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Beschreibung

Die digitale Zukunft ist bereits Realität. Wir können den Wandel nicht weiter aussitzen, sondern müssen ihn gemeinsam aktiv gestalten. Doch welchen ethischen Herausforderungen müssen wir uns hierbei stellen? Wie wahren wir die Menschen-, Grund- und Bürgerrechte? Und wie können wir unsere Werte für die Gestaltung disruptiver Innovationen und der digitalen Zukunft nutzen? Die Autor*innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis zeigen auf, wie technologische Phänomene mit unseren Werten in Einklang gebracht werden können und diskutieren normative Impulse und Ideen für die Regelung des Gemeinwohls in der digitalen Welt.

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Chris Piallat, geb. 1984, arbeitet zu gesellschaftspolitischen Fragen der Digitalisierung. Er ist Referent für Digital- und Netzpolitik für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Neben seiner politischen Beratung arbeitet er als Autor, Redakteur und Sprecher, u.a. für die Kulturstiftung des Bundes, die Berliner Gazette und die Heinrich-Böll-Stiftung. Er hat Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, der Rutgers University New Jersey und der Universität Kassel studiert.

Chris Piallat (Hg.)

Der Wert der Digitalisierung

Gemeinwohl in der digitalen Welt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/ by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Chris Piallat (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Korrektorat: Leandra Thiele

Print-ISBN 978-3-8376-5659-6

PDF-ISBN 978-3-8394-5659-0

EPUB-ISBN 978-3-7328-5659-6

https://doi.org/10.14361/9783839456590

Buchreihen-ISSN: 2702-8852

Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

I.Welche Digitalisierung – Welche Werte? Warum wir (wieder) über Werte reden müssen

1.1Von der Verantwortungsdiffusion zum Gemeinwohl in der digitalen WeltChris Piallat

1.2Werte: Was können ethische Ansätze für eine werteorientierte Digitalisierung leisten?Analyse, Systematisierung und EinordnungPetra Grimm

II.Welche Werte für eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung?

2.1 Freiheit und Autonomie

2.1.1FreiheitGrundrechte im digitalen Zeitalter und wie sie garantiert werden könnenEllen Ueberschär

2.1.2SelbstbestimmungDie Digitalisierung als Herausforderung für die Bestimmung des Selbst im GesundheitswesenChristiane Woopen und Sebastian Müller

2.1.3AutonomieDigitale Berechenbarkeit versus Zufall in Literatur und RechtTimo Rademacher und Erik Schilling

2.1.4PrivatheitZur Zukunft des DatenschutzesNils Leopold

2.1.5WürdeGemeinwohlorientierte Plattformen als Grundlage sozialer FreiheitPhilipp Staab und Dominik Piétron

2.2 Gerechtigkeit und Gleichheit

2.2.1GerechtigkeitKünstliche Intelligenz und Diskriminierung – Eine ArchäologieLorena Jaume-Palasí

2.2.2MenschenrechteGemeinwohlorientierte Gesetzgebung auf Basis der Vorschläge der EU »High-Level-Expert Group on Artificial Intelligence«Eric Hilgendorf

2.2.3GeschlechtergerechtigkeitIntersektionale Perspektiven auf den Digital Gender GapFrancesca Schmidt und Nicole Shephard

2.2.4NachhaltigkeitWie Digitalisierung zur Sicherung existenzieller Menschenrechte und zur Klimagerechtigkeit beitragen kannTilman Santarius

2.3 Demokratie, Zugang und Souveränität

2.3.1ZugangDigitale Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit als Ware und die deliberative DemokratieChristian Stöcker

2.3.2Digitale SouveränitätVon der Karriere eines einenden und doch problematischen KonzeptsJulia Pohle und Thorsten Thiel

III.Von der Verantwortungsdiffusion zur Governance

3.1MehrebenensystemDigitalpolitik von technischen Standards über staatliche Normen bis zum digitalen VölkerrechtMatthias C. Kettemann

3.2GovernanceUpdate für die Brücke und den Maschinenraum – der digitale Staat braucht neue Werte und StrukturenStefan Heumann

3.3RechtWenn Gerichte es im digitalen Zeitalter richten müssenUlf Buermeyer und Malte Spitz

3.4VielfaltGestalten statt reagieren – Was wir von der Zivilgesellschaft für eine gelungene Digitalisierung lernen könnenJulia Kloiber und Elisa Lindinger

3.5InternationalesGeopolitische Diplomatie und die europäische DigitalstrategieTyson Barker

Autor*innenverzeichnis

Vorwort

Wir erleben einen Zeitenbruch. Wie wir arbeiten, kommunizieren und lernen, wandelt sich in kaum zu fassender Geschwindigkeit. Internet und Digitalisierung haben sich schnell und allumfassend verbreitet und sind zentraler Bestandteil unseres Alltags geworden. Diese Beschleunigung erleben wir aktuell auch mit der Verbreitung und Normalisierung von Homeoffice, Lernplattformen, Online-Handel oder Apps für Kontaktnachverfolgungen und Check-Ins.

Gesellschaftliche und politische Debatten über Wandel werden allerdings nicht nur von schieren Fakten geleitet. Gedankliche Deutungsrahmen, mit denen wir die uns umgebende Welt zu erfassen versuchen, haben einen mindestens so großen Einfluss auf unser Handeln. Angesichts der Herausforderungen der Zeit werden wir uns zunehmend bewusst, dass individuelle Lebensweisen und gesellschaftlicher Konsens nicht selbstverständlich sind. Die ganze Dimension des Wandels zu erfassen, birgt die Chance, unser Verhältnis zu vorher als selbstverständlich erachteten Werten neu auszutarieren: Welche Freiheit wollen wir? Was ist gerecht? Wie wahren wir das Gemeinwohl?

Das gilt insbesondere für die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts, die Gestaltung der digitalen Transformation. Wir haben die Segnungen des technologischen Fortschritts bisher wohlwollend in unseren Alltag aufgenommen. Nun sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir die Digitalisierung nicht mehr als etwas Selbstverständliches, als etwas, das einfach passiert oder einfach ist, hinnehmen können. Denn wir schaffen sie mit unserem Handeln oder eben auch unserer Untätigkeit. Wir müssen uns ihrer also bewusst werden und die immer drängendere Frage stellen: Wie wollen wir die digitale Transformation gestalten?

Denn Digitalisierung ist weder gut noch schlecht; schon gar nicht ist sie neutral. Sie ist das, was wir aus ihr machen. Digitalisierung kann uns als Werkzeug beispielsweise bei der Bekämpfung einer Pandemie helfen. Apps, Plattformen, autonome Systeme oder digitalisierte Prozesse können uns zusammenführen, uns erkennen lassen, was wir bisher nicht zu sehen vermochten oder neue Kulturtechniken und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Die Zukunft der Digitalisierung ist ungewiss. Klar ist aber, dass wir uns mit den Faktoren der Gestaltung der digitalen Transformation befassen müssen.

Ohne Übertreibung stehen wir vor weitreichenden Entscheidungen. Konkret geht es beispielsweise um den Einsatz von künstlicher Intelligenz sowie algorithmischer und automatisierter Systeme, die über Preise und Kredite, Ausbildungsplätze oder individuelle medizinische Behandlungen entscheiden. Wie viel menschliche Entscheidungskompetenz wollen wir im Gericht, in der Schule oder im Krankenhaus abgeben? Wie integrieren wir technologische Innovationen wie gemischte Realitäten und Mensch-Maschine-Entgrenzungen in unseren Alltag und für eine bessere Gesellschaft? Wollen wir humanoide Roboter, teilautonome (Fahr)assistenten und autonome tödliche Waffen einsetzen, und wenn ja, wie? Diese Herausforderungen diskursiv zu begleiten und politisch zu gestalten, ist eine der dringlichsten und meist diskutierten Aufgaben unserer Zeit und entscheidet maßgebend, wie wir leben werden. Daher gibt es mindestens drei Gründe, warum dieses Buch notwendig ist.

Der erste liegt in der gesellschaftspolitischen Dringlichkeit. Wir können die digitale Zukunft als Gesellschaft nicht weiter aussitzen, wir müssen sie gestalten. Nur wie? Damit kommen wir zum zweiten Grund für dieses Buch: Mit ihm wird der Versuch unternommen, das normative Konstrukt des Gemeinwohls für die Digitalisierungsdebatte fruchtbar zu machen. Und drittens wird mit diesem Buch eine diskursive Lücke geschlossen. In der deutschsprachigen Digitaldebatte gibt es bisher kaum einen in einem Buch versammelten breiten Querschnitt von Beiträgen von Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, der aufzeigt, wie technologische Phänomene mit unseren Werten in Einklang gebracht werden können und wie die Idee des Gemeinwohls einer progressiven Gestaltung der Digitalisierung und einer besseren Gesellschaft dienen kann. In diesem Sinne soll das vorliegende Buch zu einer breiteren gesellschaftlichen Debatte über die Herausforderungen der digitalen Transformation beitragen und Angebote für eine wertegeleitete Gestaltung der Digitalisierung unterbreiten.

Für diese diskursive Suche sind folgende Fragen leitend: Welche Werte wollen wir für die Gestaltung der digitalen Welt heranziehen? Wie können wir das einende Band der gemeinsamen Werte und Grundrechte in das digitale Zeitalter transformieren? Wie können wir, statt mit Reparatur-Ethik und korrigierendem Recht zu reagieren, vor die Lage kommenund konstruktive und progressive Ideen für eine (rechtliche) Ordnung der digitalen Zukunft entwickeln? Welche Formen der gesellschaftlichen und politischen Steuerung sind für digitale Technologien und Werte denkbar, erfolgversprechend und durchsetzbar? Diesen Themen und Herausforderungen widmen sich die Autor*innen dieses Buches.

Die Beiträge in diesem Buch bieten eine breite und tiefe Diskussion über normative Impulse und Ideen für das Gemeinwohl in der digitalen Welt. Sie beleuchten theoretische, kritische und praxisorientierte Perspektiven. Sie sind dabei stilistisch und konzeptionell höchst vielfältig. Mal argumentieren sie konkret rechtlich oder sind visionär, mal kreisen sie um Phänomene oder bieten klare handlungsleitende Antworten. Dabei folgen sie keinem dezidiert theoretischen oder politischen Programm. Alle stellen auf unterschiedliche Art gemeinwohlorientierte Ansätze für die digitale Welt vor.

