Der Zauber der Edelsteine - Johanna von Wild - E-Book

Der Zauber der Edelsteine E-Book

Johanna von Wild

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Beschreibung

Emilia, die Tochter eines Edelsteinschleifers, ist verliebt in den Lehrjungen Elias. Ihr von Geldnöten geplagter Vater jedoch verspricht seine Tochter Paul Gabler. Als Elias davon erfährt, verlässt er Waldkirch und begibt sich, wie auch Paul, auf die Walz. Während seine Wege ihn bis ins ferne Antwerpen führen, wo er bei einem jüdischen Diamantschleifer lernt, dreht sich in der Heimat alles um den Zusammenschluss der Steinschleiferbruderschaft mit den Freiburger Meistern. Nach einigen Schicksalsschlägen ehelicht Emilia schließlich Pauls Bruder. Doch dann kehren Elias und Paul zurück …

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Johanna von Wild

Der Zauber der Edelsteine

Historischer Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © HKTR-atelier / stock.adobe.com; Wellcome Library, London. Wellcome Images [email protected] http://wellcomeimages.org Diamondworks: interior view, a wheel used by diamond cutters with various tools of the trade. Engraving. Published: -; Copyrighted work available under Creative Commons Attribution only licence CC BY 4.0 http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

ISBN 978-3-7349-3258-8

Widmung

Ralf. My diamond in the rough.

Für Maria. In Liebe und Dankbarkeit.

Zitat

»Gott ließ weder das Strahlen noch die Kräfte der Edelsteine vergehen, denn er wollte, dass sie auf Erden geschätzt und gepriesen würden und als Heilmittel dienten.«

Hildegard von Bingen (1098–1179)

Dramatis personae

historische Personen sind mit * gekennzeichnet

Familie Winterhalter

Heinrich: Balierer

Rosa: seine Frau

Emilia: seine Tochter

Anton: sein Sohn

Hilda: seine Nichte

Familie Rombach

Elias: Lehrjunge bei Meidler

Agatha: seine Schwester

Berta: seine Mutter

Jakob: sein Vater, ein Maurer

Familie Gabler

Eugen: Balierer

Alwine: seine Frau

Rupert, Egon, Walter, Paul: seine Söhne

Gerda: seine Tochter

Bürger in Waldkirch

Hanns Bader*: Bürgermeister

Kurt Mäder: Balierer

Sebastian Mäder: sein Sohn

Gorian Scherer*: Balierer

Reinhard Krug: Balierer

Josef Meidler: Balierer

Sabina: seine Tochter

Joß Hanke: Schmied

Siegfried Geiger: Lehrjunge bei Winterhalter

Frieder Kerner: Lehrjunge bei Scherer

Martha Hummels: Kräuterkundige

Balthasar Schübel: Gürtelmacher

Chorherren zu Sankt Margarethen

Jörg Keck*: Propst ab 1540

Adrian Mantz*: Propst ab 1563

Clemens Blattmann: Pfarrer

Weitere Personen

Hans Scher*: Balierer in Freiburg

Oskar Kremer: Bürger von Emmendingen

Karl Sutter: Lehrjunge in Sankt Arnual

Clas Wasser: Balierer in Sankt Arnual

Lorenz Künfflin: Balierer in Idar

Lore: seine Frau

Wirich V.*: Graf von Daun-Falkenstein

Irmgard von Sayn* seine Frau

Claudius Cantiuncula*: Kanzler in Ensisheim

Bartel Moser: Händler

Jörg Bieser: Händler

Personen in Antwerpen

Ezra Abner: Diamantschleifer

Estha: seine Frau

Adaja: seine Tochter

Liam: sein Sohn

Ephraim ha-Levi: Goldschmied

Jehuda ben Maimon: Rabbiner

Garcia da Vega: Arzt

Meyndert Goossens: Bürgermeister

Ferdinand II.: Erzherzog von Österreich von Tirol*

1543 Waldkirch

»Heißa, Kathreinerle, schnür dir die Schuh, schürz dir dein Röckele, gönn dir kein Ruh«, trällerte Emilia vor sich hin, während sie die goldgelben Pfifferlinge aus dem hellgrünen Moos um die Fichten sammelte. »Di-dl, du-dl, da-dl, schrum, schrum …«

»Du bist gut gelaunt«, wurde sie unterbrochen und fuhr zusammen.

»Bist du von Sinnen, mich so zu erschrecken? Beinahe hätte ich meinen Korb fallen lassen.« Zornig sah Emilia Winterhalter den jungen Mann an.

»Jetzt hab dich nicht so«, erwiderte Paul Gabler grinsend und warf einen Blick auf die vielen Pilze. »Du warst fleißig, wie ich sehe.«

»Was geht’s dich an, Paul? Solltest du nicht Steine schleifen?« Emilia war verstimmt und blies eine der widerspenstigen walnussbraunen Locken von ihrer Wange. Es war immer dieselbe, die sich aus ihrem Zopf löste.

Paul Gabler fasste nach dem Tragegriff. »Komm, ich helfe dir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Geh und mach deine Arbeit, Paul, bevor du noch Ärger mit deinem Vater bekommst.«

»Machst du dir etwa Sorgen um mich?«, lächelte er schelmisch.

»Darauf kannst du lange warten, Gabler.« Sie schickte sich an zu gehen, wollte eine andere Stelle im Wald aufsuchen, wo meist Schusterpilze zu finden waren.

Paul griff nach ihrer Linken. »Bald geht die Lehrzeit zu Ende, und es wird gefeiert. Wir beide könnten schon mal den Tanz üben. Du hast doch eben den ›Hopser‹ besungen.«

Emilia entzog sich ihm. »Dazu bedarf es keiner Übung, und ich habe keine Zeit dafür.«

Seufzend ließ er sie ziehen. »Versprich mir wenigstens, dass du mit mir tanzen wirst«, rief Paul ihr nach.

Emilia wandte den Kopf über die Schulter und nickte ihm zu, bevor sie zwischen den Bäumen verschwand. Wann immer möglich, suchte Paul Gabler in letzter Zeit ihre Nähe, doch sie mochte ihn nicht sonderlich. Und nun hatte sie ihm auch noch einen Tanz zugebilligt, nur um ihn loszuwerden.

Die Familie Winterhalter wohnte in einem dreistöckigen Haus, nicht weit entfernt vom Zunfthaus der Sankt Anna Bruderschaft der Bohrer und Balierer, die sich jenes mit der Stadt Waldkirch teilte. Oben tagten die Zunftleute, unten befanden sich die Stadtwaage und die Fleischbank, die sogenannte Metzig. Heinrich Winterhalter war einer von vierzig Balierern in der Stadt, wie man die Steinschleifer nannte. Er gehörte zu denen, die ein eigenes Schleifrad besaßen, Heinrich gar derer zwei. Jedoch gab es Meister, die als Stückwerker arbeiteten, da sie sich keinen Schleifstein leisten konnten. Sie erhielten für jeden hergestellten Stein einen vereinbarten Lohn. Vor langer Zeit waren die Wasser der nahen Elz abgezweigt worden, um ihre Kraft zum Antrieb der Mühlräder zu nutzen, die wiederum die großen runden Schleifsteine zum Drehen brachten. Nahe der Stadtmauer verlief der gut eine halbe Meile lange Gewerbekanal mit den Schleifen, an dem auch die Badstube lag. Wehre in der Elz speisten den Mühlen- und den Sägebach, und diese trieben die Wasserräder für die Walk- und Getreidemühlen sowie die Stadtsäge an. Durch die drei Wasserläufe war eine Art kleine Insel entstanden, die über einfache Brücken zu queren war, um den Betreibern und Arbeitern den Zugang zu den Mühlen zu erleichtern.

An das Haus der Winterhalters schloss sich ein Innenhof an, der Platz für einen Holzschuppen, einen Kuhstall und eine Scheune mit darunterliegendem Keller bot.

»Mutter, sieh nur, wie viele ich gefunden habe.« Emilia kam zur Tür hereingestürmt und setzte den bis zum Rand gefüllten Korb schwungvoll auf dem Küchentisch ab, wobei ein paar Pilze danebenfielen und auf dem Boden landeten.

Rosa Winterhalter rollte mit den Augen und hob kopfschüttelnd Pfifferlinge und Schusterpilze auf.

»Du bist kein kleines Mädchen mehr, Emilia, sondern eine junge Frau von sechzehn Jahren und solltest dich deswegen eines angemessenen Verhaltens befleißigen«, tadelte sie.

»Fürchtest du etwa, ich könnte Vaters guten Ruf zunichtemachen?« Emilia entflocht ihren Zopf und schüttelte ihre dichten walnussbraunen Locken, die einer Mähne gleich über ihre Schultern flossen. Die durch das geöffnete Küchenfenster hereinfallenden Sonnenstrahlen ließen ihr Haar mal rötlich, mal gülden erscheinen. Die Farbe hatte sie ihrer Mutter zu verdanken, bei der sich jedoch die ersten grauen Strähnen im Schopf zeigten.

»Kind, ich sorge mich nur darum, welcher Mann dich einmal ehelichen will, wenn du so ungestüm bist.«

Rosa Winterhalter begann, die Pilze zu säubern und in Streifen zu schneiden. Einen kleinen Teil würde die Familie heute verzehren, die übrigen sollten getrocknet werden. Emilia nahm sich Garn und Nadel und fädelte die Pilzscheiben auf, damit sie später auf dem Dachboden aufgehängt werden konnten, wo es warm, trocken und luftig war. So wurden die Geschenke von Mutter Natur haltbar gemacht, ohne zu schimmeln.

