Die Farben der Welt - Johanna von Wild - E-Book

Die Farben der Welt E-Book

Johanna von Wild

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Beschreibung

Nürnberg, 1591. Nach dem Tod ihrer Eltern nimmt der Apotheker Basilius Besler seine Nichte Ida bei sich auf und schickt sie zur Schule. Dort findet sie in der Kaufmannstochter Luisa eine Freundin fürs Leben und entdeckt ihre Liebe zur Malerei. Doch es gibt auch Mädchen, die ihr übel mitspielen. Zum Studium geht Ida nach Florenz und erhält nach ihrer Rückkehr vom Eichstätter Fürstbischof den Auftrag, Zeichnungen für den Prachtfolianten seines Gartens anzufertigen. Aber Neid und Missgunst bestehen noch immer. Eine Intrige sorgt nicht nur für den Bruch zwischen ihr und Luisa, sondern bringt Ida in Lebensgefahr.

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Johanna von Wild

Die Farben der Welt

Historischer Roman

Impressum

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Unidentified_artist_-_Large_Sunflower_(Flos_Solis_Maior),_plate_1_from_part_5,_B._Besler,_%22Hortus_Eystettensis%22,_1713_edit…_-_Google_Art_Project.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hortus_Eystettensis,_1613_(KU_2894-1_234)_-Verna,4,5.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hortus_Eystettensis,_1613_(KU_2894-2_061)_-Aestiva,1,6.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hortus_Eystettensis,_1613_(KU_2894-2_124)_-Aestiva,2,11.jpg

ISBN 978-3-8392-7386-9

Widmung

Für Ralf – Du machst mein Leben bunt.

Zitate

Farben sind das Lächeln der Natur und Blumen sind ihr Lachen.

Leigh Hunt (1784 – 1859), englischer Dichter

*

Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.

Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), römischer Philosoph

Die wichtigsten Personen

historische Personen sind mit * gekennzeichnet

Ida Gerster: Handwerkertochter

Sabina Gerster: ihre Mutter

Gustaf Gerster: ihr Vater

Basilius Besler*: Apotheker und Botaniker

Rosina Flock*: seine erste Frau

Susanna Schmidt*: seine zweite Frau

Joachim Camerarius*: Arzt und Botaniker

Gunda: seine Frau

Kaspar Kammermeister: sein Sohn

*

Johann Konrad von Gemmingen*: Fürstbischof von Eichstätt

Luisa Imhoff: Kaufmannstochter

Sebastian Imhoff: ihr Bruder

Ursula Imhoff: ihre Mutter

Ludwig Imhoff: ihr Vater

*

Paula Nützel: Kaufmannstochter

Ottilie Nützel: ihre Mutter

Elisabeth Welser: Kaufmannstochter

Gabriela Heim: Arzttochter

*

Wenzel Straub: Maler

Lukas: sein Sohn

*

Artemisia Gentileschi*: Malerin

Alessandro Allori*: Maler

Agnese Fabri: Herbergsmutter

Cristina de Lorena*: Großherzogin der Toskana

Luca Bati*: Hofkapellmeister der Medici

Enrico da Grasso: sein Schüler

Matteo Scopolo: Kaspars Freund

Sophie von Braunschweig-Lüneburg*: Markgräfin von Ansbach-Kulmbach

1591

Ein kalter Wind, begleitet von stetigem Nieselregen, fegte durch die Straßen und Gassen von Nürnberg. Hustend und zitternd vor Kälte ging Sabina Gerster neben ihrer Tochter Ida her. In der einen Hand trug sie einen prall gefüllten Korb mit Eiern, Käse, Kohl und Brot, in der anderen einen mit Flachs, den sie mit ihrem Umhang abgedeckt hatte, um ihn vor der Nässe zu schützen. Zu Hause wartete der Rockenstock, um die langen Flachsfasern zu verspinnen. Die zehnjährige Ida schleppte eine schwere Kötze mit Milch, Geräuchertem, Kerzen und Öl. Sie war überanstrengt, hungrig und plärrte, so sehr schmerzte ihr Rücken ob der Last, und die ledernen Riemen des Tragekorbs schienen sich mit jedem Schritt tiefer in ihre Schultern zu graben.

»Nur noch über die Fleischbrücke, es ist nicht mehr weit bis nach Hause«, versuchte ihre Mutter sie zu trösten. »Dann bekommst du ein Stück Brot, und wenn du zu weinen aufhörst, auch Käse und einen Becher Milch.«

Trotzig sah Ida zu ihrer Mutter auf. Tränen liefen ihre geröteten Wangen hinunter, und der Rotz aus der Nase zog eine Spur zu ihrer Oberlippe. Sabina stellte die Körbe auf den Boden, wischte Ida mit einem Zipfel ihrer Schürze die Nase sauber. Dann strich sie ihr über die honigblonden Locken, beugte sich hinunter und küsste sie auf die linke Wange.

»Ich kann nicht alle drei Körbe tragen, mein Kind«, seufzte sie heiser und versuchte erfolglos, ihre Kehle zu klären.

Ida rieb sich die Augen mit den Fäusten und beschloss, tapfer zu sein. Auf ihren dünnen Beinchen folgte sie ihrer Mutter über die steinerne Brücke, die die Stadtviertel St. Sebald und St. Lorenz verband. Blutgeruch lag in der Luft, der dem nahen Fleischhaus entrang, das zur Flussseite hin offen war. Ida hörte die dumpfen Klänge der Fleischbeile, wenn sie die Tierkörper zerteilten und auf die hölzernen Fleischbänke trafen. Geschlachtet wurden die Tiere zuvor in einfachen Buden, die über der Pegnitz standen, damit die Abfälle sogleich im Fluss landeten. Von der Brücke war es nicht mehr weit bis zu ihrem Haus gegenüber dem Tugendbrunnen. Zuvor hatte es dort lediglich einen einfachen Brunnen in Form einer steinernen Säule gegeben, doch vor einigen Jahren hatte der Stadtrat den Erzgießer und Bildhauer Benedikt Wurzelbauer beauftragt, einen Bronzefigurenbrunnen zu schaffen.

Aufgeregte Rufe und Wiehern drangen vom Rossmarkt herüber. Idas Mutter kümmerte sich nicht weiter und strebte dem Haus zu. Ihre Tochter folgte ihr, den Kopf über die Schulter gewandt, in der Hoffnung, vielleicht den Grund des Tumults zu entdecken. Dann standen sie vor dem Haus und stellten ächzend ihre Körbe ab. Sabinas Atem ging schwer, und sie hustete trocken.

»Geh in die Schmiede, Ida, und hol deinen Vater und Hans«, trug sie ihr auf und öffnete die Tür.

Ida wandte sich ab und ging durch den Hof zur Werkstatt. Doch dort traf sie nur auf den Gesellen, der eine Axt schmiedete. Nach dem kalten Regen, der ihre Kleider durchnässt hatte, war es in der Schmiede herrlich warm.

»Hans, wo ist mein Vater? Mutter sagt, ihr sollt hereinkommen, es ist Mittagszeit.« Ida musste schreien, um den Lärm zu übertönen, den der Klang des Hammers auf Eisen verursachte. Hans nahm die Mahlzeiten immer mit ihrer Familie ein, sie waren Teil seines Lohns. Seine Frau Irmingard arbeitete bei einem Korbmacher in der Engelhardsgasse, und Ida wusste, die beiden sehnten sich nach einem Kind. Vom ersten Tag an hatte Hans ihr erzählt, er wünsche sich auch so ein hübsches Töchterchen wie Ida, und wann immer er sie sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

»Er ist zum Rossmarkt, Pferde beschlagen«, antwortete der Geselle und hieb auf das glühende Stück Eisen ein, dass die Funken sprühten. »Sag Sabina, es dauert noch.«

Ida verließ die Schmiede und lief zurück zum Haus.

»Kann ich jetzt mein Brot haben und einen Becher Milch?«, fragte sie, als sie in die Küche kam. »Hans arbeitet noch, und Vater ist zum Rossmarkt.«

Sabina brach ein Stück Brot und schnitt eine kleine Ecke Käse ab. »Hier, Kind, setz dich hin und iss.« Sie goss Milch in einen irdenen Becher und stellte ihn vor Ida, die auf die Bank am Tisch geklettert war und gierig Brot und Käse in sich hinein­schlang. »Nicht so hastig, Ida, du bekommst sonst Bauchschmerzen.«

Plötzlich kam Hans in die Küche gestürzt. »Sabina, schnell, Gustaf …«, stieß er hervor, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.

Ida vergaß zu kauen und sah ängstlich von ihrer Mutter zu Hans und wieder zurück. Eine kalte Faust schien nach ihrem Herzen zu greifen und es zu umklammern, raubte ihr beinahe den Atem. Ihre Mutter war totenbleich geworden.

»Was ist geschehen?«, krächzte Sabina.

»Ein Pferd hat ihn getreten«, antwortete Hans und fasste nach ihrer Hand.

»Du bleibst hier, Ida. Ich gehe mit Hans zum Rossmarkt.«

»Ich will aber mitkommen!«, rief Ida empört, verschluckte sich an dem letzten Stück Brot und begann zu husten. Ihre Mutter klopfte ihr auf den Rücken und reichte ihr den Becher. »Trink einen Schluck.«

Der Hustenreiz ließ nach. »Bitte, Mutter«, flehte sie.

Sabina stieß hörbar Luft aus. »Gut, dann komm.«

Wieder hasteten sie durch den Regen, Ida hatte Mühe, mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Eine große Menschentraube hatte sich an der einen Seite des Pferdemarktes gebildet, die an den Ebracher Hof grenzte.

