Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Wünscheerfüller ist ein ambitionierter junger Mann, der es sich in den Kopf gesetzt hat, sein Leben zu einem großen Erfolg zu machen. Dafür sind die Rahmenbedingungen eher schlecht. Er lebt bei seiner Mutter, die den Familienunterhalt aus häufig wechselnden Männerbekanntschaften speist und versucht sich an diversen Geschäftsmodellen, die ausnahmslos in einer juristischen Grauzone beginnen und in desaströsen Fehlschlägen enden. Alles wäre noch erträglich, wenn der junge Mann nicht zusätzlich darauf achten müsste, den Einfluss auf seine Mutter nicht zu verlieren. Einfallsreich und höchst kreativ beseitigt er 'en passant' die störenden Partner an der Seite seiner Mutter, während er weiter an seinen Erfolgsideen arbeitet. Er hat alle Hände voll zu tun. Seine wahre Passion findet er als 'Wünscheerfüller', einem außergewöhnlichen Geschäftsmodell, das darauf beruht, die Herzenswünsche anderer Wirklichkeit werden zu lassen. Er belauscht vertrauliche Gespräche und zieht seine Schlüsse. Er arbeitet ohne Auftrag, aber mit großer Akribie und ist sich sicher, dass seine Mühen eine großzügige Belohnung wert sind, wenn er erst den Nutznießern seiner Arbeit seine Erfolge vorstellt. Entführung, Erpressung, Mord - all das sind unschöne Begriffe, die in die Welt des 'Wünscheerfüllers' nicht hineinpassen. Er hat eine andere Sicht der Dinge. Dies gilt umso mehr, nachdem er Milena begegnet, einem Straßenmädchen, das ihn fasziniert. Mit ihr beginnt sich sein Leben zu ändern. Mit ihr lassen sich Ideen umsetzen. Mit ihr beginnt ein neuer Reigen, der aus dem Jäger eine Beute macht. 'Der Wünscheerfüller' reagiert in gewohnter Weise auf die Bedrohung. Er weiß Milena an seiner Seite. Doch dann kommt alles ganz anders. "Der Wünscheerfüller" ist die atemlose Geschichte des Scheiterns der großen Ambitionen eines jungen Mannes, der kriminelle Geschäftsmodelle und ein ungewöhnliches Familienleben erfolglos zu koppeln versucht. Geschrieben auf eine lakonische Weise, erzählt mit schwarzem Humor, erdacht aus vielen Strafakten, die in dem Roman zu einer neuen Komposition wurden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Wünscheerfüller ist ein ambitionierter junger Mann, der es sich in den Kopf gesetzt hat, sein Leben zu einem großen Erfolg zu machen. Dafür sind die Rahmenbedingungen eher schlecht.
Er lebt bei seiner Mutter, die den Familienunterhalt aus häufig wechselnden Männerbekanntschaften speist und versucht sich an diversen Geschäftsmodellen, die ausnahmslos in einer juristischen Grauzone beginnen und in desaströsen Fehlschlägen enden. Alles wäre noch erträglich, wenn der junge Mann nicht zusätzlich darauf achten müsste, den Einfluss auf seine Mutter nicht zu verlieren. Einfallsreich und höchst kreativ beseitigt er ‚en passant‘ die störenden Partner an der Seite seiner Mutter, während er weiter an seinen Erfolgsideen arbeitet. Er hat alle Hände voll zu tun.
Seine wahre Passion findet er als ‚Wünscheerfüller‘, einem außergewöhnlichen Geschäftsmodell, das darauf beruht, die Herzenswünsche anderer Wirklichkeit werden zu lassen. Er belauscht vertrauliche Gespräche und zieht seine Schlüsse. Er arbeitet ohne Auftrag, aber mit großer Akribie und ist sich sicher, dass seine Mühen eine großzügige Belohnung wert sind, wenn er erst den Nutznießern seiner Arbeit seine Erfolge vorstellt. Entführung, Erpressung, Mord – all das sind unschöne Begriffe, die in die Welt des ‚Wünscheerfüllers‘ nicht hineinpassen. Er hat eine andere Sicht der Dinge.
Dies gilt umso mehr, nachdem er Milena begegnet, einem Straßenmädchen, das ihn fasziniert. Mit ihr beginnt sich sein Leben zu ändern. Mit ihr lassen sich Ideen umsetzen. Mit ihr beginnt ein neuer Reigen, der aus dem Jäger eine Beute macht. ‚Der Wünscheerfüller‘ reagiert in gewohnter Weise auf die Bedrohung. Er weiß Milena an seiner Seite. Doch dann kommt alles ganz anders.
„Der Wünscheerfüller“ ist die atemlose Geschichte des Scheiterns der großen Ambitionen eines jungen Mannes, der kriminelle Geschäftsmodelle und ein ungewöhnliches Familienleben erfolglos zu koppeln versucht.
Geschrieben auf eine lakonische Weise, erzählt mit schwarzem Humor, erdacht aus vielen Strafakten, die in dem Roman zu einer neuen Komposition wurden.
Achim Albrecht
Der Wünscheerfüller
© 2014
Die handelnden Personen und ihre Schicksale sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt.
1. Auflage Oktober 2013
©2014 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund
Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
Printed in Germany
ISBN 978-3-942672-22-1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Zitat
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
XXX.
XXXI.
XXXII.
XXXIII.
XXXIV.
XXXV.
XXXVI.
Über den Autor
Als ich meine Seele fragte,
was die Ewigkeit mit den Wünschen macht,
die wir sammelten, da erwiderte sie:
‚Ich bin die Ewigkeit‘.
Khalil Gibran
Mein Leben als Arschloch begann mit ungefähr achtzehn Jahren.
Ich sage „ungefähr“, weil ich korrekt sein will. Es kommt darauf an, immer korrekt zu sein. Unkorrektheiten wirken sich langfristig negativ aus und im Nu ist man in eine Falle geraten, aus der man sich nicht mehr befreien kann. Ich bin der Typ, der sich stets befreien kann.
Damals war ich noch siebzehn, wenn man meinen Ausweis zurate zog, und ein zarter Bub ungewissen Alters, wenn man meine Mutter befragen würde. Meine Vorstellungswelt war allerdings schon weit vorher in die Erwachsenenwelt hinüber geeilt und hatte sich mit einem ungesunden Erwerbssinn angereichert, sodass ich mit Recht behaupten kann, ungefähr achtzehn Jahre alt gewesen zu sein, wenn man aus den maßgeblichen Faktoren den Durchschnitt zieht.
Zugegeben, die Selbstbezichtigung als „Arschloch“ mag plakativ und profan klingen, aber glauben Sie mir, ich habe es mir nicht leicht gemacht. Natürlich bin ich nicht vollkommen zufrieden mit dem Ausdruck und seiner Aussagekraft, doch irgendwo sind dem Drang nach Korrektheit Grenzen gesetzt. Eine gewisse Zeit schwankte ich zwischen der Verwendung von „mein Leben als Stück Scheiße“, um die abwertende Verächtlichkeit der einer Fäkalie für meinen damaligen Zustand fruchtbar zu machen und dem weitaus eleganteren Zwillingsbruder des Arschlochs, dem Anus, mit dem eine beinahe aristokratische Selbstbeschimpfung möglich geworden wäre. Letztlich habe ich mich dann aber dem allgemein verständlichen, derben Brauchtum gebeugt, wohl weil es mit dem Gebrauch des Wortes auch eine gewisse Bauernschläue und Schlitzohrigkeit des so Titulierten verbindet. Ich denke, in einem solchen Fall kann man darüber hinwegsehen, dass der After an sich ein ganz und gar nützliches Werkzeug ist, dessen zwei Schließmuskeln, von denen nur der äußere dem Willen des Menschen unterworfen ist, nichts Anrüchiges oder sogar Verwerfliches an sich haben.
Sie mögen an dieser Stelle meinen, dass ich ein komplizierter oder sogar verschrobener Mensch bin, aber da liegen Sie falsch. Ich war überraschend direkt, als ich meiner Mutter das Kissen auf das Gesicht drückte. Es war eines jener riesigen Daunenkissen, in die man einsank wie in einen duftzarten Albtraum, der sich mit frisch gestärkten Leinenzipfeln über die Ohren stülpt. Ich hatte eine veritable Abneigung gegen solche Kissen, die jede Hoffnung auf einen geruhsamen Schlaf in sich begruben wie pausbackige Totenwächter. An jenem Tag aber entdeckte ich in ihnen eine erfrischend neue Funktionsweise und tatsächlich harmonierte der kalkig weiße Blähbauch des Kissens auf das Beste mit dem mütterlichen Torso im hellblauen Seidenschlafanzug, der in einer ersten Abwehrreaktion auf das Ersticken in eine unerquickliche Unordnung geraten war.
Meine Mutter war beileibe nicht alt oder schwach. Ihr unkoordiniertes Fuchteln und Schütteln verriet allerdings, dass sie in Kämpfen existenzieller Art ungeübt war. Die gedehnten Laute, die aus der Umarmung des Kissens herausdrangen, beunruhigten mich nicht weiter. Ich hatte sie erwartet und war sogar ein wenig enttäuscht, weil ich mir in Gedanken ein dramatischeres Szenario ausgemalt hatte. Einzig die Vorstellung, dass sich ihr fröhliches Make-Up auf dem Kissenbezug in rutschigen Schlieren abbilden und mich vor dem notwendigen Waschgang als karikierte Totenmaske anstarren würde, hatte etwas ganz und gar Unappetitliches und mit meinem Appetit ist es ohnehin nicht zum Besten bestellt.
Wahrscheinlich haben Sie mich an dieser Stelle bereits missverstanden. Es war keineswegs der Mord an meiner Mutter, der mich zum Arschloch machte. Um genau zu sein, war es ohnehin kein Mord, sondern eine Tötung, der jede Verwerflichkeit abging. Auch beim Erzählen ist es schwierig ganz korrekt zu sein, denn ganz korrekt handelte es sich bei der Episode mit meiner Mutter um einen Versuch der Tötung auf Verlangen. So stand es jedenfalls in dem Strafrechtslehrbuch, bei dessen Kapitel über Gewaltdelikte ich Aufschluss suchte. Und weil es so war, musste ich mich auch über den unfairen Gebrauch emotionaler Abwehrmittel durch meine liebe Mutter aufregen.
