Der Winter des Bären - Kiran Millwood Hargrave - E-Book
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Der Winter des Bären E-Book

Kiran Millwood Hargrave

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Beschreibung

Seit Jahren ist der Eldbjørn-Wald im Griff eines eisigen Winters, der Frühling ist nur noch eine ferne Erinnerung. Hier lebt Mila mit ihren drei Geschwistern. Sie halten fest zusammen und würden einander nie im Stich lassen. Doch eines Tages ist Milas Bruder Oskar plötzlich verschwunden – und Mila ist ganz sicher, dass er entführt wurde. Die Schwestern machen sich auf die Suche nach ihm, begleitet von ihren zwei treuen Schlittenhunden. Einen Verbündeten finden sie in dem geheimnisvollen Zauberer Rune. Er weiß, wer Oskar entführt hat: der Bärengeist Bjørn, der hoch im Norden auf einer sagenhaften Insel lebt und doch eigentlich den Eldbjørn-Wald schützen sollte. Mit Runes magischen Kräften, die Schnelligkeit verleihen und es sogar möglich machen, unter Wasser zu atmen, macht sich Mila auf in den Norden.

Auf der gefahrvollen Reise ins Reich des Bären erkennt Mila, dass nicht nur das Leben ihres Bruders in Gefahr ist, sondern ihre Familie viel tiefer in die finsteren Pläne des Bären verstrickt ist, als sie ahnte. Ein atemberaubendes Fantasy-Abenteuer über Mut und Freundschaft, Treue und Vertrauen, über die Bande zwischen Geschwistern – und über die Sehnsucht nach dem Frühling.

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Seitenzahl: 234

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kiran Millwood Hargrave

DER WINTER DES BÄREN

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag

Für N. und meinen Bruder John, die Mutigen

Erster Teil

Zuhause

Kapitel 1

Das Haus im Wald von Eldbjørn

Es war ein Winter, über den sie noch lange sprechen sollten. Ein Winter, der so plötzlich und heftig hereinbrach, dass er die Vögel an den Zweigen festfror und die Gischt der Flüsse mitten in der Luft gefrieren ließ, sodass sie wie Wolken aus Kristall auf das erstarrte Wasser herabfiel. Ein Winter, der kam und nie wieder ging.

Drei Jahre vergingen, dann fünf. Die Menschen sprachen von einem Fluch und versuchten es mit Gebeten und Versprechungen. Sie gaben bösen Zauberern die Schuld, ihren Nachbarn oder den Jarlen, die über ihre Dörfer und Städte herrschten. Doch all das nützte nichts, und bald konnte sich niemand mehr daran erinnern, wie sich Wärme anfühlte, außer am Feuer, oder wie Grün aussah, außer dem dunklen Ton der Tannen.

Kutschen wurden gegen Schlitten getauscht, prächtige Pferde verloren an Wert und wurden gegen robuste Bergponys oder winselnde junge Huskys oder andere Tiere, die mit dem Schnee vertraut waren, getauscht. Bären fielen in ewigen Winterschlaf, und Wölfe schlichen durch die Schatten des tiefen Waldes. Einige verließen ihr gefrorenes Land, doch die meisten blieben und passten sich, wie Menschen es nun mal tun, an ihre veränderte Umgebung an.

Sie veränderten auch ihre Geschichten. Vorbei war die Zeit der Süße und Fülle, und die Geschichten wurden zu Warnungen, schmerzhaft wie Bienenstiche. Aus den Feuergänsen, die im Sommer die Sonne auf ihrem Rücken trugen, wurden Eisschwäne, die nach unbedeckten Fingern und Zehen schnappten und sie einfach abbissen. Aus den Flussnymphen wurden Eisjungfern, die am Boden gefrorener Seen lauerten und unachtsame Kinder hinunterzogen. Wehmütige Stimmen sprachen von verzauberten Inseln, wo der Frühling wartete, von goldenen Wasserfällen, die in Seen aus Sonnenlicht strömten, doch diese Orte waren stets unerreichbar, jenseits des frostigen Horizonts.

Im fünften Jahr des Winters, der die Flussstädte im Süden und die Bergstädte im Norden fest in seinem eisigen Griff hatte, wob sich eine ganz neue Art von Kälte eng wie ein Käfig um die Familien, die in den entlegensten Gebieten des Landes lebten. Und in einem kleinen Haus, das sich tief verschneit an den Waldrand duckte, stritten sich drei Schwestern und ihr Bruder um einen Kohlkopf.

