Der Westen und sein Naher Osten - Heinz Theisen - E-Book

Der Westen und sein Naher Osten E-Book

Heinz Theisen

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Beschreibung

Nach dem Scheitern der militärischen Interventionen des Westens im Nahen Osten dringen heute Islamisten in das entstandene Machtvakuum vor. Europa ist darüber - von der Flüchtlingsproblematik bis hin zur inneren Sicherheit - in den Sog der nahöstlichen Wirren geraten. Für den Nahen Osten war die Analyse vom "Kampf der Kulturen" noch zu optimistisch. Hier kämpfen zwar weiterhin Muslime und Juden sowie islamistische und säkulare Werteordnungen gegeneinander, aber es sind noch innerkulturelle Kriege zwischen Konfessionen, Ethnien und Stämmen hinzugekommen. Hinter diesen ausweglos erscheinenden Konflikten verbirgt sich nur eine Chance: Je schneller die Selbstzerstörung der alten politischen und religiösen Paradigmen voranschreitet, desto eher könnte das notwendig neue Paradigma einer "Zivilisierung von Kulturen" auch in der islamischen Welt vorrücken. Die vielen überzähligen jungen Menschen brauchen statt "Heiligen Kriegen" und kollektiven Identitäten individuelle Existenzmöglichkeiten. Ausbildung und Bildung, Wissenschaft und Technik, Arbeit und Wachstum, diese durchweg profanen Funktionssysteme sind die wichtigsten Wege zur Umwandlung des Kampfes der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation. Im Prozess der Zivilisierung von Kulturen kommt dem Westen weiterhin eine Schlüsselrolle zu. Aber er braucht eine neue Strategie: An die Stelle der illusionären Universalisierung seiner Werte und Strukturen muss zunächst seine Selbstbehauptung durch politische Selbstbegrenzung treten. Für die Eindämmung des Islamismus wird dann die Kooperation mit anderen säkularen Mächten wie Russland und China sowie mit gemäßigten islamischen Staaten unabdingbar. Solche Koalitionen werden keine Wertegemeinschaft, aber sie könnten die Grundlage für eine multipolare Weltordnung bilden.

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Heinz Theisen

Der Westen und sein Naher Osten

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Der Westen undsein Naher Osten

Vom Kampf der Kulturenzum Kampf um die Zivilisation

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95768-167-6© 2015 Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek/MünchenInternet: www.lau-verlag.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigungund Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Atelier Versen, Bad AiblingTitelabbildungen: © istockphoto / Christian Offenberg, Eldad CarinSatz und Layout: Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I.

Kulturrelativismus und politischer Universalismus des Westens

Kulturrelativismus im Kampf der Kulturen

Wer Demokratie exportiert, schürt Anarchie

Erst differenzieren, dann intervenieren

Russland, Türkei, Iran. Gegner, Freunde, Feinde?

Gutmenschen im Nahen Osten

II.

Islamisierung als Herausforderung der Zivilisation

Biedermänner und Brandstifter. Europa und der Dschihadismus

Ein Menetekel: Christenverfolgung im Nahen Osten

Der Islamismus als neuer Totalitarismus

Zivilisierung statt Islamisierung

III.

Das Heilige Land. Von alten und neuen Narrativen

Die Verschleierung der Realitäten in Palästina

Verschwörung statt Theorie

Hamas statt Zivilisierung

Die Verweigerung des Neuen in der jüdischen Orthodoxie

Dekonstruktion alter Narrative: der palästinensische Nationalismus

Koexistenz statt Integration der Kulturen

Für einen postnationalen Nahen Osten

Wirtschaftsfrieden zwischen Israel und Jordanien

Europäischer Föderalismus als Vision

Christen als Salz der Region

IV.

Barbarei, Kultur und Zivilisation in Europa

Der Zusammenprall von Kulturalismus und Zivilisation

Der Balkan zwischen Religion, Nationalismus und Clankultur

Orthodoxie als kulturelle Bremse

Ökonomisierung und Oligarchisierung

Renaissance der Zivilgesellschaft?

Zivilisierung der Marktwirtschaft

V.

Der Westen und die Zivilisierung nahöstlicher Kulturen

Den Westen verstehen. Vielfalt als Herausforderung

Business-Islam in den Emiraten

Schleichende Rezivilisierung des Iran?

Vom Feind zum Frenemy

Einwanderung in die Zivilisation

Politische Bedingungen von Integration

VI.

Kampf der Paradigmen Identität und Interesse

Um welche Paradigmen sollte es im Nahen Osten gehen?

Kulturelle Voraussetzungen der Zivilisierung

Das Ringen um die Köpfe in west-östlichen Hörsälen

Brain Circulation

Fazit: An den Grenzen des Westens

Dank

„In dem größeren Kampf, dem globalen „eigentlichen Kampf“ zwischen Zivilisation und Barbarei sind es die großen Weltkulturen mit ihren großen Leistungen auf dem Gebiet der Religion, Kunst und Literatur, der Philosophie, Wissenschaft und Technik, der Moral und des Mitgefühls, die ebenfalls vereint marschieren müssen, da auch sie sonst getrennt geschlagen werden.“

Samuel Huntington1

Vorwort

Im Nahen Osten hat die Islamisierung der letzten Jahrzehnte zahllosen Menschen das Leben gekostet, ganze Staaten zerstört und millionenfaches Flüchtlingselend ausgelöst. Ängste vor einer Islamisierung in Europa können nur unter der Voraussetzung als unberechtigt gelten, dass der Nahe Osten und sein europäischer Westen kaum etwas miteinander zu tun haben.

Diese Annahme ist offenkundig absurd. Wer um die verheerenden Konsequenzen der Islamisierung im Nahen Osten weiß, kann sich über die verordnete und mit allen Mitteln der politischen Korrektheit vermittelten Angstverbote nur wundern. In der islamischen Welt ist der totalitäre Islamismus wie in Ägypten nur mit brachialer Gewalt im Zaum zu halten. Solche Mittel stehen den europäischen Demokratien nicht zur Verfügung.

Ausgehend vom Nahen Osten hat der Islamismus nach allen Seiten ausgegriffen, nach Afrika, Asien und Europa. Neben der großen Mehrheit friedlicher Muslime gibt es Abermillionen von totalitären Islamisten und Zehntausende gewaltdurstiger Dschihadisten, die keine Grenzen zwischen Nationen und Kulturen respektieren. Das Kalifat in der Levante enthauptet gemäßigte Muslime, Schiiten, Jessiden, Christen und westliche Geiseln.

Spätestens durch die Flüchtlingsströme, aber auch durch zurückkehrende Terrorpraktikanten ist der Nahe Osten den Europäern noch näher gerückt. Eine Verleugnung oder Unterschätzung der dschihadistischen Bedrohung hat sich für Journalisten und Juden in Paris als verhängnisvoll erwiesen. Es ist mehr als ein Risiko, Islamisten wieder aus Syrien einreisen zu lassen. Auch die Islamisierung des Nahen Ostens hatte mit den Rückkehrern aus Afghanistan eingesetzt.

Der Westen wird keine Ruhe finden, bevor das Feuer der Kulturkämpfe nicht unter Aufbietung aller zivilisierten Kräfte gelöscht ist. Die herkömmlichen politischen Konflikte über Demokratie und Diktatur und kulturellen Konflikte über Werteordnungen relativieren sich angesichts der gleichsam barbarischen Herausforderung der Zivilisation. Die Eindämmung des Islamismus ist die gebotene defensive Reaktion, die Zivilisierung von Kulturen die offensive Aufgabe des Westens.