»Lasst mich durch«, bat Sabina. »Wo ist mein Mann? Wo ist Gustaf?«

Zögernd machten die Leute Platz, damit sie sich durchdrängen konnten. Gustaf Gerster lag mit entblößtem Oberkörper schweißgebadet auf dem Boden, sein Gesicht wächsern und leichenblass. Neben ihm kniete der Stadtarzt, Joachim Camerarius, fühlte Gustafs Puls und betastete vorsichtig die Bauchdecke.

»Gustaf!«, schrie Sabina angsterfüllt und stürzte zu ihrem Mann, fiel neben ihm auf die Knie. »Gustaf, hörst du mich?«

»Er ist nicht bei Bewusstsein«, sagte der Arzt. »Sein Puls ist zu eilig, und er atmet viel zu schnell.«

Sabina fasste nach der Hand ihres Gatten, die sich eiskalt und feucht anfühlte.

»So tut doch irgendetwas«, fuhr sie Camerarius an. »Ihr seid doch Arzt.«

»Ich kann nichts mehr für ihn tun, gute Frau. Seine Bauchorgane sind durch den Tritt verletzt worden.« Er deutete auf die Prellungen an der linken Bauchseite. »Euer Gatte verblutet innerlich. Es tut mir leid«, fügte er leise hinzu.

»Gustaf, Gustaf, bitte, wach auf.« Sie tätschelte die eingefallenen bleichen Wangen. Doch Gustaf regte sich nicht.

»Wird Vater sterben?«, fragte Ida, die mit aufgerissenen Augen zitternd dastand und sich an Hans’ Hosenbund festkrallte.

Joachim Camerarius sah sie traurig an und nickte unmerklich. Ida begann zu weinen. Hans nahm sie auf den Arm, und sie vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, während ihre Mutter immer noch versuchte, Gustaf ins Leben zurückzuholen. Niemand hinderte die verzweifelte Frau daran, bis der Stadtarzt sie sanft an der Schulter berührte.

»Er ist tot«, sagte er leise.

Sabina warf sich über die Leiche, schrie ihren Schmerz hemmungslos hinaus. Die Menge begann sich allmählich zu zerstreuen. Irgendwann hatte Idas Mutter keine Kraft mehr, und ihr lautes Heulen verstummte, nur vereinzelte Schluchzer entrangen ihrer Kehle, unterbrochen von Hustenanfällen. Mühsam kam sie auf die Beine und nahm Ida aus den Armen des Gesellen, dem sie einen dankbaren Blick zuwarf.

»Ich sorge dafür, dass Gustaf nach Hause gebracht wird. Kümmere dich um deine Tochter«, raunte Hans Sabina zu.

Drei Tage später wurde Gustaf Gerster unter die Erde gebracht. Der Nieselregen der letzten Tage hatte sich in feine Schneeflöckchen verwandelt, die die Welt mit einer dünnen weißen Decke überzogen. Stumm stand Ida am Grab ihres Vaters, noch immer konnte sie nicht fassen, was geschehen war. Nie wieder würde er sie durch die Luft wirbeln und ihr Geschichten erzählen. Nie wieder würde sein dichter Bart ihre Wange kitzeln, wenn er sie küsste. Ihr Vater hatte sie sehr geliebt, denn sie war sein einziges Kind. Nach ihrer Geburt hatte Sabina jede weitere Leibesfrucht verloren.

Neben ihr stand schniefend und hustend ihre Mutter, die seit dem Unglück kaum etwas zu sich genommen hatte. Ida war froh, dass Hans da war, der sich um vieles in den letzten Tagen gekümmert und einen Karren besorgt hatte, der den Sarg zum St. Rochusfriedhof vor die Tore der Stadt fuhr.

Vor fast siebzig Jahren hatte die Pest die Reichsstadt einmal mehr heimgesucht, und der Stadtrat hatte nach dem Gebot Kaiser Maximilians I. gehandelt und die Bestattungen der vielen Opfer innerhalb der Stadtmauern untersagt. Ein neuer Friedhof war angelegt worden, und der reiche Kaufmann Konrad Imhoff hatte die Kapelle gespendet, die dem Heiligen Rochus von Montpellier – dem Schutzpatron gegen die Pest – geweiht worden war.

Hans war es auch gewesen, der Sabinas Bruder, den Apotheker Basilius Besler, aufgesucht und ihm vom tragischen Tod seines Schwagers berichtet hatte.

Der Pfarrer sprach seinen letzten Segen. »Der Herr behüte dich von nun an bis in alle Ewigkeit. Jesus spricht: Fürchte dich nicht. Ich bin der Erste, der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Er nahm den kleinen Eimer mit der Erde und warf die erste Schaufel auf den Sarg. »Erde zur Erde. Asche zur Asche. Staub zum Staube.« Mit der letzten Silbe fiel die dritte Schaufel Erde, landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Sargdeckel.

Sabina sah hinunter auf die honigblonden Locken ihrer Tochter. Schneeflocken ließen sich darauf nieder und schmolzen. Sie drückte Ida an sich.

»Hat Vater es jetzt besser?«, fragte Ida und blickte zu ihrer Mutter auf.

»Ja, mein Kind. Er hat keine Schmerzen mehr, und seine Seele wird immer über uns wachen. Dein Vater ist jetzt im Himmel bei unserem Erlöser.«

»Dann bin ich froh. Können wir jetzt nach Hause gehen? Mir ist so kalt, dass ich meine Füße nicht mehr spüre.«

Sabina lächelte traurig, dann schüttelte sie ein Hustenanfall. »Bald, meine Kleine.«

Die Trauernden verließen allmählich den Gottesacker, nachdem sie der Witwe Trost gespendet und ihr Mitleid bekundet hatten. Zum Leichenschmaus hatte Sabina nicht geladen und hoffte, die Nachbarn nahmen es ihr nicht übel.

»Dein Husten hört sich fürchterlich an«, sagte Basilius auf dem Heimweg zu seiner Schwester. »Wie lange geht das schon so?«

»Ich weiß nicht, ein paar Wochen vielleicht? Es wird wieder vergehen«, antwortete sie schulterzuckend.

»Du solltest nicht so leichtfertig damit umgehen, komm morgen zu mir, und ich gebe dir eine Arznei. Oder geh zu einem Arzt.«

»Ja, vielleicht. Kommt ihr noch mit hinein?«, fragte sie Basilius und seine Frau Rosina. Hans und seine Frau hatten sich schon zuvor verabschiedet, morgen würde der Geselle wieder in die Werkstatt kommen.

Bevor Basilius eine Antwort geben konnte, entgegnete Rosina: »Nein, verzeih, liebe Schwägerin, aber für mich gibt es noch einiges vorzubereiten. Wir werden bald ein großes Fest geben, denn die Übernahme der Apotheke am Heumarkt jährt sich zum fünften Mal. Es wird Zeit, die Einladungen zu schreiben.« Rosina war die hochnäsige Tochter des verstorbenen Arztes Erasmus Flock, und schon bei der Hochzeit hatte sich Sabina gefragt, was ihr Bruder wohl an ihr fand. Ihr einnehmendes Wesen konnte es nicht sein.

»Sind wir auch eingeladen?«, fragte Ida, die unruhig vor der Tür herumzappelte, weil ihre Füße mehr und mehr einem Eisklumpen glichen.

»Natürlich«, lächelte Basilius. »Wir kommen gerne noch mit, Sabina«, sagte er zu seiner Schwester und übersah geflissentlich die säuerliche Miene seiner Frau.

Wenig später saßen sie in der warmen Stube, und Idas Füße erwachten allmählich wieder zum Leben, nachdem ihre Mutter ihr einen Becher verdünnten heißen Würzwein gegeben hatte. Es fiel ihr zunehmend schwer, die Augen offen zu halten, und sie bettete ihren Kopf auf die verschränkten Arme. Schläfrig lauschte sie dem Gespräch der Erwachsenen.

»Was wirst du nun tun, Sabina?«, fragte Basilius.

»Ich werde mir zusätzliche Arbeit suchen müssen, das Spinnen wird nicht ausreichen, um genug Geld für Ida und mich zu verdienen. Und ich werde mit Hans sprechen, ob er die Werkstatt übernehmen und mir dafür Miete zahlen kann«, seufzte sie.

»Hättest du damals Ludwig Tucher geheiratet, dann stündest du jetzt besser da und müsstest dir keine Sorgen machen. Du wärst eine reiche Kaufmannswitwe, und dir und Ida würde es an nichts fehlen«, ließ sich Rosinas näselnde Stimme vernehmen.

»Kannst du nicht einmal mit den alten Geschichten aufhören?«, fauchte Sabina hustend.

»Dein Vater war viel zu nachsichtig«, entgegnete Rosina.

»Mein Vater liebte mich, und deshalb hat er der Heirat mit Gustaf zugestimmt und die Tucher vor den Kopf gestoßen.«

»Du siehst ja, dass es keine gute Entscheidung war.«

»Rosina, nun lass es gut sein«, versuchte Basilius zu besänftigen. »Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, meine Schwester mit Vorwürfen zu überhäufen, kaum dass Gustaf unter der Erde ist. Sabina, wann immer du meine Hilfe brauchst, du kannst jederzeit zu mir kommen. Das weißt du doch, oder?«

»Ich weiß, lieber Bruder.« Sabina räusperte sich, trotzdem hörte sich ihre Stimme belegt an. »Die Apotheke am Heumarkt geht gut?«, fragte sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Ja, und zur Fünf-Jahresfeier werde ich sie in ›Apotheke zum Marienbild‹ umbenennen«, verriet Basilius Besler.