»Bitte nicht wieder kochen, Sanna«, flehte Pípa, die Jüngste. Sie saß zitternd da, die Hände auf ihre kalten Ohren gedrückt, und betrachtete mit unglücklicher Miene das schrumpelige, zähe Gemüse. »Wir haben schon die ganze Woche nichts als gekochten Kohl gegessen.«

»Ich lasse mir doch nicht von einem Kind, das noch nicht mal alt genug für seinen richtigen Namen ist, vorschreiben, was ich zu tun habe«, erwiderte die siebzehnjährige Sanna schroff, als wäre sie ein abergläubisches altes Weib, denn Pípa war sieben, und erst in einem Jahr, wenn sie sicher sein konnten, dass der böse Blick sie nicht mehr traf, würde sie ihren richtigen Namen bekommen. »Außerdem ist er so am nahrhaftesten.«

Sie stand mit dem Messer in der Hand da und suchte nach der besten Stelle, um den besonders harten und kümmerlichen Kohlkopf aufzuschneiden.

»Wir haben noch Schmalz«, sagte Mila hoffnungsvoll, um nicht so quengelig zu klingen wie ihre kleine Schwester. »Wir könnten ihn doch braten.«

»Und das kostbare Schmalz dafür verschwenden?«, warf Oskar ein, der am weitesten vom Feuer entfernt saß. »Der Kohl wird gekocht. Reiß dich zusammen, Pípa. Ich habe genug von deinem Gemaule.«

»Lass sie, Oskar.« Mila legte den Arm um Pípa und musterte ihren großen Bruder mit gerunzelter Stirn. Er hatte sich sehr verändert, seit Papa fortgegangen war. Er wurde ihnen immer fremder und sprach nur noch, um Sanna, der ältesten Schwester, für das Essen zu danken, das sie ihm jeden Morgen hinstellte, bevor er in den tiefen Schnee hinausging, um seine Fallen zu überprüfen. Oder um eine seiner jüngeren Schwestern zurechtzuweisen.

Mila nahm Pípas steife Finger und wärmte sie mit ihrem warmen Atem. »Komm, Píp, lassen wir Sanna in Ruhe – sie kennt sich am besten mit dem Kohl aus.«

»Allerdings!«, sagte Sanna, die den schwächsten Punkt des Kohlkopfes gefunden hatte und das Messer mit einem befriedigenden Tschack hineinstieß. »Der hier wird gekocht.«

Draußen begann einer der Hunde zu bellen. Mila hörte, dass es Dusha war – ihre Stimme war höher als die ihres Bruders und ein bisschen quengelig, wie die von Pípa. Kurz darauf fiel Danya mit einem schrillen Jaulen ein.

»Diese Hunde!«, stöhnte Sanna. »Oskar – «

Doch Mila war bereits aufgestanden und griff nach ihren pelzbesetzten Stiefeln, die am Feuer standen. »Ich gehe schon.«

Sie schlüpfte in ihren rostfarbenen Umhang und setzte sich die Mütze aus Fuchspelz auf das braune Haar, doch bevor sie die Tür öffnen konnte, klopfte jemand zweimal und dann noch zweimal, in einem munteren Rhythmus, der ihnen im Lauf der vergangenen Monate vertraut geworden war.

»Warte!«, rief Sanna, doch Mila schob mit boshaftem Grinsen den Riegel zurück. Sie hörte, wie ihre Schwester fluchte und hektisch mit den Töpfen klapperte, auf der Suche nach dem aus Kupfer, den sie manchmal als Spiegel benutzten.

Draußen im Hof war ein Bergpony an den Pfosten gebunden, und vor der Tür stand ein Junge. Er war so alt wie Sanna und so groß wie Oskar, mit einem runden, einnehmenden Gesicht und blondem Haar – im Gegensatz zu den Oreksons, die alle dunkelhaarig waren. Er wurde rot, als er Milas spöttisches Lächeln sah.

»Schon wieder hier, Geir?«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass wir diese Woche Messer zum Schleifen geschickt haben.«

»Nur eins«, erwiderte Geir, während Sanna von hinten herbeigeeilt kam. Mila blickte unter der Pelzmütze zu ihrer großen Schwester auf und zog die Augenbrauen hoch. Sanna hatte ihr Haar gelöst und sich in die Wangen gekniffen, damit sie rosig strahlten. Sie hatte sich sogar auf die Lippen gebissen, um sie röter wirken zu lassen, und jetzt leuchtete ein Blutstropfen auf ihrer Unterlippe.

»Hallo, Geir.« Sannas Stimme klang merkwürdig heiser, als wäre sie erkältet.

»Hallo, Sanna«, kiekste Geir.