Ich hatte bei Gott andere Dinge zu tun, als Kissen auf ein gealtertes Gesicht zu drücken, ein Gesicht, das in den letzten Monaten in Tränenfalten zerfloss und aus einem makellosen Porzellangebiss flehte, man möge es doch von den elenden Schmerzen befreien, die das Alter und das Rheuma mit sich brächten. Nur wenn Zigaretten, Gin und eine erkleckliche Anzahl der verschiedensten Schmerzmittel ihre betäubenden und vergiftenden Sendboten schickten, wurde die weinerliche Litanei unterbrochen und wich einem Rausch, der für eine vorübergehende Entspannung sorgte.
Schon frühzeitig hatte ich den Verdacht, dass das Verhalten meiner Mutter eine Masche sein könnte. Sie hatte ein Faible dafür entwickelt, sterben zu wollen, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen lief. Begonnen hatte es wohl mit dem Verschwinden meines Erzeugers, der sich absetzte, als er von meiner embryonalen Existenz erfuhr. Als Strafe servierte mir meine Mutter die endlose Klage von der Undankbarkeit meines Vaters, der doch wohl unwidersprochen zuerst ihr intimer Freund gewesen sein musste, bevor er zu meiner Zeugung schritt. So erfuhr ich in jungen Jahren, dass ich mit einer Art Erbschuld auf die Welt gekommen war, die es bis zum seligen Ende meiner Mutter abzutragen galt.
Mit etwas gutem Willen drängt sich der Schluss auf, dass ich mit der Kissenaktion lediglich einen Herzenswunsch meiner Mutter erfüllte, einen Wunsch, mit dessen Ausführung sie ihren hingebungsvollen Sohn beauftragte, weil sie selbst zu einem Selbstmord nicht in der Lage war. Ja, Sie lesen richtig. „Hingebungsvoll“ ist der Ausdruck, der das Verhältnis zu meiner Mutter am besten charakterisiert. Selbst bei den gemeinsamen Wannenbädern war sie die Fürsorge selbst. Wie eine aus Schaum geborene Fee achtete sie darauf, dass ich nicht nur oberflächlich eintauchte, sondern mich gründlich wusch und reinigte. Oft ging sie mir zur Hand und es ist für mich schlicht unvorstellbar, dass einmal die Zeit kommen muss, wo ich mit einer langstieligen Bürste meinen Rücken selbst zu schrubben habe. Fast kommen mir bei dem Gedanken an dieses Bild vollkommener Verlassenheit die Tränen und ich vergehe in einem Anflug berechtigten Selbstmitleids.
Es ist natürlich nicht so, wie Sie denken mögen. Das enge Band zwischen Mutter und mir ist keineswegs sexueller Natur. Sie ist eine robuste Frau mit einer ausgeprägten Körperlichkeit und einem lebhaften Gesicht. Was sie so anziehend macht, ist ihre grenzenlose Bereitschaft zu großen Emotionen. Wie die Zelebrierung ihres Leides vollbringt sie auch Großtaten auf dem Hochaltar der Leidenschaft. Das ist es, was sie für andere Männer so anziehend macht. Ich weiß es, denn sie hat es mir selbst aus einem ihrer Heftchenromane vorgelesen. „Hochaltar der Leidenschaft“ hatte mir schon gut gefallen, als ich noch nicht verstand, um was es ging. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass ich jetzt verstehe, um was es geht.
Wenn sie romantisch gestimmt war, vollzog sich mit ihrem Körper eine Metamorphose. Er behängte sich mit einem schreiend orangefarbenen Babydoll, das bis knapp zur Gesäßfalte reichte, schlüpfte in hochhackige Pumps und bestrich sich mit ausdrucksvollen Farben, die aus einer unscheinbaren, bäuerlichen Erscheinung eine Venusfliegenfalle machten.
Und dann kamen die Onkel mit ihrer Geilheit und ihrem Geld. Ich hatte viele Onkel. Manche waren polternd und jovial, andere warfen scheue Blicke um sich, als seien sie in eine Räuberhöhle geraten, und nicht wenige flößten mir Unbehagen ein, wenn sie abwesend meinen Kopf tätschelten und dabei meine Mutter witternd im Auge behielten wie Raubtiere vor dem Sprung. Alle ohne Ausnahme taten mit ihrem Geld Buße für das, was mein Vater uns angetan hatte und alle ohne Ausnahme fielen der Rache meiner Mutter zum Opfer, die sie ausplünderte und mit Verachtung im Herzen ihre Körpersäfte aufnahm, bis ihre Verehrer winselnd und friedlich ihre hochmütige Absolution empfingen und davonschlichen.
So jedenfalls hat es meine Mutter erzählt und ich habe keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Sie waren ihr nicht gewachsen, die fremden Männer, die für meinen Vater büßten und unser Leben finanzierten, aber immer, wenn meine Mutter über meinen Hals strich und mit einem schiefen Lächeln bemerkte, mein Adamsapfel springe genauso auffällig vor wie der meines Vaters, merkte ich, dass ihr etwas Wesentliches fehlte.
Der Alkohol und die Tabletten gesellten sich zu den Zigaretten, als ich auf das Gymnasium wechselte und meine Mutter nach eigener Einschätzung welk und unattraktiv zu werden begann. Oft zog sie meine Hände zwischen ihre Brüste und forderte mich auf ihr zu sagen, wie sie aussehe. Dann straffte sie sich und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Ich antwortete ehrlich, dass sie noch immer die Schönste sei, denn das Schneewittchen hinter den Sieben Bergen, das schöner war als sie, war mir noch nicht begegnet. Meist nickte sie in solchen Augenblicken heftig mit dem Kopf und seufzte, als habe ich meinen Text zufriedenstellend gelernt. „Du bist ein guter Junge“, sagte sie dann mit belegter Stimme. „Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht wirst wie dein Vater“.
Ihre eingebildeten Krankheiten und die zunehmende Hinwendung zu ihrem neuesten Liebhaber, einem penetrant riechenden holländischen Genever, verkürzten unsere gemeinsamen Sitzungen und verdrängten sie bald fast vollständig. Die Männer kamen weiterhin, aber sie tröpfelten nur noch herein, wo sie vor Jahren noch geströmt waren. Die Verkleidungen meiner Mutter wurden umso papageienhafter je renovierungsbedürftiger ihr Erscheinungsbild wurde. Peitschen und Dornenkronen ersetzten bunte Kissen. Harte Sitzungen blutig erkämpfter Lust trieben das Geld in die Kasse und die neue Sorte Männer war ebenso wenig zum Kopftätscheln aufgelegt wie ich.
Genau genommen hatte ich die Geldgeschäfte allmählich zu meiner Aufgabe gemacht und achtete darauf, dass die Einnahmen stimmten. Ich hielt mich weitgehend im Hintergrund und sicherte unsere Interessen ab, indem ich von den Besuchern heimlich Aufnahmen machte und ihre Taschen von überflüssigen Barmitteln befreite, wenn mein Bauchgefühl mir sagte, dass der eine oder andere winselnde Idiot den Aderlass verkraften werde, ohne Schwierigkeiten zu machen. Ein kleines Arsenal Waffen garantierte unseren Schutz und ich ließ es nicht zu, dass die sadomasochistischen Fantasien unserer Kunden meiner Mutter mehr Schaden zufügten, als die im Geschäft üblichen kleineren Verletzungen, die ihre Erwerbsfähigkeit nicht minderten und zur Steigerung ihrer Authentizität beitrugen.
Zuletzt wurde es aus wohlverstandenen ökonomischen Interessen unerlässlich, dass ich der Motivation meiner Mutter mit einem Leder überzogenen Paddel auf die Sprünge half. Man mag es meinem Ungeübtsein mit derlei Gerätschaften zugutehalten, dass die Schläge so schlecht abgewogen waren, dass meine Mutter im Ergebnis eine Zahnprothese benötigte. Ich sorgte dafür, dass sie das beste Modell bekam.
Es war die gleiche Prothese, die wie ein wütender Terrier in das Kissen biss.
Wie gesagt, ich hatte instinktiven Widerstand erwartet, vielleicht sogar heftige Gegenwehr, das Zerkratzen meiner Arme, wild um sich tretende Beine. Mir war in Bezug auf die Reinheit meiner Absichten nicht ganz wohl. Ich schwitzte in mein bestes Jackett und spürte, dass ich mir einen Fingernagel eingerissen hatte. Das waren Dinge, die nicht sein mussten. Ich war mir überhaupt nicht mehr sicher, dass es die Erfüllung des sehnlichen Wunsches meiner geliebten Mutter war, die mich zu dieser Anstrengung trieb oder doch die Tatsache, dass die peinliche Alte mir langsam dermaßen auf die Nerven ging, dass ich Schluss mit ihr machen sollte.
Seien wir ehrlich. Sie war ausgelutscht und ausgeleiert, ein ewig zugedröhntes Wrack, das nach einer kleinen Kosten-Nutzen-Analyse schlecht dastand. Sie war ein Auslaufmodell ohne Performance. Das musste man sich bei aller Zuneigung eingestehen. Sie hatte ihre Macker auf der Überholspur bedient und sich ihre Psychosen abgeholt, bis sie mit fast fünfzig in mein Kissen biss wie ein undankbares Tier, dem man Respekt einbläuen musste.
