiter des Nationalen Zen­trums für die Analyse von Gewaltverbrechen NCAVC – eine Spezialabteilung des FBI, die nationale und internationale Behörden bei der Aufklärung ungewöhnlicher Gewaltverbrechen und Serienmorde unterstützte.

Hunter wusste, dass Adrian Kennedy nicht reiste, sofern es sich irgendwie vermeiden ließ. Mittlerweile koordinierte er den Großteil der NCAVC-Operationen von seinem großen Büro in Washington, D. C., aus, aber er war kein Karriere-­Bürokrat. Kennedy hatte seine Laufbahn beim FBI als junger Rekrut begonnen und bald seine Führungsqualitäten unter Beweis gestellt. Außerdem verfügte er über die natürliche Gabe, andere zu motivieren. Das war nicht lange unbemerkt geblieben, und schon sehr früh in seiner Laufbahn wurde er dem Team zugeteilt, das für den Schutz des US-­Präsidenten verantwortlich war – ein prestigeträchtiger Job. Zwei Jahre später vereitelte er ein Attentat auf den Präsidenten, indem er sich der Kugel in den Weg warf, die für den mächtigsten Mann der Welt bestimmt gewesen wäre. Er erhielt eine hohe Auszeichnung und ein Dankesschreiben vom Präsidenten persönlich, und als wenige Jahre später, im Juni 1984, das Nationale Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen gegründet wurde und man einen Leiter suchte, jemanden mit starker Führungspersönlichkeit, stand Adrian Kennedy ganz oben auf der Kandidatenliste.

»Das ist Special Agent Courtney Taylor«, stellte Kennedy die blonde Frau vor.

Sie trat auf Hunter zu und gab ihm die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Detective Hunter. Ich habe schon viel über Sie gehört.«

Taylors Stimme war sehr verführerisch, eine Mischung aus mädchenhafter Sanftheit und einem fast entwaffnenden Maß an Selbstvertrauen. Trotz ihrer zartgliedrigen Finger war ihr Händedruck fest und bedeutungsvoll, wie der einer Geschäftsfrau, die gerade einen wichtigen Deal abgeschlossen hat.

Hunter erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder an Kennedy.

»Ich bin froh, dass wir Sie noch erwischen, bevor Sie sich in den Urlaub verabschieden, Robert«, sagte Kennedy.

Von Hunter kam keine Antwort.

»Ein schönes Ziel?«

Hunter starrte Kennedy wortlos an.

»Es muss ja schlimm sein«, meinte er irgendwann. »Ich weiß nämlich, dass Sie normalerweise nicht der Typ für Small Talk sind. Ich weiß auch, dass es Sie nicht die Bohne interessiert, wohin ich in den Urlaub fliege. Wie wär’s also, wenn wir den ganzen Blödsinn überspringen und gleich zur Sache kommen? Worum geht es, Adrian?«

Kennedy schwieg einen Moment, als müsse er gründlich nachdenken, ehe er eine Antwort gab.

»Um Sie, Robert. Es geht um Sie.«

4

Hunters Aufmerksamkeit driftete einen Moment lang zu Captain Blake. Ihre Blicke trafen sich, und sie zuckte bedauernd mit den Achseln.

»Viel haben sie mir nicht verraten, Robert, aber das bisschen, was sie gesagt haben, klingt so, als sollten Sie es sich mal anhören.« Sie ging zurück an ihren Schreibtisch. »Besser, die beiden erklären es Ihnen selber.«

Hunter sah Kennedy abwartend an.

»Warum setzen Sie sich nicht, Robert?«, sagte Kennedy und bot ihm einen der zwei Sessel an.

Hunter rührte sich nicht. »Ich bleibe lieber stehen, danke.«

»Kaffee?«, fragte Kennedy und deutete auf Captain Blakes Espressomaschine in der Ecke.

Hunters Blick wurde drohend.

»Also gut. Schon verstanden.«

Kennedy hob in einer Geste der Beschwichtigung die Hände, während er zur selben Zeit Special Agent Taylor fast unmerklich zunickte. »Kommen wir gleich zum Punkt.« Er nahm wieder Platz.

Taylor stellte ihre Kaffeetasse ab und trat vor. Unmittelbar neben Kennedys Sessel blieb sie stehen.

»Okay«, begann sie. »Vor fünf Tagen, so etwa gegen sechs Uhr früh, erlitt ein gewisser Mr John Garner einen Herzinfarkt, während er in südlicher Richtung auf der US Route 87 unterwegs war. Zum fraglichen Zeitpunkt befand er sich in der Nähe eines kleinen Ortes namens Wheatland im Südosten von Wyoming. Wie man sich unschwer vorstellen kann, verlor er die Kontrolle über seinen Pick-up-Truck.«

»Es hat an dem Morgen heftig geregnet. Mr Garner war der einzige Insasse des Wagens«, warf Kennedy dazwischen, ehe er Taylor signalisierte, sie solle weitermachen.

»Vielleicht ist Ihnen das Folgende ja bekannt«, fuhr diese fort. »Die Route 87 verläuft von Montana bis nach South Texas, und wie die meisten US-Highways hat sie keine Leitplanken, Wände, Randsteine, Mittelinseln … nichts, was ein Fahrzeug davon abhalten würde, in irgendeine Richtung von der Fahrbahn abzukommen. Ausnahmen gibt es nur bei Streckenstücken, die durch Gebiete mit einer gewissen Bevölkerungsdichte führen oder auf denen ein erhöhtes Unfallrisiko besteht.«

»Auf das Streckenstück, von dem wir hier reden, trifft weder das eine noch das andere zu«, schob Kennedy ein.