Hinter den Kulturkriegen im Nahen Osten verbirgt sich nur eine Chance: Je schneller die Selbstzerstörung der alten politischen und religiösen Paradigmen voranschreitet, desto eher könnte das notwendige neue Paradigma einer Zivilisierung der Kulturen vorrücken. Der Weltgeist schreitet laut Hegel nicht linear, sondern über den Umweg der Selbstzerstörung des Alten voran. Die Europäer mussten den Dreißigjährigen Religionskrieg durchleiden, bevor Säkularität und Aufklärung ihren Siegeszug antreten konnten. Erst aus der Selbstzerstörung des Nationalismus im Zweiten Weltkrieg ging das postnationale Europa hervor.

Diese düstere Dialektik von Katastrophe und Veränderung könnte nur noch durch einen rechtzeitigen Generationenwechsel verhindert werden. Aber selbst diese Hoffnung beruht zunächst auf einer düsteren Tatsache. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen im Nahen Osten einschließlich Nordafrikas wird bis zum Jahr 2020 auf 100 Millionen geschätzt. Von den 80 Millionen Ägyptern ist heute die Hälfte jünger als 25 Jahre; für jeden Arbeitsplatz gibt es fünf Anwärter. Was dies für Europa bedeutet, zeigen die Bilder aus Lampedusa.

Beim Kampf des Islamismus handelt es sich um einen Kampf von zornigen jungen Männern aus den überbevölkerten Staaten des Nahen Ostens gegen die erfolgreichere säkulare Zivilisation: ob sie westlich, russisch, indisch oder chinesisch geprägt ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Der Westen ist allerdings durch seine Nähe und seine Dominanz so sehr mit dem Nahen Osten verstrickt, dass hier von „seinem Nahen Osten“ die Rede sein wird.

Ein Blick auf Herkunft und soziale Lage der meisten Dschihadisten im Nahen Osten oder in Europa zeigt, dass es sich um die Verlierer im globalen Wettbewerb handelt. Sie suchen ihre Zukunft in der Eroberung der Zivilisation. Ein religiös legitimierter Wahn dient der Motivation. Ihr Kampf wird auf Dauer nur mit Hilfe einer „posthistorischen Dedramatisierung“ (Peter Sloterdijk) zu bewältigen sein.2 Zornige junge Männer lassen sich nicht mit interkulturellen Dialogen besänftigen. Sie brauchen individuelle Existenzmöglichkeiten. Damit könnten sie sowohl aus der Verabsolutierung kollektiver Identitäten herausfinden als auch die wichtigsten Existenzbedürfnisse befriedigen. Ausbildung und Bildung, Wissenschaft und Technik, Arbeit und Wachstum, diese durchweg profanen Funktionssysteme wären wichtiger als der Streit um heilige Orte und sind die wichtigsten Wege zur Umwandlung des Kampfes der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation.

Parallel zur zunehmenden Islamisierung nehmen heute auch die individuellen Freiheiten durch Migrationsprozesse und Kommunikation zu. Der Paradigmenwandel zeichnet sich an vielen Stellen im Übergang zu einem individualistischeren Lebensgefühl ab. Individualisierung und Zivilisierung bedingen einander und sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ausdifferenzierung moderner Funktionssysteme. Solange sich Wissenschaft und Wirtschaft religiösen Imperativen unterwerfen, werden sie es nicht weit bringen.

Der Kampf der Paradigmen von Identität und Interesse, von Kultur und Zivilisation durchzieht den ganzen Nahen Osten. Er verbindet sich mit einem Generationenkonflikt. Unvergesslich ist mir das Gespräch mit jenem jordanisch-palästinensischen Kollegen, der „seine Heimat Jaffa“ lieber atomar verstrahlt als weiter in der Hand der Israeli sähe. Vietnam und Afghanistan zeigten zudem, dass angesichts einer Motivation, die über den eigenen Tod hinausreicht, Waffen auf Dauer irrelevant sind. Angesichts solcher durchaus repräsentativen Ausfälle kann man diese Generation wohl vergessen.

Der Wandel ist die Sache einer neuen Generation. Die Hauptaufgabe des Westens liegt im Nahen Osten darin, destruktive alte Paradigmen zu sanktionieren und neue Paradigmen zu fördern. In west-östlichen Hörsälen müssen neue Narrative diskutiert werden. Der Begriff Zivilisation entstammt dem lateinischen „Civis“. Es wird letztlich auf das Denken und Handeln der Bürger ankommen.

In Gesprächen mit Studenten an Universitäten in Ghom, Amman und Bethlehem hörte ich neue Narrative anklingen. Während die Kollegen uns in die ewig gleichen religionspolitischen Debatten verstrickten, ging es vielen dieser Studenten primär um ihre individuellen Sorgen. Für sie ist der wichtigste Produktionsfaktor nicht das staatliche Territorium, sondern das Know-how, wer auch immer es bereitstellt. Es geht ihnen weniger darum, wem der Boden gehört als was auf ihm geschieht. Auffallend ist die überall wachsende Zahl von Studentinnen, die sich über Bildung ihre Emanzipation erkämpfen.

Auf meine Frage, welcher Religion sie angehöre, antwortete mir Selina an der Philadelphia Universität in Amman, dass sie „von Herkunft Muslima“ sei, aber alle Religionen praktiziere, je nach Stimmung, Ort und Umfeld. Ihr Hauptziel ist ein Stipendium für eine westliche Universität. Nach dem Studium will sie entscheiden, wo sie leben möchte.

Jumana entzog sich bei ihrem Besuch in Köln der Leitmelodie über „westliche Dekadenz“. Sie wollte nicht endlos über religiöse und nationale Konflikte diskutieren, sondern lieber über die Möglichkeiten der Freiheit. Mit Hilfe eines Stipendiums studierte sie später in Oxford, bevor sie an die Universität Bethlehem zurückkehrte.

Rafik ist Christ und wurde in Haifa geboren. Er besitzt einen israelischen Pass, wohnt in Ostjerusalem, studiert in Bethlehem und will nach dem Examen ein arabisches Speiselokal in Österreich eröffnen. Auf meine Frage, ob er sich als Israeli, als Palästinenser oder bald als Österreicher verstehe, antwortete er mir nur lapidar: „I hate politics“.

Abdallah ist Muslim. Bei den üblichen Diskussionen über etwaige Staatenlösungen eröffnete er mir, dass er keinen Staat, sondern einen Arbeitsplatz brauche, egal wo. Heute arbeitet er in Jerusalem beim Middle Eastern Institute for Education and Technology, welches hochbegabten Schülern aus dem Westjordanland und Israel Informatikkurse anbietet. Über Politik und Religion wird dort grundsätzlich nicht geredet. Die Schüler hätten Wichtigeres zu tun, als sich in hoffnungslose Konflikte zu verstricken.

Dieses Buch ist Selina, Jumana, Rafik, Abdallah und all den anderen gewidmet, die aus dem Gefängnis ihrer kulturellen Identitäten ausbrechen und in ihre eigene Zukunft aufbrechen wollen.