Sei es, wie es sei. Ich ziehe es vor, uns alle als Opfer widriger Umstände zu sehen. Der schlanke Junge mit dem prominenten Adamsapfel, der seinen Vater niemals kennenlernen durfte. Der zarte Junge, der in einen Ödipuskomplex hineingeboren wurde, was ihn für alle Zeiten brandmarkte und schuldunfähig machte. Der naive Junge, der nie verstehen wollte, dass seine verehrte Mutter eine Nutte auf dem absteigenden Ast war. Der hilfebedürftige Junge, der in seinem besten Anzug ein Monsterkissen auf das Gesicht seiner Mutter drückte, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse so beschaffen waren, dass die Ersparnisse nur einem von ihnen beiden ein angenehmes Auskommen für die Zukunft sicherte. Mutterherzen waren bekannt dafür, dass sie sich gerne aufopferten. Die guten Sitten forderten es geradezu.
Und dann kam das, was ich wirklich als unfair empfand. Eine Hand der Erstickenden fand meinen Arm und versuchte flatternd und krampfend mich an sich zu ziehen. Der Stoff des Ärmels knitterte und ich gab nach. Ihre Finger fanden meinen Hals und verharrten auf meinem Adamsapfel. Ich musste unwillkürlich den Druck auf das Kissen vermindert haben, denn ihr Körper hörte auf sich aufzubäumen. Eine Welle von Rührung übermannte mich und ich musste mir eingestehen, dass mir ihre simple Geste der Zuneigung jede weitere Hilfeleistung zu ihrer Selbsttötung unmöglich gemacht hatte.
Das war mehr als ärgerlich. Ich würde den Anzug reinigen lassen müssen und der eingerissene Fingernagel schrie nach einer zeitintensiven Maniküre. Ich war Geschäftsmann und erstickte nicht aus Spaß in der Gegend herum. Mit Tränen in den Augen riss ich das Kissen von ihrem Gesicht. Sie hatte damit aufgehört hineinzubeißen. Ihre Züge waren nicht wesentlich geschwollener als nach dem Konsum einer Flasche Genever. Sie rang kollernd nach Luft und fixierte mich mit ihren dunklen Augen.
Man mag es sich nicht vorstellen, aber das undankbare Stück wandte sich hustend und japsend von mir ab. Angewidert schleuderte ich das Kissen von mir. In Gedanken ging ich den Terminkalender durch. Wenn sie sich schon nicht für eine faire Gangart entscheiden konnte, sollte sie wenigstens den nächsten Freier bedienen. Resigniert machte ich mich daran, die Wohnung und die Alte wieder auf Hochform zu trimmen. Bei der Arbeit hatte ich eine Idee für ein neues Geschäftsmodell.
Das war es, was mich zum Arschloch machte.
Ich weiß noch genau, wie es damit anfing.
Die Formulierung ist absolut korrekt gewählt, denn eine Idee hatte mich gepackt und rüttelte an den Fensterläden meiner Fantasie. Gerne würde ich behaupten können, dass ich mir die geniale Eingebung erarbeitet hatte und die Neuronen in meinem Hirn schneller feuerten als bei anderen Menschen. Das ist aber nicht der Fall. Ich bin ein ganz normaler Typ. Vielleicht etwas entschlossener, etwas weniger träge und selbstgefälliger als die anderen, aber eben nichts wirklich Besonderes.
Daraus können Sie schließen, dass ich ein Pragmatiker bin. Ich tue das, was notwendig ist und ich tue es gleich. An der Schule hielt man mich für verkniffen, weil ich für die Männlichkeitsrituale pubertierender Heranwachsender keinen Sinn hatte und konsequent mein Ding verfolgte. Mein Ding war die Geschäftswelt. Im Inneren war ich immer ein Geschäftsmann. Ich tat alles, was notwendig war, um mit den bestmöglichen Voraussetzungen meine ersten Erfahrungen als Unternehmer zu sammeln. Dazu gehörte auch, dass ich den Erwerb von Bildung ernst nahm. Selbst die öden Stunden mit einem ehemaligen Militärpfarrer, der in akkurat gebügelten Hemden und Knobelbechern an den Füßen vor uns saß und über eine Ethik referierte, an die er selbst nicht glaubte, presste ich nach Erkenntnissen aus, die ich auf meinem Weg gebrauchen konnte. Bücher verschlang ich in einem Schnellleseverfahren, das es mir ermöglichte, Schlüsselsätze und interessant erscheinende Passagen in mich hineinzufressen und wiederkäuend zu verdauen. Eigentlich konnte ich zu allem etwas sagen und belebte die notenrelevanten Diskussionen der Oberstufe mit lakonisch dahingeworfenen Wissensperlen, wenn sich der Rest der Klasse in dumpfen Deutungsversuchen erschöpft hatte.
Kurz, ich war ein Klugscheißer, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte und ein Opportunist aus Überzeugung. Glauben Sie mir, diesen Weg zu gehen erfordert Mut und Selbstbewusstsein und auf beides konnte ich jederzeit zurückgreifen.
Das Lesen war es auch, was die Geschäftsidee in mir zündete. Wie Sie bereits wissen, war es ein mühsames Unterfangen, die Talente meiner Mutter zum Erwerb des Lebensunterhaltes so zu koordinieren, dass die Renditeerwartungen nicht hinter der Anstrengung zurückblieben, die ich zu investieren hatte. Ständig war es notwendig, die Anreize zu erhöhen, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen und ich kam mir manchmal eher vor wie ein Dompteur, der die niederen Instinkte einer Kreatur nutzte, um einen Wall von Gleichgültigkeit und Verweigerung zu durchbrechen.
Ich wusste, dass ich mir ein weiteres Standbein besorgen musste und schickte meine kreativen Geister auf die Reise durch die Gazetten. Die meisten Kleinanzeigen versprachen viel und hielten wenig. Todsichere Investments lockten mit abenteuerlichen Gewinnen, Franchisekonzepte versprachen goldene Berge und leicht auszuführende Nebentätigkeiten im Verkaufsbereich beweihräucherten sich mit unverschämten Zusicherungen. In all das und noch viel mehr schnupperte ich hinein und konnte förmlich spüren, wie andere clevere Geschäftsleute sich die Hände rieben, während ihre Angelhaken als fett gedruckte Köder auf Zeitungspapier auf großen Fischzug gingen. Ich kenne meinesgleichen und bin kein Beutefisch.
Was mich zum Raubfisch machte, waren Todesanzeigen. Todesanzeigen werden als Quelle zum Broterwerb zu Unrecht unterschätzt. Es gibt Menschen, die mit Lust die vor Pietät triefenden, einfallslosen Texte studieren, die ihre schwarz umrandeten Rechtecke in einer stolzen Schar anderer schwarz umrandeter Rechtecke präsentieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie immer aufs Neue von „dem langen, still ertragenen Leiden“ berührt sind oder sich von dem knappen „nach kurzer, schwerer Krankheit“ in die Gefilde der Trauer wegführen lassen. Auch die Aufzählung der kleinen Schar von Hinterbliebenen, die wie auf eine geheime Verabredung hin „in Stille trauern“ und den Verstorbenen „in ihrem Angedenken behalten“ sorgt höchst selten für das Ausmaß der Faszination, die Todesanzeigen verbreiten.
Eher ist es die voyeuristische Neugier, auf einen bekannten Namen zu stoßen oder die klammheimliche Freude, diese auffällig plakatierte Sippschaft um eine weitere Woche überlebt zu haben. Machen wir uns nichts vor. Leichen sind Verlierer. Sie sind die sympathischsten Verlierer, die man sich wünschen kann, denn sie haben nichts dagegen und ihre Lobby verwandelt sich nach dem Leichenschmaus in einen Haufen habgieriger Neider, die sich wie Leichenfledderer um das Erbe bekriegen. All das natürlich im Rahmen der üblichen Umgangsformen, versteht sich.
Genau an dieser Stelle begannen die Anzeigen für mich nach Geld zu riechen. Nach leicht verdientem Geld. Und sie rochen kräftig. Zunächst begann ich damit, die Unfalltode und in jungem Alter Verstorbenen auszusortieren. Haben Sie schon einmal erlebt, dass ein Raubtier die starken, wehrhaften Beutetiere einer Herde aussondert? Die Frage war natürlich rhetorischer Natur. Es liegt mir fern, Ihre Intelligenz zu beleidigen. Was ich brauchte, waren die in hohem Alter Dahingeschiedenen, die eine überschaubare Trauergemeinde in ähnlich hohem Alter und eine Handvoll abgestumpfter Kinder und Enkel hinterließen. Und ich brauchte Männer. Alte, tote Männer. Ein Glück für mich, dass die alten Frauen zähe Vögel waren, die sich unnachgiebig an ihr bisschen Leben krallten und wunderbar desorientierte Witwen abgaben. An brauchbarem Material bestand wahrlich kein Mangel.
Schade nur, dass ich bei der Durchführung meiner kleinen Idee nicht ausreichend mobil war. Wenn es meine Geschäftsinteressen nicht unmittelbar berührte, hielt ich mich streng an die Regeln. Ich glaube an Ordnung und Sicherheit und so wäre ich nie auf die Idee gekommen, ohne Führerschein mit dem Auto zu fahren. Ich war ein Jungunternehmer auf dem Mountainbike und betrieb heimatnahen Leichentourismus.
Glauben Sie nicht, dass ich mich von unausgegorenen Vorstellungen leiten ließ und einfach losschlug. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin ein großer Verfechter guter Vorbereitung. Und so kam es, dass ich im Verlaufe mehrerer Probeläufe meine Stadt auf eine Art und Weise erkundete, wie ich es vorher nie getan hatte. Die von mir sorgfältig ausgewählten Anzeigen führten mich zunächst auf die Friedhöfe. Zu meinem Erstaunen gab es davon mehrere. Friedhöfe schienen sich besonders gerne in Außenbezirken anzusiedeln. Es waren angenehme Orte, sanft zum Auge und gepflastert mit altem Baumbestand, der einen Hauch von Ewigkeit vermittelte. Kiesbestreute Wege zogen geharkte Muster um die streng geometrisch angelegten Gräberfelder. Ich bin mir nicht sicher, ob es den Beruf des Friedhofsarchitekten gibt. Falls ja, möchte ich diesem Berufsstand mein ausdrückliches Lob aussprechen. In das Lob einschließen möchte ich die Friedhofssatzungen, die ein Reglement ins Leben riefen, das die Höhe und Breite von Grabsteinen so festlegte, dass sich ein ambitionierter, schlanker Mann dahinter verbergen konnte, ohne von den um das benachbarte Grab Versammelten wahrgenommen zu werden.
