Der Vulkan - Klaus Mann - E-Book

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Klaus Mann

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Beschreibung

In Paris und Prag, Amsterdam und New York sind sie gestrandet, die Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen, die aus Nazi-Deutschland ins Exil geflohen waren. Dort arrangieren sie sich mit dem neuen Alltag, suchen Halt und ein Auskommen, deuten die Weltlage und hören den Vulkan immer lauter rumoren: Ein Krieg wird ihre Hoffnung auf Rückkehr zunichtemachen. Klaus Mann hat dies alles selbst erlebt. Sein vielstimmig arrangierter Versuch, »das wirre, reiche, trübe Exil-Erlebnis in epische Form zu bringen«, fasziniert bis heute als Zeugnis vom Lebenskampf in dunkler Zeit.

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Seitenzahl: 939

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Klaus Mann

Der Vulkan

Roman unter Emigranten

Anaconda

Der Vulkan – Roman unter Emigranten erschien zuerst 1939 im Exilverlag Querido in Amsterdam. Textgrundlage ist hier die Ausgabe Berlin und Weimar: Aufbau 1969. Orthografie und Interpunktion wurden unter Wahrung von Lautstand und grammatischen Eigenheiten auf neue Rechtschreibung umgestellt.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Anaconda Verlag GmbH, Köln

Ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlagmotiv: Statue of Liberty, poster showing immigrants

on a ship’s deck, sailing past the Statue of Liberty (1917), Everett

Collection / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-27639-3V001

www.anacondaverlag.de

[email protected]

Inhalt

Prolog

Erster Teil 1933–1934

Zweiter Teil 1936–1937

Dritter Teil 1937–1938

Epilog

Prolog

Ein junger Mensch saß in einem Berliner Pensionszimmer und schrieb einen Brief.

Berlin, den 20. April 1933

Lieber Karl!

Ich hoffe, Du bist gut in Paris angekommen und fühlst Dich wohl. Ich bin einmal zehn Tage lang dort gewesen – weißt Du, damals mit den drei Jungens aus unserer Klasse; Du durftest damals nicht mitkommen, weil Deine Eltern sagten, Paris ist ein zu gefährliches Pflaster für einen jungen Menschen. Das Allerschönste, woran ich mich in Paris erinnern kann, ist der Blick von der Place de la Concorde die Champs-Élysées hinauf bis zum Arc de Triomphe. Das ist wirklich großartig. Ich bin doch etwas neidisch, dass Du das nun jeden Tag genießen kannst. Ob Du sehr viel Schwierigkeiten mit der Sprache hast? Und ob Du es jetzt bereust, dass Du immer so sündhaft faul gewesen bist, gerade in der französischen Stunde? – Aber ich stelle mir vor, in Paris lernt man ja die Sprache fast von selbst.

Lieber Karl: Ich denke sehr oft an Dich – fast immer, wenn ich gerade mal nichts anderes zu tun habe –: wie es Dir gehen mag und ob Du Deinen Entschluss nicht bereust. Denn es ist doch ein großer, schwerer Entschluss – sich von der Heimat zu trennen.

Ich habe mir das alles während der letzten Wochen hin und her überlegt, und ich bin zu der ganz festen inneren Entscheidung gekommen: Du hast einen Fehler gemacht.

Missverstehe mich nicht, Karl: Es ist ein anständiger Fehler, den Du gemacht hast. Aber doch ein Fehler.

Ich weiß nicht, ob es noch irgendeinen Sinn hat, Dir zuzureden: Komme zurück! Ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Als ich Dir, vor drei Wochen, am Bahnhof Zoo auf Wiedersehen gesagt habe, fühlte und wusste ich, dass wir uns sehr lange nicht wiedersehen werden.

Natürlich könntest Du auch jetzt noch Deine Meinung ändern und zurückkehren – wohin Du gehörst. Da Du ja ein sogenannter »Arier« bist und Deine alten Herrschaften feine Beziehungen haben, würde man Dir sicher alle Deine Sünden verzeihen – wenn Du jetzt erklärst, dass alles nur jugendliche Torheit und Unwissenheit von Dir gewesen ist.

Du würdest Dir natürlich wie ein Schuft vorkommen, wenn Du eine solche Erklärung abgeben müsstest. Aber vielleicht wäre es in diesem Augenblick das Klügste und das Anständigste, was Du machen kannst. Denn jetzt brauchen wir hier Burschen wie Dich. Hier können sie jetzt nützlich sein, und nur hier.

Was gibt es denn im Ausland für Dich zu tun? Bei den Franzosen auf uns Deutsche schimpfen? Aber Karl! Ich kenne Dich doch! Das bringst Du ja gar nicht fertig. Du weißt viel zu genau, wie sehr die Franzosen mitschuldig oder sogar hauptsächlich schuldig sind an dieser radikal-nationalistischen Entwicklung in Deutschland, die wir immer so bedauert haben. Nicht nur der Vertrag von Versailles ist schuld – obwohl der die schlimmste und eigentliche Ursache für alle Verwirrungen in Europa bleibt –; sondern die ganze Art, wie die Franzosen uns während all dieser Jahre gedemütigt haben. Wir hatten wirklich keine nationale Ehre mehr.

Die Frage ist, ob wir jetzt wieder eine bekommen werden. Ich weiß wohl, dass Du es nicht glaubst – und Dir ist nicht unbekannt, dass auch ich schwere Zweifel habe. Ich war nie ein Nazi – Dir muss ich das nicht erst lang und breit versichern –, und ich werde nie einer werden. Ich trete nicht in die Partei ein, habe nur keine Angst – ich denke gar nicht daran. Ich mache hübsch brav meine Examina zu Ende, und dann tue ich was Vernünftiges.

Ich bin kein Nazi, und ich gebe auch zu, dass hier viel Hässliches geschehen ist während der letzten Monate – alle besseren Menschen sind sich darüber einig, und wir alle glauben, dass dies am Anfang einer großen Umwälzung vielleicht unvermeidlich war, aber bald ganz anders werden muss. Keinesfalls hat es Sinn zu leugnen, dass eine große Umwälzung im Gange ist; dass ein nationales Erwachen sich in Deutschland vollzieht. Überall ist echte Begeisterung zu spüren. Aus der könnte allmählich etwas Schönes, Fruchtbares, Positives wachsen, etwas, was dann auch Europa zugutekäme, und dem Frieden.

Du findest sicher, ich bin zu optimistisch. Vielleicht bin ich es. Vielleicht kommt alles ganz anders, nicht so gut. Aber sogar wenn schwere Jahre für Deutschland kommen, will ich hierbleiben. Wenn der Führer seine begeisterten, idealistischen Anhänger enttäuschen sollte – vor allem: wenn er die Jugend enttäuscht –, dann wird in Deutschland eine Opposition entstehen, und dann ist eben von dieser Opposition alles zu hoffen … Ich würde, wenn es sein muss, bei den Oppositionellen sein, wie ich heute bei den Loyalen bin. Das kommt mir tapferer und vernünftiger vor, als ins Ausland zu gehen. Verzeih das harte Wort, Karl; aber es hat doch etwas von Fahnenflucht.

Mein Vater, mit dem ich gestern lang über diese Dinge sprach, gibt mir recht. Du kennst ja den alten Herrn – er ist der preußische Offizier, wie er im Bilderbuch steht. Zu diesem »böhmischen Gefreiten« – so soll Hindenburg den Hitler genannt haben – hat er im Grunde nicht viel Vertrauen. Aber er sagt: Man muss es zugeben – es weht ein neuer Geist in Deutschland. Niemand weiß noch, was draus werden soll; aber es könnte etwas Großes draus werden. Die jungen Menschen haben plötzlich ganz andere, neue, strahlende Gesichter – findet mein alter Herr. »Du musst hierbleiben, Junge!«, sagte er. – Du weißt ja, ich überschätze seine Intelligenz keineswegs; aber es hat mir doch Eindruck gemacht. – Ich erzähle Dir das alles, damit Du siehst: Ich habe es reiflich erwogen.