„Sind sie darüber verwirrt, was im Nahen Osten passiert? Lassen sie es mich erklären: Wir unterstützen die Irakische Regierung im Kampf gegen die ISIS. Wir mögen ISIS nicht, aber ISIS wird von Saudi-Arabien unterstützt, welches wir mögen. Wir mögen Assad in Syrien nicht. Wir unterstützen den Kampf gegen ihn, aber auch ISIS kämpft gegen ihn. Wir mögen Iran nicht, aber Iran unterstützt die irakische Regierung in ihrem Kampf gegen ISIS. Einige unserer Freunde unterstützen unsere Feinde, einige Feinde sind jetzt unsere Freunde und einige unserer Feinde kämpfen gegen unsere anderen Feinde, welche wir loswerden wollen, aber wir wollen nicht, dass unsere Feinde, die gegen unsere Feinde kämpfen, gewinnen. … Und all das begann damit, dass wir in ein Land einmarschierten um Terroristen zu vertreiben, die gar nicht da waren, bevor wir kamen, um sie zu vertreiben. Es ist ganz einfach, wirklich. Verstehen Sie es jetzt?“

Audrey Bailey3

Einleitung

Zwei Ereignisse dominieren die internationalen Beziehungen des neuen Jahrhunderts: Das Scheitern der westlichen Versuche, nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung eine universale, an liberaler Demokratie und an individuellen Menschenrechten ausgerichtete multilaterale Weltordnung zu errichten und das daraus entstandene Machtvakuum, welches der totalitäre Islamismus zu füllen versucht. Nach dem Scheitern der militärischen Interventionen des Westens im Nahen Osten dringt dieser heute weltweit vor. Beide Ereignisse sollen hier in ihrem Zusammenhang analysiert werden.

Orient und Okzident leben zunehmend in einem Raum, aber nicht in einer Zeit. Die Schwärmerei eines Johann Wolfgang von Goethes, wonach „Orient und Okzident nicht mehr zu trennen sind“, ist uns über den Zusammenprall der ungleichzeitigen Kulturen vergangen. Der pädagogische Großversuch, den Zusammenprall der Kulturen in einen Regenbogen zu verwandeln, war naiv. Orient und Okzident rücken heute auf ganz andere Weise zusammen als erhofft.

Für den Nahen Osten war die Analyse vom „Kampf der Kulturen“ noch zu optimistisch. Hier kämpfen weiterhin jüdische und muslimische, säkulare und islamistische Kulturen gegeneinander, aber es sind noch innerkulturelle Kämpfe zwischen Konfessionen und Ethnien hinzugekommen. Zwischen Schiiten und Sunniten ist der uralte Erbkonflikt um die Nachfolge Mohammeds in den Machtkonflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran übergegangen. Henry Kissinger sieht den Nahen Osten dazu bestimmt, mit all seinen historischen Erfahrungen gleichzeitig experimentieren zu müssen – Imperium, Heiliger Krieg, auswärtige Vorherrschaft, religiöser Krieg aller gegen alle, hin und her gezerrt zwischen dem Wunsch zum Anschluss an die Welt und dann wieder zum Kampf gegen sie.4

Eine Neuordnung des Nahen Ostens durch den Westen ist mit dem Irakdebakel gescheitert. Das Unverständnis zwischen beiden Welten ist zu groß. Kriege und Gewalt sind in Europa prinzipiell geächtet, während sie im Nahen Osten als legitimes Mittel gelten. Sie schreiten desto weiter fort, je weniger stabile Institutionen einen regulierten Konflikt möglich machen.

Den Hauptunterschied macht Michael Wolffsohn aber an der betonten Säkularität in Europa und der Sakralität des Nahen Ostens fest. Zu welchen Missverständnissen dies führt, zeigten die Demonstrationen nach dem Terroranschlägen in Paris und Berlin „gegen den Terror“. Dabei seien keine geistigen Würdenträger anwesend gewesen. Die säkulare Elite des Westens und einiger islamischer Staaten hätte zu sich selbst gesprochen. Auch die Schwächen des Westens wären missverstanden worden. Während weitgehend staatsfreie Räume in einigen europäischen Großstädten bei uns noch als Zeichen der Liberalität und staatlicher Zurückhaltung gelten würden, seien dies im Nahen Osten Zeichen der Schwäche, die umgehend zu weiteren Grenzüberschreitungen verleiten.5

Trotz aller Missverständnisse: Eine Neuordnung des Nahen Ostens ohne den Westen und seinen zivilisatorischen Kräften ist nicht vorstellbar. Aber der Westen wird dies nicht mehr im Alleingang schaffen. Am Horizont zeichnen sich zumindest die Notwendigkeiten einer multipolaren Weltordnung ab, auf die der immer noch vorherrschende Universalismus des Westens oft den Blick versperrt.

Der westliche Universalismus hat sowohl machtpolitische Antriebe als auch ideelle Beweggründe, die in der liberalen Demokratie und in den individualistischen Menschenrechten das Ende der Geschichte kommen sehen. Beide Haltungen kollidieren unweigerlich mit dem islamistischen Universalismus, der sein „Haus des Friedens“ allen Ungläubigen als Wohnstätte glaubt anbieten zu müssen.

Zu gerne würde der nach außen universalistische, nach innen aber relativistische Westen diesem Kampf der Kulturen ausweichen. Doch spätestens mit dem Aufkommen des Kalifats im Islamischen Staat (IS) in Teilen des Iraks und Syriens, der einen universalen Anspruch erhebt und auch Zulauf aus Europa erhält, steht er seinem Todfeind gegenüber. Dieser neue Totalitarismus, erstanden aus der Regression in den Urislam, ist eine Herausforderung, die von Nigeria bis China, von Paris bis in den Kaukasus, der Weltzivilisation insgesamt den Krieg erklärt hat.

Der Westen hat sich in den Nahen Osten heillos verstrickt und macht dort seit langem keine gute Figur. Er irrlichtert durch eine Region, die er nicht versteht. Er interveniert gegen säkulare Diktatoren und paktiert mit demokratischen Islamisten, bildet eine politische Allianz mit dem Irak, das seinerseits mit dem Iran liiert ist. Er pflegt gute Beziehungen mit Katar, welches die Hamas subventioniert. Die USA pflegen eine enge Freundschaft mit Saudi-Arabien, welches die Salafisten finanziert, die die Dschihadisten inspirieren, welche jeden Amerikaner töten möchten. Deutschland liefert Waffen an Katar, einem frühen Finanzier des IS, die heute von irakischen Kurden mit Hilfe deutscher Waffen eingedämmt werden. Das Nato-Mitglied Türkei entpuppt sich immer mehr als „interkulturelle Brücke“, die uns tiefer in den Nahen Osten hineinführt. Über die gebotene Bündnissolidarität mit ihr könnten wir direkt in nahöstliche Kriege verwickelt werden.

Die west-östlichen Verstrickungen haben die Unterscheidungen zwischen Außen- und Innenpolitik, Sicherheits- und Einwanderungspolitik verwischt. Die von den Kriegen in Nordafrika und im Nahen Osten losgetretene Flüchtlingswelle hat nach Angaben des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNCR) in der ersten Hälfte von 2014 mehr als 130.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa getrieben – mehr als doppelt so viele wie im ganzen Jahr 2013. Es kommen hilfsbedürftige Flüchtlinge vor dem Chaos und dem Islamismus – und es kommen Islamisten.

Schon die demografische Entwicklung treibt Orient und Okzident unaufhaltsam aufeinander zu. Im Jahr 1950 lebten 800.000 Muslime in Westeuropa, heute sind es schon mehr als 23 Millionen. Im Jahre 2020 werden 300 Millionen junge männliche Muslime in Nordafrika nur noch 70 Millionen jungen Männern in Europa gegenüberstehen. Da voraussichtlich nur jeder Dritte in Nordafrika eine Beschäftigung findet, bleiben 200 Millionen, die in der Auswanderung nach Europa ihre Chance sehen könnten.6

Die Fehler des Westens haben erheblich zur desaströsen Lage des Nahen Ostens beigetragen. Sie fallen heute zunehmend auf ihn zurück. Die von den Kolonialmächten entworfenen Nationalstaaten in der Levante stehen quer zu den Ethnien, Religionen und Stämmen. Jahrzehnte später vertiefte die vom Westen exportierte Demokratie deren Spaltungen. Die westlichen Machtansprüche trieben Dschihadisten mit hervor. Sie erhalten Zulauf aus allen Teilen der islamischen Welt – und aus Europa.