Mila schnaubte nur, ging wieder hinein und schloss die Tür, damit die Wärme nicht entwich. Das peinliche Gestotter, das ihre Schwester und der Messerschleifer aus Stavgar von sich gaben, wenn sie voreinander standen, war kaum mit anzuhören.

In der Küche war Oskar dabei, Sannas Kohl mit seinem Jagdmesser zu zerteilen. Der Griff war kunstvoll geschnitzt, sodass es aussah, als schlängelten sich Wurzeln darüber, und es hatte eine kräftige Klinge, die eher für Seil und Holz gedacht war als zum Gemüseschneiden. »Geir schon wieder?«

»Ja.« Mila nahm die Mütze ab und verdrehte die Augen.

»Haben sie sich geküsst?«, fragte Pípa kichernd.

»Pípa!«, sagte Oskar barsch. »Sei nicht albern.« Dann warf er Mila einen scharfen Blick zu. »Sie haben sich doch nicht geküsst, oder?« Seine Hand fasste den Messergriff fester.

Mila überlegte, ob sie ihn aufziehen sollte, doch ihr Magen knurrte. Sie hatte nicht die Energie dafür. »Natürlich nicht. Er bringt uns nur ein Messer zurück.«

»Noch eins?«

»Hmm.« Sie ließ sich auf die Bank am Feuer fallen und sah zu, wie der Dampf vom Topf aufstieg, in dem bald dieselbe dünne, fade Kohlsuppe köcheln würde, die sie nun schon seit Wochen aßen.

Mila hörte, wie das Messer durch den Kohl schnitt, und versuchte, Sannas und Geirs Gemurmel zu verstehen. Sannas glockenhelles Lachen erklang, dann fiel die Haustür mit einem Knall ins Schloss, sodass die Küchentür aufgeweht wurde und der Wind mit kalten Fingern über Milas Wangen strich. Sanna kam mit einem entrückten Lächeln hereingeschwebt, den Blick auf etwas in ihrer Hand gerichtet.

»Was hast du da?«, fragte Pípa.

»Nichts«, antwortete Sanna hastig und befestigte das schimmernde Etwas an ihrem Umhang. »Ein Geschenk.« Es war eine Brosche aus fein geschnitztem, hellem Elchhorn mit lauter kleinen Wirbeln, die an ein schäumendes Meer erinnerten. Sie war sehr hübsch.

»Und was hast du ihm dafür gegeben?«, fragte Mila.

Auf den Wangen ihrer Schwester leuchteten zwei rote Flecken auf. »Nichts«, sagte sie erneut und drohte Mila scherzhaft mit dem frisch geschärften Messer. »Wer jemandem ein Geschenk gibt, sollte nicht erwarten, etwas dafür zurückzubekommen.«

»Das war schon das vierte Mal diese Woche, dass er hergekommen ist«, sagte Oskar.

»Hmm«, machte Sanna nur.

»Es ist weit nach Stavgar, er wird im Dunkeln zurückreiten müssen.«

»Hmm.«

»Vielleicht solltest du ihn nächstes Mal einladen, mit uns zu Abend zu essen?«

Mila sah, wie ihre beiden älteren Geschwister einen Blick wechselten, dessen Bedeutung sie nicht verstand.

»Ja«, sagte Sanna. »Vielleicht.« Sie schluckte, dann fragte sie mit energischer Stimme, die anzeigte, dass das Thema damit beendet war: »Hast du den Kohl jetzt genug zerfleddert?«

Der trübe Tag sank in den dunklen Schoß der Dämmerung, das kleine Haus füllte sich mit dem Geruch von Kohlsuppe, und bald war das Abendessen fertig. Gerade als Sanna Pípas kleine Holzschale füllen wollte, begann Dusha erneut zu bellen, gefolgt von ihrem Bruder.

»Das kann doch nicht schon wieder Geir sein, oder?«, fragte Oskar, und Sanna schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich nur irgendein Geräusch. Ich schaue mal nach ihnen«, sagte Mila, die trotz ihres Hungers nicht versessen auf die Suppe war. Wieder schlüpfte sie in ihren Umhang, setzte die Mütze auf, öffnete die Tür einen Spalt und trat hinaus in den Schnee, der in dem eigentümlichen Licht silbergrau schimmerte.

»Komme schon, Dush-Dush! Komme schon, Danya!«

Den Kopf gegen den schneidenden Wind gesenkt, zog sie die Tür hinter sich zu und stapfte durch die Schneewehen Richtung Hundeschuppen, die Hände unter die Achselhöhlen geklemmt, um sie zu wärmen. Doch sie war noch nicht weit gekommen, als sie gegen etwas stieß.