»Durch pures Glück«, fuhr Taylor fort, »oder Pech, je nachdem, wie man’s nimmt, erlitt Mr Garner den Herzinfarkt, gerade als er an einer Fernfahrer-Raststätte namens Noras Diner vorbeifuhr. Er verlor das Bewusstsein, sein Truck kam von der Straße ab und raste über ein Stück Wiese auf das Diner zu. Augenzeugenberichten zufolge befand sich der Wagen auf direktem Kollisionskurs mit dem Gebäude.«

»Zu der frühen Stunde und aufgrund der heftigen Regenfälle hielten sich nur zehn Personen im Diner auf – sieben Gäste plus drei Angestellte. Der Sheriff des Ortes und sein Deputy waren auch unter den Gästen.« Sie hielt inne, um sich zu räuspern. »Irgendetwas muss in letzter Sekunde passiert sein, denn Mr Garners Wagen hat plötzlich radikal den Kurs geändert und das Restaurant knapp verfehlt. Die Unfallermittler sind der Ansicht, dass er in ein tiefes Schlagloch geraten ist und dies dazu geführt hat, dass das Lenkrad scharf nach links gerissen wurde.«

»Der Truck ist in das angrenzende Toilettengebäude gerast«, sagte Kennedy. »Wenn Mr Garner nicht am Herzinfarkt gestorben wäre, hätte ihn der Aufprall getötet.«

»So«, sagte Taylor und hob den rechten Zeigefinger. »Das war der erste Zufall. Als Mr Garners Truck das Diner haarscharf verfehlte und auf das Nebengebäude zuraste, hat er das Heck eines blauen Ford Taurus gestreift, der draußen parkte. Das Auto gehörte einem der Diner-Gäste.«

Taylor machte eine Pause und griff nach einem Aktenkoffer, der neben Captain Blakes Schreibtisch stand.

»Mr Garners Truck hat dem Heck des Taurus einen so heftigen Stoß versetzt, dass die Kofferraumverriegelung aufgesprungen ist«, sagte Kennedy.

»Der Sheriff hat es übersehen«, ergriff Taylor wieder das Wort. »Als er nach draußen rannte, galt seine erste Sorge dem Fahrer des Trucks und etwaigen Passagieren.«

Sie langte in ihren Aktenkoffer und zog ein achtundzwanzig mal zwanzig Zentimeter großes Farbfoto hervor. »Aber sein Deputy nicht«, verkündete sie. »Als er ins Freie kam, ist ihm im Kofferraum des Taurus etwas ins Auge gesprungen.«

Hunter wartete.

Taylor trat zu ihm und reichte ihm das Foto.

»Das hier.«

5

Nationales Ausbildungszentrum des FBI,

Quantico, Virginia

2632 Meilen entfernt

Seit zehn Minuten stand Special Agent Edwin Newman nun schon im Kontrollraum des Zellentrakts im Keller eines der Gebäude, die das Nervenzentrum der FBI-Akademie bildeten. An der Wand hingen zahlreiche Monitore, allerdings galt Newmans Aufmerksamkeit lediglich einem einzigen von ihnen.

Newman war kein Neuling an der Akademie. Im Gegenteil, er war ein erfahrener und fähiger Agent in der Einheit für Verhaltensanalyse und hatte seine Ausbildung vor über zwanzig Jahren abgeschlossen. Newman hatte einen Posten in Washington D. C., war jedoch vier Tage zuvor eigens nach Virginia gekommen, um den neuen Gefangenen zu verhören.

»Hat er sich innerhalb der letzten Stunde bewegt?«, fragte Newman den Mann, der für den Kontrollraum zuständig war und an dem großen Bedienpult vor der Monitorwand saß.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nein, und er wird sich auch nicht bewegen, bis wir das Licht ausschalten. Ich hab’s Ihnen doch gesagt, der Typ ist wie eine Maschine. So was ist mir noch nicht untergekommen. Seit sie ihn vor vier Abenden hergebracht haben, ist er nicht ein einziges Mal von seiner Routine abgewichen. Er schläft auf dem Rücken, Gesicht nach oben, Hände auf dem Bauch gefaltet – wie eine Leiche im Sarg. Hat er erst mal die Augen zugemacht, rührt er sich nicht mehr – er zuckt nicht, er wälzt sich nicht, er kratzt sich nicht, er schnarcht nicht, er steht nicht zwischendurch mal auf, um zu pinkeln – nichts. Klar, manchmal wirkt er ein bisschen verstört, als hätte er keine Ahnung, wie er hierhergeraten ist, aber die meiste Zeit schläft er wie ein Murmeltier, als läge er in dem bequemsten Bett, das man für Geld kaufen kann. Und eins sage ich Ihnen.« Er deutete auf den Monitor. »So ein Bett ist das da nicht. Das ist ein hartes Brett mit einer papierdünnen Matratze drauf.«

Newman kratzte seine schief gewachsene Nase, sagte jedoch nichts.

Der Mann am Bedienpult fuhr in seinem Bericht fort.

»Die innere Uhr des Typen geht so exakt wie ein Schweizer Chronograph. Kein Witz. Sie können Ihre Uhr danach stellen.«

»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Newman.

Der Mann lachte nasal. »Jeden Morgen um exakt Viertel vor sechs macht er die Augen auf. Ohne Wecker, ohne irgendwelche Geräusche, ohne Licht oder eine Durchsage von uns und ohne dass jemand in seine Zelle kommt, um ihn zu wecken. Er wird von ganz alleine wach. Punkt fünf Uhr fünfundvierzig – bing! – öffnet er seine Augen. Keine Sekunde später, keine Sekunde früher.«

Newman wusste, dass man dem Gefangenen sämtliche persönlichen Gegenstände abgenommen hatte. Er besaß also weder eine Uhr noch irgendein anderes Instrument zur Zeitmessung.

»Sobald er die Augen aufgemacht hat«, fuhr der Mann fort, »starrt er für genau fünfundneunzig Sekunden an die Decke. Wenn Sie wollen, können Sie sich die Bänder der letzten drei Tage ansehen.«

Newman zeigte keine Reaktion.

