Leila und der blaue Fuchs - Kiran Millwood Hargrave - E-Book

Leila und der blaue Fuchs E-Book

Kiran Millwood Hargrave

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Beschreibung

Über Grenzen hinweg Polarfuchs Miso läuft durch eine Welt, die wild, weit und wundersam ist. Leila und ihre Mutter folgen Miso auf dem abenteuerlichen Weg durch das endlose Eis der Arktis. Schon bald begegnen sich Leila und der Polarfuchs – und geraten dadurch beide in höchste Gefahr … Eine berührende Geschichte über die Wildnis und die Grenzen unserer Welt Eine außergewöhnliche Geschichte mit All-Age-Charakter der preisgekrönten AutorinKiran Millwood Hargrave. Einfühlsam wird das Thema Migration aus der Sicht eines Kindes dargestellt. Verknüpft mit den Themen Tiere, Umwelt, Familie, Natur und Freundschaft wird dieses Abenteuer kindgerecht und warmherzig für Leser*innen ab 11 Jahren erzählt. Die atemberaubenden Illustrationen mit blauer Schmuckfarbe von Tom de Freston machen das Buch zu einem Highlight mit Klassikerpotenzial und zeigen, wie viele Geheimnisse das unendliche Eis und die Tiefe des Ozeans bergen. Ein wahres Kunstwerk! Für Fans von Wunder und Rico, Oskar und die Tieferschatten. Dieser Titel ist bei Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 201

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Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Voller Bewunderung für unsere Designerin Alison Padley,
die »Dritte im Bunde«, die unsere Welt auf Papier bringt –
K & T
Für alle Kinder, die gezwungen sind, ihre Heimat zu
verlassen und eine neue zu finden. Wir hoffen, dass man
euch willkommen heißt und dass ihr euch geliebt fühlt.
Und für unsere Nichten und Neffen, die geliebt werden:
Tilly, Fred, Leo, Emily, Pippa, Isla,
Ted, Albie and Lily.
Nach der wahren Geschichte
von Anna, der Polarfüchsin,
die einen Kontinent überquerte.
Wir ALLE sind über Grenzen hinweg miteinander verbunden …
trotz der Mauern, die ihr errichtet.
Denn wisst ihr: Geschichten sind Superhelden.
Sie können durch eure Mauern gehen.
Elif Shafak, Schriftstellerin
Die Inuit nennen sie Tiriganiarjuk, die kleine Weiße, obwohl ihr
Fell von einem dunklen Graublau ist wie das dickste Eis und wie
die Felsen, zwischen denen sie nach Nahrung sucht. Die Wissen-
schaftler, die ihrer Reise folgen, nennen sie Miso, weil es ein hüb-
scher, aber scharf klingender Name ist. Und weil sie fi nden, dass
Miso ein hübsches, aber scharfes Gesicht hat. Wir nennen sie
Fuchs, weil das unser Wort in unserer Sprache ist. Aber sie ist
nicht nur ein Fuchs oder Tiriganiarjuk oder Miso.
Dick bepelzte Pfoten, um über das kälteste Land zu laufen.
Zuckende Ohren, die auf die Bewegungen der Dorsche in den
Tunneln unter Schnee und Eis lauschen. Balance, mit der sie die
steilsten Klippen hinaufklettert und nach Eiern und Nestlingen
stöbert. Kläffen und Bellen, Zähne, ein Bauch mit nagendem
Hunger darin. Bedürfnisse, für die sie keine Namen hat und
denen sie wie ein Magnet nach Norden folgt. Sie ist all das und
mehr. Und sie ist nur sie selbst.
7
Eins
Schau ihnen in die Augen, aber nicht starren und nicht zu viel
blinzeln. Lächle, aber nicht mit dem Mund, sondern mit den Au-
gen. Aber die Augen nicht zusammenkneifen.
In Gedanken wiederholt Leila Monas Anweisungen, die sie so
oft zu hören bekommen hat. Der Rhythmus dieser Worte ihrer
älteren Cousine hat sich ihr wie ein Ohrwurm eingeprägt, samt
der leichten Panik in der Stimme, die sie sich nicht anmerken
lassen wollte. Aber das Gesicht im Spiegel gehorcht Leila ein-
fach nicht. Sie sieht erschöpft aus, und die Frau am Waschbecken
neben ihr fängt an zu starren und seift ihre Hände länger als
nötig ein.