»Das ist schön«, befand Sabina und rieb sich die Augen. »Ich bin müde, und Ida muss auch ins Bett gebracht werden. Seht nur, sie ist bereits eingeschlafen.«

Ida hob ein wenig den Kopf. »Nein, ich bin noch wach.« Sie gähnte herzhaft und vergrub ihr Gesicht wieder in den Armen. Verschwommen bekam sie mit, wie ihr Onkel sie die Treppe hinauftrug, sie ins Bett legte und ihr die Decke bis zum Kinn zog.

»Gehen wir heute zu Onkel Basilius, Mutter, um Arznei für dich zu besorgen?«, fragte Ida am nächsten Morgen und löffelte ihren Gerstenbrei.

»Nein, Kind, wir besuchen ihn ein anderes Mal«, erwiderte Sabina matt. »Ich muss mit Hans sprechen, wie es mit der Werkstatt weitergehen soll.«

Ida sah ihre Mutter besorgt an, irgendwie besaßen ihre Augen einen seltsamen Glanz. Sie legte den Löffel beiseite und setzte sich auf Sabinas Schoß, legte ihre Wange an die ihrer Mutter. »Du bist ganz heiß«, sagte sie. »Hast du Fieber?«

»Nein, nein«, wehrte Sabina ab, »mir ist nur zu warm. Ich habe Holz geschleppt, um den Ofen anzuheizen.«

»Aber dein Husten …«

»Der wird schon besser«, unterbrach ihre Mutter sie und wurde durch einen rasselnden Hustenanfall Lügen gestraft. Unwillkürlich fasste sie sich an die Brust und stöhnte vor Schmerz.

»Bitte, geh zu Onkel Basilius, er soll dir etwas geben, damit du wieder gesund wirst«, flehte Ida.

»Versprochen, aber heute nicht mehr.« Sabina schob sie sanft von sich und stand von der Küchenbank auf. »Du fegst jetzt die Kammern und den Hof, dann flickst du die Kleider.«

»Ich vermisse Vater«, flüsterte Ida. Sie hatte erwartet, er käme wie jeden Morgen in die Küche. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dies würde nie wieder geschehen.

»Ich auch, Ida«, krächzte Sabina, »aber wir müssen uns mit seinem Tod abfinden. Und jetzt geh.«

Folgsam verließ Ida die Küche und verrichtete klaglos ihre Arbeit. Bei geöffneten Fenstern kehrte sie die Schlafkammern und die Stube aus, Staubteilchen tanzten in den fahlen Sonnenstrahlen. Als sie damit fertig war, ging sie hinunter in den Hof und nahm den Reisigbesen, der an der Hauswand lehnte. Aus der Werkstatt drangen Stimmen, unterbrochen vom heftigen Husten ihrer Mutter. Ida hielt mitten in der Bewegung inne, um zu lauschen.

»Sabina, du musst dich ausruhen«, hörte sie Hans besorgt sagen. »Du bist krank.«

»Jaja, können wir nun über die Werkstatt reden?«, entgegnete Sabina unwirsch.

»Ich kann dir noch keine Antwort geben, zuerst muss ich mir überlegen, ob ich mir die Miete dafür leisten kann. Holzkohle ist teurer geworden, ebenso Weizen und Fleisch. Mein Lohn ist derselbe geblieben. Aber das brauche ich dir nicht zu erzählen. Gib mir etwas Zeit«, bat der Geselle.

»Einverstanden.«

Ida nahm ihre Arbeit wieder auf und fegte gründlich jede Hofecke aus, froh darüber, dass kein Schnee liegen geblieben war. Der gestrige Schnee war wieder geschmolzen.

Morgen ist Sonntag, der Tag des Herrn, und Mutter wird sich nach dem Kirchgang endlich ausruhen können, überlegte sie. Ihr Husten und das bleiche Gesicht gefielen ihr nicht, und sie machte sich Sorgen um ihre Mutter.

»Das hast du gut gemacht, mein Kind«, lobte Sabina, als sie in den Hof kam. »Ich koche uns eine Suppe, und wenn du die Kleider geflickt hast, ist sie fertig.« Ihr Atem ging schwer und pfeifend.

Als Ida später in die Küche kam, saß ihre Mutter zusammengesunken auf der Holzbank und erschrak, als Ida sie ansprach.

»Ich muss wohl eingenickt sein«, murmelte sie schläfrig und wollte aufstehen.

»Bleib sitzen, Mutter«, sagte Ida und schöpfte mit einer Kelle Suppe in die Teller. Doch Sabina schob ihre Mahlzeit von sich. »Ich habe keinen Hunger. Vielleicht sollte ich mich zu Bett begeben, ich bin unsäglich müde und meine Rippen schmerzen.«

»Aber du musst etwas essen«, entgegnete Ida ernst. »Du wirst sehen, die Suppe wird dir guttun.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich muss nur etwas schlafen, dann geht es mir wieder besser.« Ohne ein weiteres Wort schlurfte sie aus der Küche und ließ Ida allein zurück.

Am frühen Morgen schälte sich Ida aus ihrer Decke und ging fröstelnd in der kleinen Kammer zur Waschschüssel in der Ecke. Das eiskalte Wasser ließ sie prusten, und eilig schlüpfte sie in ihre Kleider. Dann lief sie geschwind mit grummelndem Magen die Treppe hinunter. In der Küche war es kühl, die Glut vom vorigen Tag glomm in der Herdstelle. Bestimmt schlief ihre Mutter noch, erschöpft von den letzten Tagen und ihrem quälenden Husten. Ida wusste, wie man das Feuer schürte, und nahm einige Holzscheite aus dem Korb unter dem Fenster. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen fröhlich züngelten und wohlige Wärme verströmten. Bald wäre es auch in der angrenzenden Stube schön warm, denn das Feuer beheizte ebenso den dortigen Kachelofen.

Sonntags gab es immer in Schmalz gebackene Eierkuchen, und der einfache Teig war schnell gemacht. Ida zog sich einen Schemel heran, um an die an einem Haken baumelnde Eisenpfanne zu gelangen. Die Zubereitung lenkte sie ein wenig von ihrer Trauer um ihren Vater ab. Bestimmt freute sich ihre Mutter, wenn sie aufstand und es bereits geheizt war und frische Eierkuchen bereitstanden. Ida gab einen Löffel Schmalz in die Pfanne, sah zu, wie es langsam schmolz. Als es heiß genug war, schöpfte sie den Eierteig hinein und buk die dünnen Fladen, bis sie eine goldbraune Farbe annahmen. Dreimal wiederholte sie den Vorgang, gab die fertigen Eierkuchen auf einen Teller, den sie auf den steinernen Herdaufbau stellte, wo sie warm gehalten wurden.

Noch immer war von ihrer Mutter nichts zu hören. Niemand kam die knarrenden Holzstufen herunter. Ida zog die Pfanne vom Herd und stieg die Treppe nach oben. Sie legte ihr Ohr an die Schlafstube, lauschte. Kein Laut war zu vernehmen. Vorsichtig drückte sie die Klinke und trat ein. Ihre Mutter lag schweißgebadet im Bett, die Haare klebten an ihrem Kopf. Ida erschrak, als ihre Hand die glühend heiße Stirn berührte.

»Mutter. Mutter, so wach doch auf«, bat sie mit banger Stimme.

Ida nahm ein Leinentuch, tauchte es in die Waschschüssel und kühlte die Stirn. Sabinas Körper begann zu zittern, schüttelte sich regelrecht, die Nasenflügel blähten sich in dem Bemühen, Atem zu schöpfen. Ida erfasste eine unheimliche Angst. Hier konnte sie nichts ausrichten. Jemand musste ihr helfen. Eilig verließ sie die Kammer, sprang die Stufen hinunter, griff nach ihrem Umhang und jagte hinaus auf die Gasse. Sie hetzte durch die Straßen, über die Barfüßerbrücke, weiter zum Obstmarkt, bog in die Bindergasse und kam keuchend beim Heumarkt vor der Apotheke zum Stehen. Verzweifelt hämmerte Ida mit ihren kleinen Fäusten gegen die Tür. Nichts rührte sich. Dann fiel ihr ein, es war Sonntag, und jedermann war zum Kirchgang. Die nächste Kirche war die Unserer Lieben Frau. Ida machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.

Heute hatte sie keine Augen für die kunstvolle Monduhr, deren Eigenschaften ihr Vater ihr erklärt hatte. Ab und an hatte Gustaf Ida an die Hand genommen und war mit ihr zum Hauptmarkt gegangen, damit sie sich das Männleinlaufen ansehen konnte. Immer zur vollen Mittagsstunde nach dem letzten Glockenschlag öffneten sich die Türchen, und die sieben Kurfürsten drehten ihre drei Runden um den Kaiser. Die mit schmiedeeisernen Ranken verzierten Kirchentüren waren geschlossen, drinnen spielte die Orgel. Als sie verstummte, stemmte Ida mit aller Kraft eine der Flügeltüren auf und stürmte hinein, vorbei an dem verblüfften Mesner.

»Bist du von Sinnen?«, fuhr er sie an und versuchte, ihren Umhang zu erwischen.

»Onkel Basilius«, kreischte sie so laut sie konnte. »Onkel Basilius!«

Alle Köpfe wandten sich um, ein Raunen ging durch das Mittelschiff, Hände griffen nach ihr, um sie aufzuhalten. Ein Mann erhob sich von einer der Kirchenbänke und eilte auf sie zu.

»Ida, du kannst nicht einfach während der Predigt …«

»Was fällt dir ein, du dummes Kind?«, ereiferte sich Rosina Besler, die ihrem Mann gefolgt war.

Der Pfarrer kam schnellen Schrittes und mit zornumwölkter Stirn von seiner Kanzel, während das aufgeregte Gemurmel der Gläubigen zunahm.

»Verzeiht, Hochwürden, sie ist mir einfach entwischt«, drang die Stimme des Mesners durch die Kirche.