Diesen Brief gebe ich dem Kurt B. mit, der morgen auch nach Paris fährt. Man kann sich schon nicht mehr trauen, einen solchen Brief mit der Post zu schicken … Der Kurt B. sagt, hier wird es bald nicht mehr auszuhalten sein, und nächstens werden auch noch die Grenzen gesperrt, da ist es schon besser, man macht sich rechtzeitig auf und davon. Aber der Kurt ist ja Jude, da beurteilt er die Dinge natürlich von einem etwas anderen Standpunkt als wir; von seinem Standpunkt aus, finde ich, hat er recht.

Vielleicht hast auch Du recht, Karl. Ich will nicht mit Dir streiten, und ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich will Dir nur erklären, wie ich denke und fühle.

Ich denke und fühle: Unser Platz ist hier. Hier müssen wir uns bewähren, hier müssen wir kämpfen, hier braucht man uns. Draußen braucht man uns nicht.

Ich bin gegen die Emigration.

Viele, die heute rausgehen, werden es bald bereuen. Sie werden ein bitteres Leben haben und außerdem auch noch ein schlechtes Gewissen. Wie die Zigeuner werden sie von einem Land ins andere ziehen; man wird sie nirgends behalten wollen; sie werden entwurzelt sein, sie werden den Boden unter den Füßen verlieren, viele werden elend zugrunde gehen. Ich sehe das alles kommen. – Ich hoffe von Herzen, dass es Dir gelingen wird, Dir draußen eine neue Existenz aufzubauen. Es wird schon gehen, Du bist ja ein tüchtiger Mensch. Mich würde es schrecklich freuen, wenn ich nächstens erfahre, dass Du eine gute Stellung gefunden hast, in Paris oder sonst irgendwo. Noch froher würde es mich allerdings machen, wenn Du mir morgen telegrafierst: Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich komme zurück.

Aber das passiert wohl nicht. Du bist ja so verdammt eigensinnig, altes Haus!

Alles Gute!Dein Kamerad Dieter.

… Dieter war ziemlich erschöpft, nachdem er dies alles geschrieben hatte. Einen so langen Brief – schien ihm – hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht abgefasst. Er lehnte sich in den Sessel zurück.

Er war ein hübscher, hoch aufgeschossener Junge, mit blondem Haar, einem langen Schädel, blanker Stirn, blauen Augen und einem weichen, kindlichen Mund. Es gab in seinem Gesicht keine Falten.

Draußen zog ein Trupp von SA-Leuten vorbei. Sie sangen. Dieter trat ans Fenster, um ihnen zuzuhören. Das Lied gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmen klangen nicht angenehm. Er machte das Fenster zu.

Erster Teil

1933–1934

Doch uns ist gegeben,

Auf keiner Stätte zu ruhn,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Hölderlin

»Hyperions Schicksalslied«

Erstes Kapitel

Das kleine Restaurant Ecke Boulevard St-Germain, Rue des Saints-Pères war um halb neun Uhr schon beinahe ganz leer. Die Stunde des Diners dauert in Paris von halb sieben bis acht Uhr; später sitzen nur noch Wahnsinnige oder Ausländer bei Tisch. Die beiden letzten Gäste, ein amerikanisches Ehepaar, waren eben dabei, ihren Kaffee zu trinken; da machte die Kellnerin ein erschrockenes Gesicht: Es kamen noch vier Leute von der Straße – zwei junge Männer, ein Fräulein und eine ältere Frau.

Einer der jungen Männer – er war auffallend bleich und mager; über seinem Gesicht, das wie aus Wachs gebildet schien, stand das schwarze harte Haar aufrecht, wie in ständigem Entsetzen gesträubt – erkundigte sich, ob man noch etwas zu essen bekommen könne. Die Kellnerin war schon im Begriff zu verneinen, als die Patronne, von der Theke her, ihre Stimme vernehmen ließ: Aber gewiss doch, es seien noch zwei Portionen Poulet da, außerdem ein »Schnitzel Viennois«, und für eine der Damen könnte man ein Omelett machen. Die vier schienen es zufrieden; während sie sich um einen Tisch in der Ecke niederließen, erklärte der junge Mann, der vorhin mit der Kellnerin verhandelt hatte: »Ich habe neue Berliner Zeitungen besorgt!« Dabei legte er den Stoß von Papieren vor sich hin. Das junge Mädchen schnitt eine Grimasse und sagte: »Pfui!«

Sie redeten deutsch – was das Ehepaar am Nebentisch aufhorchen ließ. Nun war es die Amerikanerin, die eine angewiderte Grimasse schnitt. Gleichzeitig zuckte sie die Achseln und sagte etwas zu ihrem Gatten, was sich wohl in einem kränkenden Sinn auf die Deutschen im Allgemeinen und die vier am Nebentisch im Besonderen bezog. Der Gatte schien ihr in allen Punkten recht zu geben; er nickte empört und rief dann schallend: »L’addition, Mademoiselle!«

Die Deutschen inzwischen hatten ihre Zeitungen vor sich ausgebreitet. Das Mädchen sagte, mit einer schön sonoren, etwas grollenden Stimme: »Auch noch Geld ausgeben für das Dreckszeug! Eine Schande!« Während ihr Gesicht vor Ekel verzerrt blieb – als läge etwas Stinkendes, eine kleine Tierleiche etwa oder Erbrochenes, auf dem Tischtuch, zwischen den Gedecken –, streckte sie ihre langen, unruhigen, muskulösen Hände gierig nach den Papieren aus. »Lass gleich das Scheußlichste sehen!«, rief sie und lachte finster. »Die Berliner Illustrierte!« Der schwarze Hagere hielt ihr mit melancholischer Neckerei das Titelblatt der Illustrierten hin: Es zeigte den Führer und Reichskanzler in idyllischem Tête-à-tête mit einem kleinen blondbezopften Mädchen, das ihm einen enormen Blumenstrauß überreichte. »Ist er nicht schön?«, fragte der Bleiche, wobei sein Lächeln säuerlich war. Die ältere Frauensperson – sie fiel durch kurzgeschorenes, hartes graues Haar und ein rotbraunes Kapitänsgesicht auf – stemmte die Arme in die Hüften und machte dröhnend: »Hoho!«

Die amerikanische Dame sagte, ziemlich laut: »Disgusting!«, und stand auf. Die vier Deutschen, in den Anblick des Bildes versenkt, überhörten den Ausruf; sie sahen auch nicht, was für ein furchtbar drohendes Gesicht die Amerikanerin hatte, als sie nun, vom Gemahl gefolgt, das Lokal durchquerte, um die Ausgangstür zu erreichen. »Er bekommt einen Bauch!«, stellte animiert der zweite junge Mann fest und meinte den »Führer«.

Als die Amerikanerin an dem Tisch vorbeikam, wo deutsch gesprochen und das Hitler-Bild betrachtet wurde, blieb sie eine Sekunde lang stehen und sagte sehr deutlich: »A bas les boches!« Ihr französischer Akzent war leidlich, jedenfalls viel besser als der des Gatten, der noch breit hinzufügte: »A bas les nazis!« Dabei hatte er sich der Türe genähert. Die Dame aber wandte sich noch einmal um, und nun spuckte sie aus. Auf eine Entfernung von mindestens zwei Metern spuckte sie recht kräftig und geschickt – man hätte es der respektabeln, keineswegs jungen Person kaum zugetraut –, sodass eine nette, saftige Portion Speichel direkt neben den Schuhen des hageren jungen Mannes auf den Fußboden klatschte. Dann fiel die Türe hinter der Amerikanerin zu.