»Über eine Heirat möchte ich nicht nachdenken. Noch nicht«, erwiderte Emilia, sah von ihrer Arbeit auf und stach sich prompt an der Nadel. Sie ließ den kleinen Strang auf den Tisch fallen, steckte den linken Zeigefinger in den Mund und saugte an der kleinen Wunde.

»Es ist spät«, stellte sie fest und fädelte weitere Pilze auf. »Wo bleibt denn Anton? Und ist Vater schon zurück?«

»Dein Bruder arbeitet noch in der Schleife. Es wird wohl weitere ein, zwei Tage dauern, bis euer Vater wieder da ist. Er ist ein zäher Verhandler und versucht, bei den Händlern nicht nur die besten Rohsteine zu erstehen, sondern auch den Preis zu drücken.«

Emilias Mutter arbeitete schnell, und der Korb hatte sich fast geleert.

»Ich bin gespannt, was er mitbringt, hoffentlich Amethyste. Irgendwann möchte ich einen um den Hals tragen, und sei er nur winzig klein«, seufzte Emilia.

»Hör auf zu träumen, diese Edelsteine sind für den Adel und die Kirche bestimmt. Du solltest dich nicht beschweren, wenn du keinen Schmuck bekommst. Immerhin sorgen diese und andere Steinchen dafür, dass wir ein gutes Auskommen haben. Ich sehe nach, wo Hilda bleibt. Wahrscheinlich ist sie mal wieder irgendwo in der Nachbarschaft unterwegs und schwätzt.« Rosa warf theatralisch die Hände in die Luft. »Wenn ich mich nicht um alles selbst kümmere. Dabei habe ich sie nur losgeschickt, Eier zu holen. Irgendwann werfe ich sie hinaus.«

Emilia lächelte in sich hinein. Ihre Mutter beschwerte sich oft über Hilda, aber niemals würde sie ihre Nichte auf die Straße setzen. Hilda war klein geraten und schwach im Geiste. Ihre Gesichtszüge muteten seltsam an. Ein flaches Profil, die hervorstehende Zunge, die schmalen Augen, die kurzen Finger und Zehen. Dafür besaß Hilda ein sonniges Gemüt und strahlte meist. Es gab immer Leute, die Emilias Base schräg ansahen und hinter vorgehaltener Hand tuschelten, aber die meisten mochten Hilda, da sie niemandem etwas Böses wollte. Rosas Schwester Hanne war zwei Jahre nach Hildas Geburt gestorben, und Emilias Mutter hatte sich damals des kleinen Mädchens angenommen, das nur ein Jahr jünger als Emilia war.

Emilia brachte ihre Pilzkettchen auf den Dachboden, befestigte sie sorgfältig zwischen den Balken und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster die Straße hinunter. Am Ende beim Niedertor stand das Gasthaus Krone, aus welchem gerade Paul Gabler trat. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. Sein Vater hatte es wahrlich nicht leicht mit seinem jüngsten Sohn, der sich lieber herumtrieb, anstatt Steine zu schleifen, damit diese später poliert und gefasst werden konnten. Als sie wieder in die Küche kam, traf sie unvermittelt auf Hilda, die sich gerade einen rohen Pilz in den Mund schob.

»Hilda! Spuck ihn aus, sofort«, sagte Emilia streng, doch ihre Base schluckte den Schusterpilz mit einem seligen Lächeln hinunter.

»Keine! Rohen! Pilze!« Sie gab Hilda einen Klaps auf die kleine, fleischige Hand, die nach dem nächsten Pilz greifen wollte. »Sie sind giftig, und du bekommst Bauchgrimmen davon. Nur wenn man sie kocht oder brät, kann man sie essen.«

»Hunger«, lachte Hilda.

»Ja, habe ich auch, aber wir müssen warten, bis alle da sind. Du kannst Zwiebeln schälen und in kleine Stücke hacken, ich schneide Speckstreifen«, schlug Emilia vor, die sich wunderte, wo ihre Mutter blieb.

»Hilda, hast du Eier geholt?«

Ihre Base nickte eifrig. »In den Keller gebracht.«

Plötzlich drangen Schreie durch die offenen Fenster herein. Emilia ließ das große Messer fallen und eilte hinaus auf die Straße, gefolgt von Hilda, die kaum hinterherkam. Weitere Menschen traten aus ihren Häusern und liefen in Richtung Gewerbekanal, der außerhalb der Ringmauer lag. Irgendetwas Schlimmes musste geschehen sein. Emilia gehörte zu den Ersten, die bei der Schleife ankamen, und starrte fassungslos auf die sich ihr bietende Szene. Mehrere Männer versuchten mittels dicker Balken, ein Schleifrad anzuheben, das gut und gerne zwanzig Zentner wog, unter dem ein Mann zur Hälfte begraben lag. Ihre Gesichter waren vor Anstrengung verzerrt. Unmenschliches Gebrüll zerriss die Luft, und Emilia wurde eiskalt, als sie den dunkelbraunen Haarschopf ihres Bruders erkannte.

»Anton!«, kreischte sie und stürzte hinzu.

Hände griffen nach ihr, während von anderen Schleifhäusern weitere Männer herbeistürmten, um zu helfen.

»Bleib hier. Die Balierer tun alles, was sie können«, sagte Berta Rombach, die wenige Häuser entfernt von der Familie Winterhalter wohnte, und hielt sie fest. Jemand barg schluchzend das Gesicht an Emilias Rücken. Hilda. Sie fasste hinter sich und drückte ihre Base an sich. Antons Schmerzensschreie brachen abrupt ab. Entweder war er bewusstlos geworden oder tot.

»Alle mit anpacken. Eins, zwei, drei!«

Nur vage nahm Emilia die Befehle und das Ächzen der Männer wahr, die den tonnenschweren Stein anhoben. »Eilt euch, zieht ihn raus.«

Ein dumpfer Schlag folgte, der den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ, als das Schleifrad zurück auf die Erde fiel. Emilia wandte sich an Hilda. »Bleib hier. Ich muss nach Anton sehen.«

Hilda klammerte sich an sie, krallte sich wimmernd an ihrem Rock fest.

»Geh nur, ich kümmere mich um sie«, erbot sich Berta.

Dankbar nickte Emilia ihr zu und löste sanft Hildas Hände.

»Lasst mich durch«, rief jemand, und Emilia erkannte Martha Hummels. Wann immer jemand erkrankte oder ein Kind zur Welt brachte, war sie zur Stelle. Die Umstehenden machten Platz für Emilia und die Heilkundige. Martha kniete sich neben Anton, nahm dessen Hand und fühlte nach dem Puls. Doch Emilia spürte, dass ihrem Bruder nicht mehr zu helfen war. Antons Gesicht war aschfahl. Seine Lippen hatten sich blau verfärbt, Unterleib und Beine waren durch das Gewicht des Schleifrads zerquetscht worden.

»Das Leben rinnt aus ihm heraus. Anton braucht einen Priester«, sagte Martha leise, »ich kann nichts mehr für ihn tun.«

Ein spitzer Schrei ertönte, und Emilia drehte den Kopf. Schnell lief sie ihrer Mutter entgegen, fing sie auf, bevor sie ohnmächtig wurde. Andere Frauen kamen ihr zu Hilfe, um Rosa aus Emilias Armen zu nehmen und sie sanft auf den Boden zu legen. Hilda hatte sich aus Bertas Griff gewunden, stolperte lauthals greinend herbei.

»Kann jemand einen Priester holen?«, fragte Emilia mit zitternder Stimme niemand Bestimmten. Nur am Rande nahm sie wahr, dass Elias Rombach sich eilig entfernte, um ihrer Bitte nachzukommen, während eine der Frauen mit einem nassen Tuch Rosa die Stirn kühlte, die langsam wieder zu sich kam und sich aufhelfen ließ.

»Was ist mit Anton? Was ist mit meinem Sohn?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.

»Er ist unter das Schleifrad geraten«, antwortete Emilia wie betäubt, während sie unablässig über Hildas Schopf streichelte.

Nachdem Pfarrer Blattmann Anton Winterhalter die letzte Ölung gespendet hatte, wurde der Leichnam auf einen Karren geladen, um ihn nach Hause zu bringen. Emilias Bruder war nicht mehr ansprechbar gewesen und hatte keine Beichte ablegen können. Dem Gefährt voraus ging der Geistliche, gefolgt von Rosa, Emilia und Hilda, die sich an den Händen hielten. Begleitet vom Totengeläut einer einzigen Kirchenglocke. Schlechte Nachrichten verbreiteten sich stets wie ein Lauffeuer. Dreimal hintereinander über vier Minuten lang zeigte der dunkle Ton nicht nur den Tod eines Mannes an, sondern erinnerte die Lebenden, dass auch ihre Zeit auf Erden endlich war.

Männer halfen, den Verstorbenen in die Stube zu bringen, wo er aufgebahrt wurde, damit die nächsten Nachbarinnen mit der Totenwaschung beginnen konnten.