Der immer gleiche Ablauf der Abschiedszeremonie erlaubte es mir, mich ganz auf die Personen zu konzentrieren, die ganz in Schwarz in kleinen Gruppen beisammenstanden und ihrer Trauerpflicht nachkamen. Die meisten trugen eingefrorene Gesichtszüge zur Schau, als ob jede Regung ihr künstliches Gehabe zerstören könne und sie sich damit eines Verstoßes gegen die guten Sitten schuldig machen würden. Selbst Tiere und Kinder hatten Spieltrieb und Bewegungsdrang abgelegt und folgten der Zeremonie mit unbewegten Mienen. Erlaubt und möglicherweise erwünscht waren einzelne Schluchzer, das Stabilisieren kollabierender weiblicher Körper und die eigenartig hölzerne Kondolenzumarmung der Witwe. So sehr ich auch spähte und nach eindeutigen Zeichen Ausschau hielt, viel Erkenntnis konnte man aus diesen öffentlichen Trauerakten nicht ziehen.
Ich hatte mich eigens für das Kauern hinter Grabsteinen in meinen dunklen Konfirmationsanzug gezwängt, der mir nur ein wenig zu eng und zu klein war, ansonsten aber ein respektables Flair vermittelte. Statt einer schwarzen Krawatte griff ich auf eine großohrige Schleife zurück, die mir als Sonderangebot in die Hände gefallen war. Sicher gibt es elegantere Wege als einem Autokorso mit Trauergästen auf dem Fahrrad zu folgen und dabei so angestrengt zu strampeln, dass man bei Passanten Kopfschütteln und Mitleid erntete. Jeder Unternehmer ist einmal durch solche Phasen gegangen und wenige Sekunden der Lächerlichkeit wogen nichts im Vergleich zu der Ernte, die man als Lohn für seinen Einsatz einfahren konnte.
Und tatsächlich spuckten die Bungalows und Etagenwohnungen mehr aus als die Friedhöfe. Sie verbrüderten sich mit rasch angemieteten Sälen in gutbürgerlichen Lokalen, wo man in gelöster Atmosphäre das bedrückende Erlebnis des Begräbnisses abschüttelte. Man verzehrte Kuchen und Schnittchen, erinnerte sich mit Wehmut an die eigene Sterblichkeit und fand mit den ersten Schnäpsen zu einer neuen Leichtigkeit des Seins.
Einige Male mischte ich mich unter die Anwesenden und überwand skeptische Blicke mit gezielt abgefeuerten Sätzen, wie: „Ich habe viel von ihm gelernt“ oder auch „Er war sicher kein einfacher Mensch, aber er hatte ein goldenes Herz“. Nach solchen Äußerungen wagte niemand mehr zu fragen, wer ich eigentlich sei und ein leutseliger Koloss von Mann erkannte eines Tages in mir sogar den Sohn eines Verwandten. Wir führten ein angeregtes Gespräch, bei dem ich Fragen stellte und er die Antworten gab, die mir verrieten, wie die nächste Frage auszusehen hatte. Im Verlaufe weniger Minuten erfand ich mühelos eine ganze Biografie samt Beiwerk und staunte selbst über den Fundus an Vorstellungskraft, der in mir schlummerte.
Am interessantesten war der Zustand der Witwen und ihrer Entourage. Unabhängig davon, ob die Exemplare zu der stämmig forschen Sorte oder der gebrechlich zittrigen Spezies gehörten, war ihnen ein Merkmal eigen. Sie waren von den Ereignissen überwältigt. Einige irrten umher wie ferngesteuerte Satelliten, andere brüteten stumm vor sich hin. Alle hatten leere Augen und wächserne Wangen. Der Schock hatte die Lebenskraft aus ihnen herausgesaugt und sie vorübergehend in Marionetten verwandelt, an denen die engsten Angehörigen zogen und zupften, auf die man einredete wie auf einen störrischen Esel und die mechanisch alles mit sich geschehen ließen, was an sie herangetragen wurde.
Als es mir gelungen war, dieses Verhaltensmuster zu identifizieren, machte ich mich unverzüglich an die Arbeit. Ich vergrub mich hinter meinem Schreibtisch und schrieb Rechnungen. Geld anzumahnen ist zu einer Art Lieblingsbeschäftigung geworden. Im Bereich der käuflichen Liebe erfordert das Forderungsmanagement eine robuste körperliche Verfassung und ist durch keinerlei Raffinesse getrübt. Im Geschäft mit Hinterbliebenen ist Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen vonnöten. Diese Prädikate sind ein natürlicher Bestandteil meines Wesens.
Bereits mein erster Versuch war ein voller Erfolg. Ich hatte meine Rolle genau einstudiert, aber genügend Spielraum für Improvisation gelassen. Den Briefkopf der Rechnungen hatte ich aus dem Internet kopiert. Sie glauben gar nicht, wie viele spezialisierte Versandhandelshäuser im Netz zu finden sind. Die meisten davon vertreiben Pornografie. Seien wir aufrichtig – wer bin ich, dass ich mich einem solchen Trend widersetzen sollte? Abgeschmackte Pornoartikel und alte Männer. Das passte. Auch alte Männer hatten ihre Geheimnisse. Die meisten von ihnen hatten keine Prostata mehr und auch sonst fehlte ihnen so einiges, was ihre besten Jahre lebenswert gemacht hatte. Was blieb, war der Nachhall guter Erinnerungen und die Begierde. Ja, die Begierde blieb. Dessen war ich mir sicher. Für diese Erkenntnis brauchte ich nicht in wissenschaftlichen Journalen der Geriatrie-Forschung nachzuschlagen. Die Grauen waren auch die Geilen. Sie benötigten lediglich ein wenig mehr an Stimulanz und Nachhilfe.
Mit Bedacht hatte ich mir einen kleinen Spezialversender ausgesucht, der unter dem Deckmantel der Ehehygiene und Gesundheitsvorsorge Billigimitate verschreibungspflichtiger Potenzpillen vertrieb. Die angegebene Hotline war nie erreichbar und auch auf E-Mails erfolgte nie eine Antwort. Der wie eine Ärzteseite aufgemachte Versand war ein seriös anmutendes schwarzes Loch. Er war mein schwarzes Loch. Sie mögen an dieser Stelle denken, dass ich mich wie ein elender Schmarotzer aufführte – und Sie haben recht. Die Natur wimmelt von Schmarotzern. Wo man hinsieht wird auf Kosten anderer gelebt. Bandwürmer und Kuckuckskinder, Schlingpflanzen und Parasiten. Und wissen Sie was: Die Schmarotzer sind erfolgreich. Basta!
Erfolgreich war auch ich. Die gute Vorbereitung hatte sich ausgezahlt. Ich hatte die richtigen Gesten einstudiert. Mit einem entschuldigenden Lächeln präsentierte ich mich an den Haustüren und verlangte mit dem Verstorbenen zu sprechen. Die Verwirrung über die Trauermienen spiegelte sich auf meinem Gesicht. Ich errötete auf Kommando, stammelte im Angesicht der Peinlichkeit, die ich den Angehörigen bereitete und erweckte den Eindruck, dass ich den Rückzug antreten wollte.
Man nahm mir widerspruchslos den Auszubildenden ab, der an Nachmittagen auf Inkassotour geschickt wurde, wenn Kunden hartnäckig keine Zahlung leisteten. Die Witwen mit ihren ledrigen Walnussgesichtern verstanden meist nicht, um was es ging, wenn ich mich in meiner Verlegenheit wand und ihnen zu erläutern versuchte, dass die bestellten Mittel im Werte von wenig über achtzig Euro, dem Besteller zu einem erfüllteren Sexualleben verhelfen sollten. Ich erfand zugunsten des Verstorbenen blumige Umschreibungen, bis Verwandte gerufen wurden, die stirnrunzelnd die widerstrebend überreichte Rechnung prüften und die Augen nach oben verdrehten, mit den Köpfen wackelten und seufzten, als hätten sie eine solche Blamage schon seit langer Zeit kommen sehen.
„Aber er war doch seit langer Zeit herzkrank“, sagten sie. „Von Computern hatte er keine Ahnung“. „Dabei lebte er sehr zurückgezogen seit seinem Schlaganfall“. Die ganz Beherzten machten ihrer Seelenverfassung mit drastischeren Worten Luft. „Der geile alte Bock hätte sich ruhig mehr um seine Kinder kümmern können, als sein Geld mit irgendeiner Schlampe zu verjubeln, für die er teure Pillen schlucken musste, nur um einen hochzukriegen“, sagte eine liebende Tochter mittleren Alters, die ein Zuviel an schimmerndem Make-up mit ausdruckslosen Schlangenaugen wettmachte.
Auf alles hatte ich eine Antwort. Ich sympathisierte, beschwichtigte und intrigierte nach Herzenslust. Ich gab mich bald zerknirscht, bald kämpferisch und bei Bedarf achselzuckend und ratlos. Ich zerstreute Bedenken, indem ich zur klärenden Kontaktaufnahme mit meinem Unternehmen ermunterte und blieb stumm, wenn man sich fragte, wo wohl die Tabletten abgeblieben sein mochten. Zu Drohungen mit rechtlichen Schritten mochte sich niemand hinreißen lassen. Es herrschte zu viel Chaos und Entwurzelung. Außerdem gab es mit der Verteilung der Erbschaft wichtigere Dinge zu erledigen.