Die Kellnerin und die Patronne des Lokals hatten den Vorgang wortlos beobachtet; die Kellnerin mit einem kaum sichtbaren, hämischen Grinsen, die Chefin mit einem Achselzucken, als wollte sie sagen: Wozu so viel Aufregung wegen dieser Deutschen? Solange sie ihre Zeche zahlen, soll mir alles andere egal sein …

Die vier am Tisch waren so erschrocken und derart fassungslos erstaunt, dass mehrere Sekunden lang keiner von ihnen ein Wort hervorbrachte. Die beiden jungen Männer und das Mädchen waren sehr blass geworden, während das Gesicht der Alten leuchtend rotbraun blieb. Sie war es, die das Schweigen brach, indem sie schallend zu lachen begann. »Das ist wunderbar!«, brachte sie unter großem Gelächter hervor, wobei sie mehrfach dröhnend auf die Tischplatte schlug. »Ausgerechnet uns muss das passieren! Das ist köstlich! Nein, so was!« Die beiden Jungen versuchten mitzulachen; aber das Resultat ihrer Bemühung war kümmerlich, nur die bittere Andeutung eines Lächelns kam zustande. Das Mädchen schaute vor sich hin auf den Teller und sagte leise: »Ich finde es gar nicht komisch.« – »Warum nicht komisch? Wieso nicht?«, wollte die Alte wissen. Aber nun gestand der zweite junge Mann – der blond und stattlich war, mit einem hellen, großflächigen, hübschen, etwas weichen und müden Gesicht –: »Ich kann mich eigentlich auch nicht besonders darüber amüsieren. Mein Gott, bin ich erschrocken!« Dabei führte er die Hand ans Herz und blickte aus großen, entsetzten Augen, kokett um Mitleid werbend, von einem zum anderen. Der hagere Schwarze betrachtete grüblerisch den Speichelpatzen, der noch neben seinen Füßen auf dem Boden lag. »Vor zwei Wochen«, sagte er leise, »vor genau zwei Wochen hat in Berlin, auf dem Kurfürstendamm, ein SA-Mann mich angespuckt. Auch aus ziemlicher Entfernung. Er traf noch etwas besser als diese Lady: Sein Speichel klebte an meinen Schuhen …« In eine kleine Stille hinein, die diesem Bericht folgte, sagte die Grauhaarige: »Armer David …« Die Kellnerin stellte mit einem demonstrativen Mangel an Höflichkeit die zwei Portionen Poulet, das Schnitzel Viennois und ein Omelett auf den Tisch.

»Man hätte die Leute ja aufklären können«, sagte der blonde junge Mann mit dem hübschen, weichen Gesicht – er hatte eine schleppend melodiöse Art zu sprechen; seine Worte kamen zögernd und einschmeichelnd daher. »Man hätte ihnen auseinandersetzen können, dass wir zwar vielleicht ›des sales boches‹, aber sicher nicht ›des sales nazis‹ sind. Nur scheint mir ungewiss, ob die Herrschaften sich für solche Nuancen überhaupt interessiert hätten, für sie ist das alles wohl das Gleiche …« Er zuckte die Achsel und lächelte resigniert. »Außerdem ließen sie uns keine Zeit zu ausführlichen Konversationen.«

Das Mädchen mit der schönen, grollenden Stimme schob die Zeitungen fort, die immer noch aufgeschlagen zwischen den Weingläsern und den Tellern lagen. »So was muss man sich gefallen lassen! – Ich war gleich dagegen, dass man sich mit dem Schmutzzeug« – sie gab den Papieren noch einen wütenden Stoß – »in ein öffentliches Lokal setzt. Es ist eben einfach zu kompromittierend!« Sie sah reizvoll aus in ihrer Empörung. Aus ihren Augen, die eine merkwürdig dunkelgrüne, ins Schwarze spielende Färbung hatten, schlugen Flammen des Zornes. Der blonde junge Mann – er hieß Martin Korella – legte ihr den Arm um die Schulter und bat mit der schleppenden Schmeichelstimme: »Ärgere dich nicht, Marion! Wir sind ja eigentlich gar nicht gemeint gewesen. Im Grunde war es doch ein recht erfreulicher kleiner Zwischenfall: Er beweist, wie unbeliebt die Nazis draußen sind. In Amerika scheint ja eine nette Stimmung gegen sie zu herrschen. – Die freundlichen Herrschaften sind doch Amerikaner gewesen?«, fragte er. Das Mädchen Marion indessen wollte sich nicht beruhigen lassen. »Es ist grauenvoll!«, klagte sie. »Wie schrecklich schnell ist es diesem Hitler gelungen, die Deutschen in der Welt wieder derart verhasst zu machen, dass man es riskiert, angespuckt zu werden, wenn man sich als Deutscher zu erkennen gibt!«

Martin, dessen Arm immer noch um Marions Schulter lag, sagte nachdenklich: »Die Frage ist nur, ob diese Weltempörung lange anhalten wird. Die Menschen vergessen so schnell, und es kommen andere Sensationen. In fünf Jahren würden wir uns vielleicht freuen, wenn die Leute noch beim Anblick von Berliner Zeitungen in Wut geraten …«

Die Grauhaarige schlug vor: »Jetzt wollen wir aber zunächst mal was essen, Kinder! Das gute Zeug wird ja kalt. Mein Schnitzel sieht wundervoll aus!« Sie sagte »mein Schnitzel«, obwohl doch noch gar nicht die Rede davon gewesen war, wie die Gerichte verteilt werden sollten. – »Mutter Schwalbe hat immer recht«, konstatierte Martin Korella und beschenkte die resolute Alte mit einem langen, zärtlich siegesgewissen Blick aus den schläfrig verhangenen Augen. »Essen wir also!« – David erklärte geschwind: »Ich bin nicht sehr hungrig und nehme das Omelett, wenn ich darf.« – Er hatte eine seltsame Manier, sich beim Sprechen mit einem schiefen Ruck der rechten Schulter seitlich zu verneigen; dabei verzerrten sich seine ungesund bläulich gefärbten Lippen zu einem liebenswürdig angstvollen Lächeln. Es war eine rührende und etwas groteske, zugleich mitleiderregende und erheiternde kleine Höflichkeitspantomime.

»Ich lasse mir den Appetit nicht verderben!«, erklärte Mutter Schwalbe, schon mit ihrem Schnitzel beschäftigt. Und David, dem man das nicht sehr verlockend aussehende harte kleine Omelett überlassen hatte, bemerkte schüchtern: »Ich finde es hübsch hier … Dieses kleine Lokal gefällt mir. Und dass wir vier hier so beieinandersitzen … Ich habe es mir in Berlin oft gewünscht«, gestand er, und über sein wächsern zartes Gesicht zog eine flüchtige, helle Röte. »Manche Wünsche gehen unter recht merkwürdigen Umständen in Erfüllung – ganz anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte …« Seine rehbraunen, kurzsichtigen Augen wanderten zwischen Marion, Martin und der Mutter Schwalbe hin und her, ehe sie sich, bescheiden und ängstlich, senkten.

Man schrieb den 15. April 1933. Die vier Deutschen – Marion von Kammer, Frau Schwalbe, Martin Korella und David Deutsch – waren alle erst im Lauf der letzten zwei Wochen in Paris eingetroffen; zuletzt die Schwalbe, für die es nicht ganz einfach gewesen war, ihren Berliner Betrieb aufzulösen. Ihr hatte ein kleines Etablissement, halb Restaurant und halb Kneipe, gehört, in dem sie als Köchin, Empfangschef und Mädchen für alles tätig war. Das Lokal »Zur Schwalbe« war nicht weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in einer Nebenstraße des Kurfürstendamms, gelegen und hatte sich einer starken Beliebtheit in gewissen Zirkeln der Berliner Jugend erfreut. Leute mit keinem anderen Kapital als ihrem Ehrgeiz und ihrer radikalen Gesinnung, Studenten, angehende Literaten, Maler, Schauspieler hatten sich wie in einem Klub bei »Mutter Schwalbe« zusammengefunden, um dort über Marxismus, atonale Musik und Psychoanalyse zu diskutieren und auf Kredit Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat zu essen. Die Schwalbenwirtin war, mit einer dicken Zigarre im Mund, zwischen den Tischen umhergegangen, hatte alle gekannt, allen auf die Schulter geklopft und zuweilen einen furchtbaren Krach geschlagen, wenn jemand es sich einfallen ließ, reaktionäre politische Tendenzen zu verteidigen, oder gar zu säumig mit dem Bezahlen seiner Schulden war. Als die Hitler-Diktatur in Deutschland sich etablierte, waren die Stammgäste der Schwalbe auseinandergestoben; viele waren emigriert, andere waren verhaftet worden; wieder andere blieben zwar in Berlin, hielten es aber nicht mehr für ratsam, sich in dem berüchtigten Lokal noch zu zeigen; manche waren sogar – die Schwalbe musste es mit Bitterkeit konstatieren – zu den Nazis übergelaufen. Im Restaurant und in der Privatwohnung der »Patronne« – zwei Dachstuben, die sich im selben Haus wie die Kneipe befanden – hatte es Razzias gegeben; durch die Protektion eines Jungen in SS-Uniform, der früher zu ihrer Klientel gehört hatte, war der Braven die Verhaftung erspart geblieben. »Und jetzt singen sie jeden Abend das Horst-Wessel-Lied in meiner schönen Bude«, stellte die Schwalbe wehmütig fest. David Deutsch – derartig nervös und übersensibel, dass er auf bestimmte Worte reagierte wie auf die Berührung eines eisigen Windes – schauerte zusammen und bewegte gequält die Schultern. »Das Horst-Wessel-Lied!«, wiederholte er und blickte Hilfe suchend um sich, als erbäte er von den anderen Trost oder doch mindestens eine Erklärung.