»Javoyt!« Mila taumelte zurück, trat auf den Saum ihres Umhangs und wäre beinahe hingefallen. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, blickte sie auf. Ihr Herz pochte fast so laut wie der Wind. Jetzt wusste sie, warum die Hunde bellten.

Kapitel 2

Der Fremde

»Ein kleines Mädchen, das flucht wie ein Mann«, sagte eine Stimme, tief und kraftvoll wie Danyas Bellen, das lauter wurde. »Wie heißt du?«

Mila zog ihren Schal über Mund und Nase und schluckte, als ihr ein schrecklicher, tierischer Geruch entgegenschlug, bitter wie vermodertes Laub. Vor ihr stand ein Pferd, so groß und breit wie eine Scheune – so kam es ihr zumindest vor –, und obendrauf saß ein mit Pelzen bekleideter Mann, der fast genauso groß wirkte wie das Pferd. An seiner Hüfte hing eine Holzfälleraxt, wie ihr Vater sie getragen hatte, und über den dunklen Bartstoppeln funkelten seine Augen golden und wild.

Hinter ihm saß ein Dutzend kleinerer Gestalten auf Ponys, mit Umhang und Kapuze und Fackeln in der Hand. Eine von ihnen trug eine bestickte Standarte, die einen Bären unter einem Baum zeigte. An den Wurzeln glitzerten Goldfäden im Fackelschein.

Der ganze Trupp strahlte dampfende Hitze aus, und die Ponys schnaubten und stampften, aufgeschreckt durch die Hunde, die sich gegen den Zaun warfen. Der Mann hob die Hand, und sofort verstummten die Hunde und sanken zu Boden wie Segel ohne Wind.

»Nein!« Mila zerrte ihre Füße aus dem Schnee, wo sie festgefroren schienen. »Dush! Dan–«

Doch die Hunde lagen nur still da, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und blickten mit großen Augen hoch. Selbst die Bäume hinter ihnen schienen stillzustehen.

Vorsichtig drehte Mila sich wieder zu dem Trupp um. Sie musterte den Reiter neben dem großen Mann. Sein Kinn war glatt, als wäre er ein Junge in Oskars Alter. Vielleicht war er der Sohn des Mannes? Sie betrachtete das nächste Gesicht und dann eines nach dem anderen. Alle Reiter waren Jungen, manche von ihnen kaum älter als sie. So viele Söhne konnte er doch nicht haben, oder?

Ihre Stimme steckte in ihrer Kehle fest und flatterte wie ein gefangener Vogel. Der Mann schwang sich vom Pferd und landete im Schnee. Nein, das stimmte nicht ganz …

Mila starrte auf die Füße des Mannes. Er trug edle schwarze Lederstiefel, die keinerlei Spuren einer langen Reise aufwiesen, aber das war nicht der Grund für ihr Starren.

Der Mann war nicht im Schnee gelandet, sondern obenauf. Er war nicht in die weiche weiße Schicht eingesunken, während ihr der Schnee von oben in die Stiefel rieselte und den Ponys bis über die Sprunggelenke reichte.

Mila hob den Blick und merkte, dass er sie mit seinen lodernden Augen direkt ansah. Als sie wieder hinunterschaute, stand er bis zu den Waden im Schnee. Und jetzt waren die Schäfte seiner Stiefel mit einer goldenen Schnur umwickelt, wie die Baumwurzeln auf der Standarte.

Mila stutzte, und der Mann lächelte. Seine Zähne waren lang und dunkel wie verkohltes Holz. Sie schluckte, als ihr eine Woge von Bitterkeit in die Kehle stieg.

»Winterwohlbereit«, sagte der Mann und hielt inne, damit sie den Gruß erwidern konnte, was sie jedoch nicht tat. »Willst du uns nicht willkommen heißen?«

»Ich …« Mila räusperte sich und begann erneut. »Ich kenne Euch doch gar nicht.«

Der Mann stieß ein raues Lachen aus. »Und ich kenne dich nicht, Kind. Aber dort, wo ich herkomme, heißen wir müde Reisende stets willkommen.«

»Mila?«

Sie fuhr herum. Sie hatte nicht gehört, dass die Tür aufgegangen war, aber jetzt kam Oskar aus dem Haus, ohne Umhang oder Pelz und mit ungeschnürten Stiefeln. Hinter ihm sah Mila die Gesichter ihrer Schwestern durch das eisüberzogene Fenster schimmern wie Zwillingsmonde.

»Mila heißt du also«, murmelte der Mann. Sie spürte ein Stechen in den Schläfen, als würde sie Kopfschmerzen bekommen. Sie wünschte, Oskar hätte ihren Namen nicht gesagt.