Der Geruch der Seife im Waschraum des Flughafens ist zu süß
und vermischt sich mit dem Gestank nach Desinfektionsmittel,
der Leila den Magen umdreht. Sie hätte die Banane essen sollen,
die Mona ihr mitgegeben hatte. Ihr Rucksack ist schwer, und
etwas Hartes drückt gegen ihren unteren Rücken.
8
Nachdem der Sicherheitsbeamte den Rucksack durchsucht
hatte, warf sie alles einfach wieder hinein, weil die Flugbetreuerin
auf sie wartete und alle Leute zu ihr herschauten, wenn sie an
ihr vorbeigingen. Sie fiel auf, das wusste sie. Sie war das einzige
Kind, das allein reiste. Und das einzige mit schwarzen Haaren
und hellbrauner Haut. Das einzige Kind, dem eingetrichtert wor-
den war, wie sie den Beamten an der Passkontrolle anschauen
musste.
Leila gibt es auf, ihre Gesichtsmuskeln zu verrenken, und zieht
die Schultergurte zurecht.
Schau ihnen in die Augen. Aber nicht starren.
Die Seifenfrau neben ihr könnte sich ein Beispiel an Monas
Rat nehmen. Leila dreht sich zu ihr und starrt zurück. Die Frau
wird verlegen, ihre weißen Wangen färben sich rot. Bevor sie ihre
selbstsichere Haltung wieder verliert, marschiert Leila aus dem
Waschraum. Sie fühlt sich ein paar Zentimeter größer.
Aber nach wenigen Schritten verschwindet das Hochgefühl
wieder. Sie stößt mit der Flugbetreuerin zusammen, woraufhin
eine Wolke aus zuckersüßem Parfüm aufwallt.
»Hupsi!«, sagt die schlanke blonde Frau mit der gebräunten
Haut. Sie heißt Fiona. Fiona trägt einen Bleistiftrock, der so eng
ist, dass ihre Knie aneinanderschlagen, und Absätze, die auf dem
glänzenden Flughafenboden klackern. Und sie scheint zu glau-
ben, dass man mit Zwölfjährigen nicht anders reden muss als mit
Sechsjährigen. »Alles klar? Hast du dir die Hände gewaschen?«
Leila würdigt sie keiner Antwort. Fionas Lächeln verblasst.
»Also gut.« Sie tätschelt Leila den Kopf. »Bist du bereit? Hier
entlang.«
9
Leila versucht, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken,
während sie sich den Schildern nähern, die alle auf Norwegisch
beschriftet sind, das ihr fremd ist, sowie darunter auch auf Eng-
lisch. Fiona lotst sie an den kurzen Schlangen vor den Schaltern
vorbei zu einem schmalen Streifen direkt an der Wand. An einem
Schreibtisch sitzt ein Mann mit müden Augen unter einem Schild
mit der Aufschrift
Andere.
Das Wort überrascht Leila kein bisschen. Genauso fühlt sie sich,
seit sie das Reihenhaus ihrer Tante in Croydon hinter sich ge-
lassen hat.
Fiona und sie gehen auf den Mann zu, das letzte Hindernis auf
dieser Reise, die monatelang geplant wurde. Allerdings ist er ein
nicht sonderlich beeindruckender Torwächter.
12
Schau ihnen in die Augen, aber nicht starren. Und nicht zu viel
blinzeln.
Der Schreibtisch steht so hoch, dass die Tischplatte Leilas Kopf
überragt. Sie kann lediglich die obere Hälfte der Stirn des Man-
nes sehen und seinen grau werdenden Haaransatz. Er beugt sich
leicht vor und streckt die Hand nach ihr aus. Leila unterdrückt
den Impuls, ihm die Hand zu schütteln.
»Ausweis«, sagt Fiona und lächelt den Beamten breit an, wo-
bei sie all ihre Zähne zeigt. Leila flucht im Stillen und stellt sich
vor, wie Mona die Augen verdreht. Halte deinen Ausweis bereit,
hat sie gesagt. Deshalb war Leila eigentlich im Waschraum ge-
wesen: um tief durchzuatmen, ihre Mimik einzuüben und ihren
Ausweis herauszuholen. Aber die starrende Seifenfrau hat sie
aus der Fassung gebracht, und jetzt merkt Leila, wie ihre Hän-
de schwitzig werden, als sie den Rucksack absetzt und anfängt,
nach dem Dokument zu suchen.