Er war einer der treuesten Gäste der Schwalbe gewesen, während Marion und Martin, sozial entschieden höher gestellt als das eigentliche Schwalben-Publikum, sich nur zuweilen hatten sehen lassen – immer ein wenig wie große Herren, die es manchmal belustigt, in ein inferiores Milieu hinabzusteigen. Die »Patronne« hatte, trotzdem, eine entschiedene Sympathie für die beiden; ja, sie mochte sie im Grunde lieber als den armen David, von dem sie, nicht ohne eine gewisse Verächtlichkeit, zu sagen pflegte: »Ach, der ist ja so entsetzlich gescheit! Der weiß ja alles!«

Marion und Martin waren Jugendfreunde. Marion stammte aus einer sehr guten, Martin aus einer mittelfeinen Familie, übrigens waren sowohl die alten Korellas als auch Marions Mutter, Frau von Kammer, ziemlich verarmt. (Herr von Kammer war vor Jahren gestorben.) Marion hatte als Schauspielerin zwar noch keine großen Erfolge gehabt und war mit fast allen mächtigen Berliner Theaterdirektoren verkracht; aber ihre Leistungen in einigen literarischen Matinee-Aufführungen hatten doch von sich reden machen.

Viele von Marions Freunden gehörten zu den links gerichteten Schriftstellern oder Politikern, die bei den Nazis am verhasstesten waren und eingesperrt wurden oder fliehen mussten, als, nach der Reichstagsbrandkatastrophe, das terroristische Regime begann. Was Marion betraf, so war für sie die Emigration eine Selbstverständlichkeit. Es hätte der Überlegung gar nicht bedurft, dass nun in Deutschland ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben gefährdet waren: Der Ekel, der Hass, der Abscheu trieben sie fort. »Leider sehe ich ja zu auffallend aus, und zu viele Leute kennen meine ulkige Visage, als dass ich mich unter die Illegalen hätte mischen können«, bedauerte sie. »Übrigens hätte ich in Berlin beim Anblick einer SS-Standarte – oder wie sie die Banden nennen – auf offener Straße vor Wut gebrüllt. Das wäre mir ja dann wohl kaum sehr gut bekommen.«

Martin Korella war auch einmal Schauspieler gewesen; hatte aber mit maßvollem Bedauern feststellen müssen, dass sein darstellerisches Talent nicht hinreichend war. Er entschied sich für die literarische Laufbahn. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt und hatte noch nichts veröffentlicht, außer ein paar Gedichten und kurzen Stücken lyrischer und essayistischer Prosa in Zeitschriften und Anthologien. Diesen Arbeiten aber eignete eine solche Schönheit der Form, eine so innig-seltsame Dichtigkeit und Lauterkeit des Gefühls, dass sie ihrem jungen Autor fast so etwas wie Ruhm einbrachten – einen Ruhm freilich, der nur von ein paar Hundert Menschen getragen und gewusst wurde. Es gab Leser in Berlin oder in Heidelberg, in München, Wien, oder sogar in Paris, die sich in der Überzeugung einig waren, dass Martin Korella ein begnadeter Dichter sei. Martin war hochmütig genug, um ordinären Ehrgeiz gründlich zu verachten. Übrigens war er auch träge. Er schlief bis zum Mittag und verbrachte dann Stunden auf ziellosen Spaziergängen durch die Stadt. Er las wenig und immer wieder nur die gleichen Autoren. Es gab Wochen, Monate, während deren er keine Zeile schrieb. Dafür durfte er sich rühmen: »Etwas Mittelmäßiges ist von mir niemals gedruckt worden.« Seine Eltern machten ihm, so luxuriöser Faulheit wegen, beinahe täglich die bittersten Vorwürfe; waren aber doch heimlich stolz auf ihr originelles Kind und zahlten, unter viel Klagen und Schimpfen, die Monatsrente von zweihundert Mark. Das war keineswegs üppig; aber es ermöglichte Martin, in einer eigenen Stube zu leben, getrennt von Herrn und Frau Korella, die ihm auf die Nerven gingen.

Als Marion ihm mitgeteilt hatte, dass sie Deutschland verlassen werde, war seine Antwort gewesen: »Natürlich komme ich mit.« Sie war erstaunt, übrigens froh im Grunde, über die nachlässige Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Entschluss äußerte – wenn vielleicht auch nicht erst im Augenblick fasste. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihn zu erinnern: »Eigentlich sollte nur weggehen, wer muss. Ein paar anständige Leute müssen auch hierbleiben. Du hast dich politisch nie exponiert. Glaube nur nicht, dass wir es draußen so besonders einfach haben werden.« Woraufhin er nur die Achseln zuckte. »Wenn die Deutschen verrückt werden – ich habe keine Lust, da mitzumachen. Warum sollte ich abwarten, bis es zum Schlusseffekt dieser ganzen makabren Veranstaltung kommt? Bis die berühmte ›Apokalypse‹ endlich da ist, auf die alle braven Spießer sich so herzlich zu freuen scheinen? … Übrigens wird diese ›Apokalypse‹ in der Realität genauso mittelmäßig und langweilig ausfallen wie alles, was man uns bisher geboten hat … Das Ganze ist eine Farce; leider keine harmlose. Aus einem Menschen mit so einer Fresse macht man keinen Halbgott.« Er deutete auf das Hitler-Bild in einer Zeitung. »Das ist abgeschmackt. Es kann nicht gut enden.« – Das war jetzt ungefähr drei Wochen her.

David Deutsch gehörte zu den Bewunderern Martins. Übrigens war es in Berlin zwischen den beiden über eine flüchtige Bekanntschaft, die Mutter Schwalbe vermittelt hatte, nicht hinausgekommen. Der junge Philosoph und Soziologe, die Stille kleiner Universitätsstädte gewohnt, fühlte sich unsicher, gehemmt, oft sehr unglücklich im Berliner Betrieb. Es gab dort nur wenig Menschen, die ihn kannten und seine intellektuellen Gaben zu schätzen wussten. Seine Doktorarbeit hatte in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen gemacht; aber die Berliner Literaten wussten weder von ihr noch von den Studien über die Vorsokratiker, über Kierkegaard, Nietzsche und Marx, die David in einer Heidelberger philosophischen Revue publiziert hatte. – In Wahrheit verhielt es sich so, dass Martin den jungen Gelehrten damals ein wenig von oben herab zu behandeln pflegte. Im Exil aber begegnete man sich zunächst ohne jene Voreingenommenheiten, durch die in Berlin die verschiedenen Zirkel und Cliquen voneinander separiert worden waren. Eine neue Herzlichkeit stellte sich her, so etwa wie nach Naturkatastrophen; die Bewohner eines brennenden Hauses, die sich auf der Straße vor den Trümmern ihrer Habe zusammenfinden, oder die Passagiere eines sinkenden Schiffes im Rettungsboot vergessen Unterschiede, die noch vor Stunden bedeutsam waren.