Ihr Bruder näherte sich vorsichtig, als ginge es um einen streunenden Wolf, und stellte sich zwischen Mila und den Mann. Er schob sie leicht von sich weg, und sie begriff, dass sie ins Haus zurückgehen sollte, aber sie wollte ihn nicht mit den Fremden allein lassen. Mit seiner schmalen Gestalt und dem unbedeckten Kopf wirkte er gegenüber dem massigen Mann wie ein Schössling vor einer alten Eiche.

»Wer seid Ihr?«, fragte Oskar mit durchgedrücktem Rücken und lauter, als es nötig gewesen wäre. Mila fiel auf, dass der Wind sich gelegt hatte, aber während die Bäume geradezu unnatürlich still dastanden, wehte Oskar sein dunkles Haar um die Ohren.

»Ich möchte mit dem Herrn des Hauses sprechen«, sagte der Mann und blickte mit seinen goldenen Augen über Oskars Kopf hinweg.

»Das bin ich«, sagte Oskar.

»Wirklich? Wo ist denn dein Vater?«

Mila schnürte sich die Kehle zusammen, und sie hörte dieselbe Enge in Oskars Stimme, als er antwortete: »Fort.«

»Wie alt bist du?

»Fünfzehn Winter.«

»Und wie heißt du?«

»Oskar.«

»Oskar«, wiederholte der Mann, und ein grausames Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Winterwohlbereit, Oskar. Wie ich Mila« – das Stechen in ihren Schläfen verstärkte sich – »gerade sagen wollte, kommen wir aus dem Süden. Wir haben dort Handel getrieben.«

»Womit denn?«

»Mit Schätzen.« Grinsend schnippte der Mann mit den Fingern. Seine Gefährten lüpften ihren Umhang, sodass die goldene Schnur um ihre Stiefel zum Vorschein kam. Mila hatte noch nie Gold gesehen, das auf diese Weise zu dünnen, elastischen Fäden verwoben worden war. Aber das Ergebnis war nicht unbedingt schön. Es sah knotig und rau aus, wie die Wurzeln, die in Oskars Messergriff geschnitzt waren. Hässlich und dennoch edel, wie der Fremde.

Als Oskar neugierig einen Schritt näher trat, ließen die Jungen wie in einer einzigen Bewegung ihren Umhang wieder sinken.

»Wohin bringt Ihr solche Reichtümer?«

»Nach Norden«, sagte der Mann, und sein Gesichtsausdruck verriet Mila, dass Oskar nicht mehr aus ihm herausbekommen würde, aber sie wusste, dass es im Norden nicht viel gab: nur die Bergstadt Bovnik und das Nordmeer mit seinen Geschichten von magischen Inseln, auf denen der Frühling noch lebte.

»Und was wollt Ihr in Bovnik?«, fragte Oskar.

»Das geht dich nichts an«, erwiderte der Mann barsch. »Wir hoffen, ihr gebt uns etwas zu essen und die Erlaubnis, Feuer zu machen und die Nacht hier zu verbringen.«

Nach kurzem Zögern sagte Oskar: »Ich fürchte, das wird nicht gehen.«

Der Mann trat einen Schritt vor, und Milas Herz schwoll vor Stolz, als Oskar kaum mit der Wimper zuckte.

»Was hast du gesagt, Junge?«

»Der Winter ist in letzter Zeit härter geworden«, sagte Oskar. »Und der Wald gibt immer weniger Nahrung – «

»Das haben wir auch gemerkt, als wir hindurchgeritten sind«, erwiderte der Mann barsch. »Aber vielleicht hat der Wald auch einfach genug gegeben.«

Oskar schluckte. »Wir haben selbst kaum genug zu essen. Ich kann meine Familie nicht in Gefahr bringen.«

»Ah. Ihr seid also noch mehr?«

Eine ungute Vorahnung durchzuckte Milas Brust. Antworte ihm nicht, flehte sie stumm. Der Mann blickte kurz zu ihr, als hätte er ihre Gedanken gehört. Doch Oskar, der offenbar dachte, der Mann ließe sich erweichen, sprach weiter.

