Der Zauber des Lernens - Olaf Meyer - E-Book

Der Zauber des Lernens E-Book

Olaf Meyer

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Beschreibung

Dieses Buch widmet sich der Frage, woran wir uns im Leben halten können. Es zeigt, wie sich durch eine Drehung der Perspektive Lebensfreude und ethischer Anspruch miteinander verbinden lassen. "In gewisser Hinsicht ist Philosophie ein Phönix aus dem Zweifel. Sie erhebt sich aus der Asche, die Skepsis und radikale Kritik hinterlassen." Stimmen zur ersten Auflage "Sensationell. Auf den Punkt." "Briliant. Es trifft den Kern der Zeit." "Bezaubernd, auch stilistisch"

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für Elia, Lilian und Esther

Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.

Etty Hillesum

Inhalt

Vorwort

Der Zauber des Lernens

Phönix aus dem Zweifel

Unerschütterlichkeit

Logisches Intermezzo

Ermöglichung und Freude

Reflexion der Reflexion

Gib keinen Garten je verloren

Epilog

Literaturverzeichnis

Vorwort

Orientierung setzt einen Kompass, einen Wegweiser, einen Maßstab voraus - Kriterien, nach denen wir uns richten können. Philosophie gibt uns solche Kriterien an die Hand. Auf diese Weise kann sie dazu beitragen, im Leben besser zurechtzukommen. Sie ist jedoch keine Psychotherapie und beansprucht auch nicht, diese zu ersetzen. Sie liegt vielmehr vor aller Psychotherapie. Denn die Frage, woran wir uns im Leben halten können, ist schon eine philosophische.

Die hier versammelten Texte sind im wesentlichen dieser Frage gewidmet und wurden mit Blick auf meine Patient*innen verfasst. Nachdem dem ursprünglichen Büchlein „Der Zauber des Lernens“ eine unerwartete Resonanz beschieden war, habe ich mich zu einer (wie ich hoffe) verbesserten Neuauflage entschlossen und diese um weitere Reflexionen ergänzt, die das Thema unter anderen Aspekten beleuchten.

Der Haupttext Der Zauber des Lernens ist aus zahlreichen Gesprächen mit Antonia Isabelle Weisz hervorgegangen und versucht eine affirmative, mit Freude verbundene Haltung des Lernens zu begründen. Im zweiten Abschnitt Phönix aus dem Zweifel geht es um Philosophie selbst, um die Frage, was Philosophie ausmacht und was sie von den Wissenschaften unterscheidet, was also das Philosophische an der Philosophie ist. Der folgende Text Unerschütterlichkeit zeigt die Selbstwidersprüchlichkeit von Entwertungen auf, sowohl der Selbstentwertung als auch der Entwertung anderer. Ermöglichung und Freude setzt sich mit Spinozas Philosophie der Freude auseinander, die dazu auffordert, sich und anderen so viele Möglichkeiten wie möglich zu ermöglichen. Der Aufsatz Reflexion der Reflexion versucht darzulegen, dass wir uns in der Reflexion keineswegs verlieren, sondern erst durch sie die Kriterien gewinnen, die uns leiten können. Gib keinen Garten je verloren begründet, warum Hoffnung nicht irrational, sondern notwendig ist. Der Epilog schließlich fasst alle Texte unter einem Leitsatz zusammen; wer möchte, kann also den Epilog als Inhaltsangabe nehmen.

Dieses Buch, das vor allem nach dem Lernen fragt, verdankt sich selbst einem Lernprozess. So möchte ich neben den Autor*innen der verwendeten Literatur zunächst meinen Patient*innen danken, von denen ich vieles gelernt habe. Herzlich dankbar bin ich auch Antonia Isabelle Weisz, die mir wichtige Hinweise gegeben hat und, wie schon erwähnt, als Gesprächspartnerin einen wesentlichen Anteil an der Entstehung des Haupttextes hatte. Ihr Enthusiasmus hat mich ebenso inspiriert wie ihre künstlerische Arbeit als „poetische Spielraumeröffnerin“.