»Wenn diese fünfundneunzig Sekunden um sind«, sagte der Mann, »steht er auf und geht aufs Klo. Dann fängt er an, Liegestütze und Sit-ups zu machen – immer abwechselnd zehn Stück. Wenn er nicht unterbrochen wird, macht er das fünfzigmal. Er pausiert nur ganz kurz zwischen den einzelnen Durchgängen – und er stöhnt nicht dabei, er keucht nicht, zieht keine Grimassen, da ist einfach nur knallharte Entschlossenheit. Frühstück kriegt er irgendwann zwischen halb sieben und sieben. Wenn er da noch nicht mit seinem Sportprogramm durch ist, macht er es vorher zu Ende, erst dann setzt er sich hin und frühstückt in aller Seelenruhe. Und er isst immer alles auf, ohne zu murren, egal was für einen geschmacklosen Fraß wir ihm vorsetzen. Danach wird er zur Vernehmung gebracht.« Er wandte sich zu Newman um. »Ich nehme mal an, Sie sind derjenige, der ihn vernimmt.«

Newman antwortete nicht. Er nickte weder, noch schüttelte er den Kopf, sondern starrte weiterhin schweigend auf den Monitor.

Der andere Mann fuhr nach einem Achselzucken fort. »Wenn er zurück in seine Zelle gebracht wird – zu welcher Uhrzeit auch immer –, macht er noch mal Sport. Wieder fünfzig Durchgänge à zehn Liegestütze und Sit-ups im Wechsel.« Er lachte leise. »Falls Sie den Überblick verloren haben: Das macht tausend Liegestütze und tausend Sit-ups pro Tag. Wenn er damit fertig ist und kein zweites Mal zum Verhör gebracht wird, tut er exakt das, was Sie da gerade auf dem Monitor sehen – er sitzt im Schneidersitz auf seinem Bett, starrt die nackte Wand an und meditiert oder betet, oder was auch immer das sein soll. Aber er macht dabei nie die Augen zu. Im Ernst, das ist richtig unheimlich, wie er so an die Wand glotzt.«

»Wie lange geht das so?«, wollte Newman wissen.

»Kommt drauf an«, antwortete der andere Mann. »Ihm steht täglich eine Dusche zu, aber die Duschzeiten der Gefangenen verschieben sich von Tag zu Tag, Sie kennen das ja. Wenn wir ihn holen kommen, während er so dasitzt, wacht er einfach aus seiner Trance auf, steigt vom Bett, lässt sich Handschellen anlegen und geht duschen – er beschwert sich nicht, und er leistet auch keinen Widerstand. Wenn er zurückkommt, setzt er sich sofort wieder aufs Bett und macht da weiter, wo er aufgehört hat. Sofern er dabei nicht unterbrochen wird, geht das so, bis um einundzwanzig Uhr dreißig das Licht ausgeschaltet wird.«

Newman nickte.

»Gestern allerdings«, fuhr der Mann fort, »haben sie aus reiner Neugier das Licht fünf Minuten länger brennen lassen.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Newman. »Es hat keine Rolle gespielt. Um Punkt einundzwanzig Uhr dreißig hat er sich hingelegt, seine Leiche-im-Sarg-Stellung eingenommen und ist eingeschlafen, Licht hin oder her.«

»Richtig«, sagte der Mann. »Wie gesagt, er funktioniert wie eine Maschine mit einem Schweizer Uhrwerk im Kopf.« Er verstummte und drehte sich zu Newman um. »Ich bin ja kein Experte, aber nach allem, was ich die letzten vier Nächte und Tage so mitbekommen hab, würde ich sagen, der Typ ist eine mentale Festung.«

Newman schwieg.

»Ohne neugierig sein zu wollen … Hat er in einem der Verhöre schon mal was gesagt?«

Newman zögerte lange mit einer Antwort.

»Weshalb ich frage – ich kenne ja das Verfahren. Wenn ein Sondergefangener wie der hier nicht innerhalb von drei Tagen den Mund aufmacht, dann geht die VIP-Behandlung los, und wie hart die sein kann, ist ja kein Geheimnis.« Der Mann warf unwillkürlich einen Blick auf seine Armbanduhr. »Also – drei Tage sind jetzt um, und wenn die VIP-Behandlung schon losgegangen wäre, hätte ich davon gehört. Also schließe ich mal: Er hat geredet.«

Newman beobachtete noch eine Zeitlang den Monitor, dann nickte er einmal kurz. »Gestern Abend hat er zum ersten Mal etwas gesagt.« Jetzt endlich wandte er den Blick vom Monitor ab und sah den anderen Mann scharf an. »Ganze sechs Worte.«

6

Hunter betrachtete das Foto, das Special Agent Courtney Taylor ihm gereicht hatte. Er konnte förmlich spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und sein Adrenalinspiegel anstieg. Mehrere Sekunden verstrichen, bis er schließlich den Kopf hob und Captain Blake ansah.

»Haben Sie das schon gesehen?«, fragte er.

Sie nickte.

Hunters Blick kehrte zu dem Foto zurück.

»Offenbar«, sagte Kennedy, wobei er sich wieder aus seinem Sessel erhob, »hat Mr Garners Pick-up das Heck des Taurus mit solcher Wucht gerammt, dass nicht nur der Kofferraumdeckel aufgesprungen, sondern auch die Kühlbox im Kofferraum umgefallen ist.«

Auf dem Foto war eine handelsübliche Kühlbox zu sehen, so wie Familien sie etwa für Picknicks benutzen. Sie lag umgekippt und mit offenem Deckel im Kofferraum des Taurus. Eiswürfel lagen überall verstreut, die meisten von ihnen waren rötlich verfärbt von einer Substanz, bei der es sich nur um Blut handeln konnte. Doch das war es gar nicht, was Hunter so gefesselt hatte – seine Aufmerksamkeit galt den zwei abgetrennten Köpfen, die in der Kühlbox gelegen haben mussten, bis diese durch den Zusammenprall umgestürzt war. Es waren beides Frauenköpfe, der eine hatte lange, blonde Haare, der andere einen braunen Pixie-Schnitt. Beide Köpfe waren im unteren Halsbereich vom Rumpf abgetrennt worden. Soweit anhand des Fotos erkennbar, sah der Schnitt sauber aus – routiniert ausgeführt.