Ich war eine lästige kleine Schmeißfliege, vermeintlich geschickt von einem Pulk anderer lästiger Schmeißfliegen, die mit dem Triebleben braver Bürger ihr Geld machten. Ich war ein verächtlicher Geldeintreiber und dabei so erbarmungswürdig ungeschickt und kriecherisch, dass man den Schleim, den ich absonderte, buchstäblich vom Hauseingang wegwischen musste. Niemand wollte wirklich, dass eine solche Kreatur mit nervös hüpfendem Adamsapfel, pickligem Kinn und fettigen Blondhaaren wieder vor ihrer Tür erschien und sie belästigte. Was sollten die Nachbarn denken? Welch ein Ansehensverlust drohte der Familie und dem Angedenken des Toten. Möge er in Frieden ruhen.
Und dann winkten sie mich mit falscher Vertraulichkeit heran, reckten die Hälse in alle Richtungen und zahlten. Ich hatte für Wechselgeld und Quittungen gesorgt. Das hätte ich mir sparen können. „Junger Mann“, sagten sie zu mir im Flüsterton und reichten die Scheine herüber. Sie falteten die Rechnung und steckten sie hastig weg, als sei sie ein unberechenbares bösartiges Tier. Sie wehrten meine umständliche Suche nach dem korrekten Betrag an Wechselgeld ab und flüsterten: „Für Ihre Mühe, junger Mann“. Ich weiß, was sich gehört und antwortete im gleichen Verschwörerton, dass nun alles erledigt sei. Weil es keine Mühe machte und ich ein wenig Zuversicht verbreiten wollte, verbürgte ich mich in ernstem Ton persönlich dafür, dass die Familie nicht mehr behelligt werde.
Mein Abgang gestaltete sich fast immer wortreich mit gegenseitigen Versicherungen, dass man über die Art des Zusammentreffens äußerst unglücklich sei, aber natürlich niemand eine Schuld trage. Ich übernahm den Part des unaufrichtigen Wünschens aufrichtiger Anteilnahme und verbeugte mich ein letztes Mal vor abwehrend ausgestreckten Händen, die mich nicht schnell genug vom Grundstück winken konnten.
So einfach war die wunderbare Geldvermehrung und schon bald träumte ich von einer Ausweitung meiner Aktivitäten, von der Perfektionierung meines Systems, von einer schlagkräftigen Truppe Trickbetrüger, die als Drückerkolonnen in Sachen Leichenfledderei über die Lande zogen und Gelder generierten, von denen ich als Ideengeber am meisten profitierte. Ich dachte an eine Art Franchise im Trauerabzockebereich, an ein gut geöltes Pyramidensystem mit Direktoren, Bereichsleitern und Gruppenleitern, die Anfänger akquirierten und schulten. Ich war im Himmel und dachte keinen Augenblick daran, dass ich ein Arschloch sein könnte.
Natürlich werden Sie sagen, dass ich hätte wissen müssen, dass mein dreizehnter Besuch zur besonderen Vorsicht mahnte. Ich bitte Sie – es ist doch alberner Schnickschnack, dass die Zahl Dreizehn Unglück bringt. Das ist blanker Aberglaube und außerdem war der Besuchstag noch nicht einmal ein Freitag. Es ist doch so, dass die Quersumme der Dreizehn unbestreitbar die Vier ist und die Vier nach der Zahlenmagie der Runenkunde für verlässliche, loyale und hart arbeitende Menschen mit Organisationstalent steht, die stets fair bleiben, aber oft einen hohen Preis für ihren Erfolg zahlen. Die Vier steht für Menschen wie mich.
Dennoch war irgendetwas schiefgelaufen. So sehr ich im Nachhinein meinen Kopf zermartere – ich kann kein Anzeichen entdecken, das mir an jenem Sommermorgen als schlechtes Omen hätte erscheinen müssen. Es war ein drückend heißer Tag, ein Ferientag, ein Tag für den erfolgreichen Geschäftsmann. Ich hatte mir die Familie eines verstorbenen Greises ausgesucht, die in der besten Wohngegend residierte. Es roch nach Geld und gutem Ansehen. Ich überprüfte meine Utensilien. Die Rechnung steckte in einer abgewetzten Ledermappe, die bestens zu meinem schlecht sitzenden Anzug passte. Meine Mutter fragte aus dem Hintergrund mit schwerem Zungenschlag, wann ich wieder zurück sein würde. Sie vermisse ihren Jungen jetzt schon. Sie war unerträglich sentimental, wenn sie trank. Bald würde ich mir eine eigene Wohnung leisten können. Ich verließ das Zimmer, ohne zu antworten.
Das Zielgebiet war für Mountainbikes und schwere Geländewagen gebaut worden. Überall dehnten Rampen ihre rissigen Bäuche aus der Straßendecke und einbetonierte Pflanzenkübel zwangen zu einer endlosen Zickzackfahrt. Der Saum des nahen Waldes schwitzte heißen Dunst aus. Eine bleierne Schwüle lag über der Siedlung.
Eine Reihe schwerer Limousinen stand in der Auffahrt des Hauses, das ich zu besuchen hatte. Sie wirkten, als hielten sie die Luft an. Eigentlich konnte man das Haus als Villa bezeichnen. Gediegener Wohlstand verbreitete sich von dem schmiedeeisernen Tor über die mit Blumenrabatten eingefassten Rasenflächen bis zu den kecken Türmen, die einen gotischen Torbogen flankierten. Hier würde ich keine Probleme haben.
Als die scharfgesichtige Alte die Tür öffnete und mit lackierten Krallen nach meiner Aktentasche griff, wusste ich sofort: Hier würde ich Probleme haben. „Haben Sie es dabei? Ich hoffe, Sie haben es dabei“, keifte sie in einem unangenehmen Falsett, das alleine für sich als Mordwerkzeug ausgereicht hätte.
„Ich, ich, ich …“ Das Stottern war dieses Mal keine Masche.
„Da hat die Versicherung aber einen richtigen Jungspund geschickt. Einen Milchbubi. Erledigen wir zuerst das Geschäftliche und dann können wir zusehen, was wir sonst noch miteinander anfangen können. Der Tag ist noch jung“. Die alte Vettel hatte ein anzügliches Grinsen aufgelegt, das ihre leberfleckige Haut in ein wellenförmiges Netz tiefer Falten warf. Sie bleckte die Zähne, die mich aus Lippenstiftflecken anstarrten. Eine beringte Hand tätschelte eine bläulich gefärbte Dauerwelle, die wie Zuckerwatte auf dem schmalen Schädel thronte. Die Stimmlage hatte sich zu einem heiseren Gurren abgesenkt.
Ich entschloss mich zur Flucht und trottete unschlüssig rückwärts. Eine der Limousinen spuckte einen ungnädigen Bodyguard-Typen aus, der mich schweigend erwartete. Zu ihm gesellte sich sein Klon, der mir den Fluchtweg durch die Sträucher abschnitt. Resigniert blieb ich stehen. Die Alte kicherte amüsiert.
Mein Schweigen nützte mir wenig. Sie durchsuchten mich und fanden die Rechnung. Sie waren von der Sorte Menschen, die eins und eins zusammenzählen konnten. Ich machte einen auf harten Typen. Sie konnten mir nichts tun, solange die Trauergäste anwesend waren und mich anstarrten, als sei ich ein Alien. Ich versuchte geschockt und beleidigt auszusehen. Das fiel mir nicht schwer, denn ich war geschockt und beleidigt. Sie hatten mir nicht die mindeste Chance gegeben. Sie hatten nur einfach nicht mitgespielt. Wer konnte so etwas ahnen? Für einen solchen Fall hatte ich keinen Pfeil im Köcher.
Ich stand betreten in der riesigen Vorhalle, auf deren poliertem Mosaikboden Lichtflecke über verschütteten Kaffee und Überreste gekochter Eier huschten. Meine sorgfältig erstellte Rechnung ging von Hand zu Hand. Die anwesenden Damen erschienen mir etwas zu schrill und ihre männlichen Begleitungen zu stiernackig. Ihr Gelächter dröhnte in meinen Ohren. Ich fühlte, wie ich errötete. Schweiß lief mir über das Gesicht und in den Nacken, obwohl ein Monster von Klimaanlage die Luft in Eisschwaden verwandelte.
Nachdem sich alle prächtig amüsiert hatten, fasste mich einer der Muskelklone am Kragen und drehte ihn mit einem Ruck herum. Ich schnappte nach Luft und hing wie ein nasser Lappen in meinem Anzug wie in einer Zwangsjacke. Die Alte nickte. Das Martyrium war vorbei. Sie würden mich vor das Grundstück schleifen und wie einen Beutel Müll auf die Straße werfen. Das konnte ich aushalten. Ich machte mir keine Sorgen mehr.
Dann tastete eine Hand zwischen meine Beine und suchte nach dem idealen Griff. Es war nicht vorbei. Ich musste mir Sorgen machen. Dazu kam ich nicht mehr. Dafür sorgte der Klon, der auf das Hodenquetschen spezialisiert war. Ich nehme an, er machte seine Sache gut. Das Letzte, was ich bewusst wahrnahm, war ein blasses, blondes Mädchen in einem luftigen Tüllkleid in Hellblau mit roten Tupfen, das seine zerschrammten Knie vor mir zum Stehen brachte und einen Lutscher vor meinem Gesicht schwenkte. Es roch intensiv nach Kirsche.
Danach roch alles nach Tränen, Rotz und Kotze. Ich nehme an, dass ich schrie und zwischenzeitlich das Bewusstsein verlor. Ich glaube, dass ich rief, ich sei die Vier und alle würden mich noch kennenlernen, bevor ich wieder unkontrolliert jaulte und das dritte oder vierte Mal an diesem verheißungsvollen Sommertag starb. Sie können sich nicht vorstellen, welche Verbindungen die Hoden zu jedem anderen Teil des Körpers unterhalten. Sie sind nicht lediglich unschuldige Keimdrüsen, die genug mit ihrem lächerlichen Aussehen und der täglichen Produktion von hundert Millionen Spermien zu tun haben. Sie sind Schmerzterroristen, die sich in ihrem vorwitzigen Geltungsdrang aus der schützenden Bauchhöhle hervorgestohlen haben und ihren runzeligen Sack voller Samenkanäle und Bindegewebe in quetschende Hände schmiegen.