Bei der zweiten Flasche Rotwein wurde die Stimmung der vier am Tisch lebhafter, beinahe munter. Die Schwalbe entwickelte ihren Plan, in der Montparnasse-Gegend ein kleines Restaurant aufzumachen –: »Ganz nach dem Muster meiner Berliner Kaschemme. Dort sollt ihr anständig zu essen kriegen – nicht so ein kümmerliches ›Schnitzèle Viennois‹, wie man mir gerade eines vorgesetzt hat. Ich habe schon einen bestimmten Platz im Auge«, berichtete sie, und ihre blauen Kapitänsaugen leuchteten. »Aber ich sag’s noch nicht, welchen. Ich bin abergläubisch. Ehe der Mietsvertrag unterzeichnet ist, erfährt kein Mensch, wo die Schwalbe sich diesmal niederlässt!« Sie redete geheimnistuerisch und verheißungsvoll, wie zu Kindern, denen man die Herzen mit Sehnsuchtsneugier nach den Wonnen eines Weihnachtsabends füllen will. In der Tat erreichte sie durchaus den gewünschten Effekt: Die drei jungen Menschen wurden animiert und wollten mehr wissen. Wann Mutter Schwalbe ihren Laden zu eröffnen gedenke? Ob es auch Musik geben solle, und vielleicht gar etwas Platz, um nach dem Essen zu tanzen? – »Und eine Bar!«, rief Marion, plötzlich guter Laune. »Ich finde, eine Bar solltest du einrichten. Wir wollen es doch schließlich auch etwas pariserisch haben!« Sie sah vergnügungssüchtig aus und hatte schöne, wilde Gebärden. Ihre großen, jünglingshaft harten und sehnigen Hände formten etwas in der Luft, was die Konturen einer Flasche bedeuten konnte. Dabei stieß sie ein gefülltes Weinglas um. Marion hatte die Eigenheit, immer irgendetwas umzuwerfen und kleine Katastrophen anzurichten, wenn sie in Aufregung geriet. Sie war ebenso ungeschickt wie enthusiastisch. Nach malheurhaften Zwischenfällen solcher Art pflegte sie sich selbst zu beschimpfen – »dummes Ding! Musste das sein! Grundalberne Kuh!« –; dazu schüttelte sie zornig den Kopf; die lockere Fülle ihres rotbraunen Haars, das einen Purpurschimmer hatte, fiel ihr in die Stirn, bis zu den Augen.

Sie beschlossen, den Kaffee in Montparnasse zu nehmen. Dort würde man bestimmt Bekannte treffen. »Ich glaube, die gute Dora Proskauer ist heute aus Berlin angekommen«, sagte die Schwalbe. »Sie wird uns etwas Neues erzählen können.« Marion sagte: »Vorher muss ich noch bei den ›Deux Magots‹ vorbeischauen. Marcel hat versprochen, dort auf uns zu warten.«

Sie gingen zu viert nebeneinander, Arm in Arm, das kleine Stück des Boulevard St-Germain hinunter, das die Ecke der Rue des Saints-Pères vom Platz St-Germain des Près trennt. Der Abend war milde, im glasig durchsichtigen Himmel gab es noch ein wenig Licht. Aus dem Halbdunkel, in dem die Töne eines verblichenen Rosa sich mit den unendlich vielen Nuancen des Grau vermischten, traten die Umrisse der alten, schmalen, vornehmen Häuser zart und deutlich hervor. »Wie schön Paris ist!«, sagte Martin andächtig leise. »Man hätte sich viel früher dazu entschließen sollen, hier zu leben … Es ist, wie wenn man einen Menschen, zu dem man ganz passt und mit dem man vielleicht sehr glücklich hätte sein können, etwas zu spät, unter melancholischen Umständen kennenlernt …«

Sie standen zu dritt an der Ecke des Boulevards und des Platzes. Marion war ins Café gegangen, um Marcel zu holen. Vor einem Zeitungskiosk, der englische, amerikanische, italienische, deutsche, holländische, spanische und dänische Blätter anbot, drängten sich Menschen: Pariser Studenten, den bunten Wollschal apachenhaft um den Hals geschlungen, auf dem Kopf die kleine runde Baskenmütze; junge Engländer und Amerikaner, barhäuptig, die Zigarette im Mund, die Hände in den Taschen der weiten Flanellhosen vergraben; bunt hergerichtete Frauen, einige schon im Frühlingskostüm, andere noch im Pelz.

David Deutsch sagte: »Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennenlernen soll.« Daraufhin Martin, verwundert: »Haben Sie ihn denn in Berlin nie getroffen?« Die Frage war ihm gleich etwas peinlich; er vergaß immer wieder, dass David in Berlin ja nicht zum gleichen »Set« gehört hatte wie er selber und Marion. – David versetzte nicht ohne Hochmut: »Ich habe in Berlin nur sehr wenig Menschen gekannt. – Aber ich habe alle Bücher von Poiret gelesen«, fügte er hinzu. Diese Bemerkung ließ die alte Schwalbe ein wenig gehässig werden. »Natürlich! Freilich!«, rief sie aufgebracht. »Von wem hätte er denn nicht alle Bücher gelesen?!« – Wirklich war die literarische Bildung des jungen Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedächtnis war von einer fast krankhaften Stärke; er litt unter seiner Zuverlässigkeit wie unter einem Fluch. – »Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret«, sagte er jetzt und lächelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. »Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine große Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefährlich werden …« – Martin sagte – schnell und leise; ganz ohne die schleppendkokette Manier, in der er sich sonst gefiel –: »Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht? … Wie man es auch immer anfasst und wie man sich auch entscheidet: Die Zeit ist gefährlich für junge Dichter …«

Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, dass man ihn »auf der anderen Seite des Rheins« irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, dass er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.

Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern – sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen –, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste milieu sensationell vor den Kopf zu stoßen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spukhaft Grässlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der neunziger Jahre, obszönen Traumgebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des Hässlichen, Schockierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb – eine Art von pervertiertem Ästhetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie stellten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihre Formen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weil sie den Zustand der Welt missbilligten; weil sie sich für die totale Veränderung des Weltzustandes revolutionär einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbat aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönität verbarg – oder offenbarte sich die revolutionäre Hoffnung; ein fast naiver – und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, dass der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnädig lösen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Umorganisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veränderung Ereignis geworden sein wird …

In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag – in einer Fehde übrigens, die sich oft in nächtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswänden oder in Skandalszenen bei Theaterpremieren manifestierte –, zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und lärmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien –, die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohemehaften Exzentrizitäten geäußert. »Mein Vater«, pflegte Marcel zu konstatieren, »war ein degeneriertes Schwein. Nach außen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er hasste meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, dass der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen Spießer, Rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschäftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyäne. Sie hat alle schlechten, niederträchtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minderbegabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret«, sagte Marcel abschließend, »ist ein Scheusal.«

Der Hass gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als »les sales boches« sprach und der Ansicht war, dass die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schockieren, indem er seine Konversation mit Unllätigkeiten würzte und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjährige wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die im Paris des ersten Nachkriegsjahrzehntes ihr seltsames Wesen trieb; zum umworbenen Enfant terrible jener zugleich exklusiven und fantastisch gemischten Zirkel, in denen whiskysüchtige Halbgenies aus New York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordene Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Ballette, mit opiumrauchenden Lyrikern, Negerboxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser »monde«; verachtete sie; wurde von ihr verhätschelt; schilderte und verhöhnte sie schließlich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkte auf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Gräuel war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafs waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nächte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um Schluss mit der abwechslungsreich-makabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Ärzte rieten ihm zu Davos. Er musste nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beängstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailpartys und komplizierten Orgien. – Im Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum ersten Mal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vorträge über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: »Wenn du mich nicht mit Brutalität und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so große Angst davor, dass ich verrückt werden muss. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe …«

Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ähnlich sah. Marcel sagte: »Et voilà Kikjou – mon petit frère.« David Deutsch war einen Augenblick lang recht erschrocken über die Tatsache, dass Marcel einen Bruder präsentierte – ›und aus seinen Büchern scheint doch hervorzugehen, dass er keine Geschwister hat‹, dachte er. – »Il est beaucoup plus gentil que moi«, sagte Marcel, einen Arm um die Schulter des Jungen gelegt, den er Kikjou nannte. Dann umarmte er die Schwalbe, wobei er sie ausführlich auf beide Wangen küsste. Marion und Martin lachten. »Idiot!«, sagte Marion – und Martin, erklärend zu David Deutsch: »Er hat natürlich nie einen Bruder gehabt. – Aber sie sehen sich wirklich ähnlich«, fügte er hinzu und schaute mehrere Sekunden lang, schläfrigneugierig, aufmerksam und zärtlich, den Fremden an.

Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blässe ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, während diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen.

Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weit geöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das stärkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn – viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjährigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjährig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch – zu hübsch, anstößig hübsch für einen jungen Mann –; Marcel beinahe hässlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebenso wenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun stellte sich heraus, dass er unwiderstehlich war … Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle vier genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ›Mein Gott – ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.‹ –

Poiret hatte die Schwalbenmutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zustande, durchsetzt mit englischen Brocken –: Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. »Poor Berlin!«, rief er aus – sie waren vom Boulevard St-Germain in die lange traurige Rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe; hinter ihnen Marion und Martin mit dem »petit frère«. »Poor Berlin!«, sagte Marcel. »So schöne Stadt, ganz verdorben! Ganz verdorben – very sorry for you, meine süße Schwalbe, very sorry!« Die Grauhaarige, rüstig neben dem jungen Dichter einherstapfend, nickte und brummte: »Große Schweinerei! Na, wird ja nicht lange dauern …« – Mit so viel biederem Optimismus war Marcel nicht einverstanden. Mühsam jedes Wort suchend – um es dann abenteuerlich falsch zu betonen –, riskierte er es, zu widersprechen: »Ah, ma pauvre Hirondelle – keine Illusionen! Schluss mit Illusionen, ma pauvre! Hitler ist, was Bourgeoisie will. Wird sich lange halten, weil genau ist, was Bourgeoisie gerne mag. Bourgeoisie will kleine hässliche Mann: bisschen Bauch schon« – er deutete pantomimisch die leichte Leibeswölbung des deutschen Kanzlers an –, »und kleine moustache – garstig moustache, kommt wie schwarze Schmutz aus Nase gelaufen – oh, so very ugly! Le bel Adolphe –: hässlichste Mann von die Welt. Hässliche Nase, und abscheulich Haar – so gemein in die Stirn coiffiert! Very sorry for you, Hirondelle, ma pauvre –: Deine Führer, hässlichste Mann von die Welt!« Er klopfte ihr mitleidig die Schulter, während David Deutsch, nervös amüsiert, von krampfhaftem Gelächter geschüttelt wurde und sich das verzerrte Gesicht mit den Händen bedecken musste. Die Schwalbe wiederholte, gutmütig den französischen Akzent karikierend: »Mein Führer, hässlichste Mann von die Welt!« – Marcel sah, wenn er lächelte, wie ein vergnügter Handwerksbursche aus. Alles, was an ihm proletarisch-bäuerlich war – und seine Physiognomie hatte volktümlich-derbe Züge neben den dekadenten –, kam im herzhaften Gelächter zum Ausdruck und schien, solange die Freude anhielt, dominierend zu werden. Das Lachen verjüngte ihn und machte ihn gesund.

Marion, die den kleinen Kikjou schon ein paar Tage vorher mit Marcel getroffen hatte, versuchte Martin klarzumachen, was für eine Art Geschöpf man da vor sich hatte; es störte sie kaum, dass der Geschilderte dabei war und sogar etwas Deutsch verstand. »Er gehört zu diesen Jungens, wie man sie in Paris manchmal trifft, die alle Sprachen können und gar keine«, sagte sie. »Ich glaube, ursprünglich kommt er aus Brasilien; aber das ist alles etwas zu kompliziert für mein Fassungsvermögen. Jedenfalls ist er mit seiner Familie böse, und seine Familie ist wohlhabend und lebt teilweise in Rio, teilweise in Lausanne, der Wichtigste ist aber ein alter Onkel, und wir können ihn nicht ausstehen, weil er kein Geld schickt, oder beinah kein Geld, jedenfalls nicht genug!« – »Marion! Sie sind schrecklich!«, unterbrach Kikjou sie lachend; aber er sah dabei nicht das Mädchen an, sondern Martin, aus sehr sanft strahlenden Augen. – Marion, unbeirrbar, fuhr fort: »Marcel behauptet, dass Kikjou manchmal recht schöne Gedichte macht. Aber der liebe Gott kommt zu viel in ihnen vor. Marcel ist doch so besonders gegen den lieben Gott.« – »Marion, du bist wirklich schrecklich!« Jetzt sagte es Martin, und auch er sah an der Angeredeten vorbei; es gelang ihm aber nicht mehr, Kikjous Blick einzufangen.

Marcel wandte sich um und rief über die Schulter: »Der liebe Gott? Toujours le Bon-Dieu? Merde alors! On se dispute toute la soirée sur le Bon-Dieu – il parait que le petit Kikjou aime beaucoup ce type-là. Voilà notre petit Kikjou tout à fait furieux parce que je dis, tout simplement, que cet espèce de Bon-Dieu est un salaud, une cochonnerie, une vacherie, une connerie – une … je ne sais pas quoi …« – »Marcel!«, bat Kikjou, mit einer ganz leisen, aber merkwürdig innigen, fast metallisch tönenden Stimme. »Marcel! Je t’en prie!« Dabei hob er mit einer priesterlich runden, sanft warnenden, beschwörenden Geste die flach geöffnete Hand. Aber der andere redete weiter, mit Akzent und Haltung eines streitsüchtigen Taxichauffeurs. »Eh quoi – alors! Sans blague! merde alors! Tu ne comprends pas que c’est encore une espèce de politesse – par pitié – qui me fait dire que ton Bon-Dieu soit un salaud, puisque, en vérité, il n’existe pas, tout simplement. Et je crois qu’il vaudrait toujours mieux d’exister comme un salaud que de n’exister du tout … Et quoi alors?!« – Seine Stimme klang böse, die Augen hatten ein schlimmes Funkeln. Er wartete Kikjous Antwort nicht ab, sondern drehte ihm wieder den Rücken und ging schnell weiter, so schnell, dass David Deutsch und die Schwalbe nun wirklich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Kikjou sagte, und lächelte etwas fahl: »Sie müssen es entschuldigen … Aber Sie kennen ihn ja. Sie wissen, warum er diese fürchterlichen Dinge sagen muss.« Sie blieben mehrere Minuten lang stumm, bis Martin fragte: »Aus welcher Sprache stammt eigentlich das Wort Kikjou? Es klingt wie ein Vogelname … Heißen Sie wirklich so?« Der Fremde schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: »Als ich ganz klein war, in Rio drüben, hat mich eine indianische Kinderfrau so genannt. Und dann Marcel wieder.« Martin nickte.