Ihre Hände bekommen die matschige Banane zu fassen, die
durch die lange Zeit im Rucksack weich geworden ist. Sie fühlt,
wie sie das Bananenmus überall verschmiert, über ihr Buch und
ihr Smartphone und Monas Ohrstöpsel. Jetzt gerät sie in Panik,
versucht, sich zu erinnern, wo sie den Ausweis das letzte Mal ge-
sehen hat. Hat sie ihn in der schwarzen Plastikwanne vergessen,
als der Mann mit ernster Miene ihren Rucksack durchsucht hat?
»Hupsi!«, säuselt Fiona lachend und zieht ein kleines blaues
Büchlein hervor. »Hatte ganz vergessen, dass du ihn mir gegeben
hast.«
Während sie dem Beamten den Pass reicht, kämpft Leila mit
den Tränen. Es ist alles in Ordnung, versichert sie ihrem rasenden
13
Herzen. Sie bückt sich, zieht den Reißverschluss ihres Rucksacks
zu und wischt sich schnell über das Gesicht, wobei sie merkt,
dass sie die Bananenpampe auf ihrer Wange verteilt. Bevor sie
das klebrige Zeug wegwischen kann, zieht Fiona sie sanft ein
paar Schritte nach hinten, damit der Mann ihr Gesicht mit dem
Foto abgleichen kann.
Schau ihnen in die Augen, aber nicht starren, und nicht zu viel
blinzeln. Aber Leila blinzelt, ganz schnell, will die Tränen weg-
blinzeln. Sie gräbt die Fingernägel in die Handballen, während er
sie mustert. In ihrem Hals wächst ein Klumpen, der größer und
größer wird und ihr die Luft zum Atmen nimmt. Sie hasst das
alles! Sie hasste es, sich von Mona und ihrer Tante am Flughafen
zu verabschieden, sie hasste den Flug und die trockene, künstli-
che Luft in der Kabine. Und Fiona, die zu wenig sagt und zu viel
lächelt. Sie hasste es, dass der Mann ihren Rucksack durchsuchte,
sie hasste die starrende Frau, und sie hasst die Banane, und sie
hasst diesen Mann, der sie anschaut, als wäre sie …
Aber der Mann blickt nun auf den Ausweis. Seine Hand macht
eine geübte Bewegung, greift nach einem Stempel, hoch und run-
ter, ein sattes Klicken, dann gibt er den Ausweis zurück. Nicht
Fiona, sondern ihr.
»Willkommen in Tromsø«, sagt er mit einer lispelnden, ge-
langweilten Stimme.
Leila nimmt den Ausweis. Es war ganz leicht. Es ist vorbei.
Der Teil, vor dem sie und Mona die meiste Angst gehabt hatten.
Der Teil, der ihr Albträume bereitet hat, Albträume von weißen
Räumen und am Boden vernieteten Tischen. Vorbei. Leila wischt
sich mit dem Ärmel die Banane aus dem Gesicht. Ihr ist fast
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schwindelig vor Erleichterung, als sie Fiona zu dem Koff erband
folgt, auf dem bereits Gepäckstücke ihre Kreise ziehen.
»Alles okay?«, fragt Fiona. Leila glaubt allmählich, dass sie
mit Ja antworten könnte.
Sie atmet langsam aus. Es ist anstrengend, stets gewappnet
zu sein. Gegen die starrenden Blicke, die gelegentlichen Kom-
mentare. Selbst an ihrer Schule, wo es andere Mädchen aus dem
Nahen Osten gibt, auch andere Syrerinnen. Dagegen sind Mo-
mente wie der, in dem der Mann von der Passkontrolle den Blick
abwendet, pure Erleichterung. Wenn sie schon nicht unsichtbar
sein kann, möchte sie einfach nur dazugehören.
Ihr Gepäck, ein zerbeulter Koff er, den ihre Tante, ihre Amma,
ihr geliehen hat, taucht aus der Öff nung auf. Leila muss ein La-
chen unterdrücken, als sie zusieht, wie Fiona in ihrem engen Blei-
stiftrock unter dem Gewicht des Koffers zu einem quietschenden
Gepäckwagen taumelt.