»Ja. Sanna, Pípa und Mila. Ich habe drei Schwestern.«

»Drei? Was für ein Fluch.« Die anderen lachten, und Mila ärgerte sich, als Oskar halbherzig einfiel. »Aber was für hübsche Namen.«

Oskars Lachen erstarb, und er sah besorgt aus. »Ihr versteht also, dass ich nicht riskieren kann, unsere letzten Vorräte wegzugeben.«

»Ja, das verstehe ich«, erwiderte der Mann, auf einmal ganz liebenswürdig. »Aber du wirst uns doch nicht einen Platz zum Schlafen verwehren und ein wenig trockenes Moos, um Feuer zu machen?«

»Natürlich nicht«, sagte Oskar. »Ich bringe Euch gleich das Moos.« Er ließ die Schultern sinken und drehte sich zu ihr um. »Komm, Mila.«

»Gute Nacht, Mila«, rief der Mann.

Wieder durchzuckte ein Schmerz ihre Schläfen, dann trat sie ins Haus und Oskar schloss die Tür hinter ihnen. Mila stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und ein Schauer überlief sie. Sie würde nicht gut schlafen, solange dieses Bedrohliche so nah war.

»Was ist passiert?«, fragte Pípa neugierig. Oskar zitterte, und Sanna kniete sich hin, um ihm die Stiefel auszuziehen. »Wer war das?«

Doch Oskar winkte Sanna weg, zog Mila zu sich, strich ihr über die Schultern und umarmte sie dann ganz fest. »Ist alles in Ordnung, Milenka?«

Mila schmiegte sich an ihren großen Bruder. Es war ewig her, seit er sie so genannt oder eine von ihnen in den Arm genommen hatte. Seit Papa vor fünf Winterjahren im Schnee verschwunden war, war Oskar so schnell erwachsen geworden, dass er die Liebe zu ihnen hinter sich zurückgelassen zu haben schien, genau wie Papa.

»Ja«, murmelte sie.

Oskar drückte sie noch einmal an sich, dann ließ er sie los. »Gut. Ihr sprecht kein Wort mit ihnen, hört ihr? Ich bringe ihnen ein wenig Moos, und dann bleiben wir hier drinnen, bis sie fort sind. Keine von euch verlässt das Haus, bis ich es euch sage, verstanden?«

Selbst Sanna, die es hasste, wenn ihr jüngerer Bruder ihr Vorschriften machte, nickte. Mila wandte den Kopf zum vereisten Fenster und meinte, einen Schatten zurückweichen zu sehen. Der Mann hatte ihnen nicht seinen Namen genannt. Aber er kannte den ihres Bruders und ihrer Schwestern. Und ihren.

Kapitel 3

Ein Gesicht am Eisfenster

Viele Stunden später weckte etwas Mila auf, riss sie keuchend aus tiefem Schlaf. Reglos lag sie da, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, und lauschte auf die Geräusche ihrer schlafenden Geschwister. Das war etwas, das ihr an dem endlosen Winter gefiel: Um nicht zu frieren, schliefen sie alle zusammen auf Strohmatten neben dem Feuer in der Küche. Sanna, die zwölf gewesen war, als der Winter begann, erzählte wehmütig davon, dass sie früher im Sommer ein Zimmer für sich allein gehabt hatte, mit hauchdünnen Baumwollvorhängen, doch jetzt war die Tür zu den Sommerzimmern mit ihren dünneren Wänden und größeren Fenstern vernagelt. Außerdem konnte Mila sich gar nicht vorstellen, allein zu schlafen.

Dicht neben ihrem Ohr hörte sie Pípas leises Schnaufen, von der anderen Seite ertönten Sannas tiefe, seufzende Atemzüge, und ihr langes, rabenschwarzes Haar breitete sich wie immer bis auf Milas Strohkissen aus. Aber Oskars flacher Atem auf der anderen Seite ihrer großen Schwester fehlte.

Vorsichtig setzte Mila sich auf, und die schweren Felle glitten zur Seite. Sofort war ihr kalt, obwohl sie fest in ihr neues Winterhemd eingenäht war, das Sanna erst letzte Woche mit neuem Moos ausgestopft hatte. Selbst so nah am Feuer bildete ihr Atem kleine Wölkchen, wie der Feuerstoß eines Drachen aus einer von Papas Geschichten.

Papa. Zum ersten Mal seit Monaten sagte sie leise dieses Wort. Bei ihnen herrschte eine Art unausgesprochenes Gesetz, dass sie nicht über ihn sprachen, obwohl er überall im Haus gegenwärtig war, von seinen Hosen, in die Oskar seit kurzem hineingewachsen war, bis zu seinen Holzfälleräxten mit den blank gewetzten Griffen, die neben dem Feuer lagen.

Doch dadurch, dass der Fremde nach ihm gefragt hatte, waren die Erinnerungen mit Macht zurückgekommen. Sie erinnerte sich an so vieles, dass es schmerzte. Er hatte nach Harz und Holzrauch gerochen. Seine Augen waren eisblau gewesen, wie die von Sanna. Er hatte ein wildes Lachen und ein noch wilderes Herz gehabt, aber es war auch voller Wärme gewesen. Nicht mal ihr Papa war so wild gewesen wie der Mann da draußen.