Gesichter und Wände rotierten um mich herum. Alles hatte sich in Bewegung gesetzt. Ich stand in Flammen. Die Luft wurde knapp. Eine sämige Flüssigkeit verklebte meinen Mund. Satzfetzen bohrten sich in meine Ohren. Ich verstand nicht. Ich war zu beschäftigt. Folter ist Vollbeschäftigung. Dann spielte ich nicht mehr mit.
Sie mussten mir eine gute Anzahl Schläge mit der flachen Hand verabreicht haben, denn mein Gesicht war geschwollen wie nach dem Angriff eines Bienenschwarms. Den Schmerz fühlte ich kaum, denn er ging in der allgemeinen Übelkeit unter, die mich zwang, nicht mehr zu bewegen als die Augen. Diese starrten wie hypnotisiert auf einen schwerfälligen Veteranen, der vor mir kauerte und seine Zigarre in meine Richtung stieß.
„Du bist also das kleine Arschloch, das meine Schwester abzocken will.“ Er zog an der Zigarre und richtete den glühenden Stumpen wieder auf mich. „Sie ist in tiefer Trauer. Ihr Mann war ein geachteter Unternehmer und unser aller guter Freund. Sie hat ihn geliebt.“ Ich rollte mit den Augen. Die Meute nickte und die Alte sah so frisch und zufrieden aus, als habe sie eine Runde auf meinem Grab getanzt. „Wir werden die Sache jetzt für dich lösen“, knurrte der Zigarrenmann und wuchtete sich in die Höhe. Seine Gelenke knackten. Die Meute nickte erneut und lächelte in stiller Vorfreude. Ich rollte mit den Augen und würgte.
Klon Nummer drei dräute über mir wie ein Fass mit Sonnenbrille. Er riss seinen Arm nach oben und ließ ihn über meinem gekrümmten Körper schweben wie einen Falken auf der Suche nach Beute. Ein riesiges Messer zielte mit einer glänzend silbrigen Spitze auf meinen Brustkorb. Der Falke setzte zum Sturzflug an.
Ich hörte auf mit den Augen zu rollen und fiel in Ohnmacht.
Anfangs war ich sicher, dass ich dem Tod mit großem „T“ von der Schippe gesprungen war. Dann setzte man mir vorsichtig auseinander, dass mir der Tod seine Schippe gar nicht gezeigt hatte. Er hatte geblufft und der Bluff war gut. Schlecht nur, dass niemand außer mir an den Bluff glaubte. Deshalb hatten sie mir Handschellen angelegt, die sie am Bettgestell befestigten.
Da lag ich nun in einem halb gekippten Zustand, nackt unter meinem kratzigen Krankenhausflügelhemd und in Begleitung einer wie vollgeschissen wirkenden Windel um meine Hüften, die außer meinen gemarterten Testikeln jede Menge Kühlgel enthielt. „Man hätte auch Eiswürfel nehmen können, wenn das nicht so eine Sauerei machen würde“, sagte der Engel der Güte in Schwesterntracht, der mir schalen Tee aus einer Schnabeltasse verabreichte und alles das von meinem mageren Körper abwusch, was ich unfreiwillig von mir gegeben hatte. Ich konnte riechen wie ich stank, aber ich hatte kein Gramm Scham mehr übrig, um es hier einzusetzen und so senkte ich den Kopf und bettelte nach Schmerzmitteln.
Wenn ich wieder in einer besseren Verfassung bin, müssen Sie mir erklären, warum Krankenhäuser glauben, dass kranke Menschen lauwarmen Tee benötigen. Es kann keinesfalls das hoch qualifizierte und effiziente Personal der Klinik sein, das befürwortet, dass jeder Patient ohne Unterschied mit dem Sud bitterer Blätter und Kräuter traktiert wird, bis er den Verstand verliert. Nein, das Personal kocht, operiert, verwaltet und diagnostiziert. Es sind intelligente, aktive Menschen mit einem Auftrag und einem sozialen Gewissen. Ich denke, es ist das Gebäude selbst, das seinen unheimlichen Einfluss ausübt und den klaren Verstand mit Strahlen oder sonst was überlagert, sodass es zu massenhaften Schnabeltassenexzessen kommt. Momentan war ich nicht in der Lage mich zur Wehr zu setzen, aber bald würde ich zu einem Schnabeltassenverweigerer allererster Güte werden.
Es waren solche Gedanken, die ich wie einen zähen Brei in meinem Kopf wälzte und alleine daran mögen Sie erkennen, wie es um mich bestellt war. Mein Zustand verbesserte sich auch nicht durch den Besuch eines Polizisten mit krausen Haaren und besorgter Miene, der mir mit gelangweiltem Gesicht vorhielt, was ich begangen haben sollte. Angeblich war ich in das umfriedete Grundstück eines verstorbenen Finanzinvestors eingedrungen und hatte die Trauergesellschaft mit einem Messer bedroht, als die Witwe des Toten bemerkte, dass ich sie in betrügerischer Absicht um mehr als achtzig Euro erleichtern wollte. Erst das beherzte Eingreifen eines Leibwächters habe die Bedrohung für Leib und Leben der Anwesenden beendet.
Ich wollte lachen, weinte aber stattdessen, weil jede Muskelanspannung einen unerträglich ziehenden Schmerz durch meine Nervenbahnen jagte und der Tee durch den Katheter in meiner Blase als blutig aufbereiteter Urincocktail in einen Beutel tropfte. Der Polizist schien meine Vorstellung für ein Schuldeingeständnis zu halten und nickte bedeutungsschwer. Er ersparte mir die Durchsicht des kleinen Bündels Zeugenaussagen, die nach seinem Dafürhalten unwiderleglich waren, weil sie bis auf das letzte Komma übereinstimmten. Ich hatte so meine Ideen, wie es zu dieser Zusammenrottung identischer Falschaussagen gekommen war, aber ich brachte nicht viel mehr hervor als ein schwerfälliges Lallen, weil mir jemand in den letzten Stunden die Zunge durchgebissen hatte. Die Krankenschwester, die mir eine Kanüle in den gefesselten Arm gesteckt hatte, um meinen Körper mit anderen Dingen als Tee zu versorgen, meinte, das Durchbeißen der Zunge habe ich selbst besorgt. Jetzt hatte ich dreimal so viel Zunge im Mund als je zuvor und fühlte mich nicht gut dabei.
Meine liebe Mutter erschien am nächsten Tag an meinem Bett. Sie triefte vor illegalen Substanzen und schlechten Nachrichten. Mit theatralischer Geste hielt sie eine Zeitung vor mein Gesicht. Ich hatte es immerhin auf die dritte Seite geschafft. „Jugendlicher Trickbetrüger wird von Witwe des Bordellkönigs in die Zange genommen“. Die fette Schlagzeile machte Sinn und erklärte die rauen Umgangsformen. In Gedanken notierte ich mir, die Schadensersatz- und Schmerzensgeldklage gegen die Witwe fallen zu lassen. Die mageren Spalten käuten die Geschichte aus Sicht dieser Lügner wieder und verwiesen darauf, dass die Umstände des Todes des Pornomagnaten noch ungeklärt waren. Wie man hörte, war er an gewaltigen Kopfschmerzen gestorben. Hinter jedem der drei Einschusslöcher in seinem Schädel steckte eine Kugel kleinen Kalibers. Da konnte einem der Kopfschmerz schon mal ein Schnippchen schlagen. Der Ansicht war auch die Versicherung. Sie weigerte sich zu zahlen und die hinterbliebene Frau des Bordellkönigs fühlte sich zweifach beraubt. Und dann war ich aufgetaucht, nur weil die Todesanzeige vom „plötzlichen und unerwarteten Tod unseres geliebten Mannes, Großvaters und Onkels“ geschwafelt hatte. Was für ein ausgesprochenes Pech.
Die Schule hatte sich offensichtlich beeilt, ein Ordnungskomitee zusammenzurufen, das meinen sofortigen Schulausschluss empfahl. Soviel zu der heiligen Unschuldsvermutung, die alle rechtsprechenden und vollziehenden Kräfte in diesem Land band. Ich hatte nicht schlecht Lust auf diese heuchlerische Vereinigung angepasster Erzieher zu scheißen oder zumindest zu spucken, aber beides war aus körpertechnischen Gründen derzeit unmöglich. Ich würde es später nachholen, wenn ich rehabilitiert war.
Apropos Rehabilitierung. Meine Mutter fuhr sich nervös durch die Haare. Zur Feier des Tages waren sie schmutzig blond getönt und mit einem Seidenschal gebändigt. Die Polizei hatte sie befragt und sie hatte bereitwillig Auskunft gegeben. Schließlich wollte sie ihrem Jungen nicht schaden und alles sagen, was ihm nutzte. Sie glaubte fest an meine Unschuld. So ganz konnte sie sich nicht mehr an die Fragen erinnern. Es waren so viele. Und manche richtig hinterhältig, wie die nach übermäßigem Alkoholkonsum, nach Vorstrafen und dem ausgeübten Beruf. Ja, und das Messer habe man ihr gezeigt, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die rosa geschminkten Lippen. Ich fixierte sie mit meinem besten Blick. Sie fingerte an ihrem Perlenhandtäschchen herum, das ich einmal auf einem Flohmarkt für sie gekauft hatte. Sie habe nicht gewusst, was sie sagen sollte. Es war ein ganz normales Messer. Eines, das jeder zuhause hat. Und dann sei ihr glücklicherweise Bert zu Hilfe gekommen.