Der Kopf der blonden Frau lag mit der linken Wange am Kofferraumboden. Die langen Haare verdeckten einen Großteil des Gesichts. Der Kopf der Dunkelhaarigen hingegen war ein Stück von der Kühlbox weggerollt und dann durch einige Eiswürfel gestoppt worden, so dass er mit dem Gesicht nach oben zu liegen gekommen war. Bei dem Anblick stockte Hunter der Atem. Die Verstümmelungen an ihrem Gesicht waren noch ungleich schockierender als die Enthauptung selbst.

In ihrer Lippe steckten in unregelmäßigen Abständen drei kleine Vorhängeschlösser aus Eisen, die ihren Mund auf brutale Weise geschlossen hielten. Ihre von Natur aus eher schmalen Lippen waren blutverkrustet und geschwollen, was darauf hindeutete, dass sie noch gelebt hatte, als die Schlösser angebracht worden waren. Der Täter hatte ihr auch die Augäpfel entfernt. An ihrer Stelle gähnten jetzt nur noch zwei leere, mit getrocknetem Blut verschmierte Höhlen. Blut war ihr auch über die Wangen gelaufen und hatte dort ein makabres, dunkelrotes Zickzackmuster hinterlassen.

Ihre Haut war die einer jungen Frau, allerdings war es so gut wie unmöglich, allein auf Basis eines Fotos ihr Alter zu schätzen.

»Das Foto wurde von Sheriff Walton wenige Minuten nach dem Unfall aufgenommen«, sagte Kennedy und trat zu Hunter. »Wie Agent Taylor eben erwähnte, hat er am fraglichen Morgen im Diner gefrühstückt. Es wurde nichts angerührt. Er hat sofort gehandelt, weil er wusste, dass der Regen die Spuren ziemlich schnell vernichten würde.«

Taylor langte erneut in ihren Aktenkoffer und zog ein weiteres Foto heraus. Auch dieses reichte sie Hunter.

»Das hier wurde von der Spurensicherung aufgenommen«, erklärte sie ihm. »Sie mussten extra aus Cheyenne herfahren, das liegt ungefähr eine Stunde von Wheatland entfernt. Dazu kommt noch die Zeit, die es gedauert hat, das Team zusammenzutrommeln und alle nötigen Vorbereitungen zu treffen, sie waren also schätzungsweise vier Stunden nach dem Unfall vor Ort.«

Auf dem zweiten Foto lagen beide Köpfe mit dem Gesicht nach oben nebeneinander, noch immer im Kofferraum des Taurus. Das Gesicht der Blonden wies dieselben Verstümmelungen auf wie das der Dunkelhaarigen. Auch bei ihr hätte man nicht sagen können, wie alt sie war.

»Waren die Augen auch in der Kühlbox?«, fragte Hunter, ohne von dem Bild aufzusehen.

»Nein«, antwortete Taylor. »Außer den Köpfen befand sich nichts darin.« Sie warf einen Blick zu Kennedy. »Und wir haben auch keine Ahnung, wo die Reste der Leichen sein könnten.«

»Das ist aber noch nicht alles«, warf Kennedy ein.

Hunter riss den Blick von dem Foto los und sah den Direktor durchdringend an.

»Wir haben die Schlösser entfernen lassen«, erklärte Kennedy und deutete mit einem Kopfnicken auf das Foto. »Dabei stellte sich heraus, dass beiden Opfern sämtliche Zähne gezogen worden waren.« Er machte eine effektheischende Pause. »Außerdem wurden ihnen die Zungen abgeschnitten.«

Hunter schwieg.

»Wir haben keine Leichen«, ergriff nun Taylor wieder das Wort, »folglich auch keine Fingerabdrücke. Man könnte also argumentieren, dass der Täter ihnen die Zähne und vielleicht auch die Augen entfernt hat, damit die Opfer nicht identifiziert werden können, aber die schiere Brutalität der Verstümmelungen, die der Täter beiden Opfern …«, sie hielt inne und hob den rechten Zeigefinger, um das Folgende zu unterstreichen, »… vor ihrem Tod zugefügt hat, sagt uns etwas anderes. Wer auch immer sie getötet hat, hatte Spaß ­daran.« Die letzten Worte sagte sie, als würde sie ein großes Geheimnis enthüllen. Es klang ein wenig herablassend.

Kennedy verzog das Gesicht und warf Taylor gleichzeitig einen scharfen Blick zu. Sie hatte nichts gesagt, was die übrigen Anwesenden sich nicht bereits selbst zusammengereimt hätten. Obwohl er weder dem Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen noch der Abteilung für Verhaltensanalyse angehörte, war Robert Hunter der beste Profiler, dem Kennedy je begegnet war. Bereits vor vielen Jahren hatte er einen Vorstoß unternommen, Hunter für das FBI anzuwerben, kurz nachdem er dessen Dissertation mit dem Titel »Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltensmuster« gelesen hatte. Hunter war zu dem Zeitpunkt erst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen.

Die Dissertation hatte Kennedy und den FBI-Direktor so nachhaltig beeindruckt, dass sie sie zur Pflichtlektüre am NCAVC gemacht hatten, was sie nach all den Jahren immer noch war. Im Laufe der Zeit hatte Kennedy noch mehrmals versucht, Hunter einen Posten in seinem Team schmackhaft zu machen. Er fand es unsinnig, dass Hunter lieber im Raub- und Morddezernat des LAPD als Detective arbeitete, statt sich der fortschrittlichsten Ermittlungseinheit im Kampf gegen Serienmörder anzuschließen, die es in den USA gab. Sicher, er wusste, dass Hunter leitender Detective bei der Ultra-Violent-Einheit war, einer Spezialeinheit, die vom LAPD ins Leben gerufen worden war, um besonders brutale, sadistische Mörder und Serientäter zu überführen. Und Hunter war der Beste seines Fachs, seine Erfolgsbilanz sprach für sich. Nichtsdestotrotz hätte ihm das FBI wesentlich bessere Bedingungen bieten können als das LAPD. Hunter jedoch hatte nie auch nur einen Funken Interesse daran gezeigt, Bundesagent zu werden, und jedes Angebot, das Kennedy und seine Vorgesetzten ihm unterbreitet hatten, ausgeschlagen.