Sie fühlte sich verloren, wie eine Hand, die immer gehalten und dann plötzlich losgelassen worden war, und zum ersten Mal seit langer Zeit wollte sie etwas tun, um ihn näherzubringen, anstatt ihn von sich wegzuschieben. Vielleicht könnten sie morgen, wenn der Fremde mit seinen Jungen weitergezogen war, zum Herzbaum gehen, sich dort hinsetzen und Geschichten erzählen, so wie früher.

Sie dachte an den Bären, der auf der Standarte des Mannes zu sehen war. Papa hatte ihnen Geschichten von Bjørn erzählt, dem Bärengeist, der die Bäume beschützt, und von Eld, dem einsamen Bären, der sich in die Sonne verliebt hatte. Traurige, schöne Geschichten, die nichts mit dem Fremden zu tun hatten.

Mila blickte zu dem dunklen Eisfenster und hätte um ein Haar laut aufgeschrien. Da war ein Gesicht, riesig und verzerrt durch den Feuerschein, der es wie eine groteske Maske aussehen ließ. Im flackernden Licht funkelten goldene Augen. Und vor dem Fenster stand –

»Oskar?«, flüsterte Mila.

Das Gesicht des Fremden verschwand, und Oskar drehte sich um. Mila schlüpfte aus dem Bett und ging zu ihm. Ihre nackten Füße schmerzten vor Kälte, als sie dort, wo der Binsenbelag dünngetreten war, den Boden berührten. Ihre Umarmung schien Ewigkeiten her zu sein; jetzt wirkte er unerreichbar. Sein Gesicht war ganz bleich, die Augen groß und glasig.

»Was machst du da, Oskar?«

»Ich habe die Fremden beobachtet.« Seine Stimme klang hart.

»Und was tun sie?«

»Nichts.«

Mila reckte den Hals, um an ihm vorbeizuschauen. »Du hast mit ihm geredet.«

»Nein, habe ich nicht.« Oskar stellte sich so hin, dass sie nicht hinaussehen konnte. Auf seiner Oberlippe schimmerte Schweiß. Er sah aus, als hätte er Fieber.

»Möchtest du etwas heiße Brühe? Soll ich Sanna wecken?«

»Nein«, zischte er wütend. »Leg dich wieder hin.«

Doch Mila blieb, wo sie war, und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Was geht hier vor?«

Ein Schatten huschte über das Gesicht ihres Bruders wie ein Aal über den Grund eines Sees. Er wirkte mit einem Mal älter. Als wäre er … nicht er selbst.

Mila hob die Hand, um ihrem Bruder über die Wange zu streichen, doch er packte grob ihr Handgelenk, und seine Finger waren eisig. Sie schnappte erschrocken nach Luft, und es tat so weh, dass ihr die Tränen in den Augen brannten. Er beugte sich vor. »Geh wieder ins Bett, Mila.«

Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Schläfen, als er sie losließ. Mit wild pochendem Herzen lief Mila zurück zum Bett und schlüpfte zwischen ihre Schwestern. Eine kleine Hand tastete nach ihrer, und sie begriff, dass Pípa auch wach war.

»Ist etwas mit Oskar?«, flüsterte Pípa.

Mila legte nur den Zeigefinger auf die Lippen. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder – oder der Fremde – sie hörte.

Kapitel 4

Fort

»Steh auf!«

Jemand zog Mila grob die Felle weg. Sie schrie auf und hob die Fäuste, um sich zu verteidigen, doch es war nur Sanna.

»Los, Mila, steh auf.« Von draußen schien das blassgraue Licht des Morgens herein, und ihre ältere Schwester trug bereits ihr Arbeitskleid, mit Geirs Brosche über dem Herzen, und hatte das schwarze Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ihre wütende Miene verhieß nichts Gutes.

»Was ist los?«, fragte Pípa verschlafen, die Hand noch um Milas Finger geschlungen.

»Die Männer sind fort«, sagte Sanna schneidend.

»Das ist doch gut.« Mila fror und versuchte, die Felle wieder über sich zu ziehen.

Sanna stieß ein bitteres Lachen aus. »Mit unserem Bruder.«

Angst bohrte sich wie ein Eiszapfen in Milas Brust.

»Oskar ist weg?«, fragte Pípa erschrocken.