Geht es Ihnen auch so, dass Sie mit bestimmten Wendungen im Leben überhaupt nicht kalkulieren, aber doch unterbewusst Vorsorge für den Fall der Fälle getroffen haben? Ein interessantes Phänomen. So erging es mir mit Bert. Am Vortag hatte der Polizeibeamte nach einem prüfenden Blick auf meine überdimensionierte Windel gefragt, ob ich mich soweit beruhigt hätte, dass man mir die Handschellen abnehmen könne. Ich hatte trotzig den Kopf geschüttelt, weil ich gerne weiterhin ein gedemütigter, ausgemergelter, gefolterter Windelmann sein wollte. Alles was recht ist, ich besitze die Gene eines Kampfschweins und in etwa dessen Intelligenz, wenn man bedenkt, dass ich eine Nacht zwischen Wunder, Wahn und Wirklichkeit angekettet an ein Metallbett verbrachte. Am Tag des Besuchs meiner Mutter sah ich das anders, denn beim Erscheinen von Bert verlor ich jede Selbstbeherrschung.
An guten Tagen hätte ich meine Mutter mit einem sarkastischen Lächeln bedacht und sie gefragt, ob der Vorname von Bert vielleicht „Camem“ sei. Und dann hätte ich ihr den Umgang mit ihm verboten.
An den Tagen, an denen ich an zerdrückten Hoden laborierte war ich weniger charmant. Meine Mutter hatte mir stockend, aber wortreich beschrieben, wie Bert für den ermittelnden Beamten das Messer identifizierte. Sie las es von einem Zettel ab, den sie geschrieben hatte. Es war ein Jagdmesser aus bestem Damaszener Stahl, eine Kostbarkeit der Messerschmiedekunst und genau das, was Leute wie wir auf dem Sprung von der Unterschicht zur Mittelschicht benötigten. Bert hatte es eindeutig wiedererkannt. Bert sagte: „Kein Zweifel, es gehört dem Jungen. Es ist sein ganzer Stolz“.
Bert war der ganze Stolz meiner Mutter. Ich hatte noch immer damit zu tun, die Lawine schlechter Nachrichten zu verdauen, als sie ihn hereinholte. Bert hatte Blumen dabei. Wahrscheinlich hatte er sie an einer Tankstelle gestohlen. Ich begann mit dem Augenrollen, das ich mittlerweile perfektioniert hatte und stieß unartikulierte Laute aus, die mir einen blutigen Schaum vor die Lippen pressten. Mit dem gefesselten Arm rüttelte ich an den Metallverstrebungen des Bettes und erzeugte alles in allem eine glaubwürdige Geräuschkulisse, die meine Pantomime der Empörung flankierte.
Meine Mutter schlug die Hände vor das Gesicht und rief: „Sieh nur, wie er sich freut.“ Ich rüttelte noch etwas mehr und glotzte auf den durchweichten Krepp der Blumenverpackung, die es sich auf meiner Brust bequem gemacht hatte. Bert war halb durch den Blütenstand minderwertiger Astern verdeckt. Er sagte: „Hallo, ich bin Bert.“ Anscheinend war er ein Anhänger der schlichten Ansprachen. Wesentlich facettenreicher war sein Outfit. Mit einiger Anstrengung konnte ich schwarze, gegelte Haare, ein halbes Pfund Goldschmuck und bunt gefärbtes Nappaleder erkennen. Wulstige, halb geöffnete Lippen hingen in der Luft und die aufdringliche Moschusnote des Aftershave fiel über mich her wie ein Würgeengel.
„Wir haben uns im Fitnessstudio kennengelernt, deine Mutter und ich. Wir kennen uns schon länger und haben entschieden, dass wir gut zusammenpassen.“ Gefaltete, manikürte Hände erschienen über dem Grünzeug des Blumenstraußes, der noch immer meine Sicht belästigte. „Tut mir leid, Junge – aber ich musste der Polizei die Wahrheit sagen. Sie hätten das mit dem Messer ohnehin rausgekriegt. Selbst deine Mutter hat zum Schluss das Messer klar identifiziert“. Die Stimme von Bert war genauso ölig wie seine pomadisierten Haare. Er hätte Prediger werden sollen. „Ich bin Boxtrainer“, sagte die Stimme stattdessen und wechselte von sakral zu entschlossen. „Dir fehlen offensichtlich der Vater und ein bisschen Disziplin. Keine Sorge, das kriegen wir schon hin, wenn du mal wieder zuhause bist. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um deine Mutter. Mach dir keine Sorgen.“
„Mach dir keine Sorgen“, flötete meine Mutter und sandte mir Kusshändchen, denen ich nur mit Mühe ausweichen konnte. Spitznasige Cowboystiefel mit Karomustern und grell rosa Pumps entfernten sich aus dem Zimmer. Sie schlurften und stöckelten im gleichen Takt. Sie hatten sich gegen mich verschworen. Der Auftritt von Bert und der Geliebten von Bert war eine Kampfansage. Ich machte mir eine mentale Notiz, dass zu Gwendolin, des Bordellkönigs Witwe, ein neuer Adept für eine offene Rechnung hinzugekommen war.
Bert, der Boxer, hatte sich offensichtlich entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und meine vorübergehende Notlage durch dreiste Falschaussagen soweit zu verschärfen, bis er mich los war. „Selbst deine Mutter hat zum Schluss das Messer klar identifiziert“, hatte er gesagt. Ich schloss die Augen und versuchte zu ignorieren, was mir alles wehtat. Vielleicht hatte ich meine Eier, aber ganz bestimmt nicht meinen Kopf verloren. Meine Mutter hätte ohne das Zureden von Bert ein Damaszener Jagdmesser nicht meinem Besitz zugeordnet, selbst wenn es sie angesprungen und zum Tango aufgefordert hätte. Sie war eine suchtkranke, entwurzelte Frau. Mit ihr würde ich später abrechnen. Ich schnappte nach den Astern und begann die Blütenblätter mit den Lippen abzureißen.
Der Rest ist schnell erzählt. Meine Windelphase dauerte drei Wochen und einen weiteren Monat später war alles wieder in einem gebrauchsfähigen Zustand. Ich erhielt keine weiteren Besuche und keine Blumen mehr und ein Gericht, das weder zuhörte, noch an der Wahrheit interessiert war, verurteilte mich zu acht Monaten Jugendstrafe auf Bewährung. Ich verpflichtete mich an einer Antiaggressionstherapie teilzunehmen und leistete freiwillige Sozialstunden in einer Suppenküche für Bedürftige. Die Schule begründete meinen Rausschmiss mit gestelzten Worten und erteilte eine Rechtsmittelbelehrung, dass ich gegen diesen Verwaltungsakt im Wege des Widerspruchs vorgehen könne. Ich verzichtete und machte mir stattdessen eine mentale Notiz, damit ich die Rädelsführer dieser Kampagne nicht vergaß.
Der knorrige Alte hatte mich auf der Totenfeier ein „kleines Arschloch“ genannt und er hatte recht. Ich hatte klein und eng gedacht. Jetzt war ich von vielen Konventionen befreit und konnte das Leben eines Privatiers führen, das Leben eines großen Arschlochs.
Meine Bauchdecke und Teile der Oberschenkel hatten interessante Färbungen angenommen und waren druckempfindlich. Die neu gewonnene Sensibilität verlieh meinem bis dahin unauffälligen Gang etwas elegant Gleitendes. Ich trat mit den Zehenspitzen auf und rollte den Fuß über die äußeren Ballen ab, bis mich der Schmerz beim Aufsetzen der Ferse empfing. Ich war ein neuer Mensch. Mein Mountainbike war konfisziert, da es zur Ausübung einer Straftat benutzt worden war. Ausnahmsweise war ich über diese Fügung des Schicksals dankbar, denn der schmale Sportsattel hätte mir mit seinem delikaten Druck auf die Weichteile die Flausen ausgetrieben. So bewältigte ich die notwendigen Gänge meist zu Fuß.
Ich musste mit meinen Ressourcen haushalten, denn Bert hatte seine Boxerhände auf den Titten meiner Mutter und auf dem Budget. Bei aller Ausgabendisziplin, die er mit den einfachen Worten kommentierte: „Es gibt nichts, Schwanzlutscher“, brachte er es schließlich nicht übers Herz, sich selbst unangemessen zu benachteiligen. Bald parkte ein nachtschwarzer Geländewagen mit bulligen Aufbauten und bösen Scheinwerferaugen vor unserem Appartementhaus. Meine Mutter ackerte und soff im Akkord und am Ende des Tages war ich mir nicht sicher, ob der Wagen nicht alleine vom Flaschenpfand der beiden finanziert war. Vor mit tanzte der begnadete Boxtrainer herum wie eine grenzdebile Ballettschwuchtel und schwang die Fäuste in Andeutungen von rechten Haken und linken Geraden, die ihn aus der Balance und außer Atem brachten. Er war ein Triumphator auf Zeit und es war nur seinem schwach ausgeprägten Intellekt zu verdanken, dass ihm an Repressalien nicht viel mehr einfiel, als mir mit dem Rauswurf aus der Wohnung oder einer ordentlichen Tracht Prügel zu drohen.
Meine liebe Mutter nickte eilfertig zu seinem Schwadronieren und war augenscheinlich froh, wieder einen festen Freund zu haben, der ihr den rechten Weg zeigte. Immerhin schleppte sie sich ins Fitnessstudio und absolvierte ihre Leibesübungen. Mit ihren hypochondrischen Anwandlungen hatte sie ganz aufgehört. Bert konnte das weibische Gejammer nicht ausstehen. Also ließ sie es. Ganz einfach so. Man konnte fast neidisch werden. Der Mann hatte Einfluss auf sie, auch wenn er nur eine Karikatur war, die in einer gerechteren Welt den Müll anderer Leute sortiert hätte. Nur das Saufen wollte sie nicht lassen und wenn er nicht gerade boxte oder mit seinen unangenehmen Kumpels abhing, soffen sie beide.