Entsetzlicher hätte die Integration nicht scheitern können als bei jenen Eiferern, von denen bereits Tausende aus ganz Europa und Hunderte aus Deutschland ins Kampffeld gezogen sind. Mehr noch als ihre Ausreise in den Krieg müssen wir ihre Rückkehr fürchten. Wir hören gerne die Botschaft vom „barmherzigen Islam“, ich hörte jedoch auch einen aus Ägypten stammenden Hamburger Muslim sagen, dass er seit langem keine Moschee in Deutschland mehr besuche. Er könne die politischen Hetzereien dort nicht mehr ertragen. Es verwundere ihn nicht, dass aus solchen Moscheen Salafisten und Dschihadisten hervorgehen.

Die interkulturelle Lage Europas könnte sich der des Balkans annähern, wo seit Jahrhunderten Religionen und Kulturen aufeinandertreffen. Schlimmstenfalls wird sie sich sogar der Lage Israels annähern, einer Insel, umgeben von feindseligen Mächten, die immer von neuem bekämpft, eingedämmt und nur unter größten Anstrengungen durch Teilhabe an ökonomischen Fortschritten zu beschwichtigen sind.

Der Nahe Osten ist eine Schnittstelle von Okzident und Orient, dreier Weltreligionen, dreier Erdteile, hier treffen seit 3000 Jahren Kulturen aufeinander. Im politischen Sinne versteht man unter dem Nahen Osten den Europa umfassenden Krisenbogen von Marokko bis zum Iran. Trotz der kulturellen Ähnlichkeit unterscheiden sich die politischen Verhältnisse in diesen Staaten deutlich voneinander. Neben den zugleich konservativen wie modernistischen Golfmonarchien finden sich vergleichsweise liberale Monarchien in Marokko und Jordanien. Neben den Kriegsschauplätzen Syrien und Irak, der Anarchie in Libyen und der Mullahkratie im Iran herrscht in Tunesien seit dem Herbst 2014 eine gewählte Regierung. In Ägypten herrscht wiederum das Militär, der Libanon steht als demokratischer und multireligiöser Staat am Rande des Bürgerkrieges.

Das Pro-Kopf-Einkommen reicht von armen Ländern wie dem Jemen und Sudan mit unter 2500 Dollar pro Kopf und Jahr über Marokko, Jordanien, Ägypten, Syrien (vor dem Krieg), Algerien und Tunesien mit 4500 bis 8500 Dollar, bis zu Saudi-Arabien, Oman und Bahrain, die ein zentraleuropäisches Niveau zwischen 13.000 und 25.000 Dollar erreichen. Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar gehören zu den Staaten mit den weltweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen.

Allen Staaten ist eine sehr ungleiche Einkommensverteilung gemein. Trotz des Ölreichtums, welcher zwischen den Staaten sehr ungleich verteilt ist, leben schätzungsweise 40 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Im Korruptionsindex von Transparency International rangieren die arabischen Staaten auf den vorletzten Plätzen.7 Die vielen Gemeinsamkeiten beweisen, dass trotz der politischen und sozioökonomischen Unterschiede die Prägekraft der ihnen gemeinsamen Kultur groß ist. Die vielen strukturellen Unterschiede eröffnen die Perspektive, dass trotz dieser kulturellen Prägung eine Zivilisierung dieser Kulturen möglich ist.

Einwände gegen die Kulturkampfthese zielen darauf ab, dass es sich ja „in Wirklichkeit“ nur um soziale Konflikte oder ethnisch-nationale Rivalitäten handele. Diese Kategorien schließen einander im Nahen Osten so wenig aus wie anderenorts, sie verschränken sich vielmehr ineinander und verstärken gegenseitig ihre Konfliktpotentiale. Politische Grenzen verlaufen meist entlang ethno-religiöser Identitäten. Umso gefährdeter ist der Friede, wenn sie es nicht tun und sich religiöse, ethnische und politische Ansprüche bis zur Ununterscheidbarkeit verstricken.

Kulturen sind historisch gewachsene Werteordnungen, aus deren Geist sich die Gesetze und politischen Strukturen nähren. Unterschiedliche Kulturen haben gemeinsame Werte, aber sie setzen sie in eine andere Rangordnung, aus der sich ihre Eigenwertigkeit ergibt. So macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Individuum oder das Kollektiv, ob individuelle Menschenrechte oder kollektive Menschenpflichten, ob Freiheit oder Hingabe an Gott an oberster Stelle stehen.

Kulturen sind auf umgrenzte Gruppen und im hohen Maße auf die Vergangenheit bezogen. Sie basieren auf gemeinsamen Erfahrungen, Erinnerungen und Regeln. Was zwischen den Zeiten und Kulturen variiert, ist weniger der Bestand an Werten und Normen selbst als ihr relatives Gewicht und die ihnen jeweils zugeschriebene Rangfolge. Für dieselbe Regel werden in unterschiedlichen Kulturen und Perioden ganz unterschiedliche Ausnahmen zugelassen. So unterscheiden alle Kulturen zwischen Mord einerseits und legitimer Tötung andererseits, die Unterschiede der Kulturen liegen hierbei in den Bedingungen, die als Berechtigung zu Ausnahmen gelten, etwa für Notwehr, rituelle Tötungen oder Tötung im Krieg.8

Da Kulturen ihrem Wesen nach partikular sind, geraten ihre Identitäten und Werteordnungen zwangsläufig in Konflikt mit anderen Werteordnungen. Lange vor Samuel Huntington hat der Ethnologe Claude Lévi-Strauss zunehmende Kämpfe zwischen den Kulturen vorhergesehen. Gegenseitige Toleranz sei zwar theoretisch möglich, jedoch nur unter den Bedingungen „relativer Gleichheit“ und „hinreichender Distanz“. Beide Bedingungen sah er am Ende seines Lebens insbesondere hinsichtlich der westlichen und der islamischen Welt als nicht gegeben an. Jede dieser Kulturen enthalte eine Eigenlogik und Selbstbewertung, die sich durch die Nähe der anderen Kultur bedroht fühlt. Seine düstere Prognose lautet: Da es unmöglich ist, sich mit anderen zu vermengen und gleichzeitig mit sich identisch zu bleiben, da der Mechanismus gegenseitiger Abstoßung nicht außer Kraft zu setzen ist und Vermengungen der Kulturen schon aus demographischen Gründen zunehmen, stehen uns interkulturelle Feindschaften ins Haus, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat.

Manche Weltkulturen – wie die chinesische oder indische – erheben keinen universalen Anspruch und stellen nur in bestimmen Funktionsbereichen eine Herausforderung für den Westen dar. Der Herrschaftsanspruch des Islams war angesichts der Schwäche der islamischen Welt in der Moderne lange kein Thema gewesen. Überdehnung und Schwäche des Westens einerseits und der Zugang zu den Mitteln des Westens andererseits ermöglichten dem Islam die Wiederauferstehung. „Islamisierung“ meint die Radikalisierung und Politisierung dieser Religion, die darüber unweigerlich zunächst mit anderen Konfessionen und Mächten in der islamischen Welt und mit der säkularen Zivilisation zusammenprallt.

An den extremen Rändern der islamistischen Bewegungen rücken IS, Boko Haram, Al Nusra, al-Qaida und Taliban vor, deren blutrünstiger Fanatismus allerdings selbst seinen ursprünglichen Förderern von der arabischen Halbinsel zu bedrohlich wird. Eine Chance im Kampf um die Zivilisation liegt darin, dass heute selbst politisch und kulturell verfeindete Regime wie USA und Iran, Iran und Saudi-Arabien, Israel und Jordanien das gemeinsame zivilisatorische Minimum gegen die Barbarei verteidigen.