Ein besonderer Dank gilt auch meinem philosophischen Lehrer Dietrich Böhler, der mir das dialogreflexive Denken erschlossen hat, sowie Bernadette Böhler-Herrmann, von der ich philosophisch ebenfalls viel gelernt habe. Für Inspiration und erhellende Gespräche danke ich zudem Simone Winkler. Desgleichen danke ich Daniela und Ulrich Burzeya, die die ursprüngliche Fassung von Der Zauber des Lernens kritisch durchgesehen haben. Zutiefst dankbar bin ich schließlich Esther Meyer für ihre luzide Begleitung und unglaubliche Unterstützung.

Der Zauber des Lernens

Eines Tages fragte ich meinen Sohn, der damals kurz vor seinem vierten Geburtstag stand, was der Sinn des Lebens sei. Mein Sohn antwortete, fast schon ein wenig gelangweilt und so, als wäre es das selbst-verständlichste von der Welt: „klug sein“1. Ich war verblüfft und dachte: ja. Mit „klug sein“ kann man alles machen. Sogar die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten.

Aus der philosophischen Begriffstradition heraus könnte man dieses „klug sein“ auch als Weisheit fassen2, zumal Philosophie ja wörtlich Liebe zur Weisheit oder Streben nach Weisheit bedeutet. In Platons Dialog Euthydemos jedenfalls zeichnet Sokrates die Weisheit als höchste Tugend aus und weist ihr eine Schlüsselrolle zu. So sagt er, dass alle anderen Güter und Tugenden wie zum Beispiel Tapferkeit nur insofern von Wert seien, als sie nicht töricht, sondern weise gebraucht werden.3 Weisheit sei damit auch der Garant für Wohlergehen und Glück, das heißt für ein gutes, sinnerfülltes und damit gelungenes Leben: „Die Weisheit also macht, daß die Menschen in allen Dingen Glück haben. Denn nie wird die Weisheit etwas verfehlen, sondern immer richtig handeln und es erlangen. Denn sonst wäre es ja keine Weisheit mehr.“4

So sehr es einleuchten mag, dass Weisheit ein gutes Leben ermöglicht oder, als gelebte Weisheit, es schon ist, so unklar ist, wie wir sie erreichen können. Welchen Kriterien muss ein Mensch genügen, damit er als weise gelten kann? Die Antwort liegt darin, dass Philosophie die mögliche Unerreichbarkeit der Weisheit bereits in ihrem Namen trägt. Denn als Liebe oder Streben nach Weisheit geht Philosophie gerade nicht davon aus, schon weise zu sein oder es werden zu können; Streben heißt nicht Vollendung, Liebe nicht Erfüllung. Dem entspricht, dass Sokrates an anderem Ort, in der Apologie, seine Unwissenheit herausstreicht: „Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß“5.

Damit aber geraten wir in das Dilemma, dass Weisheit auf der einen Seite ein gutes Leben verspricht, auf der anderen Seite jedoch womöglich nicht erreichbar ist. Ein Ausweg aus diesem Dilemma zeichnet sich ab, wenn wir das gute Leben nicht vom Ende her, nicht von seiner Erfüllung her denken, sondern einen Schritt zurückgehen und nach der Voraussetzung, nach der Bedingung von Weisheit fragen. Weisheit setzt Lernen voraus. Ohne Lernen könnte es weder Klugheit noch Weisheit geben, weder Wissen noch Wissenschaft, weder Einsicht noch Vernunft6. Der Sinn des Lebens wäre demnach Lernen, etwas, das von allen erreicht und mit allen geteilt werden kann. Bereits Epikur verknüpft den Lebenssinn, den er in der Freude bzw. dem Genuss sieht, mit dem Lernen: „Bei anderen Beschäftigungen wird die Ernte erst am Ende nach mühsamer Arbeit eingefahren; bei der Philosophie jedoch ist die Freude von Anfang an mit jedem Erkenntnisgewinn verbunden. Denn nicht nach dem Lernen kommt der Genuß, sondern Lernen und Genuß sind ein und dasselbe.“7 Auch Konfuzius preist das Lernen: „Etwas lernen und sich immer wieder darin üben, schafft das nicht auch Befriedigung?“8 Ein weiteres Beispiel ist Spinoza, nach dem Denken und Fühlen keine getrennten Bereiche bilden. Lernen und Freude, Erkennen und Glückseligkeit fallen daher zusammen. Für Epikur, Konfuzius und Spinoza liegt das Glück also bereits im Lernen selbst; Lernen dient nicht dem Ziel, glücklich zu werden, sondern ist schon Glück.