Bis auf gewisse Schwierigkeiten beim Urinieren gesundete ich und der Herbst überfiel das Land mit heftigen Stürmen und Regengüssen. Die Bilanz des letzten halben Jahres sah düster aus. Meine Barmittel waren weitgehend erschöpft, ich war in bildungsferne Gefilde geworfen worden und in unternehmerischer Hinsicht herrschte Flaute. Nicht zu sprechen von den Schäden an meinem Körper und Gemüt, die die Serie von Fehlschlägen und Demütigungen hinterlassen hatte.
Von all dem heilte mich Susi. Susi war ein Wesen wie von einem anderen Stern. Bitte halten Sie mich nicht für naiv. Ich bin nicht leicht zu beeindrucken und meine romantische Phase hatte ich im Alter von acht abgeschlossen, als ich bemerkte, wie die von mir angehimmelte Zopfträgerin heimlich meine Matchboxautos stahl, während ich einen Blick auf ihren Schlüpfer werfen durfte. Ich war auch nicht schüchtern und griff nach der ersten mütterlichen Inkarnation, die sich meinem nach heiler Welt lechzenden Herzen bot.
Susi machte den besten Krautsalat, den ich je gekostet hatte. Sie behauptete, es liege am Essig und der zusätzlichen Portion Kümmel, die sie in das Gemisch gab. Ich denke, es lag an den stämmigen roten Armen und dem herzförmigen Gesicht, das beim Mischen einen ehrfürchtig konzentrierten Ausdruck annahm. Susi war eine kugelrunde, naturblonde Wucht, wenn Sie diesen abgedroschenen Ausdruck verzeihen, und die gute Seele der Suppenküche. Eine Menge abgerissener Gestalten fand sich zu den kostenlosen Mahlzeiten ein und unser bunt gemischtes Team aus Freiwilligen, Ein-Euro-Jobbern und Mitarbeitern sozialer Einrichtungen hatte alle Hände voll zu tun, die Mäuler zu stopfen. Susi hatte für alle ein gutes Wort und bemerkte es nie, wenn ich mich aus der Lebensmittelkasse bediente, um meine Hilfementalität materiell zu stützen. Ich verehrte sie dafür.
Sie war eine einfache, aber lebenskluge Frau. Als Leiterin der Einrichtung hatte sie von meinen kleinen Gesetzesübertretungen Kenntnis erhalten und ohne Vorurteile reagiert. Nach einem besonders gelungenen Bohneneintopf nahm sie mich beiseite und fragte geradeheraus, wie ich in einen solchen Schlamassel habe geraten können. Ich antwortete gewohnt einsilbig und defensiv und war umso überraschter, als sie bei der Erwähnung der Zahl Vier in helle Aufregung verfiel. Sie hielt mir keine Predigt von Tugend und Verzicht und trug nicht das Hohelied der Disziplin wie eine professionelle Dompteuse vor sich her. Nein, sie regte sich über die von mir berechnete Quersumme auf. „Das war der Fehler“, rief sie mit einem Leuchten im Gesicht und klatschte mir ihre Hand auf meinen Oberschenkel, der ängstlich zur Seite zuckte und froh war, dass das Klatschen weit genug von der Körpermitte entfernt stattfand. Wie sich herausstellte, war Susi Amateurnumerologin, die sich in kabbalistischen Zahlendeutungen ebenso gut auskannte wie in der Runenkunde und anderen esoterischen Berechnungstechniken. Sie gab mir den Glauben zurück. Sie war hinreißend, als sie mir mit Pathos in der Stimme erklärte, dass die Quersumme des Tagesdatums etwas für blutige Amateure sei und man vielmehr bestimmte entscheidende Schlüsselwörter und persönliche Schicksalsdaten, wie das Geburtsdatum, zahlenmagisch umsetzen müsse. Ihrer geschätzten Meinung nach war ich am Tag meiner Demütigung aus purer Unwissenheit und falsch berechneter Selbstsicherheit in ein kosmologisch bedingtes Störfeld hineingeschliddert, das ich bei genauer Berechnung hätte vermeiden können. Und damit war die Sache für sie erledigt. Ich liebte sie dafür.
Kein Wunder, dass ich mich ihrer annahm, als sie Kummer hatte. Zufällig belauschte ich an einem lausig kalten Tag ihre Unterhaltung mit einem ausgezehrten Geschöpf, das in der Küche für die Ausgabe des Obstes zuständig war. Susi hatte Probleme mit ihrem Mann. Er hinterging sie. Er machte sie traurig und sie vernachlässigte den Krautsalat.
Genügend Gründe für mich einzugreifen. Es war ein erhebender Moment. Ich war auf dem Weg ein Altruist zu werden. „Altruist“ war besser als „Menschenfreund“. Es war ein mächtiger, fast in Vergessenheit geratener Ausdruck aus dem Lateinischen. Er war geeignet für die Zahlenmagie. „Altruist“ ist zwei, und zwei kann ein großes Arschloch sein.
Sie werden es sehen.
Sie glauben vielleicht, die Aufschlüsselung des Begriffes „Altruist“ in die Zahlenwerte seiner Buchstaben und das Ziehen der Quersumme seien eine zu dünne Grundlage für meine künftigen Unternehmungen gewesen. Seien Sie beruhigt. Ich erwartete keineswegs, dass mich meine Zahl wie ein magischer Schutzschild begleitet und mir den Weg ohne mein Zutun ebnet. Diesem Stadium der Wundergläubigkeit brauchte ich nicht zu entwachsen, denn ich hatte mich nie in einem solchen Stadium des Denkens befunden. Ich bin ein überaus rationaler Mensch, der sich gewissen Fingerzeigen nicht verschließen will, nur weil sie aus der nicht-stofflichen Welt stammen. Das macht mich noch nicht zu einem Anhänger von Wahnideen. Im Gegenteil. Babylonier, Ägypter und Juden bauten auf die Zahlenkunde und selbst die fortschrittsgläubigen Römer besaßen einen der neun Schlüssel der Numerologie. Mathematik, Vernunft und experimentelle Nachweise beweisen die Existenz der neun Erhöhungen des Geistes, die die neun Schlüssel sind, welche das Tor der Weisheit öffnen. Die „Zwei“ ist „absolute Weisheit“. Weisheit ist angewandte Erkenntnis zum Guten. Ich war der Anwender und es sollte gut werden.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie einfach es ist, sich konzentrierte Salzsäure zu beschaffen und wussten Sie, dass sie im Magensaft in geringer Konzentration vorkommt? Letzteres erzählte mir der onkelhafte Typ mit der Eulenbrille, der am Tresen des Fachhandels stand und die Brusttasche seines weißen Kittels mit Kugelschreibern zugeparkt hatte. Ich wette, er wäre gerne wieder ein Chemiestudent gewesen, wie ich es angeblich war. Bevor Sie mich rügen, möchte ich anfügen, dass das Annehmen einer falschen Identität weniger eine Lüge als eine erlaubte Kriegslist war. Ich hatte mich auf alles vorbereitet und mir eine Legende zurechtgelegt, die alle Fragen nach meinen Lebensumständen und Motiven ausreichend beantwortete. Das Einzige, was den Mann zu interessieren schien, war die gewünschte Konzentration der Säure. Ich machte einen halbherzigen Versuch, von Experimenten mit unedlen Metallen und dem Entstehen von Metallsalzen zu berichten, erntete aber lediglich ein halbherzig zustimmendes Brummen, das zwischen Flaschen und Phiolen davonhuschte und kaum als Dialog bezeichnet werden kann.
Der Mann war auf der Fläche zwischen seinen wässrigen Augen und den schartigen Fingernägeln auf Mitteilsamkeit gepolt. Ich ließ ihn gerne gewähren, solange sich außer seinen feuchten Lippen auch seine Hände bewegten, die meinen Einkauf herrichteten. Konzentrierte Salzsäure sei nichts im Vergleich zu den chemischen Kampfstoffen, die dem winzigen Bombardierkäfer zur Verfügung stünden, der bei Bedrohung aus seinem Hinterteil bis zu hundert Grad heißen, mit ätzenden Substanzen angereicherten Wasserdampf verschießen könne – und das mit bis zu fünfhundert Dampfstrahlen pro Sekunde, dozierte der Verkäufer.
Meine Bedienung schmatzte anerkennend mit den Lippen. Auf der Halbglatze des Mannes hatten sich Schweißperlen gebildet, die offensichtlich auf die überwältigende Erregung zurückzuführen waren, die die Schilderung dieses Wunders der Bionik bei ihm auslöste. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie Horden von ein Millimeter großen Käfern mit aufgestellten Hinterteilen die Weltherrschaft an sich rissen. So hatte ich die Sache noch nie betrachtet. Ich nickte und zahlte und bekam so nicht mehr ganz mit, welche Verdauungssäfte in dem Magen eines unschuldig reizenden Rotkehlchens tobten, das aus Samen, Fliegen und Würmern eine mehrfarbige Fäkalie braute, die sich durch Autolacke fressen konnte. Dennoch würden Vögel nie die Weltherrschaft erobern, weil sie es einfach nicht darauf anlegten. Bei mir verhielt sich das anders.
Aber die machbaren Dinge zuerst. Ich hatte nicht gedacht, dass es so aufregend sein könnte, ein Fahrzeug zu stehlen. Gut, es war nicht ein Fahrzeug im eigentlichen Sinne und der Vorgang des Eindringens beschränkte sich auf einen kurzen Einsatz des Bolzenschneiders, den ich zuvor im Baumarkt organisiert hatte. Aber immerhin. Einige Seitenblicke und eine schnelle Anstrengung später hatte ich mein Fahrrad. Es war ein veritables Retro-Modell, ein Kaltblüter unter den Fahrrädern mit stabilen Verstrebungen und einem Gepäckträger, der die Säureflasche und den Bolzenschneider in der Wolldecke mit seinem Drahtmaul festhielt. Wenn man einen Entschluss gefasst hat, macht man sich keine Gedanken um Äußerlichkeiten und so radelte ich auf asthmatisch pfeifenden Reifen durch den Nieselregen hinaus zum Stadtpark. Ich war ein seit Kurzem volljähriger Start-up-Unternehmer mit einer Mission.