In diesem Buch wird die analytisch-prognostische Sicht auf die digitale Zukunft durch eine bewusst normative Sicht des Wollens und Sollens ergänzt. So soll der Versuch unternommen werden, der Naturalisierung (Digitalisierung ist und passiert einfach) ein handlungs- und gestaltungsleitendes Verständnis von Werten gegenüberzustellen. Kurz: Der existierenden normativen Kraft des Faktischen der Digitalisierung aller Lebensbereiche wird eine faktische Kraft des Normativen zur Gestaltung der Digitalisierung entgegen gestellt.

Die ausgewählten Themen für den Theorie-Empirie-Dialog zeigen, wie sich Digitalisierungsphänomene auf die Gesellschaft sowie ihre Werte auswirken und umgekehrt. Selbstverständlich können nicht alle Phänomene und Themen umfassend erörtert werden. Es fehlen beispielsweise Diskussionen über Bildungsgerechtigkeit als Voraussetzung für Teilhabe in der digitalen Welt oder eine globale Perspektive auf den digital gap zwischen hoch technologisierten und weniger durchdigitalisierten Staaten. Ohnehin spiegelt dieses Buch größtenteils die deutsche Digitaldebatte, unter anderem, da sich die Gemeinwohlbindung einer Digitalpolitik und das geforderte Primat der Werte und des Rechts besser auf nationalstaatlich umschriebene und verfasste Gesellschaften anwenden lassen. Die allgegenwärtige Digitalisierung macht es freilich nötig, Ideen und Vorschläge auch über nationale Grenzen hinweg zu entwickeln. Das soll und muss Gegenstand weiterer Debatten sein. Ebenso deuten sich am Horizont bereits neue disruptive Technologien an, beispielsweise erweiterte Realitäten, Internet-of-Things und die zunehmende Entgrenzungen von Mensch-Maschine-Verhältnissen, breite Anwendungsfelder künstlicher Intelligenz und der große Sprung in der Rechenleistung durch Quantencomputing. Dementsprechend stehen wir erst am Anfang, die richtigen Fragen zu stellen und die Wirkung der Digitalisierung auf unser Leben zu begreifen. Die angebotenen Perspektiven in diesem Buch sollen helfen, unseren Blick auf die notwendige Gestaltung der digitalen Zukunft zu schärfen. Denn alles wird vernetzt, alles wird smart und alles wird digital. Nur wie?

Aufbau des Buches

Das Buch folgt einer Dreiteilung. Nach einer Einführung in das Thema des Buches, einer gemeinwohlorientierten Antwort auf die Verantwortungsdiffusion in der digitalen Welt, werden unterschiedliche Wertekonzepte diskutiert.

Im zweiten Teil werden die zahlreichen digitalen Phänomene und die vielen Wertedimensionen ansatz- und auszugsweise besprochen. Dabei wird der Wandel prägender Konzepte und Werte wie Freiheit, Demokratie oder Nachhaltigkeit mit verschiedenen Digitalisierungsphänomenen konfrontiert und zusammengeführt. Das macht die Auseinandersetzung zugänglicher und öffnet ein breites Themenspektrum. In den Beiträgen nähern sich die Autor*innen dem stets zu verhandelnden Gemeinwohl aus unterschiedlicher Perspektive an. Sie legen dafür so divergierende Werte wie Freiheit und Autonomie (1.), Gerechtigkeit und Gleichheit (2.) oder Demokratie, Zugang und Souveränität (3.) zugrunde.

Im dritten Teil geben die Autor*innen übergeordnete Antworten auf die Frage, was aus den bisherigen Transformationen gelernt werden konnte, welche Handlungsspielräume es auf welcher Ebene gibt und wie gesellschaftspolitische Steuerung aussehen kann. Wir kommen also vom Warum und der Beschreibung verschiedener Werte schließlich zur Frage, wie eine gemeinwohlorientierte Gestaltung realisiert werden kann.

Überblick über die Beiträge

Im einführenden Beitrag werden die Wechselwirkungen zwischen den digitalen Realitäten und den Entwicklungen der Werte skizziert und zur Orientierung der Kompass des Gemeinwohls angeboten. Chris Piallat legt damit ein konzeptionelles Fundament für die folgenden Kapitel. Zunächst wird kurz die rasante Reise des Digitalisierungsdiskurses von den libertären Anfängen des Internets hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte über die Gestaltung der Digitalisierung rekapituliert, um danach die diskursiven Pole der Debatte und den ethischen sowie faktischen Gestaltungs- und Handlungsdruck aufzuzeigen. Über den Dreischritt Freiheit, Verantwortung und Nachhaltigkeit gelangen wir zum Konzept des Gemeinwohls. Schließlich wird erörtert, wie Gemeinwohl zur Gestaltung der digitalen Zukunft beitragen kann.

Wenn wir die Parameter festlegen, entlang derer wir unsere digitale Zukunft gestalten wollen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, wie sich unser gemeinsamer ethischer Kompass zusammensetzt. Petra Grimm erläutert hierfür im zweiten Teil die Grundlagen und diskutiert, wie unterschiedliche Konzepte von Werten (teleologisch, deontologisch und tugendhaft) für die Gestaltung der Digitalisierung gedacht und genutzt werden können. Entlang von Beispielen werden potenzielle Wertekonflikte beim Einsatz neuer Technologien aufgezeigt. Anschließend wird der Unterschied zwischen moralischen und universalen Werten erläutert und herausgearbeitet, welche für die Gestaltung der Digitalisierung relevant sind. Dafür wird eine kursorische Werte-Topografie mit Stärken und Schwächen der Ansätze angeboten.

Ein Überblick über die Werte, die in einer digitalen Gesellschaft verhandelt werden, kann nicht allumfassend sein. Im zweiten Teil des Buches werden deshalb unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls digitale Phänomene hinsichtlich dreier ausgewählter Wertebereiche abgesucht: 1. Freiheit und Autonomie, 2. Gerechtigkeit und Gleichheit und 3. Demokratie, Zugang und Souveränität.

Im ersten Abschnitt »Freiheit und Autonomie« betrachten wir verschiedene Freiheitsformen und wie diese in der digitalen Welt realisiert werden können.

Den Anfang macht Ellen Ueberschär, die vor der historischen Folie von Totalitarismuserfahrungen fragt, wie wir ein stärkeres Bewusstsein für Grund- und Freiheitsrechte in der digitalen Welt erreichen können. Sie argumentiert, dass digitale Freiheit nur als Teilhabeprojekt zu verwirklichen ist.

Christiane Woopen und Sebastian Müller diskutieren, ob Menschen mit zunehmender Digitalisierung ihre Selbstbestimmung und ihre Freiheit verlieren und wenn ja, wie dem entgegengewirkt werden kann. Dies erläutern sie entlang von Alltagsbeispielen aus dem digitalisierten Gesundheitssektor.

Anschließend untersuchen Thomas Rademacher und Erik Schilling, wie sich die zunehmende digitale Berechenbarkeit menschlichen Handelns auf unsere Autonomie auswirkt und welche Bedeutung dem Zufall bei der Wahrung von Freiheiten zukommt. Dazu betrachten sie zunächst das Verhältnis von Berechenbarkeit und Zufall in der fiktionalen Literatur, um dann zu fragen, ob dem Zufall von Rechts wegen ein Platz in unserem Leben eingeräumt werden sollte.

Eng verknüpft mit der Wahrung der Autonomie in der digitalen Welt ist die konkrete rechtliche Um- und Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten. Nils Leopold beschreibt, warum der viel diskutierte Datenschutz auch weiter ein umkämpftes Feld bleiben wird, wie er konstruktiv weiterentwickelt und wie die Privatheit in einer durchdigitalisierten Welt gewahrt werden könnte.

Die Grundlage aller Wertedebatten bildet die grundrechtlich geschützte Würde. Philipp Staab und Dominik Piétron führen uns ins Zentrum der uns bekannten digitalen Realität, die Plattformmärkte. Sie erläutern, wie Modelle digitaler Plattformen funktionieren und wie diese mit der Theorie gesellschaftlicher Freiheit zusammengedacht werden können. Schließlich bieten sie mehrere Prinzipien für gemeinwohlorientierte Plattformen an.

Im zweiten Abschnitt »Gerechtigkeit und Gleichheit« soll es um die großen Fragen der Gerechtigkeit gehen. Wie können Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten wertegeleitet überwunden werden? Gibt es den dafür notwendigen langen Atem in der Digitalisierung überhaupt?

Lorena Jaume-Palasí nimmt uns mit auf eine archäologische Reise. Dabei lernen wir, dass Diskriminierung durch algorithmische Systeme (Künstliche Intelligenz) im Wesentlichen auf einem tief verankerten mechanischen Denken basiert. Sie argumentiert, dass für die vielfach geforderte Diskriminierungsfreiheit das kategoriale und mechanische Denken überwunden werden müssen.

Künstliche Intelligenz steht aktuell im Mittelpunkt des Digitalisierungsdiskurses. In diesem Kontext gibt Eric Hilgendorf einen Einblick in die Entstehung und Logik konkreter Handlungsempfehlungen, die einerseits zur Wahrung der Menschenwürde beitragen sollen und andererseits Menschenwürde als Fundament für die Gestaltung künstlicher Intelligenz nutzen.

Francesca Schmidt und Nicole Shephard positionieren Geschlechtergerechtigkeit als notwendigen Bestandteil der digitalen Transformation. Dabei führen sie in die intersektionale feministische Perspektive ein. Aufbauend auf feministischen Theorien wird beleuchtet, wie Geschlechterfragen die digitalisierte Gegenwart prägen, insbesondere in Bezug auf digitale Gewalt, algorithmische Mehrfachdiskriminierung sowie Vielfalt in der Digitalisierung.

Kann Nachhaltigkeit für die Gestaltung der Digitalisierung fruchtbar gemacht werden? Tilman Santarius verortet das Konzept der Nachhaltigkeit normativ und arbeitet heraus, wie eine breit gedachte Klimagerechtigkeit eine gemeinwohlorientierte Gestaltung der Digitalisierung leiten könnte.

Im dritten Abschnitt »Demokratie, Zugang und Souveränität« geht es um die Erosion gesellschaftlich geteilter Werte und um Macht. Wie können wir zum demokratischen Konsens und zur Souveränität zurückfinden?

Die plattformbasierte mediale Öffentlichkeit ist geprägt durch einen tiefen Wandel. Christian Stöcker stellt anhand zahlreicher Beispiele die Frage, wie liberale Demokratien die digitale Öffentlichkeit als konstruktiven und produktiven Ort der Willensbildung bewahren können.