Sie hatten die Gare de Montparnasse erreicht und bogen links in den Boulevard ein. Die Schwalbe schlug vor, man solle einen Rundgang durch die großen Cafés machen: »um die Freunde zu sammeln …«, als gälte es, einen feierlichen oder kriegerischen Umzug zu organisieren. In der »Coupole« fanden die Deutschen keinen ihrer Bekannten; nur Marcel wurde von ein paar jungen Leuten begrüßt, es waren französische Literaten, sie passten nicht ganz in den Kreis. Im »neuen« »Café du Dôme« – einer erst seit einigen Jahren eröffneten, etwas eleganteren Dépendance des alten, schon klassisch ehrwürdigen Etablissements – trafen sie Professor Samuel, den Maler: Ein betagter Herr, würdig, väterlich, aber immer noch unternehmungslustig, nicht ohne verschmitzte, leicht diabolische Züge; Professor Samuel – Schüler der großen Pariser Impressionisten, von den internationalen Kennern und Sammlern seit Jahrzehnten respektiert; seit Jahrzehnten in den Montparnasse-Cafés ebenso intim beheimatet wie in den Berliner Lokalitäten gleichen Stils –: Er rief mit seinem wunderbaren, orgeltiefen Bass: »Da seid ihr ja, meine Kinder!« –, und zog einen nach dem anderen ans Herz; zuerst Marion, dann Marcel, dann Martin, David, die Schwalbe, und sogar Kikjou, den er gerade erst kennenlernte. Der »Meister« war stets gerne dazu bereit, junge Leute, männlichen oder weiblichen Geschlechtes, zu umarmen und ein wenig zu liebkosen. Er hatte, unter dem breitrandigen Schlapphut, ein großes, kluges, altes, blasses Gesicht; die Augen verschwanden hinter geheimnisvoll spiegelnden Brillengläsern; das Lächeln des fein geschnittenen Mundes war sowohl gütig als schelmisch und von einer gleichsam verklärten, väterlich-allumfassend gewordenen Sinnlichkeit. »Der Meister! Le maître lui-même!«, riefen die jungen Leute durcheinander. Sie kannten ihn alle, und sie waren angenehm berührt, seine schöne Orgelstimme wieder zu hören. Er genoss großes Vertrauen bei den jungen Leuten, die oft ratlos waren. Man beichtete ihm, klagte bei ihm, erbat Rat, er hatte für alles Verständnis, es überraschte ihn nichts, er hatte viel gesehen, auch selber viel mitgemacht, er war alt und klug.

In der Gesellschaft des Meisters gab es einen munter und adrett wirkenden kleinen Herrn mit auffallend schönem, soigniertem weißem Haar über einer rosig appetitlichen Miene. Marion und Martin schienen mit ihm intim zu sein, auch Marcel und die Schwalbe kannten ihn, David hatte ihn nie gesehen. Er hieß Bobby Sedelmayer und war der Manager der Knickerbocker-Bar in Berlin gewesen – eines Etablissements, in dem die arriviertesten von den Stammgästen der Schwalbe sich mit dem eigentlichen Kurfürstendammpublikum, den Snobs und den hoch bezahlten Künstlern, begegneten. Der kleine Sedelmayer und die Schwalbe standen in einem neckisch-gespannten Verhältnis, jedoch überwog die schalkhafte Nuance; denn im Grunde waren sie nie Konkurrenten gewesen, da bei der Schwalbe die Erbsensuppe dreißig Pfennig, bei Bobby der Cocktail fünf Mark kostete. Nun hatten sie beide ihre Pforten schließen müssen und begegneten sich auf der Terrasse des »Dome« – beide übrigens durchaus optimistisch, bei allem Ernst der Situation, und den Kopf voller Pläne. Bobby hatte in seinem Leben mindestens schon fünfundzwanzig verschiedene Professionen gehabt, hinter ihm lagen vielerlei Abenteuer, es war erstaunlich, dass er immer noch ein so rosig-adrettes Aussehen zeigte. Er war vermögend und er war bettelarm gewesen. Er hatte in einem großen Kunstsalon in Frankfurt am Main Picassos verkauft und zu Berlin heiße Würstchen, nachts, auf der Friedrichstraße. Er war Fremdenführer in New York gewesen und Schauspieler in München, Journalist in Budapest und der Empfangschef eines Instituts de Beauté an der Tauentzienstraße in Berlin. Er war einfallsreich, tapfer, immer guter Laune, intelligent und unverwüstlich. Marion küsste ihn auf beide Backen, er zog sie sofort beiseite, um ihr mitzuteilen: »Jetzt mache ich natürlich in Paris ein Lokal auf, der alte Bernheim wird mir das Geld geben, du kommst doch zur Eröffnung, ich will es diesmal ganz schick machen – Avenue de l’Opéra, große Negerband –, der alte Bernheim scheint ziemlich viel money im Ausland zu haben.

Außer Bobby fand sich ein verschüchtert wirkender Jüngling an Samuels Tisch: ährenblondes, artig gescheiteltes Haar, das hübsche, glatte Gesicht etwas entstellt durch mehrere Pickel auf der Stirne und um den Mund; dunkel und nicht ohne Feierlichkeit gekleidet, mit breiter, schwarzer Krawatte, im Stil lyrisch gestimmter Heidelberger Studenten. – Martin zwickte Samuel in den Arm: »Wo hast du den aufgegabelt?« Der Meister schmunzelte: »Ach, er saß so einsam und bekümmert hier auf der Terrasse, mit seiner deutschen Zeitung auf den Knien. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, ihn anzusprechen. Er ist ein ungeheuer braver Junge, so viel habe ich schon heraus. Übrigens scheint er dort drüben, in Deutschland, arge Sachen erlebt zu haben.«

Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft und erklärte, gegenüber, im »Select«, sitze der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. »Wollen wir nicht hinübergehen? Er bezahlt uns die Drinks.« Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: »Ich muss erst noch ins alte ›Dôme‹ und in die ›Rotonde‹ schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzählen haben.«

Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten, ging schon ins »Select« hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; während die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte »Dôme« begleiten ließ. Dort fanden sie gleich das Mädchen, welches sie suchten; sie saß in einem kleineren Nebenraum in der Nähe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, präsentierte sich als eine sehr hässliche, aber Vertrauen einflößende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schräg gehaltener Kopf mit tiefsitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verständige Plätschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hätte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Mädchen ein Mitleid, das an Zärtlichkeit grenzte. ›Pauvre enfant‹, dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an.

Bei ihr am Tisch saßen zwei Männer, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer stellte sie als Theo Hummler und Doktor Mathes vor: »Zwei sozialdemokratische Genossen«, murmelte sie verständig. Die beiden hatten einen erschreckend festen Händedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: »Enchanté«, wurden etwas rot und lachten geniert, als wäre es ein ungehöriger kleiner Scherz, dass sie das französische Wort benutzten. Beide Männer waren groß gewachsen und gut aussehend. Theo Hummler hatte sehr dichtes, schwarzes, ein wenig fettiges Haar und kluge, freundliche Augen. Doktor Mathes blickte etwas glasig um sich. Ein rotblonder Schnurrbart hing ihm in feuchten Fransen auf die Oberlippe. Er war Assistent an einem Berliner Krankenhaus gewesen – wie dem undeutlichsonoren Bericht zu entnehmen war, den die Proskauer der Schwalbe ins Ohr summte. »Unerhört tüchtiger Mensch«, so viel ließ sich aus ihren Worten erraten, »… habe ihn erst während der letzten Wochen so richtig schätzen gelernt … Hat sich nur unter dem Zwang der Umstände zur Emigration entschlossen … Sehr ernst … wirklich sehr zuverlässig …« – Was den Theo Hummler betraf, so war er in sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-Organisationen tätig gewesen. »Ein marxistisch geschulter Kopf«, raunte die Proskauer, wozu Frau Schwalbe nickte.

Auf dem Wege vom »Dôme« zum »Select« ließen die drei aus Berlin neu Eingetroffenen schon die ersten Schreckensnachrichten hören. »Sie haben Betty verhaftet«, murmelte die Proskauer, und der Mann vom Volksbildungswesen ergänzte: »Vorgestern Abend, ich hatte sie ein paar Stunden vorher noch gesehen – der reine Zufall, dass sie mich nicht auch wieder erwischt haben!« – »Sind Sie denn auch emprisonniert gewesen?«, erkundigte sich Marcel. Theo Hummler nickte: »Gleich in den ersten Tagen. Aber sie haben mich bald wieder rausgelassen, ich hatte Glück.« – »Hat man Sie …?« Marcel fragte es mit Angst in der Stimme. Da er das deutsche Wort nicht gleich finden konnte, deutete er pantomimisch das Prügeln an. »Ob man mich geprügelt hat?« Hummler lachte kurz und grimmig durch die Nase. »Das vergessen die niemals. – Aber es ist mir weniger schlimm gegangen als vielen von den Genossen.«