»Hilf mir, ihn auszuziehen«, sagte Martha Hummels zu Emilia. »Berta, holst du Wasser? Rosa, ich denke, es ist besser, du kümmerst dich um deine Nichte. Wir kommen zurecht.«

Rosa Winterhalter nickte und brachte die leise schluchzende Hilda aus dem Zimmer, während Berta Rombach der Aufforderung der Hebamme nachkam. Ihre Finger wollten Emilia kaum gehorchen, als sie Anton die Schuhe von den zerschmetterten Füßen zog. Sie war heilfroh, dass Martha die Führung übernahm und durch ihre zupackende Art eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlte. Bald lag der Leichnam nackt und bloß auf dem mit Schnitzereien verzierten Totenbrett, und Berta begann, ihn zu waschen, während Martha Anton rasierte.

»Emilia, dein Bruder braucht ein Sterbehemd«, sagte die Hebamme und schickte sie hinaus. »Und sorg dafür, dass für die Totenwache zu essen und zu trinken im Haus ist.«

Emilia floh beinahe aus der Stube, Anton so zu sehen, bereitete ihr eine schmerzhafte Enge in der Brust. In einer Truhe im Schlafzimmer ihrer Eltern fand sie das Totenhemd. Es war üblich, dass man bereits zu Lebzeiten sein letztes Hemd nähte, wollte man doch vorbereitet sein, wenn das letzte Stündlein schlug. Emilia brachte das Kleidungsstück nach unten und verschwand in den Keller, um Wein zu holen. Als sie mit zwei gefüllten Krügen in die Küche kam, traf sie auf ihre Mutter und Hilda, die sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte.

»Sind Martha und Berta fertig?«, fragte Rosa heiser.

»Noch nicht. Aber ich habe ihnen das Sterbehemd gegeben. Haben wir genügend Brot, Käse und Würste für die Totenwache?«

»Lass nur, dafür sorgen wir«, antwortete ihre Mutter. »Geh du zur Kirche, wir benötigen Weihwasser und Kerzen. Nimm den Korb.«

Emilia nickte, angelte sich ein Tongefäß mit Holzstopfen von einem Brett und verschwand. Draußen holte sie tief Luft und unterdrückte das aufsteigende Schluchzen in ihrer Kehle, sammelte sich, bevor sie den kurzen Weg nach Sankt Margarethen antrat. Wenig später kehrte sie mit dem geweihten Wasser und mehreren Kerzen zurück, die stets der Mesner für die Gemeinde und die Kirche zog. Schon am nächsten Tag sollte Anton begraben werden, da es viel zu warm war, um ihn einen weiteren Tag aufgebahrt zu lassen. Auf dem Rückweg traf sie Elias Rombach, dessen blonder Schopf in der tief stehenden Sonne strahlte.

»Deine Mutter ist bei uns«, sagte Emilia.

Elias deutete ein Kopfnicken an. »Anton war mein Freund, ich kann kaum glauben, was geschehen ist.«

»Das geht mir ebenso. Danke, dass du den Pfarrer geholt hast.«

»Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Mein Vater und ich kommen gleich zur Totenwache.«

Plötzlich fühlte sich der Korb schwerer an, als er war, und sie stellte ihn auf den Boden. Dann begann sie zu schluchzen. »Mein Vater, er weiß noch gar nichts davon. Er ist unterwegs, um Rohware zu kaufen.«

Elias fasste zaghaft nach ihrer rechten Hand. »Wenn ich euch irgendwie helfen kann …«

Emilia wischte sich mit der Linken die Tränen aus dem Gesicht. »Das ist freundlich von dir.« Die Wärme seiner Hand war tröstlich, am liebsten würde sie Elias gar nicht mehr loslassen.

Sie kannten sich von Kindesbeinen an. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er sie öfter an den walnussbraunen Zöpfen gezogen, und sie hatten zum Spaß miteinander gerangelt. Doch die Unbeschwertheit war vorbei. Seit geraumer Zeit begegneten sie sich mit einer gewissen Scheu, die Emilia sich nicht erklären konnte. Sie freute sich, wenn sie ihn zu Gesicht bekam, wusste aber manchmal nicht, was sie sagen sollte. Sie, die sonst um Worte nicht verlegen war. Aber ihrem Kinderfreund schien es nicht anders zu gehen. Elias war zwei Jahre älter als sie und machte eine Lehre als Steinschleifer bei Josef Meidler. Sein Vater, der Maurer Jakob Rombach, hatte Geld für die Aufnahme seines Sohnes in die Bruderschaft gespart, damit dieser einmal als Schleifer ein besseres Auskommen haben würde, als wenn er in seine Fußstapfen träte. Seither ging Elias mit Feuereifer an die Arbeit, war es doch sein sehnlichster Wunsch gewesen, Edelsteine zu schleifen. Und er wollte seinen Vater keinesfalls enttäuschen.

Emilia versuchte ein Lächeln, entzog sich Elias widerstrebend, nahm den Korb auf, nickte ihm zu und ging die wenigen Schritte zu ihrem Elternhaus. Fast kam es ihr vor, als hätte sich ihr Zuhause verändert, plötzlich wirkte es düster und seelenlos, als sie darauf zusteuerte. Emilia fröstelte und wünschte sich die wärmende Hand von Elias zurück.

Nach und nach erschienen die Nachbarn, um die Totenwache zu halten. Antons Leichnam lag sauber gekämmt auf dem Totenbrett, umringt von zahlreichen Kerzen, am Kopfende war ein Kruzifix aufgestellt worden. Rosa hatte ihrem Sohn einen Rosenkranz, den er selbst gefertigt hatte, in die gefalteten Hände gelegt und stand mit versteinerter Miene abseits, neben ihr Hilda mit vom Weinen rot verquollenen Augen. Die Anwesenden besprengten den Verstorbenen mit Weihwasser und bekundeten ihr Beileid. Gemeinsam wurde für Anton gebetet. Emilias Lippen murmelten die Worte des Vaterunsers, während die Holzperlen der Gebetskette durch ihre Finger glitten. Als das letzte Amen verklungen war, folgten zwei Verse aus dem Johannesevangelium.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.«

Warum, heiliger Jesus, fragte sich Emilia zum hundertsten Mal und strich mit dem Daumen über das glatt polierte Achatkreuz, das an ihrem Rosenkranz hing. Warum Anton? Er war noch so jung. Kaum dreiundzwanzig Jahre alt war ihr Bruder geworden, und Vater war so stolz auf seinen Sohn. Anton hatte Talent besessen und wunderbare Stücke aus den Steinen geschliffen. Seine Werke aus Achat und Jaspis waren eine Pracht und ließen sich gut verkaufen. In nicht allzu ferner Zukunft hätte er Meister werden können.

Bis zum Morgengrauen wurde Anton gedacht. Mit Gebeten und Geschichten über ihn und mit gemeinsamen Erlebnissen, die jeder zu erzählen wusste. Dann war die Zeit gekommen, Anton das letzte Geleit zu geben. Kurt Mäder brachte das Bahrtuch der Bruderschaft, um den Toten auf dem Gang bis zum Friedhof zu bedecken. Pfarrer Clemens Blattmann sprach den Segen, und der Leichnam wurde von Gesängen begleitet auf dem Totenbrett zur Kirche getragen. Die Leute versammelten sich in Sankt Margarethen, lauschten der Totenmesse, die der Propst Jörg Keck hielt, und empfingen zum Ende die Heilige Kommunion. Langsam begab man sich zum Kirchhof, das Bahrtuch wurde zusammengefaltet und das Brett mit Anton Winterhalter in die Grube hinabgelassen. Die gesamte Bruderschaft der Bohrer und Balierer war zum Begräbnis gekommen, wie es ihre Ordnung vorschrieb, und andere Bewohner der Stadt, die der Familie Winterhalter nahestanden. Emilia hatte ihre Mutter rechts und ihre Base links untergehakt und starrte auf ihren toten Bruder, während der Pfarrer die üblichen Worte sprach.

»Erde zu Erde, Staub zum Staube, Asche zu Asche.« Weihwasser wurde über der Grube versprengt, dann folgte das Vaterunser und das Gloria Patri. »Ehre sei dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.«

Rosa löste sich von Emilia und trat nach vorn, nahm eine Handvoll Erde und warf sie hinunter. Emilia trat gemeinsam mit Hilda ans Grab, tat es ihrer Mutter gleich, während Hilda leise wimmerte.

»Möge dir das Licht ewig leuchten, Bruder«, flüsterte Emilia und ließ die Erde durch ihre Finger rieseln.

Der Leichenschmaus fand im Gasthaus Krone statt, das durch seine in die Große Gasse vorspringende Front den Durchlass zum Niedertor verengte. Einträchtig saßen Emilia, Rosa und Hilda bei den nächsten Nachbarn und dem Pfarrer. An den anderen Tischen hatten sich die Bohrer und Balierer mit ihren Familien niedergelassen.

»Ihr braucht einen neuen Gesellen, Rosa«, sagte Jakob Rombach gerade und schob sich einen Löffel Flädlesuppe in den Mund. Die in Streifen geschnittenen Eierkuchen, die in einer kräftigen Brühe schwammen, schmeckten allen. Dazu gab es Brot und verdünnten Wein.