Angesichts der rasanten Karriere des Frames der digitalen Souveränität analysieren Julia Pohle und Thorsten Thiel die unterschiedlichen Deutungen des Begriffs und welche Erwartungen und politische Maßnahmen sich daraus ableiten. Sie diskutieren dabei, ob und wie Werte wie Gemeinwohl oder Offenheit mit Souveränität zusammengedacht werden können.

Im dritten Teil des Buches suchen die Autor*innen nach Antworten, wie wir von der Verantwortungsdiffusion zur Governance des Digitalen gelangen können. Sie zeigen, wie breit das Feld der Governance ist, und bieten Ausblicke an, wie diese in Zukunft aussehen könnte. Die Richtung deutet sich an, wird die Digitalisierung doch zunehmend genormt, rechtlich geordnet und so Verantwortung hergestellt.

Um Antworten geben zu können, müssen wir zunächst Digitalpolitik lokalisieren. Einführend gibt Matthias C. Kettemann einen Überblick über die unterschiedlichen Ebenen und Formen der nationalen und internationalen Governance der digitalen Welt. Anhand von Beispielen, wie Regelsetzungen durch technische Standards, durch soft law, durch nationale und internationale Gesetze und völkerrechtliche Kodifizierung, diskutiert er, ob es international geteilte Werte für die Digitalisierung gibt und wie sie in einem Mehrebenensystem für die Digitalisierung verankert werden können.

Wie kann eine wertegeleitete Digitalpolitik konkret umgesetzt werden? Stefan Heumann fokussiert sich bei der Antwortsuche auf den Staat, die Ministerien und Behörden, die einen großen Teil der Digitalpolitik umsetzen. Er plädiert für einen Kulturwandel auf der Mikroebene und schlägt Reformen in der Governancestruktur vor.

Nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Rechtsprechung muss mit der Zeit gehen. Ulf Buermeyer und Malte Spitz zeigen auf, wie Gerichte und insbesondere das Bundesverfassungsgericht mit wegweisenden Urteilen den technologischen Fortschritt immer wieder wertebasiert einhegen und so die (Verfassungs)rechtsordnung fit für das digitale Zeitalter machen.

Julia Kloiber und Elisa Lindinger verweisen in ihrem Beitrag auf die oft unterschätzte Bedeutung der Vielfalt und die kreative Kraft der Zivilgesellschaft. Sie stellen heraus, wie zivilgesellschaftliche Organisationen mit eigenen Visionen die Digitalisierung im Sinne des Gemeinwohls mitgestalten können.

Abschließend hebt Tyson Barker die Debatte auf die internationale Ebene. Er skizziert, wie wertebasierte Standards im geopolitischen Systemwettbewerb gewahrt werden können und bietet drei Wege in die europäische digitale Zukunft an.

Dank

Die Entstehung dieses Buchs habe ich mehreren Menschen zu verdanken. Zunächst danke ich den hier versammelten Autor*innen. Sie haben allesamt unter pandemiebedingt erschwerten Bedingungen ihre Texte geschrieben und in intensiver wie anregender Zusammenarbeit weiterentwickelt. Von Seiten des transcript Verlags möchte ich Jakob Horstmann für Impulse und Beantwortung aller Fragen danken. Jana Schrewe danke ich für das minutiöse Lektorat. Für konzeptionelles, inhaltliches und formales Feedback bedanke ich mich bei Krystian Woznicki, Julian Wenz, Sabine Muscat und Klaus Jähnert-Piallat. Mein größter Dank gilt Lili und Lino. Für alles.

Chris Piallat, Juni 2021

I.Welche Digitalisierung – Welche Werte? Warum wir (wieder) über Werte reden müssen

1.1Von der Verantwortungsdiffusion zum Gemeinwohl in der digitalen Welt

Chris Piallat

1Digitaler Gestaltungsdruck

Alles wird vernetzt, alles wird smart und alles wird digital. Der Digitalisierungsschub der letzten Jahrzehnte hat so große Erwartungen und gesellschaftliche Umbrüche ausgelöst, dass er zu einer oder gar der dominierenden transformativen Kraft des 21. Jahrhunderts geworden ist. Immer eindringlicher wird uns vor Augen geführt, dass wir die digitale Zukunft als Gesellschaft nicht aussitzen können, sondern sie gestalten müssen. Jede Epoche bringt neue ethische Herausforderungen, aber diesmal sind wir gleich mit der digitalen Transformation aller Gesellschaften und aller gesellschaftlichen Bereiche konfrontiert. Noch nie war der Bedarf nach Ansätzen für eine wertegeleitete Gestaltung der digitalen Welt so groß. Dabei müssen wir uns umfassenden Fragen stellen: Wie ist unser gesellschaftliches Verhältnis zur digitalen Welt, die wir geschaffen haben und die uns umgibt? Müssen wir uns im Angesicht eines globalen digitalen Systemwettbewerbs von einigen Werten verabschieden, um schneller und vermeintlich innovativer zu werden? In welcher digitalen Zukunft wollen wir als Gesellschaft leben?

Haben sich bei anderen gesellschaftlichen Umbrüchen kollektive Konventionen und rechtliche Normen über Jahrhunderte etabliert, vollzieht sich die digitale Transformation in extrem schneller Taktung. Wir sind in wenigen Jahrzehnten von ultra-libertären Anfängen des Internets und gesellschaftlichen Versprechen (Stichwort: »Unabhängigkeitserklärung für den Cyber-Raum«) über eine kurze Phase der individuellen Freiheitsversprechen (Stichwort: Interaktives Web 2.0 und Arabischer Frühling), deren Bruch und der Dominanz von Themen wie Überwachung, IT-Sicherheit und Datenschutz (Stichwort: Snowden-Enthüllungen und Überwachungskapitalismus) zu einer rechtlichen Einhegung der ökonomisierten Digitalisierung (Stichwort: Regulierung von Plattformmärkten, autonomen und automatischen Systemen) gereist. Innerhalb einer Generation hat sich die Debatte von individueller Tugendhaftigkeit (Stichwort: Netiquette) hin zur Etablierung einer Weltordnung des Digitalen weiterentwickelt (Stichwort: Digitales Ordnungs- und Völkerrecht).

Der Handlungs- und Gestaltungsdruck ist entsprechend riesig und überall spürbar. Die Bewältigung der Corona-Krise hat dies eindrucksvoll und teils leidvoll aufgezeigt. Denken wir nur an die mit Schnappatmung geführten Debatten über die effektive und doch grundrechtswahrende Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Corona-Warn-App oder des Freiheiten ermöglichenden digitalen Impfpasses. Oder an die vielen Eltern, die angesichts nicht funktionierender digitaler Dienste für das Homeschoolingschier verzweifelten. Oder an die lange verschleppte und dann innerhalb weniger Tage beschleunigte Debatte über den rechtlichen Anspruch auf Homeoffice.

Vor lauter technologischer Überwältigung und Faszination erkennen wir nicht, dass wir als Gesellschaft genau jetzt eine Phase durchleben, die kommende Generationen womöglich als die historische und verpasste Chance der Gestaltung beschreiben werden. Auch nach Jahren der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Debatten über den Megatrend des 21. Jahrhunderts fehlt uns eine klare Richtung, wie die Digitalisierung gestaltet werden soll. Unser Kompass schlägt angesichts der großen Herausforderung erratisch in alle Richtungen aus. Schaffen wir es nicht, die digitale Transformation jetzt zu gestalten, verlieren wir in einem relativ kurzen Moment der Geschichte lang erkämpfte Grund- und Freiheitsrechte,1 nicht nur national, sondern global, nicht nur einzeln, sondern als Gesellschaft, nicht nur digital, sondern allumfassend.

Geboten ist eine nach vorn orientierte Rückbesinnung auf eine Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, um die digitale Transformation nach gesellschaftlichen Werten weiterentwickeln zu können. Wir müssen jetzt neue Technologien so entwickeln, dass sie soziale Ungleichheiten und Diskriminierung abbauen, die Menschenwürde fördern, Rechte wahren, sozial-ökologische Innovationen ermöglichen und die Umwelt schützen, also dem Gemeinwohl dienen. Es ist allerhöchste Zeit, den »Realitätsschock«2 der digitalen Welt zu überwinden und Ideen für eine ganzheitlich wertegeleitete Digitalisierung zu entwickeln.

In diesem einführenden Beitrag machen wir gemeinsam einen kurzen Zwischenstopp auf der atemberaubenden Reise der Digitalisierung und nutzen ihn für Fragen. Was ist überhaupt diese Digitalisierung (1.1)? Wie sind wir von den libertären Anfängen des Netzes zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte über die Gestaltung der Digitalisierung gelangt (1.2)? Welche diskursiven Pole gibt es in der mit großem Handlungsdruck aufgeladenen Debatte (1.3)? Wie kommen wir vom laissez faire zum Primat der Werte und des Rechts (2)? Welche Regulierungsansätze gibt es (2.1)? Welche Angebote für eine Ethik der Digitalisierung bestehen bereits (3)? Wie kann eine Ethik der Digitalisierung als moralische Orientierungshilfe für die Gestaltung und Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung in der digitalen Welt dienen? Wie kommen wir im Dreischritt von Freiheit über Verantwortung und Nachhaltigkeit zum Gemeinwohl (3.1-3.3)? Könnte das Konzept des Gemeinwohls uns Orientierung auf unserer Reise in die digitale Zukunft bieten (4)?

1.1Digi-dies – Digi-das – Digi-was?

Mit unzähligen Definitionen wurde versucht, das Phänomen Digitalisierung greifbar zu machen. Die vielleicht schönste Annäherung lautet frei nach dem ersten Kranzberg’schen Technologiegesetz3: Digitalisierung ist weder gut noch schlecht; schon gar nicht ist sie neutral.

Nüchternere Ansätze betonen den technischen Kern, das Umwandeln von analogen Werten in digitale Formate, die digitale Repräsentation oder den Prozess »der darauf abzielt, eine Entität zu verbessern, indem er durch Kombination von Informations-, Computer-, Kommunikations- und Konnektivitätstechnologien signifikante Änderungen an ihren Eigenschaften auslöst«4. Diese Ansätze entsprechen damit dem englischen Begriff digitization.