»Du solltest deinen Mantel anziehen«, sagt Fiona. »Der Som-
mer in Norwegen ist nicht so warm, wie du es gewohnt bist.«
Leila nimmt an, dass sie Norwegen mit England vergleicht,
was nichts Gutes verheißt. An ihre Heimat kann sich Leila kaum
noch erinnern, und Mona redet nicht darüber. Amma erzählt
manchmal von den Märkten, die offen unter der Hitze liegen, mit
Bergen von Früchten, von denen sie nur die arabischen Namen
kennt, von ihrer Wohnung mit der Klimaanlage in jedem Raum
und den handgewebten Teppichen, die sie zurücklassen mussten.
Von Basbousa, der Katze, die sie und Mama immer noch be-
weinen und die sie in die Obhut einer Nachbarin gegeben haben,
die nur hin und wieder Strom oder heißes Wasser hat. All diese
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Erinnerungen fühlen sich wie Träume an, die bereits verblassen,
wenn sie ausgesprochen werden.
»Mantel!«, drängt Fiona. »Zieh ihn an.«
Leila schnallt den Gurt um den Koffer ab und zieht den Reißver-
schluss der Außentasche auf. Mona hat den Koffer sorgfältig ge-
packt und an alles gedacht. Selbst daran, ihren dicken lila Parka
mit der Kapuze ganz obenauf zu legen, damit Leila ihn gleich he-
rausholen kann. Er entrollt sich wie eine Flagge. Sie zieht ihn an
und fühlt sich gleich viel weniger auffällig. Den Parka hat sie von
Mona geerbt, er ist fast neu, abgesehen von dem Riss in der linken
Tasche, den Leila manchmal unwillkürlich wieder aufpult, wenn
sie nervös ist.
Sie tastet in der Tasche: Mona hat den Riss wieder ordentlich
genäht. Sie ist vermutlich die einzige Siebzehnjährige, die noch
nähen kann. Leilas Finger streifen knisternde Folie, und sie grinst
innerlich. Mona hat eine ganze Handvoll Karamellbonbons in
der Jackentasche versteckt. Die Goldfolie ist wie ein Schatz, wie
ein Händedruck, der sagt: Du schaff st das!
»Komm schon«, sagt Fiona betont fröhlich. »Wir sind gleich
da.«
Sie wirkt angestrengt, und Leila merkt, dass sie sich darauf
freut, sie loszuwerden. Leila zieht den quietschenden Rollkoff er
hinter sich her, und erst als sie sich der letzten automatischen
Schiebetür nähern, gesteht sie sich ein, warum ihr Magen so ver-
krampft ist: Hinter dieser Tür ist der Grund für den endlos lan-
gen Visa-Antrag, das Einüben von Gesichtern, die Reise, all das.
Hinter dieser Tür ist Mama.
Leila kaut auf ihrer Lippe, während sie Fiona hinaus in die An-
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kunftshalle mit den großen Glasfronten folgt. Ihr Herz hüpft ihr
aus der Brust und hämmert irgendwo in der Nähe ihrer Ohren.
Ihr ist heiß, sie hat feuchte Hände und fragt sich – zu spät –, ob
sie auch ein Gesicht für diesen Teil hätte einüben sollen. Ihr Blick
schweift über die Menschenmenge. Alle sind weiß und groß.
Mama ist nicht da.
Leila bleibt stehen, aber Fiona sagt: »Da drüben«, und kla-
ckert auf eine weiße Frau in einer grünen Daunenjacke zu, die ein
handgeschriebenes Schild hochhält. Auf dem Schild steht Leila
Saleh. Leila kennt die Frau nicht. Sie hat das Gefühl, als wür-
de sie auf einer hohen Klippe stehen. Ihr Magen schlägt einen
Purzelbaum. Mama ist nicht da. Diese Frau soll sie off enbar ab-
holen. Die Enttäuschung in Leilas Brust wird zu einer scharfen
Wut.
Sechs Jahre. Die meisten Mütter könnten keinen Moment, kei-
ne Sekunde länger mehr abwarten. Sie weiß das, weil es Amma
gibt, weil sie die Eltern ihrer Freunde am Schultor beobachtet
hat, die anfangen zu strahlen, sobald sie ihre Kinder sehen. Sie
vermissen sie schon nach sechs Unterrichtsstunden, von sechs
Jahren ganz zu schweigen. Aber Mama hat … eine Fremde ge-
schickt.