Mila rieb sich die Augen, um wach zu werden. »Vielleicht ist er ihnen bis zur Grenze von Stavgar gefolgt, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich fort sind? Oder vielleicht ist er beim Herzbaum?«

Sanna warf ihr einen scharfen Blick zu. »Warum sollte er dorthin gehen?«

»Der Mann«, begann Mila zögernd. »Gestern hat er gefragt, wo unser Vater ist, und … da musste ich an Papa denken. Vielleicht war es bei Oskar genauso, und deshalb wollte er zu dem Baum.«

»Aber Oskar hat uns doch verboten, dorthin zu gehen«, wandte Pípa ein.

»Du weißt doch, dass er nie auf jemanden hört, nicht mal auf sich selbst«, sagte Mila. »Oder vielleicht ist er schon los, um nach den Fallen zu sehen?«

Sanna verdrehte die Augen. Der Eiszapfen in Milas Brust begann ein wenig zu schmelzen, und die Tropfen verwandelten sich in Gereiztheit. Warum war Sanna wütend und nicht besorgt?

»Wir können ja mal nachsehen«, schlug Mila vor und lief fröstelnd zum Feuer, wo ihr Überkleid hing. Sie zog es über den Kopf, wickelte den Gürtel dreimal um ihre Taille, knotete ihn zu und schlüpfte in ihre wollenen Beinlinge. Sie waren warm und rochen nach Rauch. Dann atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich nehme Dusha und den Schlitten – «

Wieder stieß Sanna ein merkwürdiges, abgehacktes Lachen aus. »Was ist denn so komisch?«, fuhr Mila sie an.

»Gar nichts«, sagte Sanna. Sie sieht sehr schön aus, dachte Mila trotz ihres Ärgers, und sehr unnahbar. »Aber wir hätten es kommen sehen müssen.«

»Was denn?«, fragte Pípa, doch Sanna antwortete nicht, sondern drehte sich um und nahm den Schneeeimer vom Haken neben dem Feuer.

»Ich hole frischen Schnee. Legt neue Binsen aus – hier schaut überall schon der Boden durch.«

»Was hätten wir kommen sehen müssen?«, fragte Pípa erneut, doch Mila schüttelte nur den Kopf. Sie dachte daran, wie sie in der Nacht mit bloßen Füßen über den eisigen Lehmboden gelaufen war, und an ihr merkwürdiges Gespräch mit Oskar.

»Ich habe letzte Nacht etwas gesehen«, sagte sie. »Oskar stand am Fenster, und ich glaube, er hat mit jemandem da draußen gesprochen.«

Sanna erstarrte, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Mila nicht deuten konnte. »Das Eis ist zentimeterdick. Da versteht man doch nichts.«

»Na, dann hat er eben jemanden angesehen. Und dieser Jemand hat ihn angesehen.«

Sanna wandte sich rasch ab, aber Mila war, als hätte sie plötzlich Tränen in ihren Augen gehabt. »Geh und hol neue Binsen.«

»Soll ich nicht nach ihm suchen? Er sah so seltsam aus, als ob – «

»Bestimmt hast du das nur geträumt«, unterbrach ihre Schwester sie barsch. »Tu, was ich dir sage.«

Sie band sich ihren Schal um den Kopf und ging aus der Küche. Einen Augenblick später hörten sie den Wind heulen, und ein Schwall kalter Winterluft ließ das Feuer aufflackern, als Sanna das Haus verließ.

Mila wusste, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen. Sie öffnete die Tür zum Vorratsraum und griff nach den Binsen, die zum Trocknen an einem Haken hingen. Als ihre Ärmel zurückrutschten, bemerkte sie einen Bluterguss rund um ihr Handgelenk, blau und violett wie eine Gewitterwolke. Das war kein Traum, dachte sie. Sie hörte ein Rascheln, und als sie sich umdrehte, stand Pípa da, noch in ihrem Nachthemd und mit Pelzpuschen an den Füßen.

»Komm, Píp. Zieh dich an, und dann kannst du mir helfen, die Binsen zu verteilen.«

Gerade als sie den Vorratsraum verließen, kam Sanna mit dem frischen Schnee herein und wischte sich hastig über die Augen.

»Warum weinst du?«, fragte Pípa.

»Tue ich ja gar nicht«, gab Sanna gereizt zurück und knallte die Tür zu. Ihre blassen Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihre Augen glitzerten feucht. »Starr mich nicht so an, Pípa.«

»Waren da draußen Spuren?«, fragte Mila. »Hast du gesehen, in welche Richtung – «

Doch Sanna schüttelte den Kopf. »Nur die eines Tieres«, erwiderte sie knapp. »Sonst ist alles glatt. Als wären sie nie hier gewesen.«