Spätestens nach den aktuellen Kämpfen im Nahen Osten, die an die Selbstzerstörung Mitteleuropas im Dreißigjährigen Krieg erinnern, muss es den Menschen wie nach dem Westfälischen Frieden und nach dem Zweiten Weltkrieg klar werden, dass sie selbstzerstörerischen Paradigmen gefolgt sind. Sie werden bemerken, dass statt Religion und Nation vor allem Wissenschaft und Technik für ihr Wohlergehen entscheidend sind und dass diese unser Schicksal nachhaltiger prägen als Religion und Politik.

Der Widerspruch zwischen der Globalisierung zivilisierter Funktionen und der Wiederkehr partikularer Kulturen macht die analytische Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur unumgänglich. Deren Missbrauch etwa im Ersten Weltkrieg darf nicht zum Verzicht auf die analytische Unterscheidung von äußeren und inneren Kategorien führen.

Kulturen sind als identitätsstiftende Werteordnungen von der Zivilisation als der einer reinen Funktionalität dienenden Strukturen zu unterscheiden. Zivilisation ist die Gesamtheit der durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt geschaffenen äußeren Lebensbedingungen. Diese analytische Differenzierung ist auch zur Erklärung der Vorgänge im postsowjetischen und postjugoslawischen Raum notwendig. Hier dominieren, anders als in Mittel- und Mittelosteuropa, weniger die Erfolge von Freiheit und Demokratie denn kulturalistisch geprägte Clanstrukturen. Es herrscht nicht die Soziale Marktwirtschaft Mittel- und Nordeuropas, sondern der wilde Oligarchenkapitalismus.

Auch hier ist also kein Ende der Geschichte in Sicht. Im Gegenteil sehnen sich erhebliche Teile der Bevölkerung weg von den korrupten Verflechtungen zurück zu den Chancen, die die sowjetische Zivilisation jenseits kulturalistisch geprägter Ethnien und Nationen zu bieten vermochte.9 Doch eine neue Weltanschauungsdiktatur, die nicht nur den Kulturalismus, sondern auch die Freiheit unterdrückt, wäre kein Weg in die Zukunft. Die zentralasiatischen Staaten müssen sich auf neue Weise zusammenschließen. Anfang 2015 trat Kirgisistan einer Zollunion, bestehend aus Armenien, Belarus, Kasachstan und Russland bei. Es ist an einer Mitgliedschaft in der neuen Eurasischen Wirtschaftsunion interessiert.

Eine längst überdehnte Europäische Union täte gut daran, die Eurasische Wirtschaftsunion nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung für eine Weltzivilisation zu sehen. Russland droht durch die neue Gegnerschaft des Westens so geschwächt zu werden, dass in der eurasischen Welt ein mit dem Nahen Osten vergleichbares Chaos entstehen könnte. Eine Unterstützung der unter der Führung Russlands entstehenden „Eurasischen Union“ würde zuvor den strategischen Übergang vom Universalismus zur Multipolarität erfordern.

In ihrem Vorfeld bleibt der EU genug zu tun. In den Westbalkanstaaten warten arbeitslose Jugendlichen auf den Zugang zur Europäischen Union. Nur dieser könnte sie aus der sie ausschließenden Korruption und dem ethnischen Identitätswahn befreien. Die EU muss umgekehrt darauf achten, mit der Aufnahme solcher Staaten nicht deren Spielregeln zu importieren und entsprechenden Schaden davonzutragen, wie im Fall des Balkanstaates Griechenland.

So unmöglich ein Konsens unterschiedlicher Werteordnungen ist, so leicht ist ein Dialog der Universalien von Wissenschaft und Technologie, Handel und Verkehr. Universal sind auch die Künste.10 Das Judentum hat nie einen kulturellen Dialog angestrebt, sondern sich auf den Austausch in Wirtschaft, Wissenschaft und Künsten beschränkt. Auch Japaner und Europäer lassen sich hinsichtlich der inneren Moralität gegenseitig in Ruhe. Der kulturelle Dialog – so der Psychoanalytiker Josef Lund – sei eine Illusion, weil psychische Ordnungen nicht deckungsgleich zu machen sind.11

Es gibt zahllose Kulturen auf der Welt. Von „der Zivilisation“ sprechen wir nur im Singular. Ihre Funktionen transzendieren kulturelle Identitäten und Werteordnungen. Im Gegensatz zu Kulturen kümmert sich eine Zivilisation weniger um die Vergangenheit, sondern vor allem um die Chancen der Zukunft und die Funktionen der Gegenwart. Der Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei ist viel wichtiger als alte Kulturkämpfe und alte politische Konflikte. Statt um den Kampf der Kulturen und den Kampf zwischen „Demokratie und Diktatur“ geht es heute um den Kampf um die Zivilisation.

„An konfusen Intrigen nationalistisch und religiös exaltierter Phantasten hatte sich damals mit den Schüssen von Sarajewo die unsagbare Tragödie des Ersten Weltkriegs entzündet. Dort wurde das Signal gesetzt zum Niedergang unseres Kontinents. Das heillose Verwirrspiel zwischen Iran und Saudi-Arabien, zwischen der Türkei und Ägypten, um nur sie zu benennen, könnte eines Tages den Hedonismus der europäischen Sybariten, ihren hemmungslosen Kult des Götzen Mammon, mit schicksalhaften Herausforderungen konfrontieren, denen sie gar nicht mehr gewachsen wären.“

Peter Scholl-Latour12

I. Kulturrelativismus und politischer Universalismus des Westens

Es liegt im Wesen universeller Menschenrechte, kulturelle Grenzen zu ignorieren. Der westliche Universalismus beruht auf dem unbedingten Primat der Politik vor der Kultur. In nichtwestlichen Kulturen gilt dieser Primat nicht und so fällt der westliche Universalismus hier auf keinen aufnahmebereiten, sondern auf einen durch ethnische oder religiöse Identitäten versiegelten Boden.

Sie werden nicht als universell, sondern als westlich und imperialistisch wahrgenommen. Die Weltkulturen und die ihnen zugehörigen Weltmächte definieren sich nicht nach einer universalen, sondern nach unterschiedlichen Werteordnungen, in denen Rechte und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Mensch und Gott in unterschiedlichen Rangordnungen zueinander stehen.

Der westlichen Überzeugung, das seine Werte und Strukturen für alle Menschen Gültigkeit haben sollten, steht eine deutlich andere Realität gegenüber. Schon bei Russland trifft der Westen auf ein autoritäres Modell, welches Macht und Gewalt wieder als Mittel der Politik begreift, ja Macht- und Einflusssphären zu seinem legitimen Schutz für nötig hält. Die westliche Opposition dagegen wird von 80 Prozent der Russen als Akt der Feindseligkeit betrachtet.13

In China treffen unsere Ideale auf eine gleichsam nihilistische Zivilisation, die wirtschaftliches Wachstum verabsolutiert und ohne Rücksicht auf kulturelle oder ökologische Verluste, bei sich und bei anderen, vorantreibt. Wenn wir hier für eine Zivilisierung der Kulturen plädieren, dann meinen wir eine Zivilisation, die auf den Grundlagen der eigenen Kultur aufbaut. Ob dies in China gelingen kann, wäre ein Thema für sich und dieses muss dafür kompetenteren Analytikern überlassen bleiben. Ohne die Hoffnung, dass sich die westliche Zivilisation wieder auf ihre kulturellen Werte besinnen und darüber Dauerhaftigkeit finden kann, wäre dieses Buch nicht geschrieben worden.