»Interessanter Fall«, meinte er nun und gab Taylor die Bilder zurück. »Aber das FBI und das NCAVC haben schon in Dutzenden ähnlicher Fälle ermittelt … Einige davon waren sogar weitaus schlimmer. Das hier ist nicht gerade revolutionär.«

Weder Kennedy noch Taylor widersprachen ihm.

»Ich nehme mal an, Sie haben die Opfer noch nicht identifiziert?«, fragte Hunter.

»Das ist korrekt«, antwortete Kennedy.

»Und Sie sagten, ihre Köpfe wurden in Wyoming gefunden?«

»Auch das ist korrekt.«

»Dann können Sie sich ja denken, wie meine nächste Frage lauten wird, oder?«, sagte Hunter.

Sekundenlanges Zögern.

»Wenn wir nicht wissen, wer die Opfer sind«, sagte Taylor schließlich mit einem Nicken, »und ihre Köpfe in Wyoming gefunden wurden – was machen wir dann hier in Los Angeles?«

»Und vor allem: Was mache ich hier?«, fügte Hunter hinzu, um dann rasch auf seine Uhr zu sehen. »In ein paar Stunden geht mein Flieger. Ich muss noch packen.«

»Wir sind hier, und Sie sind hier, weil die Regierung der Vereinigten Staaten Ihre Hilfe braucht«, erklärte Taylor.

»Ich bitte Sie«, sagte Captain Blake mit einem spöttischen Grinsen. »Wollen Sie uns wirklich mit dieser patriotischen Sülze kommen? Ist das Ihr Ernst?« Sie stand auf. »Meine Detectives setzen jeden Tag für die Stadt Los Angeles und folglich für dieses Land ihr Leben aufs Spiel. Also tun Sie uns allen den Gefallen und lassen Sie Ihre lahmen Sprüche stecken, Schätzchen.« Sie fixierte Taylor mit einem Blick, der Metall zum Schmelzen hätte bringen können. »Fällt überhaupt jemand auf diesen Käse rein?«

Taylor sah aus, als wollte sie etwas erwidern, doch Hunter kam ihr zuvor.

»Mich brauchen? Wozu?«, wandte er sich an Kennedy. »Ich bin kein FBI-Agent. Sie haben mehr Ermittler, als Sie zählen können, und eine ganze Horde von Profilern noch dazu.«

»Keiner von denen ist so gut wie Sie«, sagte Kennedy.

»Hier drinnen nützt Ihnen Schleimerei gar nichts«, teilte Captain Blake ihm mit.

»Ich bin kein Profiler, Adrian«, sagte Hunter. »Das wissen Sie.«

»Das ist auch nicht der Grund, weshalb wir Sie brauchen, Robert«, gab Kennedy zurück. Er hielt kurz inne, dann nickte er Taylor zu. »Sagen Sie’s ihm.«

7

Kennedys Tonfall ließ Hunters rechte Augenbraue ein winziges Stück nach oben zucken. Erwartungsvoll drehte er sich zu Agent Taylor um.

Diese strich sich mit den Fingerspitzen eine lose Haarsträhne hinters Ohr, dann begann sie.

»Der Ford Taurus gehörte einem der Gäste, die an dem Morgen im Diner gefrühstückt haben. Der amtlichen Fahrerlaubnis zufolge ist der Mann Liam Shaw, geboren am 13. Februar 1968 in Madison, Tennessee.« Taylor machte eine kurze Pause, während der sie Hunter scharf beobachtete, um Anzeichen dafür zu entdecken, ob Hunter den Namen vielleicht wiedererkannte. Sie wurde enttäuscht.

»Der amtlichen Fahrerlaubnis zufolge?«, wiederholte Hunter. Sein Blick sprang zwischen Taylor und Kennedy hin und her. »Das heißt, Sie haben Zweifel?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Es gibt eine Person mit diesem Namen«, räumte Kennedy ein. »Insoweit scheint alles seine Richtigkeit zu haben.«

»Trotzdem haben Sie Zweifel«, beharrte Hunter.

»Das Problem ist …« Jetzt sprach wieder Taylor. »Alles hat seine Richtigkeit, sofern man nicht weiter als vierzehn Jahre zurückgeht. Für den Zeitraum davor …«, sie schüttelte leicht den Kopf, »… konnten wir absolut nichts über einen Liam Shaw, geboren am 13. Februar 1968 in Madison, Tennessee, finden. Es ist, als hätte er gar nicht existiert.«

»So wie Sie mich bei der Verkündung des Namens angesehen haben«, meinte Hunter, »dachten Sie, ich könnte ihn kennen. Warum?«

Taylor war beeindruckt. Sie war immer sehr stolz auf ihr Pokerface gewesen; darauf, dass sie andere Menschen beobachten konnte, ohne dass diese etwas davon mitbekamen. Hunter jedoch hatte in ihr gelesen wie in einem offenen Buch.

Kennedy schmunzelte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, er ist gut.«

Taylor schien diese Bemerkung zu überhören. »Mr Shaw wurde an Ort und Stelle von Sheriff Walton und seinem Deputy festgenommen«, sagte sie. »Allerdings wurde dem Sheriff ziemlich schnell klar, dass er da über einen Fall gestolpert war, den er mit seiner kleinen Dienststelle niemals würde bewältigen können. Die Nummernschilder des Taurus kamen aus Montana, das heißt, die kriminelle Handlung erstreckt sich über mindestens eine Staatengrenze. Insofern hatte das Sheriffbüro in Wyoming gar keine andere Wahl, als uns einzuschalten.«

Sie hielt inne und suchte in ihrem Aktenkoffer nach weiteren Unterlagen.