»Erst einmal muss Heinrich zurückkehren. Großer Gott, ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie er Antons Tod aufnimmt. Ein weiterer Schicksalsschlag, nachdem sein Bruder Gerhard letztes Jahr am Schleifrad plötzlich vom Schlagfluss ereilt wurde.«

Emilia griff nach einem Stück Brot und wandte sich an Elias. »Warst du dabei, als Anton verunglückte? Ich weiß immer noch nicht, was genau geschah.«

»Rein zufällig. Eine der Schleifen sollte ein neues Sandsteinrad bekommen. Obwohl es gar nicht eure Schleife ist, stieß Anton dazu und packte beim Abladen vom Wagen mit an, hilfsbereit wie dein Bruder war. Als es ums Aufrichten ging, riss eines der Seile des Flaschenzugs. Anton stolperte und stürzte. Die Männer vor und hinter ihm konnten das Gewicht des Rades nicht mehr halten …«

»Wer waren sie? Sie sind schuld am Tod meines Bruders …«

Elias legte seine Hand auf die ihre. »Nein, so darfst du nicht denken. Es ging alles so schnell. Niemand trifft eine Schuld.«

»Sag mir ihre Namen«, forderte Emilia und bedauerte, dass Elias seine Hand zurückzog. Ganz anders war es vorhin am Grab gewesen, als Paul Gabler ihr die Hand gereicht hatte, um sein Beileid auszusprechen. Sie hatte Mühe gehabt, sie ihm nicht zu entziehen. Sein Händedruck hatte sich angefühlt, als hielte sie einen toten Fisch.

Seufzend zählte er sie auf. »Glaub mir, sie fühlen sich schlecht, obwohl sie es nicht müssen.«

»Und warum sind sie nicht längst zu uns gekommen, um mit meiner Mutter zu sprechen?« Sie warf einen durchdringenden Blick hinüber zu dem Tisch, an welchem die Genannten saßen und die Suppe löffelten. »Dort hocken sie und essen, als ob alles in Ordnung wäre«, zischte sie.

»Emilia«, mischte sich Rosa ein, die das Gespräch nicht überhört hatte. »Die fünf kamen gestern spät in der Nacht, du warst bereits im Sitzen eingeschlafen, und haben ihr Beileid ausgesprochen. Sie haben mir erzählt, was geschehen ist. Ich bin ihnen nicht gram. Es war ein fürchterlicher Unfall, und niemand kann etwas dafür. Glaub mir, das geht auch an den Männern nicht spurlos vorbei, sie trauern mit uns.«

Entgeistert sah Emilia ihre Mutter an. »Und warum hast du mir kein Wort davon gesagt?«

»Es war alles zu viel für mich und in diesem Augenblick nicht wichtig. Versteh das doch.«

Emilia schüttelte unmerklich mit dem Kopf, gab aber keine Erwiderung.

Am zweiten Abend nach der Beerdigung saß Emilia mit Hilda und ihrer Mutter in der Stube, die ihr kalt und ungemütlich schien. Sie bekam die Bilder ihres Bruders unter dem Schleifrad und auf dem Totenbrett einfach nicht aus dem Kopf. Die Dämmerung brach herein, keine der Frauen entzündete eine Lampe, jede für sich verharrte in Schweigen, als das Rumpeln von Karrenrädern zu vernehmen war. Emilia trat ans Fenster, sah hinunter in den Hof und wandte sich zu ihrer Mutter um.

»Vater ist zurück.«

Im schummrigen Licht konnte Emilia erkennen, wie sich Rosas Hände um die Armlehne ihres Stuhls krallten und sie sich wappnete, ihrem Gatten die schreckliche Nachricht beizubringen. Sie hörten das Quietschen der Türangeln, als Heinrich ins Haus kam, dann die schweren Schritte auf der Diele, bevor er die Stubentür öffnete.

»Warum sitzt ihr hier fast im Dunkeln?«, fragte Heinrich Winterhalter anstatt einer Begrüßung.

Rosa stemmte sich aus dem Stuhl, schien unvermittelt um Jahre gealtert zu sein. »Setz dich. Emilia, hol Wein für deinen Vater.«

»Was ist los?« Argwöhnisch sah er erst zu seiner Frau, dann zu seiner Tochter und ließ sich nieder.

»Anton …«, vermeldete Hilda, aber Rosa legte ihrer Nichte die Hand über den Mund. »Nicht, Hilda. Geh mit Emilia.«

Doch Emilia rührte sich nicht von der Stelle.

»Was ist mit Anton? Wo ist mein Sohn? Herrgott noch mal, sagt mir jetzt endlich jemand, was hier vor sich geht?«

Rosa seufzte, nahm wieder Platz und sah hinab auf ihre gefalteten Hände.

»Anton ist ums Leben gekommen, vorgestern haben wir ihn begraben«, sagte sie leise.

»Nein!«, entfuhr es Heinrich gequält. »Nein, nein, nein, das kann nicht sein. Anton …« Dann brach seine Stimme, und der große, kräftige Mann barg sein Gesicht in den Händen. Emilia streckte die Hand nach ihrem Vater aus, berührte ihn sacht an der Schulter. Mit seiner Linken griff er danach, jedoch ohne aufzusehen. Nach einer Weile fasste sich Heinrich, wollte wissen, was geschehen war.

Stockend berichtete Rosa ihrem Gatten, während Emilia Öllampen entzündete, einen Krug Wein holte und die gähnende Hilda die Treppe hinauf zu ihrer Kammer begleitete. Nachdem die drei gemeinsam ein Gebet für Anton gesprochen hatten, musterte Heinrich seine Tochter und zupfte unbewusst an seinem ergrauenden Bart.

»Siegfried Geiger macht bald seine Gesellenprüfung«, murmelte er.

Der Genannte war Heinrichs Lehrling, wohnte, wie es üblich war, bei seinem Lehrherrn und hatte sich nach der Vesper in seine Kammer verzogen.

»Das ist doch eine gute Nachricht. Siegfried kann Antons Arbeit übernehmen und du einen neuen Buben einstellen«, traute sich Emilia zu sagen. Zuerst hatte sie statt »übernehmen« »ersetzen« sagen wollen. Niemand konnte ihren Bruder ersetzen.

»Siegfried wird auf Wanderschaft gehen. Ich werde mich nach einem anderen Gesellen umsehen müssen, und nach einem neuen Lehrbuben«, erwiderte ihr Vater. Bedächtig rieb er sich den Bart, bevor er Emilia eindringlich ansah und langsam hinzufügte: »Oder vielleicht ein …«

»Oh, nein, Heinrich, Emilia wird nicht dein Lehrmaidlin«, wandte Rosa streng ein, die sogleich erfasst hatte, worauf er hinauswollte.

»Und warum nicht?« Emilia sah ihre Mutter herausfordernd an.

»Weil du ein Mädchen bist, darum. Das Schleifen ist harte Arbeit und viel zu anstrengend.«

»Emil Lacherer hat damals seine Tochter in die Lehre genommen …«, hob Heinrich an.

»Und Barbara war nach einem Jahr ein Wrack. Kein Mann hat jemals ein Auge auf sie geworfen, weil sie mit kaum zwanzig daherkam, als wäre sie bereits Großmutter. Dabei war Barbara nicht von so zarter Gestalt wie unsere Emilia. Diese Arbeit ist zu hart für eine Frau. Ich erlaube es nicht!«, fuhr Rosa auf.

Emilia war verblüfft. In solch einem Ton hatte sie ihre Mutter noch nie mit ihrem Vater reden hören. Heinrich Winterhalter hob die dichten Brauen und schenkte seiner Frau einen Blick, der sie augenblicklich verstummen ließ.

»Nun, Emilia, mein liebes Kind, was sagst du?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, kann ich es zunächst einmal versuchen?«, antwortete sie zögerlich.

»Du traust dir die Arbeit nicht zu«, stellte Heinrich enttäuscht fest.

»Darüber kann ich erst urteilen, wenn ich auf dem Kippstuhl gelegen habe«, erwiderte sie.

»Gut. Morgen möchte ich zuerst zu Antons Grab, dann kommst du in die Schleife.«

Rosa schüttelte den Kopf. »Wie soll das gehen? In diesen Röcken kann sie nicht auf den Kippstuhl, Heinrich. Seid so gut und lasst den Unsinn sein.«

»Diese Barbara hat es geschafft, wenn auch nur für ein Jahr. Also werde ich eine Hose von Anton anziehen, ich muss sie nur kürzen.« Plötzlich hatte sie der Ehrgeiz gepackt.

»Das ist meine Tochter«, lächelte Heinrich dünn, während seine Frau mit den Augen rollte. Dann wandelte sich seine Miene, und tieftraurig sah er zu dem Holzkreuz an der Wand. »Heiliger Jesus, warum hast du meinen Sohn geholt?« Eine Antwort erhielt er nicht.

Emilia erntete vielsagende Blicke, als sie am nächsten Tag in Hosen zur Schleife kam. Vor allem erstaunte, missbilligende und spöttische. Siegfried Geiger, der Lehrbub, konnte sich das Lachen nicht verkneifen.

»Lass das, Siegfried, sonst trete ich dir gegen das Schienbein«, raunzte Emilia ihn an, und der junge Mann spielte den Erschrockenen, was ihr ein Kichern entlockte.

Im Schleifhaus links des Gewerbekanals liefen vier große Räder, zwei davon gehörten Heinrich Winterhalter. Gegenüber auf der rechten Uferseite wurde eine Ölmühle durch dasselbe oberschlächtige Wasserrad betrieben.

»Siegfried, zeig meiner Tochter den Umgang mit dem Kippstuhl.«

Auf besagten Stuhl legte sich der Lehrjunge bäuchlings, stützte sich mit den Unterarmen ab, stemmte beide Füße fest gegen einen waagerecht hinter ihm auf den Boden genagelten Balken.