Heulend stürzte Ida zu ihrem Onkel und klammerte sich an ihn. Basilius löste ihre Hände und hob sie auf.

»Vergebt mir, das Mädchen ist meine Nichte«, raunte er dem Pfarrer zu.

»Herr Pfarrer, dieses ungezogene Kind gehört seiner Schwester, die unter ihrem Stand geheiratet hat«, hörte Ida ihre Tante noch missbilligend sagen, dann waren sie aus der Kirche, und Basilius setzte sie ab.

»Was ist denn geschehen?«, fragte er.

»Mutter, sie glüht wie ein Backofen, und ihr ganzer Leib schüttelt sich. Ich wollte sie wecken, aber sie ist nicht aufgewacht«, stieß Ida schluchzend hervor.

»Komm.« Er nahm sie bei der Hand und eilte mit ihr zur Apotheke. Rasch suchte er Kräuter und Elixiere zusammen, stopfte sie in eine lederne Tasche. Dann hetzten sie los, um auf die andere Seite der Pegnitz zu kommen. Idas Lunge brannte vom vielen schnellen Laufen, und sie war völlig erschöpft, als sie endlich am Haus ankamen.

»Geh in die Küche, Ida, und setz einen Topf mit Wasser auf. Wenn es kocht, dann übergieße diese Wurzeln damit. Ich sehe so lange nach Sabina.« Basilius gab ihr ein Säckchen, strich ihr beruhigend über das Haar und verschwand nach oben.

Ida öffnete den kleinen Beutel und schüttete den Inhalt in einen Topf, während das Wasser in einem anderen auf dem Herd allmählich zu sprudeln begann. Sie hielt sich die unscheinbaren Stängel unter die Nase, spürte dem Geruch nach. Würzig und süßlich, eigenartig und fremd. Vorsichtig nahm sie den heißen Topf von der Feuerstelle und goss das kochende Wasser über die getrockneten Wurzelstücke. Während sie wartete, meldete sich ihr Magen, und sie stopfte sich einen Eierkuchen in den Mund. Ohne Honig schmeckte er fade, aber wenigstens stillte er den Hunger.

Schwere Tritte waren auf der Treppe zu hören, als ob Basilius plötzlich an Gewicht zugenommen hätte, dabei war ihr Onkel ein hagerer Mann. Aschfahl im Gesicht kam er in die Küche, und Ida wusste im selben Augenblick, was geschehen war. Stumm starrte sie ihn aus ihren grünen Augen an.

»Ida, mein gutes Kind«, seine Stimme klang belegt, »ich konnte nichts für sie tun. Es war zu spät.« Er breitete die Arme aus, lud sie ein, zu ihm zu kommen.

Doch sie war wie erstarrt. Vor zwei Tagen hatten sie ihren Vater unter die Erde gebracht, nun folgte ihre Mutter ihm ins Grab, und sie war zum Waisenkind geworden. Plötzlich war sie wütend auf ihre Mutter. Warum nur hatte sie nichts gegen ihren Husten unternommen? Sie könnte noch am Leben sein. Doch sie war zu stur gewesen, und jetzt hatte sie ihre Tochter im Stich gelassen.

»Was ist das?«, fragte Ida seltsam beherrscht und deutete auf den Topf mit dem Wurzelsud.

»Radix liquiritiae. Süßholzwurzel.«

»Hätte es ihr geholfen?«

»Wenn sie früher zu mir gekommen wäre …« Der Apotheker beendete den Satz nicht, während er sich auf die Bank setzte. Niemand konnte mit Sicherheit darauf eine Antwort geben, das wusste nur Gott allein.

Und mit einem Mal brachen sich die Tränen Bahn, und Ida kletterte auf seinen Schoß, verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

 

»Wie lange soll sie noch hierbleiben, Basilius?« Rosinas schrille Stimme gellte in den Ohren.

»Ich werde Ida nicht fortschicken, sie ist meine Nichte und mein Patenkind. Du weißt, wie sehr ich mir ein eigenes Kind wünsche. Dachtest du, ich gebe sie ins Findelhaus?«

»Sie ist trotzig und undankbar und verfolgt mich mit ihren scheelen Blicken.«

»Rosina, sie hat innerhalb weniger Tage Vater und Mutter verloren«, entgegnete Basilius sanft. »Das Mädchen braucht ein Zuhause. Es ist meine Pflicht als Oheim und als Christ. Du kannst sie kaum auf die Drehlade des Findelhauses binden, sie ist kein Säugling mehr«, fügte er mit einem bitteren Lachen hinzu.

Die Drehladen dienten dazu, ungewollte Neugeborene heimlich loszuwerden. Die Kinder wurden in die Vertiefung einer drehbaren Holzplatte an der Außenwand gelegt, dann läutete man die Findelglocke, und im Inneren des Waisenhauses wurde ein Hebel bedient, der den Drehteller bewegte und die Säuglinge nach drinnen beförderte.

»Es gibt genügend ärmere Leute, die sie gegen Geld aufnehmen würden.«

»Ich will nichts mehr davon hören, Rosina. Ida bleibt hier, und wir werden sie wie unser eigen Fleisch und Blut großziehen. Du wirst sehen, wenn wir erst Kinder haben, dann wird sie wie eine große Schwester für sie sein.«

Auf Zehenspitzen schlich Ida weiter zum Laubengang, wo sich der Abtritt befand. Sie hatte genug gehört.

Drei Wochen lebte Ida nun schon bei ihrem Onkel, und am liebsten hielt sie sich in der Apotheke auf. Sie mochte den Geruch der Kräuter und die hübschen Fayencegefäße, und sie lauschte aufmerksam Basilius’ Worten, wenn er den Leuten erklärte, welches Heilmittel wie anzuwenden sei. Doch allzu oft erschien ihre Tante Rosina, die sie hinausscheuchte und ihr langweilige Stickarbeiten aufgab.

»Ida«, sagte Basilius Besler nach dem Abendbrot, »ich möchte, dass du zur Schule gehst. Zu einer guten Schule, nicht in diese Winkelschulen, in denen man kaum etwas lernt. Du wirst Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und auch Latein.«

»Wozu soll das gut sein?« Rosina runzelte missbilligend die Stirn.

»Damit sie später einmal ihren Lebensunterhalt verdienen kann. Je gebildeter man ist, desto besser wird das künftige Leben sein.«

»Sie ist nur das Kind eines Schmieds. Wenn sie alt genug ist, wird sie einen Handwerker heiraten und Kinder bekommen. Ida soll lieber lernen, wie man einen Haushalt führt«, hielt Rosina dagegen.

»Gebildete Mädchen werden auch von Handwerkern bevorzugt, damit sie die Bücher führen können«, erwiderte Basilius kauend.

»Vater hat mich in eine Winkelschule geschickt, aber ich bin nicht gern hingegangen, weil die Jungen mich ständig geärgert haben. Ich war das einzige Mädchen. Aber ich würde lieber zur Schule gehen und lernen, wenn es dort mehr Mädchen gäbe«, sagte Ida leise.

Basilius sah seine Frau triumphierend an. »Da hörst du es. Gleich morgen, mein liebes Kind, gehst du in die Lateinschule St. Egidien. Frag nach Meister Johann Neudörffer, er weiß bereits von deinem Kommen«, wandte er sich an Ida. »Und ich verspreche dir, dort gibt es genügend Mädchen, da die Kaufleute und höhergestellten Bürger ihre Töchter dorthin schicken.«

»Und wer bezahlt das Schulgeld?«, mischte sich Rosina ein.

»Mein Vater hatte Erspartes. Ich weiß nicht, wie viel, aber meine Mutter hat mir davon erzählt, und ich hoffe, es wird genug sein, um die Schule zu bezahlen«, erwiderte Ida mit trotzigem Gesicht. Sie hasste es, wenn Rosina über sie sprach, als ob sie nicht zugegen wäre.

Basilius begann laut zu lachen. »Ganz recht, Ida, dein Vater hatte eine gut gefüllte Truhe unter den Holzdielen verborgen. Außerdem habe ich gestern mit Hans gesprochen. Er wird ins Haus ziehen und dafür Miete bezahlen. Dieses Geld lege ich für dich beiseite, bis du alt genug bist, selbst darüber und über das Haus zu verfügen.«

»Das ist schön, wenn Hans und Irmingard dort einziehen«, freute sich Ida.

»Übrigens, Rosina, nur die Winkelschulen kosten Geld, die Lateinschulen nicht, ich dachte, das wüsstest du«, spöttelte Idas Onkel, woraufhin seine Frau eine missmutige Miene zog.

Basilius schob seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zur Anrichte, die mit edlem Eschenholzfurnier belegt war. Neben Augsburg war Nürnberg die Stadt im Reich, in der solch teure Möbelstücke hergestellt wurden, und wer es sich leisten konnte, kaufte seine Schränke bei Schreinermeister Graff. Der Apotheker zog eine Schublade auf und entnahm ihr ein in Leinentücher eingeschlagenes Päckchen, welches er Ida gab.

»Das ist für dich.«

Vorsichtig schlug sie das Leinen zurück. Zum Vorschein kamen eine Wachstafel, ein Blatt Papier mit Buchstaben und eine Kette mit vielen Holzperlen unterschiedlicher Farbe.

»Das ist das Alphabet«, erklärte Basilius und zeigte auf das Papier, »und die Kette brauchst du, um Rechnen zu lernen.«

Ida hüllte die Sachen wieder ein, legte das Bündel auf den Boden und umschlang mit ihren dünnen Armen die langen Beine ihres Onkels.

»Hab Dank, Onkel Basilius, das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe«, hauchte sie.