Andere beschreiben den interaktiven Charakter der Digitalisierung als »die verbesserte Konnektivität und Vernetzung digitaler Technologien zur Verbesserung der Kommunikation, von Dienstleistungen und des Handels zwischen Menschen, Organisationen und Dingen«5. Vermehrt beziehen sich Definitionen auf die Eigenschaft der Quantifizierbarkeit und die Fähigkeit der Datenverarbeitung, um beispielsweise ein »Gesamtbild des Wertes einer Person zu erstellen«.6 Das kommt dem englischen digitalization nahe, die auf die Veränderung von Prozessen durch Digitalisierung abzielt.

Uns interessiert hier allerdings weniger der technische Kern als vielmehr die sozio-kulturelle Dimension des Phänomens. Die Digitalisierung wird nicht als ein gegebenes technisches Phänomen verstanden. Entsprechend geht es uns nicht um eine Naturalisierung des Wandels, sondern um die Zwecke, die mit neuen Technologien erreicht werden sollen, und damit auch immer um die Werte, die solchen Zielen zugrunde liegen. Das dieses Verständnis noch nicht etabliert ist, lässt sich auch leicht defätistisch zusammenfassen: »The real problem of humanity is the following: we have paleolitic emotions; medieval institutions; and god-like technology.«7

In der öffentlichen Debatte wird dazu passend von digitalen Revolutionen, Disruptionen, Wandel- oder Transformationsprozessen gesprochen, die weit über den bloßen technischen Fortschritt hinausweisen. Hier wird der Begriff der Transformation bevorzugt, da er einen gewollten und gerichteten Prozess meint, der auch die gesamtgesellschaftlichen Implikationen einschließt und beispielsweise nicht die Spontanität einer ungeplanten Revolution annimmt. Kurz: Die digitale Transformation passiert nicht einfach, wir schaffen und gestalten sie.

Die gesellschaftliche Wucht dieser Transformation hat der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder auf die Formel der Kultur der Digitalität8 gebracht. Sie »taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten« der »Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure«9. Im Mittelpunkt steht also die Frage, wie umfassend unsere Gesellschaft durch diese Transformation geprägt wird, und weniger das Faszinosum Digitalisierung an sich. Entscheidend ist also gar nicht mehr die binäre Unterscheidung von analog versus digital, eins versus null, offline versus online oder alt versus neu. Der Soziologe Armin Nassehi geht einen Schritt weiter und beschreibt die Digitalisierung als »die dritte, vielleicht sogar endgültige Entdeckung der Gesellschaft«. »Wenn sie [die Digitalisierung] nicht zu dieser Gesellschaft passen würde, wäre sie nie entstanden oder längst wieder verschwunden«.10 Die aktuelle Ausprägung der Digitalisierung verweist demzufolge auf gesellschaftliche Strukturen, die zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. Es werden gleichermaßen die Thesen vertreten, dass »die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war«11, das Ende der Digitalisierung (wie wir sie kennen)12 naht oder aber das »Zeitalter der Frühdigitalisierung«13 begonnen hätte.

Es gibt unzählige Zugänge, mit denen wir die Kultur der Digitalität, die Muster und Folgen zu verstehen versuchen: Mal ist die Digitalisierung der direkte Auslöser für eine gesellschaftliche Veränderung, mal werden gesellschaftliche Konstitutionen vorausgesetzt und mal bedingen sie sich gegenseitig. Zunehmend setzt sich eine relationale Perspektive durch, wonach sich digitale Phänomene und gesellschaftliche Konstitutionen gegenseitig beeinflussen.14 In der kurzen aber rasanten Geschichte des Netzes und der digitalen Welt gab es allerdings auch andere Zugänge.

1.2Von den ultra-libertären Anfängen des Netzes zur horizontalen Regulierung des Digitalen

Wenn wir die heutigen Debatten zur Digitalisierung verstehen wollen, müssen wir zunächst nach dem Weg ins Jetzt fragen. Welche Positionssteine haben diese äußerst rasante Reise markiert? Die Digitalisierung beflügelt seit Langem15 wissenschaftliche, politische und gesamtgesellschaftliche Debatten und füllt aktuell ganze Regalwände mit dramatischen Beschreibungen und visionären Erzählungen.

Dabei hat in den letzten Jahrzehnten eine diskursive Verschiebung stattgefunden. Das Internet, wie wir es heute kennen, war primär eine Geburt der (öffentlich finanzierten) Wissenschaft und privater Akteure, die sich selbst vorrangig technische Regeln gaben. Nach welchen Werten diese neue, faszinierende Welt auszurichten sei, wurde nur von einer sehr kleinen Gruppe technischer Pioniere in der wilden Phase des frühen Internets implizit mitgedacht.16 Das Netz war noch weit von staatlicher oder gar suprastaatlicher Regulierung entfernt. Die Euphorie über das Tor zu einer neuen Welt dominierte. Der Tenor war: Die Logik der staatlichen Regulierung ist nicht kompatibel mit der emanzipatorischen, dezentralen, selbstverwalteten und dynamischen Kraft des Netzes.17 Die frühen Pamphlete, Chartas und Unabhängigkeitserklärungen der 1990er Jahre waren von dem Anspruch geprägt, »Sozialutopien als Alternativkonstruktion gesellschaftlicher Ordnung«18 zu schaffen. Ihre Autor*innen beanspruchten nichts weniger als die universelle Gültigkeit selbstgegebener Normen und Regeln in der virtuellen Welt.

Diese Haltung war essenziell für die emanzipatorische Kraft und die offene Entwicklung des Netzes. Was die Pioniere dabei übersahen, war die Frage der Verantwortung.19 Wer ist im Netz für was wann verantwortlich? Diese Frage löste ab den 2000er Jahren regelrechte Kulturkämpfe aus. Die Autonomiebewahrer auf der einen Seite sehen sich als technische und kulturelle Avantgarde. Auf der anderen Seite stehen staatliche Regulierungsinstanzen, die ihre Souveränität (zurück)gewinnen wollen, aber auch Wirtschaftszweige und Bürger*innen, die sich von den Umbrüchen überrumpelt fühlen. So wurden und werden beispielsweise harsche Auseinandersetzungen um ein modernisiertes Urheberrecht geführt. Als zentrales Gestaltungsrecht der digitalen Wissensgesellschaft soll es die Interessen zwischen Grundrechten wie Eigentumsfreiheit sowie Meinungs- und Informationsfreiheit ausgleichen. Dieser Konflikt entfachte immer wieder rund um Softwarepatente (2005) sowie internationale Handelsabkommen (ACTA 2012) und trieb 2018 europaweit Hunderttausende Menschen auf die Straßen, was für einen technisch-rechtlich komplexen Gegenstand beispiellos war.20 Letztlich ebnete auch diese Debatte um den Interessensausgleich in der Wissensgesellschaft den Weg für das neue Feld der Netz- und Digitalpolitik. Nachdem das »Neuland Internet«21 lange Zeit vernachlässigt worden war, wurde die Digitalpolitik (neben der Umwelt- und Klimapolitik) in den 2010er und 2020er Jahren zum Brennpunkt der Verhandlung unserer Zukunft. Sie ist in der politischen Mitte des Bundestags, der Bundesregierung und der europäischen Institutionen voll angekommen.22

Die Digitalpolitik ist dabei nur vordergründig eine technische Gegenstandspolitik. Sie setzt sich aus vielen Bereichen wie Medien-, Infrastruktur-, Wirtschafts- oder Kulturpolitik zusammen. Sie bedient sich und ändert zahlreiche Rechtsgebiete und behandelt quasi jeden politischen Bereich: von Menschenrechten über Wirtschaft und Arbeit bis hin zur Transformation der Bildung und des Staats. Mit ihrer Hilfe werden neue technologische Phänomene entlang bestehender Werte gesellschaftspolitisch und ethisch bewertet und neu verhandelt. Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann und ihre Kolleg*innen23 fragen dementsprechend, was die konstitutiven Schutzgegenstände der Netz- beziehungsweise Digitalpolitik sind und kommen zu dem Schluss, dass diese noch diffus, nicht klar zuortbar und vor allem wenig institutionalisiert sind.24

Seit einigen Jahren wird vermehrt nach einer stärkeren Regulierung neuer Technologien gerufen, seien es Regeln für den Einsatz digitaler Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) in allen Lebensbereichen, die Bändigung von Plattformmärkten oder die Einhegung einer überdrehten digitalen Medienöffentlichkeit, deren zersetzende Kräfte die deliberativen Demokratien gefährden.25Scheinbar kontraintuitiv rufen selbst global tätige Digitalunternehmen nach staatlicher Regulierung für existierende oder sich am Horizont abzeichnende Technologien.26 Gefordert wird ein handlungsfähiger Staat, der die Sicherheit der Bürger*innen und der Unternehmen auch in der digitalen Sphäre gewährleisten soll.

Angstvoll wird vor kognitiv überlegenen Maschinen (Singularität)27 und damit verbundenen Souveränitätsverlusten gewarnt. Handlungsleitende Ethiken, aber auch eine eigenständige Ordnungspolitik für die digitale Sphäre, die sich an klassischen europäischen28 und universellen Normen und Werten orientiert, sollen hier einen schützenden Rahmen bilden. Zu beobachten ist, dass der technikdeterministische Fortschrittsglaube des »Solutionism«29 zunehmend daran scheitert, dass »die Moderne an sich selbst unsicher geworden«30 ist. Unsere modernitätstypische Hoffnung, dass der Weg des Menschen durch Bereitstellung immer weiterer technischer Instrumente »zu immer glücklicheren Ufern führe«, ist »krisenhaft geworden«31. Aus dem innovationsgläubigen Heilsversprechen (»Das technisch Mögliche tun«) wird vermehrt das technikeinhegende Dogma (»Es kann nicht sein, was nicht sein darf«). Die Erzählung der Digitalisierung kleidet sich also in die unterschiedlichsten Gewänder.

1.3Extreme Pole der zeitdiagnostischen Digitalnarrative

Die digitale Transformation weckt Fortschrittshoffnungen, aber auch Verlustängste. Mal erscheint sie als Förderer und Katalysator von individuellen Verwirklichungen und gesellschaftlichen Freiheiten, ein anderes Mal als Gefährder und Verletzer unserer Werte, Rechte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.32

Das Ergebnis ist eine eigentümliche Mischung aus enttäuschten Emanzipationserwartungen der frühen Netzkultur und -bewegung33 und latenten Überwältigungsängsten vor kommenden digitalen Entwicklungen. Diese Ansichten pendeln sich bestenfalls zwischen diffuser Hoffnung und wabernder Skepsis ein, verharren aber oft an den entgegengesetzten Polen.34In Zeiten des Wandels demokratischer Öffentlichkeiten, in dem uns der common ground des Sag- und Diskutierbaren wegdriftet, treten diese Pole umso deutlicher hervor und wir treffen verstärkt auf separierte Lager.