»Beobachte, wie Siegfried seinen Rücken hält. Er sollte immer gerade sein, dann kann man am längsten durchhalten.« Heinrich wies auf die Körperhaltung des Buben. »So ist es ihm möglich, von oben beim Schleifen genau auf den Stein in seiner Hand zu sehen.«

»Verstanden.« Emilia wurde es mulmig, als sie sah, wie nahe Siegfrieds Kopf dem Schleifrad kam. Gut, dass ihre Mutter sie beschworen hatte, ihre Haarpracht mit einem Tuch zu bedecken und dieses hinten im Nacken zusammenzubinden.

»Geigerjung, nimm einen Chalcedon und fang an zu schleifen.«

Siegfried griff sich den besagten Rohstein. Die Chalcedone stammten aus dem nahen Lothringen und zeigten oft eine blaugraue Färbung. Aus diesen Quarzsteinen wurden Ringsteine, Gemmen, Siegelstempel, Vasen und anderer Zierrat gefertigt.

»Er muss den Stein gut festhalten und ihn gegen das Rad drücken. Man darf nicht zu lange am selben Stein schleifen, sonst wird er zu heiß. Also legt man ihn zur Seite und nimmt sich einen anderen, bis der erste wieder weiterbearbeitet werden kann«, erklärte ihr Vater. »So, und jetzt bist du dran.«

Siegfried machte den Platz am Schleifrad frei, und Emilia legte sich auf den Kippstuhl, froh darüber, nicht allzu viel Busen zu haben, denn das wäre sicherlich noch unangenehmer. Zwar hatte der Kürass – wie der Stuhl auch genannt wurde – eine muldenförmige, gepolsterte Aussparung für den Bauch, aber von bequem konnte nicht die Rede sein.

»Junge, hol einen Balken. Emilia ist zu klein, ihre Füße erreichen die Stütze nicht.«

Dann spürte sie das Holz und presste ihre Füße in den derben Schuhen dagegen.

»Nimm Siegfrieds Stein rechts neben dir vom Brett in beide Hände und pass auf deine Finger auf, wenn du ihn gegen das Schleifrad drückst. Die Riefen im Rad dienen dem Runden der Steine, facettiert wird auf der ebenen Fläche.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte sie.

Der Rohstein fühlte sich rau an, ließ aber seine bläulich-graue Maserung erkennen. Emilia holte tief Luft und presste den Chalcedon gegen das sich schnell drehende Rad.

Heiliger Jesus, was für eine Kraft dahintersteckt, schoss es ihr durch den Kopf.

Schweiß brach ihr aus allen Poren, als sie sich mühte, den Stein nur ja nicht zu verlieren. Nach kurzer Zeit schmerzten bereits ihre Hände. Dann brach plötzlich der Stein entzwei, und Emilia entfuhr ein Schrei.

»Lass gut sein«, rief ihr Vater und half ihr vom Kippstuhl, den Siegfried sogleich übernahm.

Emilia kämpfte mit den Tränen. »Ich bin eine Versagerin.«

Heinrich Winterhalter schüttelte den Kopf. »Nein, gegen besseres Wissen habe ich dich dazu gebracht, es zu versuchen. Was bin ich doch für ein Narr. Geh nach Hause, Emilia, ich muss arbeiten.«

Mit hängendem Kopf verließ sie das Schleifhaus, trottete zum Friedhof. An Antons Grab fiel sie auf die Knie, barg ihr Gesicht in den Händen und weinte bittere Tränen.

»Warum hast du mich verlassen? Hast du nicht immer gesagt, dass du stets für mich da bist? Dass du mein großer Bruder bist und es ewig bleiben wirst? Wieso musstest du unbedingt helfen, dieses vermaledeite Schleifrad zu bewegen? Was wird denn nun aus der Schleife, wenn Vater einmal nicht mehr kann? Auf mich kann er nicht zählen. Wie sich gerade herausgestellt hat, habe ich zwei linke Hände und bin viel zu schwach, um die Edelsteinschleiferei zu erlernen. Wie konntest du nur, Anton? Du fehlst mir so. Verflucht sei …«

Eine Hand legte sich auf ihre rechte Schulter.

»Wen oder was immer du verfluchen wolltest, tu es nicht.«

Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und rappelte sich auf, als sie neben sich eine schwarze Soutane bemerkte.

»Verzeiht, Hochwürden, ich bin so traurig und verzweifelt.« Sie klopfte sich Erde und Staub von den Hosenbeinen.

»Das musst du nicht sein. Dein Vater war heute sehr früh bei mir und bat darum, dass am Sonntag eine Seelenmesse für Anton gelesen wird. Der Herr wird deinen Bruder mit offenen Armen aufnehmen«, sagte Pfarrer Clemens Blattmann und hob die Augenbrauen, als er die Hosen an ihr bemerkte.

»Warum musste er überhaupt sterben? So jung, so gesund. Was hat sich Gott dabei gedacht, uns Anton zu entreißen? Er war Vaters einziger Sohn und Erbe«, fuhr sie auf.

Streng musterte sie der Geistliche. »Mäßige deinen Ton, Mädchen. Dein Vater ist ein angesehener Mann und wird dafür sorgen, dass sein Erbe an den Richtigen kommt, wenn der Herr ihn zu sich holt.«

Emilia runzelte die Stirn. »Wie meint Ihr das?«

»Ich denke, er wird einen anständigen Gatten für dich aussuchen. Dann bleibt die Schleife in der Familie. So, und nun geh deiner Mutter zur Hand, und vor allem, kleide dich, wie es sich für eine Frau gehört«, scheuchte er sie fort.

Vier Wochen waren seit Antons Tod vergangen, und heute wurden den Lehrbuben die Gesellenbriefe ausgestellt, was gebührend am Sonnabend gefeiert werden sollte. Üblicherweise richteten die Familien der frisch gebackenen Gesellen die Feier aus.

»Hilda, du kannst mir mit dem Apfelkuchen helfen«, sagte Rosa, während sie Mehl in eine Schüssel gab und diese vor ihre Nichte auf den Tisch stellte. »Nimm dir die Butter und verteil kleine Stücke über das Mehl.«

Die Vorfreude auf das bestehende Fest war spürbar, und Rosa hatte sich entschieden zu backen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe gewesen wäre. Aber, zum einen tat sie es gern, und zum andern war der junge Geiger ein anständiger Kerl. Die Mithilfe für die Feier lenkte die Winterhalters von dem erlittenen Verlust ab. Das Leben ging weiter, und der Tod war allgegenwärtig. Erst vergangene Woche war ein Schleifrad zerborsten, weil ein Lehrbub nicht darauf geachtet hatte, den Kähner mit Wasser zu befüllen. Das Gefäß war oberhalb des Schleifrads angebracht und besaß einen Auslauf, damit die zu schleifenden Steine beständig feucht gehalten wurden, um nicht zu überhitzen. Stark abgenutzte Schleifräder, die durch die schnelle Drehung zu Unwucht neigten und dabei zerbrechen konnten, waren bei den Edelsteinschleifern am meisten gefürchtet. Die umherfliegenden Sandsteinbrocken hatten den Buben so unglücklich an der Schläfe getroffen, dass er tot zusammengebrochen war. Andere Arbeiter im Schleifhaus hatten teils schwere Verletzungen erlitten und würden eine Zeit lang ihrer Arbeit nicht nachkommen können.

»Wer wird nun Vaters Geselle?«, wollte Emilia wissen, während sie Brotteig knetete. »Oder geht Siegfried später auf die Walz?«

Bisher hatte Heinrich Winterhalter niemanden eingestellt, und allmählich geriet er ins Hintertreffen mit der Herstellung der vereinbarten Stückzahl an Steinen. Er selbst arbeitete von früh bis spät und fiel nach dem Abendbrot sogleich ins Bett.

»Nein, soweit ich gehört habe, will er nach Straßburg, sobald die Lehrzeit vorbei ist«, antwortete Rosa. »Hilda, jetzt trennst du zwei Eier, wir brauchen nur die Dotter. Dann gibst du ein wenig Salz zu und rührst um. Ich schneide die Äpfel.«

»Nach Straßburg?«

»Zumindest sei die Stadt sein erstes Ziel für die Wanderjahre, wie mir seine Mutter verraten hat.«

»Aber Vater muss einen Gesellen haben, sonst fällt er noch vom Kippstuhl, weil er zu viel schuftet.«

»Oder er vergibt mehr Arbeit an Stückwerker. Dein Vater wird wissen, was er tut.«

Da das Obergeschoss des Zunfthauses zu klein war, hatte man die Feier verlegt. Im Eckhaus an der Kreuzung des Marktes und der Großen Gasse befand sich die Laube, wie jedermann das Gebäude nannte, da unter den Arkaden die Richtlaube ihren Platz gefunden hatte. Die große Halle im Erdgeschoss und unter den Bogengängen diente auch den Marktbeschickern als Standort. Allein sieben Schuh- und acht Brotbänke, an denen die Schuhmacher und Bäcker ihre Waren feilboten, hatten sich hier angesiedelt. Der Großteil der Einwohner war mehr oder weniger im Schleifgewerbe tätig, und so widersprach niemand der Umnutzung am heutigen Tag. Bänke waren aufgestellt und Tische festlich geschmückt worden. Die zubereiteten Speisen standen auf langen, aufgebockten Brettern bereit, und der Duft von Gebratenem ließ so manchen Magen in Vorfreude knurren. Geräuschvoll wurden Bänke gerückt, als sich die Zunftmitglieder und ihre Angehörigen schwatzend setzten. Die Meister versammelten sich, und Heinrich Winterhalter hob die Hand, damit Ruhe einkehrte.