Im Nahen Osten sind wir mit dem Gegenteil von Nihilismus, einem fanatischen, totalitären Islamismus und Dschihadismus konfrontiert. Europa versteht diese Herausforderung nicht wirklich. Die westliche Paradoxie eines kulturellen Relativismus nach innen und eines politischen Universalismus nach außen erklärt sich aus der beiden Einstellungen gemeinsamen Unterschätzung der Bedeutung von Kultur und Religion.

Dass das Redaktionsbüro von Charlie Hebdo unbewacht war, zeigt die ganze, aus Unwissenheit über islamistische Gewaltbereitschaft resultierende Naivität des Westens. Die Neuauflage des karikierten Propheten zeigt ähnlich viel universalistische Provokationslust der westlichen Kultur wie die Benennung der neuen Nato-Eingreiftruppe für Osteuropa als „Speerspitze“. Gewiss muss man die Pressefreiheit verteidigen und das Schicksal von Charlie Hebdo betrauern, gleichwohl sind beleidigende Karikaturen nicht die Essenz und das Wesen unserer Kultur. Die Morde an den jüdischen Bürgern in Paris, die den Auszug des Judentums aus Frankreich vorantreiben, fanden weniger Beachtung. Wenn aber Juden wieder aus Europa fliehen müssen, sollten alle Alarmglocken schrillen.

Die nach den Pariser Morden eingeschlagene Taktik, „den Islam“ zu umarmen, um mit ihm gemeinsam gegen den islamistischen Terror zu protestieren, beruht ganz auf der Hoffnung, dass es eine saubere Trennungslinie zwischen Islam und Islamismus gibt. In Wirklichkeit sind die Übergänge fließend und es hängt alles von dem Willen zur Aufklärung ab, ob die Suren des Korans wortwörtlich oder als zeitgebunden verstanden werden. Es ist wieder jene Mischung aus Relativismus und Universalismus, der uns glauben lässt, dass der Wille zur Aufklärung überall vorhanden sei. Dieser Glaube unterschätzt die Dramatik der Aufgabe, um beinahe jeden Preis diese Aufklärung unter den Muslimen auf unserem Boden voranzutreiben und uns nach außen und innen vor denjenigen abzugrenzen oder sogar zu schützen, die sich der Aufklärung verweigern.

Kulturrelativismus im Kampf der Kulturen

Der westliche Kulturrelativismus versuchte, den Kampf der Kulturen erst zu ignorieren und ihm dann aus dem Weg zu gehen. Aber dies ist ihm nicht gelungen. Er wird heute vom Islamismus in einer Weise herausgefordert, die ihm nur die Wahl zwischen Selbstaufgabe oder Selbstbehauptung lässt.

Der Kampf der Kulturen zeigt sich im Nahen Osten schon im Kampf gegen die Christen. Es ist schon verblüffend, welche Gleichgültigkeit der Westen demgegenüber an den Tag legt. Den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses Ronald S. Lauder, erinnert dies an die Gleichgültigkeit, mit der die Welt seinerzeit den Holocaust hingenommen hat. Er sei entsetzt über den neuen Antisemitismus in Europa, aber noch mehr über die Gleichgültigkeit, mit der in Europa die Christenverfolgung im Nahen Osten hingenommen wird. Wo blieben die Proteste gegen die Massaker an den Christen in Syrien und im Irak? Solidaritätsmissionen Richtung Gaza hätte es in den vergangenen Jahren viele gegeben, aber wo seien all die Rockstars und Schauspieler, die ständig im Namen der Menschenrechte von ihren Regierungen verlangen, Israel mit Sanktionen zu belegen, wenn es um das Morden der IS oder von Boko Haram in Nigeria geht?14

Erst der versuchte Völkermord der IS an den Jessiden im Irak hatte die Aufmerksamkeit des Westens erregt, der vorangegangene Kulturmord an den Christen in der Ebene von Ninive nicht. Auch von Bundespräsident Joachim Gauck, der russischen, indischen und chinesischen Präsidenten gerne die Leviten in Sachen Menschenrechte liest, wurde noch kein kritisches Wort zur Christenverfolgung durch den Islamismus gehört. Stattdessen wandte er sich denkbar allgemein „gegen die fanatisierten Männer und Frauen, die Religion und Moral mißbrauchen, um andere zu verfolgen.“ Unter den Verfolgten erwähnte er „Muslime und Andersgläubige“: Die am meisten verfolgten Christen kamen in der Ansprache des ehemaligen Pastors Gauck nicht vor.

Von Angela Merkel hat man zwar Kritik an Papst Benedikt XVI., aber noch nie ein Wort der Solidarität mit den Christen des Nahen Ostens vernommen. Selbst unsere christlichen Kirchen belassen es bei allgemeinen Appellen. Die Islamverbände verweisen in diesem Zusammenhang vor allem auf ihr Schicksal in Deutschland, wo sie sich ständigen Diskriminierungen ausgesetzt sehen. Wenn eine Bundeskanzlerin jenseits jeder Differenzierung feststellt, dass „der Islam zu Deutschland gehört“, könnte sie auch feststellen, dass das Christentum zum Orient gehört.15

Der Kultur- und Werterelativismus ist eine gesamtwestliche Erscheinung. Die politische Korrektheit hat nicht nur in Deutschland, sondern – aufgrund des schlechten Gewissens aus der Kolonialzeit – auch in anderen europäischen Ländern große Lücken in das Wahrnehmungsund Erkenntnisvermögen geschlagen. Trotz des weltweit vorrückenden Islamismus reden der amerikanische Präsident und sein Außenminister beharrlich von „Terroristen“, was heißen soll, dass diese nichts mit dem Islam zu tun haben.

Bei allem Respekt vor der guten Absicht: auf diese Weise geht vor lauter Differenzierung der Blick für das Wesen der Herausforderung verloren. Doch Fortschritte nehmen im Kleinen ihren Ausgang. Im Wintersemester 2014 durfte ich in Lehrveranstaltungen von der „Islamistischen Herausforderung“ sprechen, ohne dass mir die bis dahin gängigen Proteste studierender Gutmenschen entgegenschlugen.

Kultur bedeutet Werteordnung. Sie stellt die Frage nach der Hierarchie der Werte. Jedem Menschen ist etwas wertvoller und etwas weniger wertvoll. In einer ausdifferenzieren Gesellschaft gelten unterschiedliche Wertetypen: ökonomische, moralische, religiöse, technische, rechtliche und ästhetische. Die Frage nach der Wertehierarchie ist zugleich eine Frage nach dem Ziel und Sinn des Lebens. Werte fordern Entscheidungen für bestimmte und gegen andere mögliche Werte.16

Wertschätzen kann man alles und jedes. Solange Werte nicht in eine Ordnung gebracht werden, die auch Prioritäten erkennen lässt, handelt es sich bei einer Wertegemeinschaft um einen Flickenteppich von guten Wünschen und Absichten. Das Europa des Wertegeredes endet im Werterelativismus. Wenn der weltanschauliche Relativismus statt objektiver Werte nur noch Werte gelten lässt, die auf ein subjektives, von spezifischen Bedingungen abhängiges Bewusstsein bezogen sind, zerstreuen sich die Werte in Beliebigkeit.