»Und jetzt kommt der zweite Haken an der Geschichte«, fuhr sie fort. »Der Taurus ist nicht auf Mr Shaw zugelassen, sondern auf einen gewissen John Williams aus New York City.«

Sie reichte Hunter ein Dokument.

Hunter besah es nur flüchtig.

»Überraschung«, sagte Kennedy. »Unter der Adresse, auf die das Fahrzeug registriert war, lebte gar kein John Williams.«

»Den Namen John Williams gibt es ziemlich häufig.«

»Zu häufig«, pflichtete Taylor ihm bei. »Allein in New York City ungefähr fünfzehnhundert Mal.«

»Aber dieser Mr Shaw befindet sich in Ihrem Gewahrsam, sehe ich das richtig?«, fragte Hunter.

»Das stimmt, ja«, bestätigte Taylor.

Hunter sah ratsuchend zu Captain Blake. Er war immer noch ein wenig irritiert. »Sie haben also einen Mr Shaw, anscheinend aus Tennessee, zwei nicht identifizierte Frauenköpfe und ein Fahrzeug mit Kennzeichen aus Montana, das auf einen Mr Williams in New York City zugelassen ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Meine anfängliche Frage ist nach wie vor unbeantwortet: Was tun Sie in L. A.? Warum bin ich hier und nicht zu Hause beim Kofferpacken?« Er sah ein weiteres Mal auf seine Armbanduhr.

»Weil Mr Shaw nicht redet«, antwortete Taylor mit immer noch ruhiger Stimme.

Hunter sah sie ungerührt an. »Inwiefern ist das eine Antwort auf meine Frage?«

»Agent Taylors Aussage entspricht nicht zu einhundert Prozent der Wahrheit«, ergriff Kennedy nun wieder das Wort. »Wir haben Mr Shaw seit vier Tagen in Gewahrsam. Er wurde uns einen Tag nach seiner Festnahme überstellt. Er sitzt in Quantico. Ich habe Agent Taylor und Agent Newman auf den Fall angesetzt.«

Hunters Blick glitt kurz zu Agent Taylor.

»Aber wie Agent Taylor ja sagte«, fuhr Kennedy fort, »hat sich Mr Shaw bislang geweigert zu sprechen.«

»Und?«, fragte Captain Blake in milder Belustigung. »Seit wann lässt sich das FBI durch so eine Kleinigkeit davon abhalten, an die Informationen zu gelangen, die es haben möchte?«

Kennedy ließ die spitze Bemerkung an sich abprallen.

»Während der letzten Vernehmung gestern Abend«, sagte er, »hat Mr Shaw dann zum ersten Mal etwas gesagt.« Er machte eine Pause und schritt zu dem großen Fenster an der Ostseite. »Allerdings nur sechs Worte.«

Hunter wartete.

»Er sagte: Ich rede nur mit Robert Hunter.«

8

Hunter rührte sich nicht. Zuckte mit keiner Wimper. Seine Miene blieb vollkommen unverändert. Falls Kennedys Worte irgendetwas in ihm ausgelöst hatten, sah man es ihm nicht an.

»Ich bin garantiert nicht der einzige Robert Hunter in Amerika«, meinte er schließlich.

»Garantiert nicht«, stimmte Kennedy ihm zu. »Trotzdem sind wir uns sicher, dass Mr Shaw von Ihnen gesprochen hat und von niemandem sonst.«

»Und wie kommt es, dass Sie sich da so sicher sind?«

»Sein Tonfall«, gab Kennedy zurück. »Die Bestimmtheit, mit der er es gesagt hat, seine ganze Art … alles deutet darauf hin. Wir sind die Aufzeichnungen unzählige Male durchgegangen. Sie kennen unsere Arbeit, Robert. Sie wissen, dass ich Leute habe, die speziell dafür ausgebildet sind, die winzigsten Körpersignale wahrzunehmen – minimale Veränderungen in Tonfall, Gestik, Mimik. Der Mann war sich seiner Sache absolut sicher. Da war kein Zögern. Keine Unsicherheit. Nichts. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass wir wissen, wen er meint.«

»Sie können sich die Aufzeichnungen gerne ansehen, wenn Sie möchten«, bot Taylor an. »Ich habe eine Kopie dabei.« Sie zeigte auf ihren Aktenkoffer.

Hunter blieb stumm.

»Deswegen dachten wir, der Name Liam Shaw käme Ihnen vielleicht bekannt vor«, sagte Kennedy. »Andererseits hatten wir ohnehin bereits den Verdacht, dass es sich nur um ein Alias handelt.«

»Haben Sie es schon in Tennessee versucht, wo dieser Mr Shaw angeblich herkommt?«, wollte Captain Blake wissen. »Vielleicht gibt es dort ja einen Robert Hunter.«

»Nein, haben wir nicht«, antwortete Taylor. »Das ist auch überflüssig. Wie Direktor Kennedy sagte: Dafür war sich Mr Shaw seiner Sache einfach zu sicher. Er hat gewusst, dass uns auf Anhieb klar sein würde, von wem er spricht.«

Kennedy ergriff erneut das Wort. »Ich habe den Namen gehört und wusste gleich, dass nur eine Person gemeint sein kann. Nämlich Sie, Robert.«

»Dürfte ich die Aufzeichnungen mal sehen?«, fragte Hunter.

»Ja, natürlich«, sagte Taylor. »Ich habe auch ein Foto von Mr Shaw.« Sie zog ein drittes und letztes Foto aus ihrem Aktenkoffer und gab es Hunter.