»Vorgestern wurden diejenigen freigesprochen, die ihre Lehrzeit zu Ende gebracht haben. Und den meisten von euch kann man die Gesellentaufe noch deutlich ansehen«, spöttelte er.

Der Übergang von der Lehr- zur Gesellenzeit wurde im Verborgenen begangen. Niemand verlor jemals ein Wort über dieses Ritual, jeder war zum Stillschweigen verpflichtet. Einzig wusste man, dass die sogenannten Novizen oft derbe Scherze und Demütigungen über sich ergehen lassen mussten. Aus der Bruderschaft wurde ein Mann ausgewählt, der als Pfaffe die Taufpredigt hielt und jedem frisch gebackenen Gesellen einen Namen verpasste, den dieser auf der Walz führen musste. Begleitet wurde der Brauch von übermäßigem Genuss von Bier und Wein auf Kosten der Novizen.

»Zwei Jahre sind vergangen, und ihr könnt stolz auf euch sein. Eure Lehrbriefe sind ausgestellt, und wir haben die drei besten Gesellenstücke ausgewählt. Bevor wir aber zur Ehrung kommen, möchte ich einmal mehr mahnen, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden Gewerben überaus wichtig ist, und jeder sollte sich dessen bewusst sein. Immer wieder stellen wir Meister leider fest, dass manche Balierer auf die Bohrer herabsehen. Wir appellieren an diejenigen, in Zukunft den Bohrern mehr Wertschätzung entgegenzubringen.«

Die Anwesenden klatschten beifällig, manche jedoch nur halbherzig.

»Doch jetzt wollen wir die drei Lehrlinge nach vorne rufen.« Heinrich hustete, klärte seine Kehle, und die dadurch entstandene kleine Pause ließ die Spannung steigen. »Paul Gabler, Elias Rombach und Frieder Kerner.«

Hochrufe und anerkennende Pfiffe waren zu hören, begleitet von weiterem Klatschen. Emilia freute sich für Elias, war aber gleichzeitig überrascht, dass Pauls Name genannt worden war. Vielmehr hatte sie gehofft, Vaters Lehrbub, Siegfried Geiger, würde ins Rennen gehen.

Die jungen Männer traten vor und nahmen die Glückwünsche entgegen, während die Baliermeister Reinhard Krug und Kurt Mäder die dunklen Tücher über den darunter verborgenen Gesellenstücken lüfteten.

»Ein jeder mag sich diese Prachtstücke ansehen, bevor sie verkauft werden«, rief Mäder.

Nach und nach erhoben sich die Gäste und stellten sich geduldig in eine Reihe, um einen Blick auf die Gesellenarbeiten zu werfen. Emilia rückte langsam vor. Als sie am Tisch stand, betrachtete sie staunend einen tropfenförmigen Bergkristall, der im warmen Licht der Herbstsonne glänzte, ein Armband aus bläulich schimmerndem Chalcedon und einen Rosenkranz, dessen Perlen abwechselnd aus tiefrotem und hellgelbem Jaspis bestanden. Sie ging weiter, um den Nachfolgenden Platz zu machen, und setzte sich wieder zu ihrer Familie.

Als alle gebührend ihre Bewunderung geäußert hatten, ergriff Heinrich Winterhalter wieder das Wort.

»Die Meister von Waldkirch sind übereingekommen, dass die drittbeste Arbeit das Armband ist, welches Frieder Kerner gefertigt hat.«

Beifällige Rufe und Klatschen erschollen, während Frieder nach vorn trat und sein Werk in die Höhe hielt. Emilias Vater bat um Ruhe. »Zweiter geworden ist Elias Rombach, der den Rosenkranz hergestellt hat.«

Wieder wurde applaudiert, und Elias tat es Frieder nach. Damit war klar, wer als Bester ausgezeichnet würde. Paul Gabler und sein Bergkristall. Jubel brach aus, als der Gewinner sich zu den anderen gesellte und mit stolz geschwellter Brust die Glückwünsche entgegennahm. Emilia war überrascht, damit hatte sie nicht gerechnet. Zu gerne hätte sie Elias den Sieg gegönnt, musste aber zugeben, dass ihr der Kristall am besten gefiel. Sie stand auf und ging hinüber zu den frisch gekürten Gesellen.

»Eure Arbeiten sind wahrlich beeindruckend«, sagte sie und strahlte dann Elias an. »Der Rosenkranz ist wunderbar.«

»Das ist sehr freundlich von dir«, erwiderte Elias, der sich nicht recht zu freuen schien.

Emilia fragte sich, ob er wohl neidisch auf Paul war.

»Und was ist mit mir? Schließlich hat mein Werk gewonnen«, protzte Paul. »Verdient gewonnen, möchte ich hinzufügen.«

»Natürlich gebührt dir ein großes Lob, der Bergkristall ist in der Tat sehr schön«, entgegnete Emilia, »und Frieders Armband ist eindrucksvoll. Trotzdem solltest du bescheiden bleiben, Paul.«

Frieder Kerner nickte ihr dankbar zu und wandte sich dann ab, um sich zu seiner Familie zu setzen.

»Jaja, schon gut. Ich wollte nur ein ebensolches Lächeln von dir ernten wie Elias«, zwinkerte Paul und grinste.

Emilia nahm ihm kein Wort davon ab, zog aber die Mundwinkel nach oben und schenkte ihm einen Augenaufschlag.

»Ah, so gefällt mir das. Also ich sterbe gleich vor Hunger. Wir sollten zusehen, dass wir von den Leckereien noch etwas abbekommen. Was meinst du, Elias?« Paul hieb dem Angesprochenen auf die Schulter.

»Allerdings. Geh schon mal vor und bring mir ein Stück Fleisch mit, ich besorge uns zwei Becher Wein.«

Paul runzelte die Stirn. Offenbar behagte ihm der Vorschlag nicht, aber er trollte sich.

»Was ist mit dir?«, wandte sich Elias an Emilia.

»Ich möchte mir auf keinen Fall die Fischpasteten deiner Mutter entgehen lassen. Sie macht einfach die besten.«

»Da hast du recht.« Elias neigte sich ihr zu. »Später wird draußen auf dem Marktplatz getanzt, ich hoffe, du bist an meiner Seite, wenn der Branle gespielt wird.«

Emilia bekam Herzklopfen und nickte aufgeregt.

Der Branle war ein beliebter Tanz, bei dem sich alle zu einem Kreis zusammenfanden, sich an den Händen fassten und hüpfende Schritte zur Seite machten. Dann lösten sie sich voneinander, und die Männer wandten sich der Dame ihrer Wahl zu, hoben sie einen Augenblick in die Höhe, bevor sich der Kreis wieder schloss, dann erneut teilte und die Paare sich wieder bei den Händen nahmen und drehten.

Nachdem sich alle gestärkt hatten, zupften die Musikanten an den Saiten ihrer Instrumente zum Zeichen, dass nun der Tanz anstand. Die Frauen und Mädchen reihten sich am Rande des Marktplatzes auf, damit die Herren ihre Tänzerin wählen konnten. Sehnsüchtig sah Emilia hinüber zu Elias, der mit seinem Vater sprach. Schien er nicht zu bemerken, dass der Tanz gleich begann? Die Sonne zauberte goldene Strähnen in seine blonden Haare, dabei verspürte sie ein angenehmes Ziehen in ihrer Magengegend.

Warum fällt mir erst jetzt auf, wie gut er aussieht?, fragte sie sich stumm.

Schließlich erhob sich Elias, und sie stieß einen erleichterten Seufzer aus. Doch bevor er sie erreichen konnte, stand Paul Gabler vor ihr, fasste nach ihrer Hand.

»Holde Emilia, du sollst heute mein Maidlin sein«, lachte er albern.

»Aber …«

»Willst du etwa dem Gewinner einen Wunsch abschlagen? Außerdem hast du mir vor Wochen einen Tanz versprochen.«

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von ihm zur Mitte des Marktplatzes führen zu lassen nahe dem diesen durchfließenden Dettenbach. Den Kopf über die Schulter gewandt warf sie Elias einen hilflosen Blick zu. Dieser sah enttäuscht aus und erbarmte sich Pauls Schwester Gerda, die übrig geblieben war. Gerda war eher von grobschlächtiger Natur, und ihre vorstehenden Zähne erinnerten an die eines Kaninchens. Bald drehten sich alle im Kreis, hüpften zur Seite, klatschten in die Hände. Paul fasste Emilia um die schmale Körpermitte und hob sie mühelos hoch.

»Du bist leicht wie eine Feder, Emmi.«

»Nenn mich nicht so«, sagte sie, als er sie wieder auf dem Boden absetzte und sie unter seinem erhobenen Arm hindurchschritt.

»Emmi, Emmi, Emmi«, neckte Paul.

»Lass das!«

»Emmi, Emmi, Emmi.«

»Ich warne dich.«

»Emmi, Emmi, Emmi.«

»Hör auf damit.«

»Emmi, Emmi …«

Emilia versetzte ihm eine Maulschelle, und jeder in ihrer Nähe bekam es mit. »Die hast du verdient, Paul«, zischte sie und stürmte wütend davon.

Auf dem Friedhof suchte sie Ruhe am Grab ihres Bruders und kniete sich nieder.