Doktor Mathes sagte, wobei er sich mit einer gewissen Schärfe an Dora wandte: »Übrigens ist es notorisch, dass man uns Sozialdemokraten mit noch mehr Grausamkeit behandelt als die Kommunisten. Die Nazis wissen genau, wer ihre gefährlichsten Feinde sind.« – Die Proskauer schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe in Straßburg junge Kommunisten gesehen – die waren zugerichtet: grauenvoll. Schlimmer kann kein Sozialdemokrat aussehen, der aus den Kellern der Gestapo kommt.«

Theo Hummler, dem der Gegenstand peinlich zu sein schien, wusste noch zu erzählen: »Und den Willi haben sie auch gekriegt – du weißt doch: den kleinen Dicken, der auf unserer letzten Versammlung das Hauptreferat hatte …«

Sie waren vor der Terrasse des »Select« angekommen. Der junge Arzt mit dem rötlichen, feuchten Schnurrbart zog Dora zur Seite. »Mit wem treffen wir uns da eigentlich?«, fragte er misstrauisch. »Wenn es feine Leute sind, gehe ich lieber nicht mit. Ich sehe unerlaubt schäbig aus …« Auch der Volksbildungsmann hatte Bedenken: »In diesen Montparnasse- Cafés sollen besonders viel Spitzel sein. Man sagt, sie geben einem zu trinken und versuchen dann rauszukriegen, was für Beziehungen man nach Deutschland hat.« Die Proskauer bekam etwas unruhige Augen, die ängstlich an der Nase vorbeiblickten. »Ich weiß wirklich nicht …«, murmelte sie. »Es sind Freunde der Kameradin Schwalbe …« Nun mischte diese sich ins Gespräch, während David Deutsch und Marcel schon langsam die Terrasse betraten, auf der alle Tische dicht besetzt waren. – »Seid doch nicht übertrieben vorsichtig!«, riet die Alte. »Ich kenne fast die ganze Bande da drinnen – und den Freunden meiner Freunde misstraue ich nie!« – »Na ja«, entschied Hummler, nachdem er sich mit dem Doktor durch Blicke, Achselzucken und Kopfschütteln nicht sehr taktvoll verständigt hatte. »Machen wir also mit! Man will kein Spielverderber sein!« – Die Schwalbe erklärte noch: »Es ist wohl so ein alter Berliner Bankier dabei, ein Freund vom Maler Samuel. Das scheint so einer, der gerne für einen ganzen Haufen von Leuten die Rechnung bezahlt.« – »Ist ja ganz angenehm!«, rief Hummler, durch diese Mitteilung besserer Laune gemacht. Er und Doktor Mathes ließen herzliches Gelächter hören, die Schwalbenwirtin stimmte dröhnend ein, auch die Proskauer hatte ein dunkel plätscherndes kleines Lachen. Theo Hummler wunderte sich selbst: »Dass man bei den Zeiten noch vergnügt sein kann!« Dabei hatten sie den Tisch erreicht, an dem Bankier Siegfried Bernheim präsidierte.

Professor Samuel schien die Unterhaltung zu beherrschen; als die Schwalbe mit ihren Freunden zur Gesellschaft stieß, ließ er eben seinen prachtvollen Bass hören: »Gewiss, jeder von uns hat viel aufgeben müssen. Ich hatte gerade Schluss gemacht mit dem Vagabundenleben – reichlich spät, wie manche meiner Freunde fanden – und war wohlbestallter Professor in Berlin geworden, mit festem Einkommen, einem hübschen Atelier in Dahlem und nur noch ganz geringfügigen Schulden. Ein ruhiger Lebensabend war mir aber wohl nicht beschieden. Da sitze ich wieder, wie vor vierzig Jahren –: unbeschwert. Mein Besitz ist ein Handkoffer, enthaltend zehn französische und fünf deutsche Bücher, einen Flanellanzug, einen ungebügelten Smoking, eine Zahnbürste, einen Skizzenblock, zwölf Bleistifte und ein paar Tuben Farbe. So zog ich schon vor vierzig Jahren durch die Welt. Und inzwischen …« – er senkte sein großes, erfahrenes, altes Haupt; seine Stimme dämpfte sich düster –, »und inzwischen hat man sein Lebenswerk geschaffen.« Dann sprang er auf, um die Schwalbe und ihre Begleitung mit Herrn Bernheim bekannt zu machen.

Der reiche Mann sagte: »Herzlich willkommen an meinem Tisch!« Er hatte immer noch die salbungsvoll-gastliche Allüre, mit der er, so viele Jahre lang, seine Gäste – Politiker und Finanziers, Chefredakteure und Schauspielerinnen, Prinzen, Musiker und Poeten – am Portal seiner Grunewaldvilla in Empfang genommen und begrüßt hatte. »Recht herzlich willkommen!«, wiederholte er mit etwas öliger Stimme und schüttelte der Schwalbe beide Hände. »Ich habe viel von Ihnen gehört!« – Sein Gesicht war alttestamentarisch würdevoll, mit großer, fleischiger, ziemlich platter Nase und einem breiten, rund geschnittenen Vollbart, der früher rot gewesen sein mochte und jetzt eine merkwürdig rosagraue Färbung zeigte. Siegfried Bernheim schien die Stattlichkeit in Person; stattlicher und imposanter als er konnte ein Mensch überhaupt nicht sein. Alles an ihm atmete eine gesunde, fröhlich-ernste Selbstzufriedenheit, die jedoch weit davon entfernt war, in einen lächerlichen Dünkel auszuarten. Ihm ließ sich ansehen, dass auch der Schicksalsschlag, der ihn nun betroffen hatte – der Verlust von Haus und Heimat: das Exil –, sein solides inneres Gleichgewicht keineswegs hatte stören können. Das gesellige Heim im Grunewald hatte er fluchtartig verlassen müssen – denn er war den Nazis nicht nur als reicher Jude, sondern auch als Förderer links gerichteter Künstler und Politiker besonders verhasst –: Was schadete es? Es schadete wenig, so gut wie nichts. Er hielt Hofstaat auf der Terrasse dieses hübschen Cafés, und übrigens würde er bald eine geräumige Wohnung in Passy beziehen. Er hatte nur wenig Geld verloren. »Verhungern werde ich in absehbarer Zeit nicht müssen«, gab er zu. – Die Comités für jüdische und politische Flüchtlinge erhielten keineswegs überwältigend große, aber doch erfreuliche Gaben von ihm. Er war von liberaler Gesinnung, nicht ohne vorsichtige Sympathie für gemäßigt sozialistische Ideen. Seine Feinde und einige seiner Freunde hatten ihn den »roten Millionär« genannt, was er sich mit Schmunzeln gefallen ließ. Ein wohlmeinender, ziemlich intelligenter, fortschrittlich gesinnter Herr: Musste man nicht froh und dankbar sein, dass es ihn gab? Dass er hier, im braunen flauschigen Paletot, vor seinem schwarzen Kaffee mit Benediktiner saß und die neuen Gäste fragte: »Was darf ich für Sie bestellen, meine Herrschaften?« Es amüsierte ihn, dass David Deutsch nur heiße Milch haben wollte. Die Herren Mathes und Hummler entschieden sich für Bier und etwas zu essen; Bernheim schlug Würstchen vor, weil es an die Heimat erinnerte. Mit Marcel versuchte er französisch zu reden. »J’ai – lu – un – de vos livres … Très beau –: en effet, très beau. – Très originel«, sagte er noch. »Quelque chose de très nouveau!« Und er strich sich den rot-grau melierten Bart, durchaus befriedigt von seiner kleinen Ansprache in fremder Zunge. Als aber Marcel seinerseits zu sprechen anfing, mit unbarmherziger Geschwindigkeit, Literatenjargon und Apachenargot vermischend, fiel es dem Bankier doch recht schwer, zu folgen. Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; sagte mehrfach: »Très intéressant!«, und wandte sich schließlich, serenissimushaft seine Gnaden verteilend, an Mathes: »Ich höre, Sie sind ein vorzüglicher Internist, Herr Doktor … wie war doch der Name?«

Marion berichtete in hochdramatischer Form von dem zugleich beschämenden, grotesken und erfreulichen Abenteuer, das sie vor einer Stunde, zusammen mit den Freunden, in dem kleinen Restaurant Rue des Saints-Pères gehabt hatte.