Als ob der Himmel sich für Ida freute, riss die Wolkendecke auf, und die Sonne strahlte herab. Der Frühlingsbeginn zeigte sich von seiner schönsten Seite. Meisen, Amseln und Sperlinge überboten sich gegenseitig mit ihren Liedern, um Weibchen für sich zu gewinnen, und die Bienen verließen ihre Stöcke. Haselsträucher und Weidenkätzchen trieben Knospen, auf den Wiesen vor der Stadtmauer blühten Blausternchen, Schlüsselblumen und Gänseblümchen, die gemeinsam einen bunt betupften Teppich bildeten.

Aufgeregt ging Ida zu St. Egidien und sah ihrem ersten Schultag mit gemischten Gefühlen entgegen. Ob die anderen Kinder freundlich waren? Die meisten stammten aus reichen Patrizierfamilien der Stadt. Ob sie auf sie herabsehen würden?

Das ehemalige Schottenkloster beherbergte die Lateinschule und die Obere Schule, die einst von bedeutenden Männern wie Philipp Melanchthon gegründet worden war. In der Oberen Schule wurden auch Griechisch und Mathematik gelehrt, um die zukünftigen Studenten besser auf die Universität vorzubereiten. Unterrichtet wurde in der Lateinschule in gemischten Klassen, wie ihr Onkel ihr erzählt hatte. Scheu näherte sich Ida dem ehemaligen Klostergebäude und sah sich suchend um. Kinder verschiedenen Alters tummelten sich vor den beeindruckenden Gebäuden, Lehrer und Lehrfrauen riefen sie zu sich, ordneten sie in Gruppen. Sie entdeckte einen hageren Mann mit hoher Stirn und gewelltem Haar, das knapp die Ohren bedeckte. Basilius hatte ihr den Schreib- und Rechenmeister Johann Neudörffer beschrieben, und Ida war sicher, ihn gefunden zu haben.

Zögerlich ging sie auf den Mann zu, der mit einer einfachen Handbewegung für Ruhe unter seinen Schützlingen sorgte. Versehentlich rempelte sie ein Mädchen an, das fauchend herumfuhr und sie vor die Brust stieß. »Was fällt dir ein?«

»Das war keine Absicht«, erwiderte Ida verständnislos ob der rüden Behandlung.

»Mach eben die Augen auf, du dummes Ding«, mischte sich ein weiteres Mädchen ein, »und gib Acht, wo du hintrittst.«

»Aber …«

»Bist du Ida Gerster?«, rief der Lehrer, der nur wenige Schritte entfernt war.

Eingeschüchtert nickte sie stumm, als alle Köpfe sich nach ihr umwandten.

»Sag, ja, Herr Lehrmeister«, raunte ihr ein dunkelhaariger Junge zu.

Sie tat, wie ihr geheißen, und sah den Jungen dankbar an, der ihr zuzwinkerte. Nur vage nahm Ida die missgünstige Miene eines glupschäugigen Mädchens mit hellbraunen Augen wahr, das neben ihm stand.

»Gut, jetzt lasst uns hineingehen«, ordnete Neudörffer an.

Die Gruppen folgten ihren Lehrern ins Gebäude des ehemaligen Klosters und gingen in ihre Räume. Ida hielt sich an den freundlichen Dunkelhaarigen.

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Frag nur. Ich bin übrigens Kaspar. Kaspar Kammermeister.«

»Ich verstehe kein Latein, ich weiß nicht, wie ich dann lernen soll«, verriet Ida ihm ihre Sorge.

Kaspar lachte. »Du musst keine Angst haben, der Unterricht ist auf Deutsch. Erst wenn du lesen und schreiben kannst, wird Latein gelehrt.«

Erleichtert lächelte Ida ihm zu. »Darf ich mich neben dich setzen?«

Im Halbkreis um ein erhöhtes Podest standen drei Bankreihen, und die Schüler verteilten sich darauf.

»Kaspar sitzt neben mir, du musst dir einen anderen Platz suchen«, zischte das braunhaarige Mädchen mit den Glupschaugen, das die ganze Zeit über Kaspar nicht von der Seite gewichen war.

»Darf ich vorstellen, Gabriela Heim.« Kaspar zog mit schelmischem Lächeln seine Mütze vom Kopf und vollführte eine übertriebene Verbeugung. Ida begann zu kichern, und Gabriela setzte sich wutschnaubend auf die Bank.

»Du musst dir trotzdem dort drüben einen Platz suchen«, erklärte Kaspar und deutete auf die gegenüberliegenden Bänke. »Hier sitzen diejenigen, die schon länger zur Schule gehen.«

Ida zuckte bedauernd die Schultern und ließ ihn stehen. Vereinzelt gab es noch einige freie Plätze, und ihre Wahl fiel auf den letzten in der ersten Reihe neben einem Mädchen mit hellblonden Locken.

»Ich bin Ida, darf ich mich neben dich setzen?«

Das Mädchen mit dem engelsgleichen Gesicht nickte. »Ich bin Luisa Imhoff.«

Ida wusste, dass die Imhoffs zu den mächtigsten Familien in Nürnberg gehörten, und mit klopfendem Herzen nahm sie Platz. Das Mädchen schien freundlich, doch ob es das bliebe, wenn es erfuhr, dass Ida keiner reichen Familie entstammte? Ein lautes Pochen dröhnte durch den Raum, als Johann Neudörffer mit einem Stab auf das Holzpodest schlug. Augenblicklich verstummten die Mädchen und Jungen, alle Augen richteten sich auf den Schulmeister. Neudörffer verteilte die Aufgaben. Die Älteren mussten selbstständig Rechenaufgaben lösen, und die Jüngeren lernten einzelne Buchstaben des Alphabets, die sie Neudörffer laut nachsprachen. Danach ritzte der Lehrmeister die Buchstaben in die Wachstafeln, damit die Kinder die Linien nachziehen und sich selbst daran versuchen konnten.

Zwei Mädchen, die hinter Ida und Luisa saßen, flüsterten und rümpften die Nasen.

»Sieh dir nur das Kleid an, der Kragen ist abgewetzt. Bestimmt stammt sie aus ärmlichem Haus. Und dann setzt sie sich ausgerechnet neben Luisa.«

»Du hast recht, ich glaube, ich kann ihre armselige Herkunft riechen. Bestimmt ist ihr Vater nur ein einfacher Handwerker.«

Wütend fuhr Ida herum und funkelte die beiden an. Eine davon war das Mädchen, das sie vorhin versehentlich angerempelt hatte. In ihren grünen Augen lagen Häme und Herablassung.

»Ein Handwerker ist genauso viel wert wie ein Kaufmann«, zischte sie.

Plötzlich zog jemand sie schmerzhaft am linken Ohr, zwang sie aufzustehen.

»Ida, hier wird nicht geredet.« Neudörffer sah sie streng an. »Ich sehe, du hast den Buchstaben noch nicht geübt.«

»Aber …«, begehrte sie auf.

»Wag es nicht, mir zu widersprechen.« Noch immer hielt er sie am Ohr fest. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drehte er die Ohrmuschel, und Ida stieß einen Schrei aus. Neudörffer ließ sie los, und sie plumpste auf die harte Bank zurück.

»Jetzt zeig mir, wie du ein M schreibst«, forderte er.

Ida nahm ihre Wachstafel, drängte die Tränen zurück und schluckte. Ihre Hand zitterte, als sie die Linien in die Wachstafel kratzte, doch es gelang ihr, den Buchstaben einigermaßen so aussehen zu lassen, wie er sollte. Neudörffer nickte und entfernte sich. Hinter sich konnte Ida unterdrücktes gehässiges Kichern vernehmen, doch sie dachte nicht daran, sich noch einmal provozieren zu lassen.

Vier Stunden wurde geübt und nachgesprochen, dazwischen wurde gesungen. Ida empfand das lange Sitzen ermüdend und anstrengend, ihre Finger schmerzten von der ungewohnten Haltung des Griffels. Immer wieder unterdrückte sie ein Gähnen, und endlich war der Unterricht vorbei. Neudörffer mahnte, beim Verlassen des Gebäudes nicht zu drängeln, und Ida hielt sich zurück, wartete, bis die meisten Kinder draußen waren. Dann folgte sie ihnen mit gesenktem Kopf, ihre Tasche mit der Wachstafel eng an sich gedrückt. Noch immer glaubte sie ein Pochen in ihrer linken Ohrmuschel zu spüren. Ihren ersten Schultag hatte sie sich anders vorgestellt.

»Ida«, rief jemand.

Sie hob den Kopf und sah Luisa Imhoff, die mit schuldbewusster Miene auf sie wartete.

»Verzeih mir, es war ungerecht von Meister Neudörffer, er hätte nicht nur dich strafen dürfen. Und ich hätte mich für dich einsetzen sollen.«

Ida starrte das Mädchen verblüfft an. Sie hatte erwartet, dass die Kaufmannstochter eingebildet wäre. Doch eher das Gegenteil war der Fall.

»Es war nicht deine Schuld. Bestimmt hätte er dich auch am Ohr gezogen, und die anderen wären trotzdem davongekommen. Kennst du die Mädchen?«, antwortete sie.

»Elisabeth Welser stammt aus einer namhaften Kaufmannsfamilie, die andere heißt Paula Nützel, ihr Vater ist als Gesandter für den Kaiser unterwegs. Paula war diejenige, die abfällig über dein Kleid sprach.«

»Ich gehöre nicht hierher«, sagte Ida entmutigt. »Alle scheinen reichen Familien zu entstammen. Nur ich nicht.«

Luisa Imhoff schüttelte den Kopf, tröstend fasste sie nach Idas Hand. »Nein, nicht alle. Womit verdient dein Vater sein Geld? Ist er Baumeister oder Prediger?«

»Mein Vater war Schmied. Und jetzt ist er tot«, stieß Ida hervor und riss sich mit einer ruckartigen Bewegung von Luisa los, »und meine Mutter auch.« Dann lief sie weinend davon, ohne Elisabeth und Paula zu bemerken, die gehässig grinsten.