»Ach, Anton, wie gern hätte ich mit Elias den Reigen getanzt, stattdessen musste ich mit Paul vorliebnehmen. Er ist ein eingebildeter Gockel, und ehrlich gesagt frage ich mich, wie er diesen Bergkristall hinbekommen hat, faul wie er ist. Ich habe geglaubt, Elias hätte ihn gefertigt. Sein Rosenkranz ist schön, aber Pauls tropfenförmiger Kristall hat mein Herz höherschlagen lassen.« Gedankenverloren zupfte sie ein paar Grashalme aus.

»Ich hoffe, Vater stellt Elias ein, damit er deine Arbeit übernehmen kann, zumindest bis er auf Wanderschaft gehen wird. Das würde dir gefallen, nicht wahr, Anton? Schließlich war er dein Freund.«

»Ja, ganz sicher«, raunte jemand hinter ihr.

Erschrocken drehte sie sich um und kam auf die Füße, verhedderte sich jedoch in ihren Röcken. Um ein Haar wäre sie hingefallen, hätte Elias sie nicht aufgefangen. Für einen Augenblick waren sie sich sehr nah. Emilia atmete seinen Duft ein. Würzig, wie der Waldboden nach einem Sommerregen. Dann gab er sie frei.

»Wie lange hast du schon hinter mir gestanden?«, fragte sie und wischte etwas Erde von ihrem Kleid.

»Ich kam gerade hinzu, als du meintest, dein Vater solle mir Antons Stelle geben. Ich vermisse deinen Bruder.«

Traurig sah Emilia zu ihm auf. »Ich auch. Es ist so still geworden bei uns zu Hause. Selbst Hilda, die meist fröhlich gestimmt ist, scheint ihr heiteres Wesen verloren zu haben.«

»Es tut mir leid, dass ich vorhin zu langsam war, glaub mir, der Tanz mit Gerda war kein Vergnügen.« Seine Worte entlockten ihr ein Lächeln.

»Paul ist bestimmt sehr verärgert, dass ich ihm eine Ohrfeige gegeben und stehen gelassen habe. Aber er war gemein zu mir.«

Elias runzelte die Stirn. »Was hat er gesagt?«

»Er hat mich die ganze Zeit Emmi genannt.«

Jedermann in Waldkirch und Umgebung wusste um die Frau, die im nahen Buchholz westlich der Stadt gelebt hatte. In dem Dorf mit seinen gerade mal dreiundzwanzig Höfen, und in dem jeder jeden kannte, war Irmin, genannt »Emmi«, vor zwei Jahren der Hexerei bezichtigt und ins Verlies geworfen worden. Noch bevor man ihr den Prozess hatte machen können, war sie gestorben. Nichts als Gerichtsstreitigkeiten mit einem Nachbarn hatte ihr Mann ihr zuvor hinterlassen, die Emmi jedoch weiterverfolgt und schließlich recht bekommen hatte. Dabei war es um die Eier ihrer Hühnerschar gegangen. Der Nachbar war der Ansicht, wenn die Hühner hin und wieder auf seinem Grundstück pickten, stünde ihm die Hälfte der Eier zu. Nachdem das Urteil gesprochen worden war, häuften sich plötzlich die Anschuldigungen gegenüber der Witwe. Emmi trüge Schuld an verschiedenen Vorkommnissen im Dorf: das Verenden einer kalbenden Kuh, eine klägliche Weinernte, ein Zicklein, das mit nur einem Auge mitten auf der Stirn geboren worden war. Schließlich war der Hinweis an die Obrigkeit erfolgt, Emmi empfange nachts den Teufel, um Unzucht mit ihm zu treiben.

Elias strich ihr über die Wange. »Es ist nur ein Name.«

Sie schmiegte sich in seine Handfläche. »Ich möchte trotzdem nicht wie eine Hexe genannt werden.«

»Das verstehe ich, außerdem ist Emilia ein schöner Name und passt zu dir, weil du das hübscheste Mädchen in ganz Waldkirch bist.«

Emilia war sprachlos, und bevor sie eine passende Antwort finden konnte, drehte sich Elias mit gerötetem Gesicht um und verließ eilig den Kirchhof. Sie sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Sollte sie zum Marktplatz zurückgehen und mit den anderen feiern? Emilia entschied sich dagegen und schlug den Weg nach Hause ein, um nach dem Rechten zu sehen.

Die Familie Winterhalter stellte auch Käse her. Sie war nicht die einzige, die neben der Steinschleiferei auf andere Verdienstquellen setzte. Die einen hielten Schlachtvieh, Hühner oder Schweine, andere bestellten Felder. Dadurch sicherte man sich sein Auskommen, wenn es im Winter so kalt wurde, dass die Bäche gefroren und sich kein Wasserrad mehr drehte. Zudem konnte man sich nie sicher sein, ob die geschliffene Ware abgenommen wurde, schließlich stellte man Luxuswaren her, die sich nicht jedermann leisten konnte. Emilia und ihre Mutter hielten fünf Kühe, aus deren Milch sie Käse und Butter machten, was seit Kurzem hauptsächlich Emilias Aufgabe war. Der Verkauf der Kälber spülte zusätzlich Geld in die Kasse. Heinrich und Anton bestritten den Hauptteil des Verdienstes durch die Arbeit in der Schleife. Nur war Anton jetzt tot. Nachdenklich ging sie in die Milchkammer an der Rückseite ihres Elternhauses, die selbst im Sommer durch die dicken Mauersteine kühl blieb.

Vielleicht sollte ich bei Vater ein gutes Wort für Elias einlegen, damit er ihn als Gesellen einstellt, überlegte sie, während sie mit einem Messer in die Dickete schnitt. So ließ sich prüfen, ob die mit Lab dickgelegte Milch fest genug war, um sie zu zerkleinern. Unbewusst nickte sie mit dem Kopf, sich selber zustimmend, dass das Lab-Milch-Gemisch bereit für die Käseharfe war. Mehrere dünne Drähte waren zwischen zwei Holzstücke gespannt und erinnerten an das Musikinstrument. Emilia tauchte das Schneidegerät in den Bottich und zog es hin und her. Immer und immer wieder. Je kleiner die Bruchstücke der Dickete wurden, desto härter würde später der fertige Käse sein. Es war eine kraftraubende Arbeit, aber sie hatte etwas Beruhigendes an sich. Gut eine Stunde lang arbeitete Emilia mit der Käseharfe, und das Gemenge wurde immer kleinkörniger, wie sie zufrieden feststellte. Als ihre Arme durch die Anstrengung mehr und mehr schmerzten, zog sie das Schneidegerät heraus und legte es auf zwei Holzböcke, damit es abtropfen konnte. Von einem Brett an der Wand nahm sie frische Leinentücher und legte damit die runden hölzernen Käseformen aus, bevor sie die Labmischung hineinfüllte.

»Hier steckst du«, sagte ihre Mutter plötzlich hinter ihr, und Emilia zuckte zusammen. »Du hast uns unmöglich gemacht. Was fiel dir ein, Paul eine Ohrfeige zu geben?«

Emilia faltete die Tücher über einer der Formen zusammen und begann, die Masse auszudrücken, um Käsebruch und Molke voneinander zu trennen. Rosa machte sich wortlos an einer anderen zu schaffen.

»Er hat mich beleidigt. Das lasse ich mir nicht gefallen«, erwiderte Emilia, und ihr Zorn flammte wieder auf. Wütend presste sie das Gemenge in der nächsten Form. »Er hat selbst schuld.«

»Du solltest lernen, dich zu beherrschen«, seufzte Rosa. »Was hat er denn gesagt? Und hör auf, den Käse so stark zu quetschen.«

»Ich habe Paul vorgewarnt, aber er ließ nicht davon ab, mich Emmi zu nennen. Wie die Buchholzer Hexe.«

»Die vielleicht gar keine gewesen ist«, murmelte ihre Mutter.

Rosa hatte Emmi gut gekannt, sie war oft in Buchholz gewesen, um Käse an den Vogt und Grundherr Melchior von Ow zu verkaufen. Emmi hatte den Käse ebenso geschätzt und oft Hühner und Eier gegen einen Laib getauscht. Bis heute war Rosa überzeugt, dass nur Neid und Rachsucht die Witwe ins Verlies nach Ensisheim gebracht hatten. Ensisheim im Elsässischen war der Regierungssitz der habsburgischen Vorlande, und dort wurde die Hochgerichtsbarkeit ausgeübt. Der Vogt entschied nur über geringere Vergehen, aber Mörder, Mordbrenner, der Hexerei Verdächtige, Diebe und Frauenschänder wurden in die einen Tagesritt entfernte Stadt gebracht.

»Trotzdem ist sie der Hexerei bezichtigt worden, und ich verbiete mir, dass jemand mich bei diesem Namen nennt«, fuhr Emilia auf.

Mutter und Tochter beendeten die Arbeit und trockneten ihre Hände an einem Tuch ab.

»Du wirst dich bei Paul entschuldigen«, brummte Rosa.

»Einen Teufel werde ich tun.«

Rosa versetzte ihr im nächsten Augenblick einen Wangenstreich. »Jetzt ist es aber genug, Emilia! Erst benimmst du dich wie ein dahergelaufener Gassenjunge, und jetzt fluchst du auch noch.«

Emilia rieb sich die brennende Wange, unterdrückte weitere Widerworte und floh aus der Milchkammer auf ihr Zimmer.

»Ich muss nach Freiburg und werde wohl länger weg sein«, sagte Heinrich Winterhalter beim Frühmahl und löffelte seinen Getreidebrei. »Eugen Gabler, Kurt Mäder, Gorian Scherer und unser Bürgermeister Hanns Bader werden mich begleiten.«

»Was habt ihr vor?«, wollte Rosa wissen.