Erkenntnistheoretisch beruht der westliche Kulturrelativismus auf einem Positivismus, der neben der Bedeutung von Werten auch die Bedeutung von Religionen bei den meisten Völkern unterschätzt. Dieser Relativismus nennt sich „postmodernes Denken“, „Dekonstruktivismus“ oder „schwaches Denken“. Er ist schon erkenntnistheoretisch widersinnig. Diskurse, die nicht der Idee der Wahrheit verpflichtet sind, führen sich selbst ad absurdum. Die Annahme, dass alles relativ ist, muss sich selbst davon ausnehmen. Dies geschieht auch ständig, wann immer sich der Relativismus in Gestalt der politischen Korrektheit zur Wahrheit erklärt. Seine Differenzierungsverbote kommen im Ergebnis Denkverboten gleich.

Frits Bolkestein führt den Werterelativismus auf jene in Europa immer wieder auftretende romantische Geistesströmung zurück, deren Feindbild die Überzeugung von der Geltung objektiver Wahrheit sei. Letztere Haltung hätte der klassischen Philosophie, dem Christentum wie auch der Aufklärung zugrunde gelegen. Der Glaube an den „edlen Wilden“ im Sinne Rousseaus habe den Blick auf die Schlüsselrolle der Kultur verstellt. Diese romantische Legende präge auch den zeitgenössischen Multikulturalismus.17

Der Werterelativismus endet im Kulturrelativismus. In diesem droht der „Dialog der Kulturen“ zum Inbegriff eines relativistischen Credos zu werden, in der man der eigenen Position nicht mehr Wahrheit zugesteht als der Position der anderen. Wenn es nur um den Austausch zwischen gleichrangigen und daher gegeneinander relativen Positionen geht, werden Werte wie Aufklärung, Demokratie und Menschenrechte verraten. Kulturen, die die Gleichwertigkeit von Mann und Frau nicht anerkennen, können nur dann als gleichwertig gelten, sofern der Wert der Gleichwertigkeit nicht ernst genommen wird.

Unsere Ordnung der Werte erlaubt nicht nur, sondern erfordert die Relativität der Werte im vorletzten politischen Bereich. Der Relativismus ist eine philosophische Grundlage der Demokratie, die darauf beruht, dass niemand in Anspruch nehmen darf, den richtigen Weg zu kennen. Wenn der weltanschauliche Relativismus aber auch hinsichtlich letzter Fragen und ethischer Entscheidungen nur noch Werte gelten lässt, die auf ein subjektives, von spezifischen Bedingungen abhängiges Bewusstsein bezogen sind, zerstreuen sich die Werte in Beliebigkeit. Sie sind dann keine letzten Zwecke mehr und haben nur noch relativen Wert.

Wo die Spannungsverhältnisse etwa zwischen Religion und Welt entweder wie im Relativismus geleugnet oder wie im Fundamentalismus bekämpft werden, droht das „Und“ und die Identität Europas verloren zu gehen. Sofern wir unsere Kultur nicht als sinnlose Abfolge zufälliger Ereignisse verstehen, in der dem Christentum zufällig die Aufklärung gefolgt ist, sofern es stattdessen um Ergänzungen unterschiedlicher Ereignisse und Kräfte geht, geben wir unserer Kultur überhaupt erst Sinn und Zusammenhang.

Der Kulturrelativismus stellt Christentum und Aufklärung gleichermaßen in Frage. Papst Benedikt XVI. sieht in der „Diktatur des Relativismus“ den Kern unserer Probleme. Der Relativismus fördere als ersten Reflex eher den Zweifel als das Vertrauen und untergrabe damit Traditionen. Es komme zu einer Implosion des moralischen Konsenses, der einst alle großen Traditionen der Menschheit geprägt hat. Die heutigen europäischen Gesellschaften erscheinen ihm bereits als posteuropäische Gesellschaften, die nur noch vom Nachwirken des europäischen Erbes leben und nur insoweit noch europäisch sind. Die Pluralität der Werte, die legitim und europäisch sei, werde zu einem Pluralismus gesteigert, aus dem jede sittliche Verankerung des Rechts und jede öffentliche Verankerung des Heiligen und der Ehrfurcht vor Gott als einem, auch gemeinschaftlichem Wert ausgeschlossen werde.

Ein solches Europa – so Papst Benedikt – habe keine Zukunft, weil Kultur immer an ein gemeinschaftliches Subjekt gebunden ist, welches die Erfahrungen der Einzelnen in sich aufnimmt und sie vorprägt. Das gemeinschaftliche Subjekt verwahre und entfalte Erkenntnisse, die über das Vermögen des Einzelnen hinausgehen. Für eine Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Werten brauchen wir Maßstäbe, die in der Regel dem kollektiven Selbstverständnis der Kultur entlehnt seien.

Die Krise eines Kultursubjekts entstehe, wenn es ihm nicht mehr gelingt, die überrationale Vorgabe mit kritischer Erkenntnis in eine überzeugende Verbindung zu bringen. Wer nur den Positivismus als gemeinsame Grundlage für eine Rechtsbildung anerkennt und alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verweist, rücke Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in den Status der Kulturlosigkeit und fordere zugleich radikale Gegenströmungen heraus.

Heute müsse das kulturelle Erbe des Westens helfen. Von der christlichen Überzeugung eines Schöpfergottes seien erst die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Wissen um die Verantwortung des Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Die Kultur Europas sei aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung hätte Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in dieser historischen Stunde aufgegeben ist.18

Doch während Konservative den Werterelativismus beklagen, ist dieser schon eine Stufe weiter: im Reich der absoluten Freiheit und Beliebigkeit, grenzenlos mobil zwischen unendlich erscheinenden Möglichkeiten umherirrend. In Europa ist das Zeitalter irgendwelcher Autoritäten wie auch in Gestalt politischer Ideologien vorbei. Bis etwa in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts befanden sich Menschen noch im Konflikt mit alten gesellschaftlichen Ordnungen, mit politischen und religiösen Autoritäten, die Sitten und Gebräuche, Rechte und Pflichten vorgaben.

Die 68er haben die bürgerliche Ordnung besiegt und die Neoliberalen ihr in den 1980er-Jahren den Todesstoß versetzt. Die Kommunikationsrevolution im 21. Jahrhundert scheint nachwachsende Generationen von den Resten gesellschaftlicher Einbindungen zu befreien. Ihre neuen Netzwerke unterscheiden sich sehr von den Vereinen und Verbänden, welche Gesellschaften früher zu strukturieren halfen.

Die Menschen im Westen leben in einer Epoche scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten, einer Epoche – so Sven Hillenkamp –, in der die Freiheit absolut geworden ist. Natürlich existieren noch Mächte in der Welt, doch keine nimmt den Menschen mehr die Verantwortung für ihr Leben ab. Statt in Kämpfen gegen vorgegebene Werteordnungen, stehen sie im Kampf mit sich selbst. Jetzt sei der Mensch allein, es komme ausschließlich auf ihn selbst an.

Während Gebote und Verbote notwendig Gebote und Verbote anderer sind, bedeuten Möglichkeiten eigene Möglichkeiten. Oft erkennen Menschen nicht mehr die Grenzen zwischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Während früher die Gesellschaft dem Einzelnen Widerstand entgegenstellte, ist unter den Bedingungen seiner absoluten Freiheit die Gesellschaft wie Luft. Die Anziehungskraft der Möglichkeiten hebt die Zurückhaltung durch Zwänge, Regeln und Gewohnheiten immer weiter auf. Die ganze Last des Schicksals liegt auf den Schultern des einzelnen. Die Möglichkeiten werden selbst zur Regel, schließlich mit den unwiderstehlichen Versuchungen zur Sucht und zum Zwang.19

Empört nimmt der westliche Relativist zur Kenntnis, dass schon in Russland und der Türkei grenzenlose Freiheiten keine Priorität genießen, vielmehr kulturelle Ordnungen mit neuer Vehemenz behauptet werden. Der westliche Relativismus ist in dem Sinne zutiefst provinziell, dass er auch andere Kulturen für relativistisch hält und selbst totalitäre Herausforderungen nicht bemerkt.