Beim Morgenbrot des darauffolgenden Tages aß Ida kaum etwas, stocherte nur in ihrem Gerstenbrei herum.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte ihr Onkel.

»Ich habe keinen Hunger«, gab sie leise zurück.

»Wenn du jetzt nichts isst, wirst du in der Schule hungrig werden. Das ist nicht gut. Man lernt nichts, wenn der Magen knurrt.«

Gestern hatte Ida ihren Onkel nicht mehr gesehen. Sie war längst zu Bett gegangen, bevor er nach Hause gekommen war. Einmal im Monat trafen sich die Ärzte und Apotheker des Collegium Medicum Norimbergense, dem Besler angehörte, und dann wurde es meist spät. Zu gern hätte sie ihm von ihrem ersten Schultag berichtet. Ihre Tante hatte nicht einmal gefragt, wie es ihr ergangen war. Rosina saß lieber über Stickarbeiten oder zählte die Münzen der täglichen Apothekeneinnahmen.

»Ich möchte nicht hingehen«, murmelte Ida leise und hielt den Kopf über ihrem Teller gesenkt.

»Sieh deinen Onkel an, wenn du mit ihm sprichst«, herrschte Rosina sie an.

Ida schluckte, dann hob sie den Kopf und wiederholte ihre Worte.

Basilius musterte sie stirnrunzelnd. »Aber warum denn nicht?«

»Die anderen Kinder mögen mich nicht, sie machen sich über mich lustig«, antwortete sie.

»Das ist Unsinn, und jetzt iss. Du bekommst kein Mittagsmahl, wenn du den Brei verschmähst«, drohte Rosina.

»Worüber machen sie sich lustig?«, wollte Basilius wissen und warf seiner jungen Frau einen strengen Blick zu.

»Über mein Kleid, es sei schäbig. Und darüber, dass mein Vater nicht reich ist … war.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Basilius fasste nach ihrer Hand. »Ida, es ist nicht wichtig, was jemand ist, sondern nur, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch ist. Gustaf war ein guter Mann. Merk dir das. Und wenn du von der Schule kommst, dann geht Rosina mit dir zum Schneider. So, und jetzt iss deinen Brei.«

Die Vorstellung, mit ihrer Tante zum Schneider zu gehen, trug nicht dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Aber sie gehorchte, leerte ihren Teller und trat den Weg nach St. Egidien an.

Der Schultag verlief wie der Tag zuvor, endloses Wiederholen und Nachsprechen, Singen und ein paar neue Buchstaben lernen. Hinter sich hörte Ida Elisabeth und Paula leise tuscheln, einmal schnappte sie ihren und Luisas Namen auf. Doch sie dachte nicht daran, denselben Fehler wie am gestrigen Tag zu begehen und sich umzudrehen. Vom anderen Halbkreis winkte Kaspar Kammermeister ihr verstohlen zu, Ida lächelte zurück. Dabei fing sie Gabrielas finsteren Blick auf.

»Ich wusste nicht, dass deine Eltern tot sind, verzeih mir«, sagte Luisa, nachdem der Unterricht zu Ende war und sie neben Ida herging. Bisher hatten sie kein Wort miteinander gesprochen, denn Ida hatte vermieden, Luisa anzusehen, und hatte sich tief über ihre Wachstafel gebeugt. Sie schämte sich ihres gestrigen Gefühlsausbruchs.

»Ich bin dir nicht gram, eher sollte ich dich um Verzeihung bitten, dass ich davongelaufen bin«, antwortete Ida.

Luisa seufzte erleichtert. »Möchtest du mit mir üben? Allein ist es langweilig. So kommst du schneller voran, ich kenne ja schon fast alle Buchstaben.«

»Üben?«

»Je besser wir die Buchstaben können, desto eher können wir Schreiben und Lesen lernen. Und uns zu den anderen gesellen, die beides schon beherrschen. Dann sitzen wir nicht mehr bei Paula und Elisabeth.« Jetzt lächelte Luisa sie entwaffnend an.

Ida wurde warm ums Herz. Luisa besaß ein freundliches Wesen. »Meine Tante geht heute mit mir zum Schneider. Aber vielleicht morgen?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Abgemacht.« Luisa winkte ihr zu und stieg in eine wartende Kutsche.

»Meister Ebner, meine Nichte braucht ein neues Kleid«, sagte Rosina zu dem hinter seinem Schneidertisch gebückt stehenden Mann.

»Dann wollen wir einmal Maß nehmen. Leg deine Sachen ab«, forderte der Schneider Ida auf.

Rosina half ihr dabei, und kurz darauf stand Ida in ihrem Unterkleid da. Ebner griff nach seiner Elle, deren Rillen in Achtel, Viertel und Sechzehntel unterteilt waren. Er legte sie an Idas rechten Arm, vermaß ihre Körperlänge, Brust- und Hüftbreite und schrieb fein säuberlich die gemessenen Ellen auf ein Stück Papier.

»Wart Ihr bereits beim Tuchhändler und habt einen Stoff ausgesucht?«, fragte der Schneider nebenbei.

»Nein, das überlasse ich Euch«, antwortete Rosina.

»Ich möchte gern aussuchen«, wagte Ida zu sagen.

»Unsinn, Meister Ebner weiß am besten, was du brauchst«, widersprach ihre Tante.

»Aber …«

»Halt den Mund, Ida. Wenn du noch einmal Widerworte gibst, dann verlassen wir auf der Stelle die Werkstatt«, drohte Rosina mit hochrotem Gesicht.

»Sei versichert, du bekommst ein hübsches Kleid, Mädchen«, wandte sich der Schneider an Ida, bemüht, den Streit zu schlichten.

»Wie lange wird es dauern? Nehmt ja nicht das teuerste Tuch, Meister Ebner.«

»Du kannst dich wieder anziehen«, sagte Ebner zu Ida. »Drei Tage fürs Zuschneiden und Nähen. Morgen gehe ich zum Tuchhändler, aber ich kann erst in der übernächsten Woche mit dem Kleid anfangen. Zuerst muss ich noch andere Aufträge bearbeiten. Ich sende Euch Nachricht.«

»Onkel, darf ich morgen nach der Schule mit einem anderen Mädchen mitgehen?«, fragte Ida beim Abendbrot. Es gab eine schmackhafte Suppe aus Wurzeln und Kohl mit fettem Speck und Fleischstücken darin.

»Du solltest lieber nach Hause kommen und Rosina zur Hand gehen«, erwiderte Basilius Besler. »Ida, du musst wissen, wie man einen Haushalt führt, damit du später eine gute Ehefrau sein kannst. Es gehört zu deinen Pflichten.«

»Aber wir wollen die Buchstaben üben, damit wir schneller Lesen lernen. Deswegen gehe ich doch zur Schule. Ich habe Mutter schon immer im Haus geholfen und weiß, wie man Feuer macht, und Löcher stopfen kann ich auch«, begehrte Ida auf.

»Immer widerspricht sie, gleich, was man ihr sagt, Basilius. Das geht den ganzen Tag so.«

Der Apotheker legte seiner Frau beruhigend die Hand auf den Arm.

»Ida, ist das wahr?«

Schuldbewusst senkte sie den Kopf. »Ja. Aber …«

»Sie tut es schon wieder«, stöhnte Rosina.

»Ich erlaube dir nicht, zu dem Mädchen zu gehen, Ida«, sagte Basilius streng. »Erst wenn du gelernt hast zu gehorchen. Hast du mich verstanden?«

Sie nickte stumm, ihre Kiefer mahlten vor Enttäuschung und unterdrücktem Zorn.

»Iss deine Suppe, dann gehst du in deine Schlafkammer«, sagte Rosina und nahm ihren Löffel wieder auf.

Doch Ida war der Appetit vergangen. »Ich habe keinen Hunger mehr«, erwiderte sie und schob ihren Stuhl zurück.

»Du stehst nicht auf, bevor der Teller leer ist«, befahl Basilius. Sein Ton duldete keinen Widerspruch mehr.

Es kostete sie Mühe, die Suppe auszulöffeln. Jeder Bissen Speck drohte ihr im Hals stecken bleiben zu wollen. Als sie den letzten Rest hinuntergewürgt hatte, entließ ihr Onkel sie vom Tisch, und sie schlich die Treppe zu ihrer Kammer hinauf. Dort schlüpfte sie unter die Bettdecke und weinte sich in den Schlaf.

»Mein Onkel hat mir verboten, mitzukommen«, sagte Ida traurig.

Luisa Imhoff zog die Mundwinkel nach unten. »Wer ist dein Onkel?«

»Basilius Besler, ihm gehört die Apotheke am Heumarkt.«

Luisas Miene hellte sich auf. »Komm«, sie fasste Ida an der Hand, »wir gehen zu ihm.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Ida zögernd, »er war verärgert, weil ich ihm und meiner Tante gestern widersprochen habe. Wenn ich jetzt noch einmal nachfrage, dann wird er bestimmt sehr böse mit mir sein.«

Doch Luisa schüttelte ihre hellblonden Locken. »Nein, wird er nicht.«

Widerstrebend ließ sich Ida von Luisa zur Imhoff’schen Kutsche ziehen und stieg ein.

»Blasius, fahr uns zur Apotheke am Heumarkt«, bat Luisa den Kutscher.

Die Pferde zogen an, und Ida genoss die kurze Fahrt.

»Hast du gesehen, wie Elisabeth und Paula dich neidisch angestarrt haben, als wir an ihnen vorüberfuhren?«, fragte Luisa und grinste.