»Mit den Freiburger Zunftbrüdern reden. Sie drohen, die Obrigkeit in Ensisheim anzurufen.«

»Weswegen? Hilda, pass doch auf«, raunzte Rosa ihre Nichte an, die ihren halb vollen Becher mit Milch umgestoßen hatte, die nun vom Tisch floss. »Emilia, hol einen Lappen.«

Emilia wollte widersprechen, besann sich aber eines Besseren. Ihre Mutter war immer noch wütend auf sie. Sie unterbrach ihre Mahlzeit und stand auf, während Hilda beschämt den Blick senkte. Mehrmals spülte sie das Stück Stoff aus, nachdem sie die weiße Pfütze vom Boden aufgewischt hatte, damit es nicht anfing, nach ranziger Milch zu stinken. Dann setzte sie sich wieder hin und aß stumm weiter.

»Den Freiburgern passt es schon lange nicht, dass Arbeit nach Waldkirch vergeben wird«, erklärte Heinrich und hustete trocken. »Und es stört sie, dass hier Ungelernte Steine bohren und balieren.«

»Sie sind doch selbst schuld, wenn sie es sich durch ihre Zunftordnung mit den Kaufmännern verdorben haben«, erwiderte Rosa.

»Ja, da hast du recht. Allerdings hat sich jetzt einer der ihren erdreistet, massenhaft einfache Ware anfertigen zu lassen.«

»Und was hat das mit Waldkirch zu tun?«, wollte Emilia wissen.

»Warte. Weil er so viele Stücke nicht allein herstellen kann, zahlt Hans Scher anderen Meistern einen Lohn, um die Menge zu bewältigen. Schers außergewöhnliche Hohlwerke sind in Wien sehr beliebt, doch die hohen Herren loben zwar seine Vasen, Schalen und Becher, aber sie zahlen nicht den von ihm gewünschten Preis. Also hat der Baliermeister beschlossen, sein Vermögen dadurch zu vergrößern, indem er eine Unmenge einfache Steinschleifarbeiten herstellt oder eher herstellen lässt. So viele, dass sie über die durch die Ordnung zugestandene Anzahl an geschliffenen Steinen hinausgeht. Die Freiburger haben ihm deswegen die Nachtarbeit verboten und das Wasser für seine Schleife gesperrt.« Heinrich stand von der Bank auf. »Ich muss jetzt gehen.«

»Aber Vater, nun weiß ich immer noch nicht, was das mit den hiesigen Schleifereien zu tun hat«, begehrte Emilia auf.

»Scher hat daraufhin Waldkircher Balierer damit beauftragt, für ihn zu arbeiten.«

»Das wird den Freiburgern aber ein Dorn im Auge sein«, meinte Rosa.

Heinrich nickte. »Allerdings steht der Freiburger Rat hinter Hans Scher. Zu sehr schätzen die Herren seine Hohlwerke.«

Als ihr Vater verschwunden war, fiel Emilia ein, dass sie ihn eigentlich hatte bitten wollen, Elias einzustellen. Nun, das musste warten, bis er wieder aus Freiburg zurückkehrte.

Emilia stand im Keller unter der Scheune und wusch die Käselaibe mit Salzwasser. Die Lake entzog dem Milcherzeugnis Wasser, dadurch wurde es fester, haltbarer und erhielt seine bräunlich-gelbe Rinde. Jeden zweiten Tag musste die Oberseite der Laibe gewaschen werden, bevor sie dann mit der trockenen Unterseite wieder auf ihren Platz im Regal kamen. So wurden sie regelmäßig gewendet und lagerten trocken. Gewissenhaft bürstete Emilia einen nach dem anderen ab und legte die kreisrunden Laibe zurück auf die Fichtenholzbretter. Sorgsam achtete sie darauf, die sich bildende Rinde nicht zu verletzen, denn dann wurde der Laib unbrauchbar. War mit der Zeit eine dickere Rinde entstanden, reichte das Waschen und Wenden einmal in der Woche aus.

Als Emilia gerade die Bürste aus weichem Ziegenhaar säuberte, erschien ihre Base.

»Alwine will Käse«, sagte Hilda, deren Sprache durch die zu groß geratene Zunge verwaschen klang.

»Alwine Gabler?«

Emilias Base nickte eifrig und machte sich daran, einen Laib aus dem Regal zu holen.

»Nein, nein, keinen von diesen.« Emilia hielt sie zurück. »Die sind noch nicht reif genug.«

Hilda zog die Augenbrauen zusammen, offenbar war sie anderer Meinung.

»Dort an der anderen Wand sind welche, die vier Monate alt sind, davon kannst du einen nehmen. Aber sei vorsichtig«, erklärte Emilia geduldig.

Hilda neigte den Kopf zur Seite, dann lächelte sie auf ihre ganz eigene verschmitzte Weise. Gemeinsam stiegen sie aus dem Keller nach oben in die Scheune und querten den Hof, um ins Haus zu gelangen.

»Emilia, sei so gut und bring du den Käse zu Alwine«, sagte ihre Mutter, die in der Küche dabei war, die gebohrten und geschliffenen Steine auf Schnüre zu ziehen. Diese wurden wiederum zu Bündeln mit je zwanzig Strängen zusammengenommen. Die Perlen aus Bergkristall, Achat und Karneol waren rasch zu schleifen und bildeten den Hauptanteil der verarbeiteten Rohware.

»Was soll ich verlangen?«, fragte Emilia nach dem Preis. »Alles ist teurer geworden.«

»Nichts. Du bringst ihn zu den Gablers und entschuldigst dich endlich. Hast du mich verstanden?«

Zähneknirschend senkte Emilia den Kopf.

»Und wenn du zurück bist, kümmere dich um die Wäsche. Ich habe keine Zeit dafür. Bartel Moser kommt bald und holt die Ware ab.«

Der Genannte war ein Kaufmann, der Rohsteine verlegte, was bedeutete, er brachte das grobe Material, ließ es von den Schleifern verarbeiten und kaufte es zurück, um damit weiter Handel zu treiben. Die Perlen wurden vorwiegend für Rosenkränze benötigt, aber es wurden ebenso Knöpfe oder Petschaften – Stempel – aus den kleineren Steinen gefertigt. Die größeren endeten als Behang für Kronleuchter, Messergriffe, Trinkgeschirre oder als Figuren für Schachspiele.

Wortlos schlug Emilia den Käselaib in ein sauberes Leinentuch und packte ihn in den Korb. In ihrer Kehle schien sich ein dicker Kloß zu bilden, als sie sich auf den Weg machte. Sie mochte die Familie Gabler nicht besonders, zumindest Alwine, ihre Tochter Gerda und Paul. Rupert, der Älteste, war von freundlicher Natur, ebenso wie die Zwillinge Egon und Walter. Eugen, das Familienoberhaupt, war ein mürrischer und jähzorniger Mann, und Emilia war froh, dass sie zumindest ihm nicht gegenübertreten musste, da er mit ihrem Vater auf dem Weg nach Freiburg war.

»Ach, sieh an, Heinrich Winterhalters missratenes Balg«, empfing Alwine Gabler sie.

»Grüß Euch Gott«, sagte Emilia und verkniff sich eine Erwiderung auf die Beleidigung.

»Was willst du?«

Alwine Gabler blieb auf der Türschwelle stehen, bat sie nicht herein.

»Es tut mir leid, dass ich Paul geohrfeigt habe«, würgte sie hervor und erstickte beinahe an ihren Worten.

Alwine musterte sie stumm mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Der ist für euch.« Emilia lüftete das Leintuch und hob den Käse aus dem Korb.

Pauls Mutter nahm den Laib, roch daran. »Sag Rosa, ich danke ihr. Es war sicherlich der Einfall deiner Mutter, dass du dich damit entschuldigen sollst. Dir kann ich ansehen, dass du es nicht ehrlich meinst.« Alwine schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Verblüfft verharrte Emilia noch einen Augenblick, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte.

»Verflucht sollst du sein«, murmelte sie mit gesenktem Kopf vor sich hin und wäre beinahe in Elias hineingelaufen.

»Oh, verzeih, ich habe überhaupt nicht darauf geachtet, wohin ich trete«, sagte Emilia, als Elias sich umdrehte und stehen blieb.

»Warum ziehst du so ein Gesicht?«, wollte er wissen.

»Ach, ich ärgere mich heute schon den halben Tag. Erst über meine Mutter und jetzt über Alwine Gabler.«

»Willst du mir davon erzählen?«

»Meine Mutter hat mich gezwungen, bei Alwine um Verzeihung zu bitten, dass ich Paul eins verpasst habe – was er verdient hat, wohlgemerkt –, und jetzt musste ich ihr auch noch einen Käselaib bringen. Einen ganzen Laib! Und dann nennt mich die Gablerin ein missratenes Balg und schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Fragt sich, wer sich hier nicht benehmen kann«, ereiferte sich Emilia.

Elias lachte. »Du bist sogar entzückend, wenn du wütend bist.«

Entgeistert sah sie an, dann lächelte sie verlegen.

»Nimm dir Alwines Worte nicht zu Herzen, du weißt, sie kann ziemlich boshaft sein. Und ich stimme dir zu, ein ganzer Laib ist tatsächlich mehr als großzügig.«

»Wohin bist du unterwegs?«, wollte Emilia wissen.