Leila strafft die Schultern. Was kümmert es sie, wenn es Mama
doch off enbar auch nicht kümmert? Fiona winkt sie zu sich und
wirkt dabei ein bisschen verzweifelt. Leila geht zu ihr.
17
Zwei
»Ich bin Liv«, sagt die Frau freundlich. Sie spricht mit einem
leichten Akzent, ihr Lächeln ist breit, und ihre Schneidezähne
stehen leicht schief. Leilas Stimme verfängt sich in ihrer Keh-
le, aber es gelingt ihr, zur Begrüßung leicht zu lächeln. »Es ist
schön, dich kennenzulernen, Leila. Ich bin eine Freundin deiner
Mutter. Wir arbeiten zusammen. Sie hat mich gebeten, dich si-
cher nach Hause zu bringen.«
Wieder macht Leilas Magen einen Satz. Nach Hause. Das Zu-
hause ihrer Mutter ohne sie.
»Wir müssen noch auf … ah! Da ist sie ja!«
Mit einem begeisterten Lächeln winkt Liv über Leilas Schulter
hinweg, und als Leila sich umdreht, sieht sie ein Mädchen mit
einem dicken blonden Zopf näher kommen. Die Blonde hat eine
Reisetasche geschultert.
Liv schlingt einen Arm fest um das Mädchen. »Jenta mi! Wie
groß du bist! Hattest du einen guten Flug?«
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»Ja«, sagt das Mädchen seufzend, befreit sich aus der Umar-
mung und schenkt Leila ein reumütiges Lächeln.
»Na, na«, beschwert sich Liv lachend. »Wie du siehst, haben
wir einen Gast.« Sie grinst Leila an, die am liebsten im Boden
versunken wäre. »Leila, das ist Britt, meine Tochter.« Liv kneift
ihrer Tochter liebevoll in die Wange und betrachtet sie mit einem
so unverhohlenen Stolz, dass sich Leila mit einem Mal innerlich
ganz leer fühlt. »Sie kommt aus Bergen, wo sie zur Schule geht.
Dann hast du bei deinem Besuch gleich eine Freundin. Wie fi n-
dest du das?«
Leila riskiert einen Blick auf Britt, die bei dem Vorschlag, sich
mit ihr anzufreunden, nicht vor Entsetzen in Ohnmacht fällt. Er-
leichterung macht sich in Leila breit.
»Deine Mutter wollte wirklich kommen«, sagt Liv, die bereits
zielstrebig auf den Ausgang zusteuert. Leila macht den Mund auf
und will sich von Fiona verabschieden, aber diese hat sich schon
umgedreht und klackert eilig davon. »Wir mussten um fi nanziel-
le Unterstützung bitten, und sie als Leiterin musste unbedingt
zu dem Meeting. Aber wir werden sie später auf jeden Fall beim
Abendessen sehen.«
Wir? Also hatte Mama nicht nur eine Fremde geschickt, son-
dern erwartet nun auch von Leila, die nächsten Stunden mit die-
sen Leuten zu verbringen? Leila knirscht mit den Zähnen, wäh-
rend sie Liv durch die Drehtür nach draußen folgt. Sobald sie
ins Freie kommt, fühlt sie, wie die Kälte an ihr nagt. Fiona hatte
recht – das Wetter hier besitzt eine ganz eigene Schärfe, und die
Kälte fährt einem sofort in die Knochen.
»Der Wagen steht gleich da drüben«, sagt Liv und geht un-
19
beirrt weiter. »Es ist nicht weit. Wir fahren unter dem Meer hin-
durch. Tromsø ist eine Insel, hast du das gewusst?«
Leila nickt, obwohl sie es nicht wusste. Sie hatte Tromsø nicht
gegoogelt oder den Reiseführer gelesen, den Mama ihr geschickt
hatte, und auch nichts anderes getan, das die Tatsache besiegelte,
dass sie endlich dorthin fuhr, wo ihre Mutter lebte. An den Ort,
für den ihre Mutter England und Leila verlassen hat.
Britt bringt ein bisschen Abstand zwischen sich und ihre Mut-
ter und stupst Leila mit dem Ellbogen an. »Sie kann einen schon
überfahren, aber sie ist okay. Und Tromsø ist auch nicht so übel,
besonders im Sommer.«
Leilas erster Eindruck ist nicht berauschend. Der Himmel hängt
niedriger als gewohnt und drückt sie nach unten wie eine fl ache
Hand, und die Sonne dringt kaum durch die Wolken, als würde
man unter Wasser waten, wo es trüb ist.