Wer Demokratie exportiert, schürt Anarchie

Der politische Universalismus ist tief in unserem christlichen und aufklärerischen Denken verankert, allerdings ohne die dazugehörende Einsicht in dessen Begrenzungen, in die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und in die Grenzen der Vernunft. Sowohl ein vertieftes Christentum als auch eine im skeptischen Denken geschulte Aufklärung wussten immer auch um die Sündhaftigkeit des Menschen bzw. die Begrenztheit seiner Vernunft.

Es war keine Laune der Geschichte, dass die anthropologische Wende und die Idee der Menschenrechte im abendländischen Kontext von Judentum, Christentum und Aufklärung entstanden sind. Der Monotheismus des Judentums brachte den Gedanken der Gleichheit in das Recht. Der Erlösungsglaube des Christentums brachte Moral und Individualität und die Vertreter der Aufklärung verliehen ihm seine naturrechtlichen Begründungen. Es hatte kirchlicherseits Vorbehalte gegenüber den Menschenrechten gegeben, was auch eine Reaktion auf die Entgleisungen der Französischen Revolution gewesen war. Aber ohne den jüdisch-christlichen Horizont mit seiner aus der Gottesebenbildlichkeit resultierenden Garantie der Menschenwürde sind die individuell verstandenen Menschenrechte des Westens nicht denkbar.

Die allgemeine Erfahrung, die man mit Menschen macht, bietet allerdings wenig Anlass, von ihrer Würde besonders beeindruckt zu sein. Wenn „Menschenwürde“ nicht ein gedankenloses Schlagwort bleiben soll, so muss man auf die den Europäern allgemein vertraute christliche Begründung zurückgreifen, die zugleich die Begründung allen sittlichen Handelns ist: Du sollst Gott lieben und den anderen wie dich selbst. Aus der Gottesliebe folgt diejenige für alle seine ebenbildlichen Geschöpfe. Allein darin, Gottes ebenbildliches Geschöpf zu sein, liegt jedermanns unantastbare Würde, wie fragwürdig er im Übrigen auch sein mag. In dem Maße, wie diese christliche und dem Europäer geläufige Begründung der Würde des Menschen in Vergessenheit geraten ist, droht der Mensch zum alleinigen Maßstab aller Dinge und damit überfordert zu werden. Seit Augustinus hatte die Theologie die Politik vor der Versuchung gewarnt, in moralischen Absolutismus zu verfallen. Weil das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei, dürfte keine irdische Institution den Anspruch erheben, das Gute zu verkörpern oder endgültige Heilsziele wie den Weltfrieden anstreben.20

Je relativistischer der Westen gegenüber seinen Werten im Innern ist, desto nachdrücklicher scheint er sie über seine Grenzen hinaus verbreiten zu wollen. Der Optimismus von der universellen Geltung westlicher Werte und Strukturen hat zum Chaos im Nahen Osten beigetragen. In Folge dieses Geltungsanspruchs hat sich der Westen überdehnt und damit in seiner eigenen Substanz geschwächt. Islamisten stoßen in ein Machtvakuum vor, welches ohne den ideellen Übermut des Westens, säkulare Diktaturen beseitigen zu helfen, nicht entstanden wäre. Trotz seiner empfindlichen Niederlagen in der islamischen Welt hat der Westen in der Ukraine eine zweite politische Front für die „Unteilbarkeit der Menschenrechte“ eröffnet.

In Sydney 2014 ließ sich Angela Merkel fast zu einem programmatischen Statement verleiten:

„Wenn wir nicht daran glauben, dass unsere Werte so viel wert sind, dass sie sich durchsetzen, brauchen wir auch unsere Sonntagsreden nicht mehr zu halten.“

Die Durchsetzbarkeit der Werte nach Außen wird darüber zum Maßstab ihrer Gültigkeit erklärt. Doch tragischerweise stoßen unsere universell gedachten Werte schon im Nahen Osten und im noch näheren Südost- und Osteuropa an die Grenzen ihrer Universalisierbarkeit.

Die westliche Außenpolitik beruht weniger auf einer Strategie als auf dem allgemeinen und kaum hinterfragten Glauben an die Universalität von Demokratie und Menschenrechten. Die meisten Kulturen definieren sich aber nicht nach einer universalen, sondern nach partikularen Werteordnungen, in denen Rechte und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Mensch und Gott in unterschiedlichen Rangordnungen zueinander stehen. Der westliche Universalismus wird von anderen Werteordnungen als Provokation empfunden und treibt deren Fundamentalismus mit hervor.

Zum Glauben an die Universalität der Menschenrechte gehört der Unglaube an die Partikularität der Kulturen. In der Geschichte lebten die islamische und die westliche Kultur aber allenfalls friedlich nebeneinander, fast nie miteinander. Durch die Globalisierungsprozesse sind die alten Grenzen und Distanzen ins Rutschen geraten. Die häufigste Selbstrechtfertigung von Islamisten lautet, dass der Westen „den Islam“ angreife.

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems schien die Stunde der Demokratie und damit des Westens gekommen. Das nachsowjetische Russland unter Jelzin wurde mit den auch vom Westen geförderten und erzwungenen Demokratisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Russlands Demokratie verkam in kürzester Zeit zur Oligarchie und die Marktwirtschaft zur Mafiawirtschaft. Im gleichen Maße, wie Putin die Dinge zu stabilisieren versuchte, wurde er zum Feind des Westens stilisiert.

Der Westen hielt es für seine moralische Pflicht, seine demokratischen Strukturen und Werte sogar mit militärischen Mitteln zu verbreiten. In Algerien und Vietnam hätte er bereits lernen können, dass Guerillakriege von ihm nicht zu gewinnen sind. Schon der erste „demokratische Frühling“ in Algerien hatte vor 20 Jahren den Krieg zwischen Militär und Islamisten mit ca. 200.000 Toten ausgelöst.

Über demokratische Prozesse konnten sich in den Clankulturen partikulare Interessen und religiös-kulturelle Identitäten ungehemmter entfalten als in diktatorischen Strukturen. Als in den palästinensischen Autonomiegebieten vor allem auf Druck der Geldgeber USA und Europäische Union demokratische Wahlen abgehalten wurden, führte dies zum Wahlsieg der Hamas, danach zum Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah und schließlich zur Spaltung zwischen Westbank und Gazastreifen.

Viele Parteien multiplizieren die Korruption. Während sich vordem nur die Fatah-Cliquen selbst bedienten, wollen nun alle Parteien ihren Anteil. In Clankulturen oder religiös definierten Gemeinschaften stehen nicht Ideen, oft nicht einmal rationale Eigeninteressen, sondern kulturelle Identitäten im Vordergrund. Hier gelten Hierarchie und Gemeinschaft mehr als Gleichheit und Individualismus. Aus der Vermischung westlicher Strukturen mit ethnischen und religiösen Identitäten erwachsen schaurige Hybridsysteme, die keiner erkennbaren Logik mehr folgen.

Was Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit bedeutet, zeigt sich etwa in Mexiko. Solange das Land bis zum Jahr 2000 in der Hand einer Clique war, wurde es nur von dieser ausgebeutet. Das Ende der siebzigjährigen Herrschaft einer Partei und die nachfolgende Demokratisierung hat zur Eskalation der Gewalt beigetragen. An die Stelle einer vom Präsidentenpalast in alle Ecken des Landes ausgehenden Kooperation von Politik und organisiertem Verbrechen trat der Kampf rivalisierender Parteien um Pfründe, Territorien und Schmuggelrouten für Rauschgift, Öl und Migranten.