All dies sind schwierige Vorzeichen für eine Debatte über moralische Grundprinzipien in der digitalen Welt. Westliche Gesellschaften stecken in Wertekrisen, da beachtliche Teile der Bevölkerungen bereit zu sein scheinen, als selbstverständlich erachtete Werte wie Freiheit und Gleichheit und deren rechtsstaatliche Garantie infrage zu stellen. An allen Ecken sind klagende Stimmen über eine grundsätzliche Erosion unserer Wertefundamente und Erschütterungen des Hauses der liberalen Demokratie zu vernehmen. Ein großer Teil hat mindestens eine digitale Komponente. Beispielsweise bestimmen private Plattformanbieter weitestgehend die Regeln der medialen Öffentlichkeit in Demokratien. Diese Polarisierung wird auch durch die Aufmerksamkeitsökonomie sozialer Netzwerke befördert, die die konstitutive Bedingung liberaler Demokratien unterläuft, nämlich den offenen öffentlichen Diskurs.Digitale Dienstanbieter verschieben lang erkämpfte Sozialstandards in der Arbeitswelt und fordern damit sozialstaatliche Ausgleichsmechanismen heraus. Datenbasierte und individualisierte Preise oder Versicherungen rütteln am kollektiven Solidarprinzip. Womöglich erleben wir gerade eine »Wiederauferstehung der Geschichte«35, in der verschiedene Ideologien und Systeme konkurrieren. Im Systemwettbewerb stehen abwägendes und wertegebundenes Handeln unter Rechtfertigungsdruck, insbesondere, wenn es um schnelllebige digitale Technologien geht. In dieser angespannten Konstellation haben sich zwei extreme Pole im Digitaldiskurs etabliert.

Auf der leuchtend-utopischen Seite sehen wir eine Form von technikdeterministischem Fortschrittsglauben, der bereit ist, technologische Segnungen zu empfangen. Der leitende Gedanke hinter dieser essenziellen Freiheit36 ist, dass das freiheitliche Wesen der Technik auch auf uns Menschen als Nutzer*innen übergeht, wenn wir es nur zulassen. In der Frühzeit der Netzkultur-Bewegung war die technikdeterministische Hoffnung, dass sich Demokratien wieder legitimieren und revitalisieren würden und zwar durch die algorithmische Festschreibung von Recht (»Code is law«37), die Aktivierung der »read-write-society«38 und der souveränen »prosumer«39 oder durch »mehr Transparenz wagen«40. In der »Transparenzgesellschaft«41. Der Glaube an das Internet als Instrument der Freiheit beflügelt nicht nur die Hoffnungen auf mehr Transparenz, sondern auch auf mehr und gerechter verteiltes Wissen, an dem im »infotopischen Idealfall alle partizipieren können«.42

Zeitgenössische Autor*innen folgen oft dem Topos, dass die Innovationspotenziale der »vierten industriellen Revolution«43 für mehr Wohlstand freigesetzt werden müssten. Ansonsten drohe, der Anschluss wahlweise an China,44 die USA45 oder auch an Best Practices aus dem Baltikum oder an die skandinavischen Länder46 verpasst zu werden. Um dies zu verhindern, müssten nun endlich, auch in ganz Europa die infrastrukturellen Bedingungen (von Breitbandinternet bis Whiteboards in Schulen) für digitale Innovationen geschaffen werden. Vor allem seien Barrieren für den freien Datenfluss47 zu entfernen – wahlweise, um neue Sprünge in der medizinischen Forschung zu ermöglichen oder durch KI-basierte Effizienzgewinne endliche Ressourcen zu schonen. »Die Singularität naht«48, in der uns überlegene KI zu besseren Menschen macht und neue Technologien ihre Befreiungspotenziale ausspielen können. Zumindest sollen scheinbar objektiv lernende und entscheidende Maschinen die Fehlbarkeit des Menschen und damit Ungerechtigkeiten überwinden. So zum Beispiel in der Justiz, bei der Auswahl von Bewerber*innen oder in der Bewertung von Schüler*innen oder Sportler*innen. Die Sozialutopie, dass uns Maschinen repetitive Tätigkeiten abnehmen würden, erlebt eine Renaissance.49 Mit der Digitalisierung könnten beispielsweise Pflegekräfte den »Mensch[en] in den Mittelpunkt stellen«50, da Pflegeroboter ihnen die körperlich anstrengenden abnehmen würden. Mit einer Dividendenabgabe auf die Produktivitätsgewinne durch Maschinen (»Robotersteuer«) könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert werden.51 Wir Menschen könnten uns dann höheren Formen der Selbstverwirklichung – individuellen Bestimmungen oder gleichermaßen sozialen Aufgaben – widmen.

Auf der düster-dystopischen Seite wird vor der Zentralisierung von Datenmacht,52 vor der Auflösung der Privatsphäre durch (Überwachungs)Technologien,53 sowie vor der totalitären Kraft der Ausbeutung im digitalen Überwachungskapitalismus54 gewarnt. In einer nicht allzu fernen Zukunft drohe der Mensch von überlegener KI in die Unselbstständigkeit gedrängt zu werden, sodass die Formung der Evolution nicht mehr in Menschenhand liegen (Singularität)55 wird. Angesichts einer »Übermacht im Netz«56, einem die Gesellschaft komplett durchdringenden und formenden »Plattformkapitalismus«57 drohe der Gesellschaft der demokratische Kollaps58 und den Menschen »Digitale Demenz«59. Schlimmer noch, wir sind digitalen »Leviathanen«60 ausgesetzt, die sich als »Monarchen von technologischen Gnaden«61 sehen und alleine die Spielregeln bestimmen wollen.62 Da wir die »dunkle Seite des Internets«63 erblickt haben, stehen nichts weniger als die »digitale Technik und die Freiheit des Menschen«64 auf dem Spiel. Der ehemals zivile Raum Internet hat sich in sein kriegerisches Gegenteil gewandelt, der »Gefahr aus dem Netz«65. Auch populärwissenschaftliche Autor*innen greifen den Topos auf und fordern »Internet abschalten – Das Digitale frisst uns auf«66 oder »Das Internet muss weg – Eine Abrechnung«67. Denn die Heilsversprechen der frühen Netzbefürworter*innen hätten sich nicht bewahrheitet und auch hinsichtlich der individuellen Tugendethik hätten die Angebote der digitalen Dienste nur das Schlechteste des Menschen nach außen gekehrt.

Beide Extrempositionen können kaum handlungsleitend sein, denn sie erschweren einen gesellschaftlichen Konsens über die Gestaltung der digitalen Transformation. Nötig ist eine Fundierung der Diskussion entlang von Wertfragen: Welche individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen stellen sich und deuten sich am Horizont an? Wie schaffen wir es, die technologischen Neuerungen als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, in der die Rechte und die Würde aller Menschen gewahrt bleiben? Welche Werte müssen wie mit der digitalen Transformation in Einklang gebracht werden, um das Gemeinwohl zu stärken? Wie richten wir unseren moralischen Kompass auf dieser Reise aus? Die Reflektion über einen Orientierung bietenden Wertekompass scheint dringlicher denn je.Das liegt auch an der vorherrschenden normativen Kraft des Faktischen, wie wir im Folgenden sehen werden.

2Die faktische Kraft des Normativen und das Primat des Rechts

»Das Recht hinkt hinterher« zitierte Der Spiegel den als »Datenminister« titulierten Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum, und das bereits im Jahr 1979. Baum forderte, dass »technische Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie […] in den Dienst der inneren Sicherheit gestellt werden«68 müssten, sah aber das Recht noch nicht auf der Höhe der Zeit. Diese Ungleichzeitigkeit von voranschreitender Technologie und lahmendem Recht wurde und wird oft beklagt. Mittlerweile bewirkt die technologische Beschleunigung gar eine »Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne«69, sodass »unsere demokratischen Entscheidungsprozesse und Rechtsstaatlichkeitspraxis kaum mehr Schritt halten können mit der Geschwindigkeit und der Dimension«70 des technologischen Fortschritts. Dementsprechend konnte durch die bisherigen Regulierungsversuche »keine funktionierende Ordnungsstruktur, geschweige denn Regierungsstruktur«71 für die digitale Welt geschaffen werden.

Dieser defensiv ausgerichtete Kampf der Bastion der liberalen Demokratie gegen voranpreschende technologische Innovationen ist nicht nur beschwerlich und zermürbend. Er rüttelt auch am modernen Verständnis von gelingendem technologischem Fortschritt. Denn dieser Gedanke lebt von der Voraussetzung, wonach moralischer Fortschritt und das kodifizierende Recht mindestens Schritt halten müsse, wenn sie nicht sogar die primäre Bedingung für technologische Transformation ist. Bisher hat sich jedoch keine gesellschaftliche (Rechts)Ordnung herausgebildet, mit der wir die digitale Transformation ganzheitlich gestalten können, anstatt mit »Reparatur-Ethiken«72 den digitalen Fakten hinterherzulaufen. Im Gegenteil, wir erleben eine Verantwortungsdiffusion, in der sich nationale und supranationale Regulatoren erst an neue technologische Entwicklungen heranrobben, Unternehmensverantwortung in Wolken verschwindet, Hersteller Haftungen für Produkte untereinander herumreichen und Nutzer*innen in Unkenntnis in alle möglichen Datenverarbeitungen einwilligen (müssen). Wie in keinem anderem gesellschaftlichem Bereich erlauben wir, dass die gemeinwohlorientierte und rechtsstaatliche Steuerung so oft hinterher- und leerläuft. Das Primat des Rechts ist aktuell keins.