»Da sind wir«, meint Liv lächelnd, schließt den Wagen auf und
öffnet den Kofferraum. Leila macht große Augen, als sie Ketten –
echte Ketten – dort liegen sieht. Dicke, schwere, mittelalterlich
aussehende Ketten. Ihre Gedanken überschlagen sich. Ist das eine
Falle? Will man sie entführen?
»Das sind Schneeketten«, sagt Britt, die Leilas Entsetzen be-
merkt zu haben scheint. »Für die Autoreifen.«
Mit einem Grunzen schiebt Liv die Ketten zur Seite und wuch-
tet Leilas Koffer daneben. »Ich denke nie dran, sie rauszunehmen,
und wenn es mir dann einfällt, ist es schon wieder Zeit, sie dabei-
zuhaben.«
»Es ist Frühsommer, Ma«, seufzt Britt. »Du brauchst sie jetzt
doch monatelang nicht.«
20
»Meine Lillemor«, sagt Liv und zupft Britt spielerisch am
Zopf.
»Kleine Mutter«, wendet sich Britt erklärend an Leila und lässt
ihre Reisetasche auf die Ketten plumpsen. »Das ist so ein norwe-
gisches Ding.«
»Das ist dein Ding«, widerspricht Liv und setzt sich ans Steuer.
»Ich habe noch nie ein so altes Kind erlebt. Ich schwöre dir, Leila,
als sie geboren wurde, war das Erste, was sie getan hat, mich da-
ran zu erinnern, dass wir keine Milch mehr im Haus haben.«
»Ich müsste dich nicht daran erinnern, wenn du selbst daran
denken würdest«, sagt Britt, und Leila spürt, dass sich die Atmo-
sphäre zwischen den beiden verändert.
Leila zögert. Sie traut sich nicht, die Beifahrertür zu öff nen.
Britt tut es an ihrer Stelle und hebelt den Beifahrersitz nach vorne,
damit sie hinten hineinkrabbeln kann. Sie lässt den Sitz wieder
einrasten, und Leila setzt sich unbehaglich auf die Beifahrerseite.
Im Rückspiegel sieht sie, dass Britt stur geradeaus blickt und die
Arme vor der Brust verschränkt hat.
»Anschnallen!«, sagt Liv. In ihrer Stimme liegt nur noch ein
Bruchteil ihrer vorherigen Fröhlichkeit.
21
Bereits kurz nachdem sie den Flughafen hinter sich gelassen ha-
ben, verändert sich die Landschaft, und Leila erhascht Blicke auf
das Meer, das Tromsø umgibt. Und dann, ganz plötzlich, ist da
ein Berg.
Leila muss an sich halten, damit ihr nicht vor Staunen die
Kinnlade herunterfällt. Sie hat noch nie einen richtigen Berg ge-
sehen. An die Berge in der Umgebung von Damaskus kann sie
sich nicht mehr erinnern, weil es schon so lange her ist. Die ein-
zige Erhebung, die sie kennt, ist Box Hill, wo sie mit ihrer Schule
einen Orientierungslauf gemacht hat. Aber der hier ist riesig und
wird immer größer und größer und immer noch größer, direkt
neben der Straße, und schließlich ist dieser richtige, echte Berg so
hoch, dass Leila den Gipfel nicht mehr sehen kann, an den sich
Häuser und Bäume klammern.
Sie lässt sich nicht anmerken, dass ihr Herz wie verrückt häm-
mert, und widersteht dem Drang, sich umzudrehen, als der Wa-
gen abbiegt und nach unten in die Mündung eines riesigen Tun-
nels fährt.
»Und ab geht’s unter Wasser. Haltet die Luft an!«, sagt Liv,
bläst die Wangen auf und schürzt die Lippen wie ein Fisch. Leila
22
lächelt schwach. »Das hast du immer gern gemacht, Britt, nicht
wahr?«
»Früher, ja«, sagt Britt. Als die orangen Lichter des Tunnels
über sie hinweggleiten, wirft Leila ihr im Rückspiegel einen Blick
zu. Ihre Arme sind immer noch vor dem Körper verschränkt, die
Stirn noch immer gerunzelt. Leila empfi ndet Mitleid mit Liv, die
ganz offensichtlich ihr Bestes gibt, nicht nur bei ihrer eigenen
Tochter, sondern auch bei der Tochter ihrer Freundin.