»Nein. Außerdem haben sie sicher dich beneidet und nicht mich.«

Sie hielten vor der Apotheke, und Blasius half ihnen auszusteigen. Wieder fasste Luisa nach Idas Hand, ging aufrecht und forschen Schrittes zum Eingang. Ein Glockenspiel erklang, als sie hineingingen und die Tür hinter sich schlossen. Hinter dem langen Tisch, der vor den Regalen mit den Fayencegefäßen stand, war Basilius in ein Buch vertieft. Als die Glöckchen langsam verstummten, sah er hoch und schlug das Buch zu.

»Grüßt Euch Gott, Herr Apotheker«, sagte Luisa und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Darf Ida mit zu mir nach Hause kommen? Zum Abendbrot ist sie wieder zurück.«

Basilius ging nicht darauf ein, sondern sah Ida mit finsterer Miene an.

»Ich habe dir gestern gesagt, ich erlaube es nicht. Und nun bringst du deine Freundin hierher, damit sie für dich bettelt. Du enttäuschst mich. Geh ins Haus, und du, liebes Kind«, sagte er zu Luisa, »machst dich auch auf den Weg. Bestimmt wartet das Mittagsmahl auf dich.«

»Sie hat mich nicht darum gebeten, und außerdem kann Ida ebenso gut bei uns essen«, entgegnete Luisa und richtete sich kerzengerade auf. »Ich bin Luisa Imhoff und weiß, Ihr kauft bei meinem Vater Ware. Teure Sachen wie Antimomium. Und er verkauft es Euch günstiger, weil er Euch schätzt. Allerdings, wenn Ida nicht mitdarf …«

Basilius Beslers Augen schienen vor Verblüffung aus den Höhlen zu quellen, und er unterdrückte ein Lachen.

»Es heißt Antimonium«, gab er dann zurück. »Du willst mich erpressen.«

Luisa grinste breit und nickte heftig.

»Ida isst hier, und danach kann sie gehen«, gab sich Basilius geschlagen.

»Einverstanden, Herr Apotheker.«

»Sei bedankt, Onkel«, freute sich Ida.

»Du solltest dich bei Luisa bedanken, es ist schön, wenn sich jemand für den anderen einsetzt.«

Ida kannte den Weg zum Stammhaus der Imhoffs gut, hatte sie doch ganz in der Nähe in der Pfannenschmiedsgasse mit ihren Eltern gelebt. Das stattliche mehrgeschossige Kaufmannshaus mit den Treppengiebeln lag gegenüber von St. Lorenz an der Ecke, wo sich die Koth- und die Pfannenschmiedsgasse kreuzten. Für einen Augenblick überfiel sie die Scheu, doch dann traute sie sich, den kunstvoll gearbeiteten Bronzetürklopfer zu betätigen. Schwer dröhnte er gegen die zweiflügelige Haustür, über deren Portal das Familienwappen prangte. Kurz darauf öffnete eine Dienstmagd mit fragendem Blick.

»Ich bin Ida Gerster und möchte zu Luisa«, sagte Ida, »sie hat mich eingeladen.«

Die Magd trat beiseite, ließ sie herein und stieg eine Treppe nach oben. Ida folgte ihr die Stufen hinauf zur Wohnstubentür. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Die Tür war unterteilt in zwei geschnitzte Bilder, deren Figuren regelrecht aus dem Holz hervortraten. Zwischen den Bildern befanden sich fein gearbeitete eiserne Beschläge, und oberhalb des ersten Bildes war ein Gitter angebracht, das durch einen Schieber bei Bedarf mehr Helligkeit hereinließ. Auf ein Klopfen öffnete sich die Stubentür, und Ida fand sich Luisa gegenüber. Die Wohnstube war holzvertäfelt, ein großer, reich verzierter Kachelofen spendete behagliche Wärme, und an einer Wand stand eine Gutsche zum Ausruhen. Diese Nische war zwischen säulenartigen, kunstvoll furnierten Vorsprüngen eingebettet und gepolstert. Von einem kleinen Erker aus konnte man hinunter auf die Straße sehen, an der angrenzenden Wand hing ein Bild, das die Auferstehung Christi zeigte.

»Mutter, das ist Ida«, stellte ihre Freundin sie vor.

»Grüßt Euch Gott«, sagte Ida schüchtern.

Ursula Imhoff lächelte freundlich.

»Ida hat mir erzählt, dass du deine Eltern verloren hast und dein Vater Schmied war.«

»Ja. Ein Pferd hat ihn auf dem Rossmarkt in den Bauch getreten. Es war schrecklich, ihn auf dem Boden liegen zu sehen«, antworte Ida leise. »Und meine Mutter ist kurz nach seinem Begräbnis am Lungenfieber gestorben.«

»Armes Kind. Aber wenigstens bist du bei Basilius Besler gut aufgehoben«, erwiderte Ursula Imhoff. »Luisa, ihr könnt hierbleiben, ich ziehe mich nach nebenan zurück, um zu malen.«

Ida und Luisa saßen an dem großen Tisch und übten die Buchstaben, kratzten sie auf ihre Wachstafeln, sprachen sie nach.

»Ich bin bisher nur in eine Winkelschule gegangen«, gestand Ida. »Viel gelernt habe ich dort nicht. Meist wurde nur vorgelesen, und man musste danach das Gehörte auswendig aufsagen. Und oft wurden wir vom Lehrmeister geprügelt.«

»Meister Neudörffer greift hin und wieder auch nach einer Weidengerte«, antwortete Luisa, ohne aufzusehen. »Ich sollte eigentlich schon viel mehr können, aber ich war sehr lange krank. Deshalb sitze ich noch bei den Anfängern.«

»Warum sind Elisabeth und Paula so gemein?«, wollte Ida wissen, legte den Griffel zur Seite und rieb sich den schmerzenden Zeigefinger.

»Wir waren einmal befreundet, Elisabeth und ich. Ihre Familie lebt wie meine vom Handel, aber den Welsern geht es seit geraumer Zeit nicht mehr so gut, sagt mein Vater. Sie verlieren Geld, viel Geld, meint er. Ich verstehe das nicht alles, aber die Welser sind überheblich und sehen auf andere Bürger herab, vor allem natürlich auf die Armen.«

»Und was hat das mit dir und Elisabeth zu tun?«, fragte Ida.

»Elisabeths Vater hat meinen um Aufschub gebeten.«

Ida runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Mein Vater hat ihm Geld geliehen und wollte es zurückhaben, aber Hans Welser sagte, er kann nicht zahlen und bräuchte mehr Zeit. Doch mein Vater hat nicht nachgegeben. Es kam zum Streit. Und dann war da noch die Sache mit einer unserer Mägde.«

Gespannt sah Ida Luisa an, die ihre Tafel von sich schob.

»Im Frühsommer, am fünften Juni, feierte ich meinen zehnten Geburtstag, und Elisabeth war auch eingeladen. Klara, unsere Dienstmagd, hat versehentlich einen Teller mit frisch gebackenen Schmalzkuchen umgeworfen, die auf Elisabeths Kleid gelandet sind und hässliche Fettflecken hinterlassen haben. Elisabeth war außer sich, und um sich zu rächen, hat sie eines meiner Geschenke – ein goldenes Kettchen – Klara unbemerkt in die Schürzentasche geschoben und behauptet, die Magd wäre eine Diebin. Mein Vater hat Klara den Bütteln übergeben, die sie ins Loch sperrten. Allerdings hat Elisabeth nicht damit gerechnet, dass ich es gesehen habe. Um mir meine Feier nicht zu verderben, habe ich nichts gesagt. Aber am nächsten Tag in der Schule habe ich sie vor aller Augen zur Rede gestellt, und sie musste sich entschuldigen und danach auch meinen Vater um Verzeihung bitten, der Klara aus dem Loch holte. Elisabeth wäre vor Scham beinahe im Boden versunken.«

»Das hast du wirklich getan? Was für ein Glück für eure Magd, dass du Elisabeth beobachtet hattest, sie wäre hart bestraft, wenn nicht gar gehenkt worden.« Ida sah Luisa ungläubig an. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck traurig. »Ich weiß nicht einmal genau, wann ich Geburtstag habe.«

»Weiß dein Onkel das nicht? Ich dachte, er sei dein Pate, frag ihn.«

Idas Gesicht hellte sich auf. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. »Das werde ich. Und Paula?«

»Ist dir schon aufgefallen, dass Paula hinkt? Sie hat einen Klumpfuß und wurde deswegen immer gehänselt. Außer von ihrer entfernt verwandten Base Elisabeth. Seither weicht Paula ihr nicht von der Seite, fast wie ein Wachhund.« Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Paula wurde von Nützels an Kindes statt angenommen, sie kommt aus dem Findelhaus. Jeder weiß es, aber niemand spricht darüber.«

Ida starrte sie überrascht an und wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als die Tür aufgerissen wurde und zwei ältere Jungen hereinstürmten. Einer davon war Kaspar Kammermeister, wie Ida erstaunt feststellte. Der andere hatte ebenso hellblonde Locken wie ihre Freundin und ähnelte ihr. Unverkennbar Luisas Bruder.

»Kaspar und ich möchten in der Stube sitzen. Ihr müsst in ein anderes Zimmer gehen«, forderte Letzterer, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war. Zu Idas Verblüffung stand Luisa widerspruchslos auf und räumte ihre Sachen zusammen.

»Komm, Ida«, war alles, was sie sagte. Ihre Haltung hatte sich verändert. Aus dem forschen Mädchen war plötzlich ein eingeschüchtertes Wesen geworden, den Kopf hielt es gesenkt und zwischen die Schultern gezogen.

»Luisa, warum sollen wir das Feld räumen? Wir waren zuerst da, und deine Mutter hat ausdrücklich gesagt, wir sollen hier üben«, hörte sie sich sagen.