Wie können wir also (Grund)Rechte in der digitalen Welt um- und durchsetzen und gleichzeitig Innovationspotenziale wahren? Angesichts der Geschwindigkeit, der Tiefe und der Reichweite der digitalen Transformation wird gefordert, dass das »Recht technologische Gestaltungsanforderungen formulieren und verfahrensmäßige Lösungen bereitstellen« müsse.73 Wissenschaftliche und politische Debatten drehen sich darum, wie die »Relativierung des Rechts« und ein »unscharfes Recht«74 in der digitalen Welt verhindert werden könnten und auf welcher Ebene dies erfolgen müsste. Braucht es einzelne, neue Rechtsvorschriften und Vertragsformen für digitale Phänomene oder gleich ein neues Ordnungsmodell für das Recht der digitalen Gesellschaft? Susanne Bär, Richterin am Bundesverfassungsgericht, fragte bereits vor über zehn Jahren, ob angesichts zunehmender Digitalisierung das »Grundgesetz ein Update benötigt«.75 Die EU-Kommission wiederum verfolgt mit dem Digital Services Act76 einen horizontalen Ansatz, mit dem unterschiedliche Gesetze miteinander verknüpft und harmonisiert werden sollen. Nicht zu unterschätzen ist die korrigierende Wirkung von europäischen Grundsatzurteilen,77 die »inzwischen eine Normativität entfaltet [haben], die über den ursprünglichen Regelungszweck und Wirkungsraum an vielen Stellen hinaustreibt«78.

Die Debatte hat sich also gründlich verschoben, von den anfangs beschriebenen Appellen in der frühen und wilden Phase des Internets hin zu konkreten und oft sehr komplexen Kodifizierungen von rechtlichen Regeln auf nationaler, supranationaler und völkerrechtlicher Ebene.79 Kurz: Die Digitalisierung wird zunehmend (rechtlich) genormt. Wie kann denn nun die normative Kraft von Werten faktisch durchgesetzt werden? Es scheint ein Methodenmix80 angezeigt, um Werte und individuelle Rechte in den unterschiedlichen Sphären der digitalen Welt durchzusetzen.

Regelungsansätze in der digitalen Sphäre

Bei den Voraussetzungen für die Durchsetzung von Recht ist zunächst an den Schutz der Grundrechte zu denken. Da diese Freiheits- und Abwehrrechte des Einzelnen in der digitalen Welt leicht durch Dritte bedroht werden können,greift zusätzlich eine zweite staatliche Schutzplicht. Diese wird besonders intensiv entlang zweier wegweisender Urteile des Bundesverfassungsgerichts diskutiert.81 Zum einen leitete das oberste Gericht 1983 das informationelle Recht auf Selbstbestimmung direkt von den Menschenrechten ab und formulierte damit den Persönlichkeitsschutz als weiterentwickeltes Grundrecht im digitalen Zeitalter. Zum anderen wurde 2008 das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme etabliert. Nicht erst die rechtskonforme Verarbeitung von (personenbezogenen) Daten, schon die Sicherheit der genutzten digitalen Geräte muss (staatlich) garantiert werden. Es gibt also eine Schutzplicht des Staates gegenüber den Bürger*innen. Diese Grund- und Freiheitsrechte werden zunehmend in zahlreichen Formen kodifiziert, etwa im Grundgesetz, in der europäischen Grundrechtecharta, in Dutzenden internationalen Verträgen und im Völkerrecht.82

Vermehrt wird auch eine stärkere Grundrechtsbindung für die Akteur*innen gefordert, die uns die digitale Welt durch ihre Dienste und Plattformen vermitteln.83 Dabei geht es nicht mehr nur um die staatlichen Einschränkungen oder Gewährleistungen von Grundrechten. Oftmals missachten international tätige Digitalunternehmen geltendes Recht, indem sie beispielsweise den Schutz der Privatsphäre umgehen. Besonders komplex wird es, wenn mit der Nutzung digitaler Werkzeuge die Hoffnung einhergeht, automatisiert (Grund)Rechte durchzusetzen. Denn dabei können gleichzeitig andere Rechte eingeschränkt werden. Besonders schwierig wird es, wenn diese sensible und komplexe Rechtsgüterabwägung auch noch an private Akteur*innen delegiert wird. Das Paradebeispiel sind hier automatisierte Entscheidungssysteme in Form von Inhaltsfiltern. Erhoffen sich die einen die effektive Durchsetzung der grundrechtlich geschützten Eigentumsrechte (GG Artikel 14), befürchten andere die Einschränkung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Informations- und Meinungsfreiheit (GG Artikel 5).84 Im Kern zeigt sich hier der klassische Konflikt zwischen einem liberal-individualistischen absoluten Freiheitsschutz und einer kommunitären Abwägung von Individual- und Gemeinschaftsinteressen. So wird beispielsweise bei der Frage der Autonomie Privatheit nicht mehr als individualistisches »right to be alone« verstanden. Es dominiert ein »soziales Privatheitsverständnis«85, das eine Rechtsgüterabwägung und die technische Realität dezentraler Netzwerke berücksichtigt und Privatheit als zwingende Vorbedingung für soziale und damit gesellschaftliche Freiheit einfordert. Hier wird bereits deutlich, wie komplex es geworden ist, Freiheitsrechte zu wahren und in Einklang mit anderen Rechten zu bringen, und wie dringend diese gesetzlich abgesichert werden müssen.

Die bisher skizzierten Ansätze zielen primär auf den ethischen Umgang mit den Effekten der Digitalisierung. Beispielsweise werden Regeln formuliert, wie mit Ergebnissen von automatisierten Entscheidungen umgegangen oder durch (Nicht)Einsatzgebiete verhindert werden sollen.86 Ein nicht-judikativer, dafür normativ-präskriptiver Ansatz entfaltet seine Wirkung bereits bei der Entwicklung von digitalen Produkten und Dienstleistungen. Mit den populärer werdenden Methoden Values in Design oder Ethics by Design87 sollen potenzielle ethische Konflikte frühzeitig erkannt, Wertentscheidungen direkt in technische Artefakte eingeschrieben und so Diskriminierung verhindert werden. Verstöße gegen Recht oder gesellschaftliche Normen werden technisch unterbunden, um damit das große Ziel aufgeklärter Gesellschaften, die Autonomie ihrer Mitglieder, zu erreichen.88 Diese Ingenieurs- und Design-Perspektive beeinflusst etwa ethische Überlegungen darüber, wie die Kontrolle automatisierter Entscheidungssysteme ausgestaltet werden sollte. Ziel ist eine frühzeitige Implementierung ethischer Überlegungen in digitale Systeme, also bereits bei der Entwicklung, und ein partizipatives Vorgehen, das unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse (Stakeholder) einbindet. Besonders intensiv und öffentlichkeitswirksam wird das am Beispiel von (teil)autonomen Fahrassistenten diskutiert. Ihnen müssen ethische Entscheidungsparameter einprogrammiert werden, die festlegen wer in einer Notsituation verletzt oder gar getötet wird. Automatische Entscheidungssysteme sollen also die Freiheit als Autonomie89sichern. Der Glaube an diese selbststeuernde positive Freiheit durch moralische Einsicht ist allerdings schwer ramponiert. Angesichts der markt- und handlungsbeherrschenden privater Anbieter und die dominierenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist die Hoffnung, diese schwierigen Fragen an privat organisierte Systeme abzugeben, bei einigen zerstört: »Ethische Prinzipien können und sollen die Technologieentwicklung positiv beeinflussen, Ethik lässt sich aber nicht an Technik delegieren.«90

Neben gesetzlicher Regulierung und technischer Implementierung finden sich freilich auch andere Regelungsansätze. Forscher*innen der Universität Zürich kamen Anfang 2019 auf nicht weniger als 84 ethische Richtlinien, die einen gestalterischen Anspruch hegen.91 Zu Recht wird daher mittlerweile vor einem Ethics-Washing gewarnt.92 Diese Vorbehalte beziehen sich in erster Linie auf die Ethikinitiativen, Ethikbeiräte und Codes of Conduct privater Akteur*innen, in denen Ethik funktional mit Selbstregulierung gleichgesetzt wird, die harte staatliche Regulierung überflüssig machen möchte. Doch es genügt nicht mehr, solch komplexe Vorgänge mit individueller Verantwortungsethik, kollektiv mahnenden Chartas oder Regulierung vorbauenden unternehmerischen Selbstverpflichtungen rahmen zu wollen. So können kaum noch entscheidende Impulse für die hochdynamische Entwicklung der Digitalisierung gegeben werden. Einen anderen und durchaus vielversprechenden Weg gehen Initiativen, die ethische Prinzipien konkret operationalisieren, in dem diese Leitlinien in Form von Auditierungen, Zertifizierungen und für Siegel genormt werden und so Positivanreize zur wertegeleiteten Gestaltung neuer Technologien setzen wollen.93

Die Rufe von Unternehmen nach Rechtsicherheit gebender Regulierung, die Umtriebigkeit der Gesetzgeber auf europäischer, nationaler, sowie auf Länderebene und die aktiver werdenden Aufsichts- und Regulierungsbehörden zeigen deutlich, dass die Zeichen der Zeit auf eine eigenständige Ordnungspolitik für die digitale Sphäre und das Primats des Rechts stehen. Auf politischer Ebene hat sich diese Dringlichkeit vor allem in Form des Konzepts der digitalen Souveränität manifestiert, die in der Logik eines Systemwettbewerbs94 gedacht wird.95 Dieses Dekaden überspannende Maßnahmenpaket eines ganzen Kontinents umfasst gesetzliche Regelungen, das Setzen technischer Standards, die Förderung strategisch wichtiger Technologien und vieles mehr. Es zielt neben einer staatlichen Souveränität bei der Gestaltung technologischer Neuerungen auch auf eine individuelle Souveränität zur Wahrung der Selbstbestimmung.96

Diese Bemühungen zeigen, dass es für das Selbstverständnis eines demokratischen Rechtsstaats und des Gesetzgebers zunehmend nicht mehr hinnehmbar ist, dass Fakten schaffen vor Recht schaffen gilt. Die Kernfrage lautet daher:

Wie können wir die normative Kraft des Faktischen der Digitalisierung aller Lebensbereiche in eine faktische Kraft des Normativen zur Gestaltung der Digitalisierung umkehren?