Der starrte lange und schweigend darauf. Auch diesmal gab seine Miene nichts preis. Bis er schließlich tief Luft holte, den Kopf hob und Kennedys Blick einfing.

»Das kann doch nicht wahr sein.«

9

Der Mann, der sich Liam Shaw nannte, saß auf dem Bett seiner kleinen Zelle tief unter der Erde – im Untergeschoss fünf eines unauffälligen Gebäudes, das zum Komplex der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, gehörte. Er saß im Schneidersitz, die Hände locker im Schoß gefaltet. Seine Augen waren geöffnet, aber starr. Sie blickten halb ängstlich, halb ratlos auf die kahle Wand. Er rührte keinen Muskel: kein Kopfschütteln, kein Zittern der Daumen oder Finger, kein noch so leichtes Zurechtrücken der Beine, keine Veränderung der Sitzposition – nichts bis auf den Blinzelreflex, den niemand abstellen konnte.

Seit einer Stunde saß er nun schon so da und starrte, als müsse er es nur lange genug versuchen, dann würde er wie durch Zauberei an einen anderen Ort versetzt werden. Eigentlich hätte er längst einen Krampf in den Beinen, eingeschlafene Füße und einen steifen Nacken haben müssen. Und doch wirkte er so gelöst und entspannt wie ein Mann, der in seinem komfortabel ausgestatteten Wohnzimmer sitzt.

Er hatte sich diese Technik vor langer Zeit angeeignet. Es hatte Jahre gedauert, sie zu meistern, doch mittlerweile war er in der Lage, seinen Kopf nahezu vollständig von Gedanken freizumachen. Selbst mit geöffneten Augen konnte er Geräusche und alles andere, was um ihn herum geschah, ausblenden. Es war eine Art meditativer Trance, in der er seinen Geist auf eine fast außersinnliche Ebene versetzen konnte. Aber vor allem blieb er dadurch geistig stark. Und er wusste, dass er genau diese Stärke jetzt brauchen würde.

Seit dem vorigen Abend hatte kein Agent ihn mehr belästigt, aber das war zu erwarten gewesen. Man hatte ihn zum Reden bringen wollen, aber er hatte einfach nicht gewusst, was er sagen sollte. Er kannte sich mit den Verfahrensweisen der Polizei gut genug aus, um zu wissen, dass keine Erklärung, die er ihnen gab – egal welche –, sie jemals zufriedenstellen würde. Selbst dann nicht, wenn es sich um die Wahrheit handelte. In ihren Augen war er bereits schuldig, da spielte es überhaupt keine Rolle, was er sagte oder nicht sagte. Überdies bedeutete die Tatsache, dass er nicht auf einer regulären Polizeidienststelle oder in einem Sheriffbüro festgehalten wurde, sondern dem FBI überstellt worden war, eine weitere Verkomplizierung seiner Lage.

Ihm war klar gewesen, dass er ihnen etwas liefern musste, andernfalls würden sich die Befragungsmethoden ändern. Das hatte er deutlich gespürt. Am Tonfall der beiden Agenten, die ihn verhört hatten.

Die attraktive blonde Frau, die sich als Agent Taylor vorgestellt hatte, gab sich ihm gegenüber zurückhaltend, charmant und höflich, während der große Mann mit der schiefen Nase, der sich als Agent Newman vorgestellt hatte, um einiges aggressiver und unbeherrschter auftrat. Die klassische Good-Cop-/Bad-Cop-Taktik. Doch allmählich war ihr Frust über sein andauerndes Schweigen in ihrem Verhalten durchgeschlagen. Auf kurz oder lang wäre Schluss mit Charme und Höflichkeit, so viel hatte sich während des letzten Verhörs herauskristallisiert.

Doch dann war ihm eine Idee gekommen und mit der Idee ein Name.

Robert Hunter.

10

Irgendwann schaffte es Hunter doch noch in seine Wohnung, um zu packen, allerdings war die Maschine, die er wenige Stunden später bestieg, nicht die von ihm gebuchte nach Hawaii.

Kurz nachdem der private Hawker Jet zur Startbahn gerollt war, erhielten sie vom Tower des Van Nuys Airport die Starterlaubnis.

Hunter saß, eine große Tasse schwarzen Kaffee in der Hand, im hinteren Bereich der Kabine. Sein Beruf erlaubte es ihm nicht oft zu reisen, und wenn doch, nahm er nach Möglichkeit das Auto. Er war schon ein paarmal geflogen, aber noch nie in einem Privatjet, und er musste zugeben, dass er beeindruckt war. Die Innenausstattung der Maschine war ebenso luxuriös wie zweckmäßig.

Die Kabine war etwa acht Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Es gab acht bequeme, cremefarbene Ledersitze, angeordnet in zwei Vierergruppen und jeder mit eigener Steckdose und Mediasystem ausgestattet. Alle acht Sitze waren um dreihundertsechzig Grad schwenkbar. LED-Deckenleuchten mit geringer Hitzeentwicklung spendeten helles, warmes Licht.

Agent Taylor saß auf dem Sitz unmittelbar vor Hunter und tippte etwas in ihren Laptop, der vor ihr auf dem Klapptischchen stand. Adrian Kennedy saß rechts von Hunter auf der anderen Seite des Ganges. Seit sie Captain Blakes Büro verlassen hatten, schien er die ganze Zeit am Handy zu hängen.

Das Flugzeug hob sanft vom Boden ab und stieg rasch bis auf eine Flughöhe von zehntausend Metern. Hunter schaute in den wolkenlos blauen Himmel jenseits des Kabinenfensters. Ihm gingen Tausende Dinge durch den Kopf.

»Also«, sagte Kennedy, der endlich sein Handy vom Ohr genommen hatte und es in seiner Sakkotasche verschwinden ließ. Er hatte seinen Sitz herumgedreht, so dass er Hunter ansehen konnte. »Erzählen Sie mir mehr über diesen Mann, Robert. Wer ist er?«

Taylor hörte auf zu tippen und schwang langsam zu den beiden Männern herum.