Aber Leila weiß auch, dass Mütter nerven können, dass Müt-
ter einen im Stich lassen und nicht auftauchen, wenn sie sollen,
und dass sie nicht immer das Richtige sagen. Und deshalb tut
auch Britt ihr leid.
Der Tunnel ist endlos, und das Schweigen wird unbehaglich.
Mona würde es hier nicht gefallen. Sie hasst enge Orte, dunkle
Orte, alles, was unter der Erde ist. Sie fährt überall mit dem Bus
hin und weigert sich, in die U-Bahn zu steigen, obwohl die viel
schneller ist. Leila verliert kein Wort darüber, weil sie weiß, dass
es mit Zuhause zu tun hat, mit Damaskus, mit den Dingen, über
die sie nicht reden: über das Verstecken, die Flucht, die Reise nach
England, über das Internierungslager. Mona erinnert sich an all
das, aber sie scheint entschlossen zu sein, kein einziges Wort da-
rüber zu verlieren, auch wenn sich alles fest in ihr Gedächtnis
eingebrannt hat.
Vor ihnen taucht ein Lichtpunkt auf, und die Straße steigt an,
ganz plötzlich und so steil, dass Leila sich unwillkürlich duckt,
weil sie Angst hat, sie könnte sich den Kopf an der Tunneldecke
stoßen. Der Lichtpunkt wird größer und größer, und wie der Blitz
sind sie aus dem Tunnel heraus.
23
»Willkommen in Tromsø«, sagt Liv fröhlich.
Liv biegt in eine Straße ein, die am Meer entlangführt. Jetzt
schaut sich Leila unverhohlen staunend um. Ringsum ragen noch
mehr Berge in den Himmel. Ganz oben, wo die Wolken die
Gipfel einhüllen, sieht Leila Schnee liegen. In weißen Rinnsalen
schmiegt er sich in die Spalten des Steins. Schweigend fahren sie
weiter, und dann taucht vor ihnen eine riesige Brücke auf, die
hauptsächlich aus dünnen Metallseilen besteht, sodass es aus-
sieht, als wäre sie aus Fäden gewoben. Sie erstreckt sich über
eine weite Wasserfläche bis zu einer Ansammlung von Häusern.
In deren Mitte erhebt sich ein Gebäude, eine Konstruktion aus
mehreren weißen Dreiecken und mit einer glänzenden Glasfront.
So etwas hat Leila noch nie gesehen.
»Die Eismeerkathedrale«, sagt Liv. »Ist sie nicht wunderschön?
Im Sommer fi nden dort Mitternachtskonzerte statt.«
Sie ist wunderschön – wie aus einer Geschichte –, und Leila fragt
sich, wie es wohl innen aussieht. Leila unterdrückt ein Gähnen.
Ihre Augen und ihr Gehirn sind überlastet von diesem neuen Ort.
Außerdem musste sie in aller Frühe aufstehen, dann mit dem Bus
und der U-Bahn zum Flughafen fahren, den Koffer mit Monas
Hilfe viele Stufen hoch und runter schleppen. Dann die Aufre-
gung der Reise selbst, und jedes Mal das Hämmern ihres Her-
zens, wenn sie ihren Ausweis vorzeigen oder an einem weißen
Beamten vorbeigehen musste, obwohl es am Flughafen viele Ge-
sichter wie ihres gab. Dazu die Enttäuschung und der Ärger, weil
Mama nicht gekommen ist.
Leila ist müde, hundemüde. Im Augenblick braucht sie nichts
weiter als ihr Bett.
24
25
An diesem Ort, wo wir anfangen und wo sie geboren
wurde, gibt es Felsen und Meer. Hier öffnete sie als Welpe
ihre Augen und kuschelte sich zappelnd an ihre Geschwis-
ter, um sich zu wärmen. So warm wie damals wird ihr nie
wieder sein. Aber schon damals bestand sie nur aus Ver-
langen: Verlangen nach dem Bauch ihrer Mutter, der
Nahrung versprach, und später nach ihrem Vater, dem
sie folgte und mit dem sie am Ufer jagte.
26
An diesem felsigen Strand haben sie sich getroff