3Digitale Ethiken

Wenn wir die digitale Transformation als gesellschaftlichen Fortschritt gestalten, erkämpfte Werte in der digitalen Gesellschaft verteidigen, weiterentwickeln, durchsetzen und als produktive Kraft nutzen wollen, müssen wir zunächst über unsere Werte und die zu verfolgenden normativen Ziele reflektieren. Für einen konzeptionellen Fortschritt bedarf es also eines kleinen Zwischenschritts, der die Reflexion über die eigenen Wertziele ermöglicht. Dieses Intermezzo erlaubt uns Fragen zu stellen wie: Welche Werte machen uns als freiheitliche Gesellschaft aus und wie lassen sich dieses auf technologische Innovationen in der digitalen Welt übertragen? Welche systemischen Herausforderungen gibt es für die hoheitlichen Sphären von Recht, Demokratie und Menschenrechte? Welche erkämpften und verinnerlichten Werte stellen wir angesichts der digitalen Verlockungen zur Disposition (Technologie-Paradox)?97

Die gute Nachricht ist: Noch können wir neue Technologien so ausrichten, dass sie unseren gesellschaftlichen Werten entsprechen. Die Fähigkeit, sich stets eine neue Zukunft auszudenken, ist bereits Ausdruck von Freiheit. Die Digitalisierung birgt genau dieses schöpferische Potenzial, Fortschritt im gesellschaftlichen Zusammenleben zu projizieren und als leitend für unser Handeln zu bestimmen, denn Technologie ist schließlich auch eine Art zu denken und zu handeln.98 Einen legitimierenden Anker können normative Philosophie und Ethik bilden, die zu allen Zeiten den Menschen halfen, sich bei großen Zukunftsfragen zu orientieren.99 Dafür müssen wir beantworten, welche Werte konstituierend sein sollen und wie wir die Digitalisierung gestalten können und wollen. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir über Werte wie Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl im digitalen Zeitalter denken. Das Wertverständnis dient also keinem Selbstzweck, sondern als moralische Orientierungshilfe für eine regulative Gestaltung freiheitlich-demokratisch-rechtsstaatlicher Gesellschaftsordnungen in der digitalen Welt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Technik bewegt zahlreiche neue wissenschaftliche Einrichtungen.100 In den letzten Jahren hat sich in Deutschland ein ganzer Zweig der Digital Humanities (digitale Geisteswissenschaften) und der digitalen Ethik etabliert.101 Auch populärwissenschaftliche Bestseller zeigen, dass das Thema in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist.102 Da die Effekte der Digitalisierung nicht nur auf Individuen, sondern systemisch auf die gesamte Gesellschaft wirken, ist es nur konsequent, dass die »Digitalethik den Kreis ihrer Adressaten sehr weit«103 zieht. Angesprochen werden nämlich sämtliche Nutzer*innen, also wir alle.

Im Zentrum steht die Frage, wie wir die zunehmende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche zum (Gemein)Wohle aller gestalten können und welche Parameter wir hierfür anlegen sollten. Die Digitalethik kann sich an etablierten ethischen Konzepten orientieren. Breiter Konsens ist die uneingeschränkte Menschenwürde als Fixpunkt einer anthropozentrischen Rechts- und Gesellschaftsordnung, die auch das Fundament des deutschen Grundgesetzes bildet. Welche Werte darüber hinaus handlungsleitend sein sollten, ist freilich umstritten. Hinzu kommt die Komplexität steigernde Schwierigkeit, dass von dem Regelungsgegenstand selbst eine Dynamik ausgeht, auf die Gestaltende und Regulierende fortwährend eingehen müssen. Werte in der digitalen Welt müssen sich gleichermaßen an universell gültigen Prinzipien orientieren und an durch Digitalisierung ausgelösten neuen Phänomenen. Wir müssen uns beispielsweise fragen, wie sich unser Verständnis von Diskriminierungsfreiheit verändert,104 wenn klassische Regulierungsinstrumente auf algorithmische und automatisierte Entscheidungssysteme treffen, die sich fortwährend selber weiterentwickeln und deren Entscheidungsfindung und Ergebnisse für Menschen kaum transparent, nachvollziehbar und geschweige denn erklärbar sind. Die Macht des Faktischen von neuen Technologien schafft also selbst Zustände und Normen, an denen sich Wertkonzeptionen und Recht abarbeiten müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass sich latente Gegebenheiten verstetigen und starre Wertkonzeptionen und verstaubtes Recht leerlaufen.

Angesichts der verschwimmenden Grenze zwischen Mensch und Maschine (Stichwort: Quantified Self und Cyborgs) wackelt auch immer mehr der rechtliche Dualismus aus Rechtssubjekt, also Menschen, die Rechte und Pflichten genießen, und Objekten, die dies nicht tun. Unser Verständnis von Verantwortlichkeit wird damit vor große Herausforderungen gestellt. Das zeigt sich auch am Herumreichen von ökonomisch relevanter Haftungsverantwortung zwischen Zulieferern, Herstellern, Vertreibenden und Nutzer*innen, (Stichwort Verantwortungsdiffusion) an der beispielsweise bis heute Rechtsrahmen für autonomes Fahren im Straßenverkehr scheitern.

Wollen wir abstrakte, offene und normative Konzepte wie Freiheit, Verantwortung oder Nachhaltigkeit als Legitimation für eine ganzheitliche Gestaltung der Digitalisierung heranziehen, müssen wir diese Konzepte ausleuchten. Dabei ist zu beachten, dass der digital-ethische Diskurs jung und fluide ist und noch zahlreiche blinde Flecken hat. Monolithische Ideologien und Großtheorien wie Deontologie, Utilitarismus oder Tugend- und Verantwortungsethiken haben sich noch nicht fest etabliert.

3.1Vom Libertarismus zur Freiheit als Autonomie105

Wenn normative Konzepte als Gestaltungsmaximen in Stellung gebracht werden sollen, müssen wir damit beginnen, uns über den Wert der Freiheit zu verständigen. Überwunden scheint in großen Teilen der libertäre Ansatz der kalifornischen Ideologie.106 Frühe Gründer*innen, Entwickler*innen und Nutzer*innen setzten ihre Individualrechte absolut. Das heißt, die eigene Freiheit wurde nicht durch die Wahrung der Freiheit anderer begrenzt. Dieser unbeschränkte Anspruch galt auch gegenüber dem Staat, der höchstens als Dienstleister verstanden wurde. Dieses Freiheitsverständnis schwingt in einigen heutigen Debatten nach, ist aber deutlich abgemildert.

Digitale Freiheit wird meist als die Möglichkeit freier individueller und kollektiver Selbstverwirklichung im Netz und in der digitalen Welt verstanden. Sie hat sowohl eine positive als auch eine negative Dimension. Positiv werden die größeren selbstverwirklichenden Entwicklungsmöglichkeiten durch digitale Technologien gesehen. Negativ dagegen die potenzielle Einschränkung von Freiheit durch private oder staatliche Kontrolle und die Überwachung durch digitale Technologien. Dabei erleben wir in der gesellschaftlichen Verhandlung von Freiheit in der digitalen Welt ein Technologie-Paradox. Viele Nutzer*innen digitaler Dienste sind bereit, mehr staatliche und private Kontrollen und Überwachungen (negative Freiheit) gegen größere Entfaltungsmöglichkeiten oder zumindest komfortablere Dienste (positive Freiheit) einzutauschen. Freiheit wird also zunehmend zu einer individuell und nicht gesellschaftlich interpretierten Größe.

Inwieweit unter diesen Umständen und bei dieser Form von individueller Freiheit von einer tatsächlichen Autonomie gesprochen werden kann, ist zumindest diskussionswürdig. Insbesondere an der Idee der Autonomie wird deutlich, wie die Digitalisierung wesensverändernd auf den selbstbestimmten Menschen einwirkt107 und damit Werte infrage stellt, die in Deutschland und Europa in Grundrechte mit Verfassungsrang gegossen sind. Vor allem der Schutz der Privatsphäre in Form von Datenschutz wurde und wird viel und hitzig diskutiert.108 Es wurde bereits das »Post-Privacy«-Zeitalter109 ausgerufen, in dem überkommene Schutzinstrumente aufzugeben seien. Der Mensch wird nicht mehr als freies, individuelles und selbstbestimmtes Wesen betrachtet, sondern primär als ein Datenträger, der sich geradezu sozialkonstruktivistisch algorithmisch optimieren lassen sollte. In dieser Logik müssen Grundrechte nicht vor der autoritären oder totalitären Kraft neuer Technologien geschützt oder zumindest das Wechselverhältnis austariert werden. Im Gegenteil, Selbstbestimmung müsse nicht rechtlich geschützt werden, sondern könne erst technisch assistiert hergestellt werden. Ob damit in der Menschenwürde wurzelnde Freiheitsrechte eingeschränkt werden, ist in dieser Logik gar nicht mehr die richtige Frage.

Der scheinbar natürliche Gegenspieler zuFreiheit, Autonomie und Privatheit ist Sicherheit. Ob Freiheit eine Vorbedingung für Sicherheit ist, oder umgekehrt, ist auch in der digitalen Welt eine Standardsituation der Wertekollision und Zielkonflikte, und kann auch hier nicht abschließend beantwortet werden. Unabhängig davon, ob es gewinnbringend ist, die beiden Werte als Antagonismen gegeneinander laufen zu lassen, lässt sich aber festhalten, dass das Konzept der Sicherheit in der digitalen Welt eine neue Bedeutung erlangt. Die technologischen Möglichkeiten von Überwachung und Kontrolle sowie die gestiegene globale Verflechtung haben zu einem spiegelbildlich wachsenden Bedürfnis nach Sicherheit geführt. Einerseits hat sich die Wahrung der inneren Sicherheit in der digitalen Welt ausdifferenziert. Quasi jede digitale Neuerung wird auf neue Straftatbestände oder Überwachungsmöglichkeiten abgeklopft. Andererseits ist zur Schutzverantwortung auch die Wahrung der Sicherheit digitaler Infrastrukturen hinzugekommen (Stichwort »informationelle Selbstbestimmung« und »Integrität informationstechnischer Systeme«). Der Wert der staatlich garantierten Sicherheit erhält mit der Etablierung des Frames der digitalen Souveränität derzeit ein digitales Upgrade.

3.2Von der Freiheit zur Verantwortung

Wie oben beschrieben, wurde oft diagnostiziert, dass Ethik als bloße Reparaturethik der technischen Entwicklung ohnmächtig hinterherlaufe. Die Lösung kann allerdings nicht darin liegen, eine individualisierte Verantwortungsethik (Freiheit als Autonomie) zu proklamieren, die das Heil im ethisch richtigen Handeln sucht. Das überantwortet die Bewältigung disruptiver Strukturveränderungen jedem Einzelnen und wäre in letzter Konsequenz das Gegenteil von liberaler Freiheit. Vielmehr müssen wir ethische Konzepte entwickeln, mit denen auf die Bedingungen der Digitalisierung gewirkt werden kann, ohne die Verantwortung auf die Tugendhaftigkeit Einzelner abzuwälzen.