Lernen bedeutet den Erwerb von Wissen oder einer Fertigkeit und betrifft alle Lebensbereiche, die persönliche Entwicklung ebenso wie das Miteinander in Familie und Gesellschaft. Die früheste Form des Lernens ist Spielen. Für ein Kind fallen beide in eins: Spielen ist Lernen, Lernen ist Spielen. Am Anfang ist dieses Lernen noch ungerichtet, ein reines Ausprobieren und Entdecken ohne bestimmtes Ziel. Später beginnt das Kind, sich eigene Zwecke zu setzen. Es sieht zum Beispiel seine Geschwister laufen und übt nun unermüdlich, um es selbst zu lernen. Das Kind entfaltet dabei seine Autonomie, seine Selbstbestimmung. Mit jedem Lernfortschritt erweitert es seinen Aktionsradius und wird selbständiger. In aller Regel sind diese Fortschritte mit unbändiger Freude verbunden. Laufen, Springen, Sprechen, das Begreifen erster Zusammenhänge – waren wir nicht alle glücklich, diese Dinge zu lernen?

Im Laufe des Lebens kann es jedoch passieren, dass uns das Lernen verleidet wird. Hierfür gibt es zahlreiche Gründe, etwa ein hoher Erwartungsdruck, schlechte Bewertungen oder Mobbingerfahrungen in der Schule. Lernen ist dann mit negativen Emotionen verbunden, etwa einem Gefühl von Hilflosigkeit, Frustration oder unendlicher Mühe. Manche sind sogar so entmutigt, dass sie sagen: „Ich kann nicht.“ Aber Joseph Jacotot und Jacques Rancière stellen klar, dass jede*r die Voraussetzungen erfüllt, um zu lernen: „Sag nicht, dass du es nicht kannst. Du kannst sehen, du kannst sprechen, du kannst zeigen, du kannst dich erinnern. Was braucht man mehr?“9 Tatsächlich können wir mit Jacotot und Rancière postulieren: Grundsätzlich können alle Menschen lernen, niemand ist dumm. Wir haben alle die gleiche Intelligenz. Dass die einen intelligenter seien als die anderen, ist ein bloßes Vorurteil. Es gibt daher keinen Grund, sich anderen Menschen unter- oder überlegen zu fühlen. Zwar gibt es durchaus Unterschiede. Aber diese Unterschiede resultieren nicht aus einem Mehr oder Weniger an Intelligenz, sondern daraus, dass wir die gleiche Intelligenz unterschiedlich ausbilden oder auf unterschiedliche Dinge richten. Auch Verstehen ist daher keine besondere Befähigung, die vom Intelligenzgrad abhängt, sondern eine Frage der Übersetzungsarbeit.

Ein gewagtes Postulat? Auf den ersten Blick besteht der Beweis darin, dass wir alle in der Lage sind, dieses Postulat kritisch zu hinterfragen und zumindest insofern gleich intelligent sind. Genau genommen aber können wir die gleiche Intelligenz argumentativ gar nicht sinnvoll bestreiten, da wir sie in der Argumentation bereits voraussetzen; sonst wäre es sinnlos zu argumentieren. In jedem Fall wäre die Anerkennung aller als gleich intelligent ein game changer; sie würde die Beziehung zu anderen Menschen fundamental verändern. „Um das Menschengeschlecht zu vereinigen“, schreibt Rancière, „gibt es kein besseres Band als diese allen gleiche Intelligenz. Sie ist das rechte Maß für seinesgleichen, das diese sanfte Neigung des Herzens erleuchtet, die uns dazu führt, uns gegenseitig zu helfen und zu lieben.“10