»Er ist einer der intelligentesten Menschen, denen ich je begegnet bin«, sagte Hunter nach längerem Schweigen. »Jemand mit enormer Disziplin und Selbstkontrolle.«

Kennedy und Taylor warteten.

»Sein Name ist Lucien. Lucien Folter«, fuhr Hunter fort. »Oder wenigstens ist das der Name, unter dem ich ihn kannte. Ich habe ihn an meinem ersten Tag in Stanford kennengelernt. Damals war ich sechzehn.«

Hunter war als einziges Kind einer Arbeiterfamilie in Compton, einem sozialen Brennpunktbezirk im Süden von Los Angeles, aufgewachsen. Als er sieben war, starb seine Mutter an Krebs. Sein Vater, der nie wieder heiratete, musste zwei Jobs annehmen, um seinen Sohn durchzubringen.

Hunter war immer schon anders gewesen als seine Altersgenossen. Bereits als Kind löste er logische Probleme und Rätsel ungewöhnlich schnell. In der Schule war er oft gelangweilt und frustriert. In der sechsten Klasse brachte er sich in nicht mal zwei Monaten den Unterrichtsstoff des gesamten Schuljahres selbständig bei, und nur um etwas zu tun zu haben, nahm er sich danach gleich auch noch die Unterrichtseinheiten für die nächsten beiden Schuljahre vor und erkundigte sich beim Schulleiter, ob er die Prüfungen für die Klassen sieben und acht vorzeitig ablegen dürfe. Aus reiner Neugier gab dieser ihm die Erlaubnis. Hunter schnitt mit Bestnoten ab.

Das war der Moment, in dem sein Schulleiter beschloss, sich mit der Schulbehörde von Los Angeles in Verbindung zu setzen; nach einer Reihe von Tests und Untersuchungen wurde Robert Hunter im Alter von zwölf Jahren an der Mirman School für Hochbegabte aufgenommen.

Doch selbst der Lehrplan einer Begabtenschule war nicht anspruchsvoll genug, um seinen Lernfortschritt zu verlangsamen. Bereits mit vierzehn hatte er sämtliche Anforderungen für die Abschlussprüfungen in Englisch, Geschichte, Mathematik, Biologie und Chemie erfüllt. Vier Jahre Highschool hatte er auf zwei komprimiert, mit gerade mal fünfzehn machte er seinen Einserabschluss. Dank Empfehlungen von all seinen Lehrern wurde Hunter danach an der Stanford University als Frühstudent zugelassen.

Mit neunzehn hatte er seinen Bachelor in Psychologie in der Tasche – summa cum laude –, mit dreiundzwanzig folgte die Doktorwürde in Kriminal- und Biopsychologie.

»War er Ihr Mitbewohner?«, fragte Taylor.

Hunter nickte. »Von Anfang an. Am ersten Tag auf dem College wurde mir ein Zimmer im Wohnheim zugewiesen.« Er zuckte die Achseln. »Lucien bekam dasselbe Zimmer.«

»Wie viele Studenten teilten sich ein Zimmer?«

»Nur wir beide. Die Zimmer waren ziemlich klein.«

»War er auch in der psychologischen Fakultät eingeschrieben?«

»Ja.« Erneut blickte Hunter in den Himmel draußen, während er tief in seine Vergangenheit eintauchte. »Er war wirklich in Ordnung. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er so nett zu mir ist.«

Taylor runzelte die Stirn. »Wie ist das zu verstehen?«

Hunter zog die Schultern hoch. »Ich war deutlich jünger als alle anderen. Ich hatte mir bis dahin auch nie viel aus Sport gemacht, bin nie ins Fitnessstudio gegangen oder Ähnliches. Ich war ziemlich dünn und schlaksig, hatte lange Haare und habe mich auch nicht so angezogen, wie es damals Mode war. Um es kurz zu machen: Ich war das perfekte Opfer für Hänseleien. Lucien war damals schon fast neunzehn und sehr sportlich, er ging regelmäßig trainieren. Er war die Art von Typ, die jemanden wie mich normalerweise nicht mal mit dem Hintern angeschaut hätte.«

Hunters Aussehen und Statur hätten niemals vermuten lassen, dass er als Kind dünn und schlaksig gewesen war. Er sah aus wie eine ehemalige Highschool-Sportskanone, vielleicht sogar Kapitän der Football- oder Ringermannschaft.

»Aber es kam ganz anders«, fuhr Hunter fort. »Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich viel weniger aufs Korn genommen wurde, als es sonst garantiert der Fall gewesen wäre. Wir sind beste Freunde geworden. Als ich anfing, ins Fitnessstudio zu gehen, hat er mich beim Training und bei meiner Ernährung beraten.«

»Und wie haben Sie ihn im Alltag erlebt?«

Hunter wusste, dass Taylor etwas über Luciens Charaktereigenschaften wissen wollte.

»Er war nicht gewalttätig, falls Sie das meinen. Er war immer sehr ruhig. Beherrscht. Was auch gut so war, er wusste sich nämlich durchaus zu verteidigen.«

»Sie sagten doch gerade, dass er nicht zu Gewalt neigte«, wandte Taylor ein.

»Das stimmt auch.«

»Und jetzt deuten Sie an, dass Sie ihn schon mal bei einer Prügelei erlebt haben.«

Ein knappes Nicken. »Ja, das ist wahr.«

Taylors Blick und ihre geschürzten Lippen waren eine stumme Frage.

»Es gibt Situationen, denen man sich nicht anders entziehen kann, ganz egal wie ruhig und kontrolliert man ist«, erklärte Hunter.

»Als da wären?«, hakte Taylor nach.

»Ich kann mich nur an eine Prügelei erinnern«, sagte Hunter. »Und da hat er wirklich versucht, aus der Sache rauszukommen, ohne die Fäuste zu gebrauchen. Aber es ging eben einfach nicht.«

»Wie kam es dazu?«