Kritisch ist die Frage, wo die verantwortungsvolle Grenze der Freiheit verläuft, sowohl für individuelle Nutzer*innen, als auch für private Diensteanbieter oder staatliche Akteure. Freiheit als Verantwortung kann nicht darauf reduziert werden, dass »für sich selbst verantwortlich zu sein, eine befreiende Komponente haben kann, wodurch der Einzelne aufgrund der von ihm selbst auferlegten Einschränkungen erst frei sein kann«110. Oder lebenspraktischer formuliert: Nicht nur die Selbstbeschränkung durch einzelne Nutzer*innen, sondern die Einsicht aller staatlichen, unternehmerischen und sonstigen Akteur*innen, dass nicht alles technisch Mögliche auch technisch umgesetzt werden sollte, beschreibt eine ethisch fundierte Freiheit, die verantwortungsbewusst ist und damit nachhaltig sein kann.

Zur Wahrung der gesellschaftlichen Freiheiten wird also eine prozedurale Freiheit benötigt, die zuverlässige Mechanismen zur Entscheidungsfindung und Weiterentwicklung des Schutzes von Rechten beiträgt. Erst wenn die prozedurale Freiheit abgesichert ist, lässt sich die faktische Kraft des Normativen in Form von Recht durchsetzen. Im Sinne von John Rawls111 liegt die Herausforderung von Verantwortung und Rechenschaftslegung maßgeblich in der Verteilung zwischen und der fairen Partizipation von Akteur*innen. Demokratische Strukturen müssen so geschaffen sein, dass sie die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen einbinden,112 um dialogisch einen digitalen Gesellschaftsvertrag mit Sanktionsmöglichkeiten zu etablieren. So kann ein Konzept von Freiheit als Verfahren und Freiheit als Verantwortung begründet werden.113 Beispielsweise ermöglicht erst die Komplexität und Verfahrenstiefe der europäischen Datenschutz-Grundverordnung, Freiheit als Autonomie in Form von Privatsphäre durchzusetzen. Ob dies immer und reibungslos gelingt und das Instrumentarium ausgereizt ist, steht auf einem anderen Blatt.114

Angesichts der oben skizzierten Eingriffstiefe und Diffusionsgeschwindigkeit moderner Technikentwicklungen ist es unverantwortlich zu warten, bis solch negative Entwicklungen eingetreten sind, dass sie unübersehbar Schaden anrichten und Gegenmaßnahmen notwendig werden. Stattdessen besteht eine Verpflichtung, mit einer vorausschauenden und problemorientierten Ethik konstruktiv zur Gestaltung beizutragen.

Mit der Suche nach normativ-präskriptiven Rechtfertigungslogiken für die Gestaltung der Digitalisierung, die auf abstrakten europäischen oder universellen Werten beruhen, erleben wir aktuell eine Renaissance des Vorsorgeprinzips nach Hans Jonas. Im bereits 1979 erschienenen Werk Das Prinzip Verantwortung115 entwickelte Jonas eine »Ethik für die technologische Zivilisation«, die im Kern das operationalisierbare Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzip etablierte. Potenziell negative Wirkungen von zukünftigen disruptiven Technologien müssten bereits im Hier und Jetzt regulativ eingehegt werden. Aus dem Portfolio der verantwortlichen Gestaltung von Technik und Innovation hat sich in Deutschland die Technikfolgenabschätzung am stärksten durchgesetzt. Sie wurde beispielsweise in Form eines parlamentarischen Technikfolgenabschätzungsbüros organisatorisch fest in der Politikberatung verankert.116 Zahlreiche weitere Ansätze werden aktuell diskutiert und ausprobiert, wie zum Beispiel die partizipative Technikfolgenabschätzung, die Bürger*innen in die Gestaltung einbezieht, das Value Sensitive Design oder Ethics by Design117 oder der Ansatz der Responsible Research and Innovation118 in der europäischen Forschungs- und Technologiepolitik. Viele dieser Ansätze folgen dem Prinzip Verantwortung von Hans Jonas. Auch hier folgen wir der Idee einer Freiheit als Verantwortung.

3.3Von der Verantwortung zur Nachhaltigkeit

Die Frage nach der Zuschreibung von Verantwortung öffnet die Perspektive für das Konzept der Nachhaltigkeit und dessen Integration in die digitale Welt. Unsere ethischen Debatten sind allgemein so fortgeschritten, dass wir zur Beantwortung moralischer Fragen auch die Dimensionen mitdenken können, die über das räumliche und zeitliche Nahfeld hinausreichen. Universelle Werte müssen genau diesem Anspruch allgemeiner Gültigkeit auch für folgende Generationen gerecht werden.

Bislang wurde Nachhaltigkeit im Digitalisierungsdiskurs überwiegend mit Blick auf die ökologische Analyse einzelner digitaler Phänomene diskutiert. Das Konzept muss aber zum ganzheitlichen und damit auch sozialen Leitmotiv für die Gestaltung der digitalen Welt weiterentwickelt werden. Der Informatiker Peter Reichl und der Soziologe Harald Welzer plädieren dafür, die Digitalisierung weder binär (Ablehnung oder Zustimmung) noch segmentär (eben nicht ganzheitlich) zu betrachten, sondern immer im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit.119

Womöglich müssen wir als digitale Gesellschaft erst all die Erkenntnisschritte nachholen, die die moderne Umweltbewegung bereits vor über 50 Jahren vollzogen hat. Wir stehen womöglich am Beginn einer Epoche, in der verstanden wird, dass wir die digitale Umwelt selbst schaffen und beeinflussen. Nachhaltigkeitsfragen können dann zu einer gesamtgesellschaftlich akzeptierten Notwendigkeit und politischen Größe aufsteigen. Wir müssen den Nachhaltigkeitsbegriff breiter, sozialer und nicht nur ökologisch denken. Denn Nachhaltigkeit meint nicht nur die ressourceneffiziente Gestaltung digitaler Anwendungen, sie bedeutet eine breite, wertebasierte Gestaltung, mit der Bedingungen für die Entfaltungsmöglichkeiten künftiger Generationen geschaffen werden.120 Konzeptionell muss mit ihr beispielsweise auch gefragt werden, ob heutige Designentscheidungen oder die Nutzung geschlossener (proprietärer Standards Innovationen und damit künftige (Weiter)Entwicklung erschweren. Oder ob eine auf fortwährende Eskalation ausgelegte digitale Aufmerksamkeitsökonomie in dem Sinne nicht nachhaltig, als sie selbst die Axt an die Wurzel offener und demokratischer Öffentlichkeit legt. Digitale Nachhaltigkeit ist also nicht lediglich konservativ (bewahrend) und ökologisch (ressourcenschonend), sondern progressiv (ermöglichend) ausgerichtet.

Der Ausgangspunkt aller Werteüberlegungen im digitalen Zeitalter muss also sein, die im doppelten Sinne weitreichenden Folgen digitaler Phänomene zu berücksichtigen. Sie wirken einerseits in die Tiefe, beispielsweise indem automatisierte Entscheidungen konkret die soziale Teilhabe von Menschen beeinflussen. Und sie wirken in der Weite, da heute getroffene Entscheidungen mittel- und langfristige Folgen für die digitale (Um)Welt haben. Eine so verstandene digitale Nachhaltigkeit umfasst eine reflektierte und konstruktive Gestaltung von digitaler Realität, um neue Entwicklungschancen in einer noch digitaleren Zukunft zu eröffnen. Diese weitreichenden Auswirkungen verlangen eine progressive und aktive Politik der digitalen Risikofolgenabschätzung von Veränderungen in Gesellschaft und Technologie. Allerdings ist diese Perspektive angesichts der Geschwindigkeit der digitalen Transformation schwierig und vor allem weitestgehend ungeübt. Deshalb wird hier für den Mut zu einer ganzheitlichen Perspektive plädiert, um adäquat auf die vielen glitzernden und blinkenden Digitalisierungsphänomene einzugehen. Dabei können (so antiquiert anmutende) Konzepte wie Verantwortung, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl eine konstruktive Rolle für die progressive Gestaltung der Digitalisierung spielen.

Letztlich hat eine verantwortungsvolle und nachhaltige Perspektive das Gemeinwohl zum Ziel – und zwar das Wohl heutiger und künftiger Generationen. Insofern kann Gemeinwohl als Kompass für eine konstruktive und progressive Gestaltung der Digitalisierung dienen.

4Gemeinwohl als Kompass für die Gestaltung der Digitalisierung

Gemeinwohl ist zunächst ein Aggregatsbegriff. Das Konzept kann je nach normativer Deutung viele Formen und Zustände annehmen, mit denen sich sowohl »allgemeine Probleme als auch typische Muster der Problembearbeitung moderner Gesellschaften«121 beschreiben lassen. Erst durch die Beantwortung der Frage, was gerecht ist, kann das normative Konstrukt für Gesellschaften ausgedeutet werden (Gemeinwohl ist also nicht, es wird).

Die Idee des Gemeinwohls knüpft an die Tradition kommunitaristischer Demokratietheorien an. Demnach muss sich eine Gemeinschaft über geteilte Werte und ethische Grundüberzeugungen verständigen. Es muss einen Geist des Vertrauens geben, der mit akzeptierten Verfahren des Interessenausgleichs einhergeht. Grundlage dafür ist ein freier und fairer Prozess der (staatlichen) Willensbildung unter Einbeziehung aller Interessensgruppen,122 wobei dieser zunächst unbestimmt und offen verläuft.123 Gemeinwohl ist also immer nur der provisorische Ertrag eines »ergebnisoffenen gesellschaftlichen Ringens von Interessen um Einfluss«124. Gemeinwohl ist daher Prozess und Ergebnis zugleich, muss immer weiterentwickelt und immer wieder akzeptiert werden. Gemeinwohl ist also kein fixer Wert, dem sich alle gesellschaftlichen Realitäten zu beugen hätten. Der Wert steht immer in Bezug zum zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext, also ob eine Verantwortung unmittelbar, mittel- oder langfristig begründet wird. Wenn politisches Handeln einem Teil der Gesellschaft größeren Nutzen bringt, als es anderen abgezogen wird, gibt es eine Annäherung an ein größeres Gemeinwohl. Die Verbesserung ist aber nur relational, der größere Nutzen kann nur abhängig von den normativen Maßstäben bewertet werden, die als wünschenswert gelten.