Blitzende blaue Augen richteten sich auf Ida.

»Was fällt dir ein?«, fauchte der ältere Junge.

»Ich bin Ida Gerster, und Luisa ist meine Freundin. Wir wollen lernen.«

»Es ist mir gleich, wie du heißt. Alles an dir stinkt nach niedrigem Stand. Macht, dass ihr rauskommt, auf der Stelle.«

Nun erwachte ihr Widerspruchsgeist erst recht. »Es ist nicht wichtig, was jemand ist«, kamen ihr die Worte ihres Onkels in den Sinn, »sondern nur, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch ist.«

Kaspar Kammermeister lachte schallend, als er das verblüffte Gesicht seines Freundes sah.

»Hör auf damit«, fuhr Luisas Bruder ihn mit zorngerötetem Gesicht an.

»Sebastian, sie hat recht«, schnaufte Kaspar und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, »mein Vater ist übrigens derselben Meinung. Komm, wir überlassen den Damen die Stube.«

»Ich denke nicht daran«, zischte er und packte Luisa grob am Arm, »ihr verschwindet jetzt, sonst …«

»Sonst was? Schlägst du deine Schwester, wenn sie dir nicht gehorcht? Was für ein erbärmlicher Bruder du bist«, unterbrach Ida ihn wütend, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Was geht hier vor?« Unvermittelt hatte Ursula Imhoff die Stube betreten, und Sebastian ließ blitzschnell Luisas Arm los. »Sebastian«, seufzte sie dann, »du solltest dich endlich benehmen lernen.« Sie erwartete keine Antwort. »Luisa, Ida, ihr beide kommt mit mir.« Wortlos folgten ihr die Mädchen nach nebenan. Bevor die Tür sich schloss, sagte Ursula laut und vernehmlich, damit die Jungen es auch hören sollten: »Soll ich uns ein paar Safranküchlein bringen lassen?«

Ida und Luisa wandten die Köpfe und drehten Sebastian eine lange Nase. Kaspar Kammermeister zwinkerte Ida anerkennend zu.

Die Küchlein schmeckten wunderbar süß, nach Mandeln und getrockneten Früchten. Luisa und Ida leckten sich die letzten Krümel von den Fingern. Nahe beim Fenster stand eine Staffelei, darauf ein halb fertiges Gemälde, das eine mit Lilien gefüllte Vase zeigte, wie Ida erst jetzt bemerkte.

»Es ist wunderschön«, sagte Ida zu Ursula Imhoff.

»Das ist sehr nett von dir. Die Malerei ist neben dem Garten meine Leidenschaft. Luisa, ich denke, ihr tut gut daran, die Kiste mit den Holztäfelchen zu nehmen, anstatt nur die wenigen Buchstaben in Wachs zu ritzen.«

Fragend sah Ida ihre Freundin an.

»Mein Bruder hat mit den Holztafeln und geschnitzten Buchstaben schneller gelernt. Ich frage Albert, ob er sie uns bringt.« Damit verschwand sie aus dem Zimmer und ließ Ida in der Obhut ihrer Mutter zurück.

»Möchtest du es versuchen?«, fragte Ursula Imhoff und deutete auf das Gemälde.

»Malen? Das kann ich nicht.«

Luisas Mutter hielt ihr den Pinsel entgegen. »Das kannst du erst behaupten, wenn du es probiert hast.«

Auf einem kleinen Tisch neben der Staffelei lag eine hölzerne Tafel mit mehreren Vertiefungen und einem Loch neben einem Gefäß unterschiedlich dicker Pinsel.

»Hier mischt man die Farben, die man für sein Bild verwenden will, und so«, sie steckte den linken Daumen durch das Loch und balancierte die Platte auf ihren ausgestreckten Fingern, »hält man sie.« Sie tauchte den Pinsel in ein tiefes Blau und trug die Farbe mit geübtem Schwung auf die Leinwand auf.

»Nimm den gefächerten Pinsel, dann tauche ihn in die Farbe.« Sie schob Ida ein Stück Papier zu. »Halte ihn mit leichter Hand, nun zeichne einen Strich. Gut. Jetzt bewege deine Hand nach oben und unten, so wie ich.« Ursula Imhoff machte eine wellenförmige Bewegung.

Aus dem Strich wurde mal eine dickere, mal eine dünnere Welle. Ursula nahm ihr den Pinsel ab und zeigte Ida, wie nur durch sanftes Auftupfen ein anderes Muster entstand.

»Dies sieht aus wie viele kleine Tannenbäume oder Gräser«, sagte Ida entzückt. »Darf ich?«

Es gelang ihr natürlich nicht so gut wie Luisas Mutter, aber es gefiel ihr, wie viele unterschiedliche Spuren der Pinsel nur durch Drehen der Hand auf dem Papier hinterließ.

Luisa kam herein, gefolgt von dem Diener, der eine Kiste trug. »Sieh nur«, sagte sie zu Ida, »hier sind alle Buchstaben und die Holztafeln mit den Bildern.«

Ida hätte sich lieber weiter am Malen versucht, trotzdem schenkte sie ihre Aufmerksamkeit nun dem Inhalt der Kiste. Sie zog ein Täfelchen heraus, das zwei Buchstaben zeigte und daneben einen Vogel.

»Das ist ein Specht«, sagte sie.

»Ganz richtig.« Ursula Imhoff war nähergetreten. »Die beiden ersten Buchstaben sind S und P. Durch die Bilder ist es einfacher, ganze Worte zu lernen.«

Während sich Luisas Mutter ihrem Bild widmete, legten die Mädchen verschiedene Tafeln aus und schrieben jeweils die Anfangsbuchstaben ab. Es war ermüdend und anstrengend, trotzdem gefiel es Ida, und sie gewann den Eindruck, schneller zu lernen.

»Ich muss nach Hause«, sagte sie plötzlich. Die Zeit war wie im Flug vergangen, sie musste sich eilen, bevor es dunkel wurde. Sie bedankte sich bei Luisas Mutter und verabschiedete sich höflich.

»Blasius kann dich mit der Kutsche fahren«, bot Ursula an, aber Ida lehnte dankend ab.

Als sie auf die Straße trat, überfiel sie einmal mehr die Trauer um ihre Familie. Kurz kam es ihr in den Sinn, zum Haus ihrer verstorbenen Eltern zu gehen, doch dann verwarf sie den Gedanken. Es würde sie noch trauriger machen, und es war ohnehin spät genug. Schnellen Schrittes ging sie zur Barfüßerbrücke. Wenige Ruten trennten sie vom anderen Pegnitzufer, als ihr plötzlich der Weg versperrt wurde.

»Elisabeth, sieh mal, wer hier ist«, lächelte Paula Nützel böse.

»Oh, Ida, die Schäbige. Konnte sich wohl nicht benehmen im Hause Imhoff, und jetzt muss sie zu Fuß nach Hause, statt mit der Kutsche zu fahren«, feixte Elisabeth Welser.

Ida blieb stumm, wollte sich an den beiden Mädchen vorbeischieben, doch es gelang ihr nicht, weil die Sandsteinbrücke voller Menschen und Fuhrwerke war. Elisabeth und Paula bedrängten sie, bis sie schließlich einen Balken des hölzernen Aufbaus in ihrem Rücken spürte.

»Gib das her«, befahl Elisabeth und deutete auf den Lederbeutel, den Ida ängstlich an sich gedrückt hielt. Darin befanden sich ihre Wachstafel und das kleine Bild einer Blume, die Ursula Imhoff gemalt und ihr geschenkt hatte. Paula entriss ihr den Beutel und hielt ihn über das Geländer.

»Wollen wir herausfinden, ob er schwimmen kann?«

Ida schnappte nach Luft, ihre Augen brannten, weil sie die aufsteigenden Tränen zurückdrängte.

»Was treibt ihr da?«, rief eine helle und zugleich heisere Stimme. »Lasst sie zufrieden.«

Wie aus dem Boden gestampft stand plötzlich Kaspar Kammermeister bei ihnen, der einen Kopf größer als die Mädchen war.

»Gib ihr den Beutel zurück.«

»Er ist ihr runtergefallen, ich habe ihn nur aufgehoben«, säuselte Paula und reichte ihn Ida, die ihn hastig an sich nahm.

»Du kannst dir deine Lügen sparen, ich habe genau beobachtet, wie du ihn ihr weggenommen hast. Und jetzt schert euch zum Teufel.«

»Du hast uns gar nichts zu sagen, Kammermeister«, zischte Elisabeth.

»Komm, Ida, wir geben uns nicht mit diesen dummen Gänsen ab.« Er fasste nach ihrer Hand, nicht ohne Elisabeth ganz beiläufig einen Ellbogenstoß in die Seite zu versetzen. Paula zog an seinem Wams, um ihn aufzuhalten. »Das nimmst du zurück«, keifte sie.

Kaspar ließ Idas Hand los und fuhr herum, stieß das Mädchen vor die Brust, das wegen des verkrüppelten Fußes ins Taumeln kam und von Elisabeth aufgefangen wurde.

»Fass mich nie wieder an, sonst kann dein Vater vorzeitig für dich ein Grabmal anfertigen lassen«, drohte Kaspar. Dann zog er Ida hastig mit sich fort. Sie drängten sich durch die Menge, rempelten andere an, Flüche gellten in ihren Ohren.

»Sei bedankt, Kaspar, ohne dich würden meine Sachen auf dem Grund der Pegnitz liegen«, sagte sie, als sie einige Fuß zurückgelegt hatten und der Strom der Menschen abnahm.

»Kommst du nun allein zurecht?«, fragte er, und als sie nickte, fügte er hinzu: »Wir sehen uns morgen in der Schule.«