Der Zauber eines Wintertages - Karen Swan - E-Book
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Der Zauber eines Wintertages E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Lee hat turbulente Zeiten hinter sich. Doch die ersten Schneeflocken verheißen den Zauber einer neuen Liebe ...

Vor fünf Jahren hat die Londoner Fotografin Lee alle Brücken hinter sich abgebrochen. Inzwischen haben sie und ihr kleiner Sohn Jasper in Amsterdam ein neues Zuhause und viele gute Freunde gefunden. Kurz vor Weihnachten begegnet Lee einem Mann, der ihr Herz höherschlagen lässt: dem attraktiven Kinderbuchautor Sam, der bei einem Fotoshooting im Krankenhaus den Nikolaus spielt. Als der erste Schnee fällt und Amsterdams Grachten zufrieren, kommen Lee und Sam sich näher. Doch ein Geheimnis aus Lees Vergangenheit droht ihr Glück zu zerstören. Ob das Fest der Liebe eine zweite Chance für sie bereithält?

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Buch

Vor fünf Jahren hat die Londoner Fotografin Lee alle Brücken hinter sich abgebrochen. Inzwischen haben sie und ihr kleiner Sohn Jasper in Amsterdam ein neues Zuhause und viele gute Freunde gefunden. Kurz vor Weihnachten begegnet Lee einem Mann, der ihr Herz höherschlagen lässt: dem attraktiven Kinderbuchautor Sam, der bei einem Fotoshooting im Krankenhaus den Nikolaus spielt. Als der erste Schnee fällt und Amsterdams Grachten zufrieren, kommen Lee und Sam sich näher. Doch ein Geheimnis aus Lees Vergangenheit droht ihr Glück zu zerstören. Ob das Fest der Liebe eine zweite Chance für sie bereithält?

Weitere Informationen zu Karen Swan sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Karen Swan

Der Zauber eines Wintertages

Roman

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Together by Christmas« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2021

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Karen Swan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München, nach einer Vorlage von PanMacmillan

Covermotive: FinePic®, München; Getty/Henglein and Steets; Arcangel/Maria Heyens; Brücke, Shutterstock/Aleksei Kazachok/ Nina Buday/Eo naya/Subbotina Anna/Martin Bergsma

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-27166-4V001

www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Helen Fearn. Auch eine von diesen starken Müttern.

Prolog

Türkisch-syrische Grenze, 2014

Wow, du hast uns ein Auto organisiert?« Lee blickte sich beeindruckt im spartanischen Inneren des klapprigen alten Toyota Hilux um.

»Klar hab ich uns ein Auto organisiert!« Cunningham, der mit Pilotenbrille am Steuer saß, warf ihr einen Blick zu und grinste. Sein dunkles Haar flatterte im heißen Fahrtwind.

Sie schüttelte seufzend den Kopf. Cunningham und sein Charme … »Aber wie hast du das geschafft?«

»Fünfzig Dollar und mein ganzer Zigarettenvorrat.«

Sie zog skeptisch eine Braue hoch. »Echt jetzt? Der ganze?«

»Na ja … vielleicht doch nicht der ganze.« Er griff schmunzelnd in die Brusttasche seiner Schutzweste und hielt ihr eine geöffnete Packung hin.

Aber Lee schüttelte den Kopf.

»Du rauchst nicht mehr?«, fragte er ungläubig. Whisky und Zigaretten waren so ziemlich das Einzige, was einen hier über Wasser hielt.

»Ich versuch’s jedenfalls. Diese Dinger bringen dich um, das weißt du doch.«

Cunningham warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend, steckte die Packung aber wieder ein. »Ja, schon klar. Es sind die Zigaretten, an denen ich krepieren werde.«

Lee musste ebenfalls schmunzeln und lehnte den Kopf an die Stütze. Sie freute sich, wieder hier zu sein. Die Fenster waren heruntergelassen – die Klimaanlage hatte bestimmt schon vor Kriegsausbruch den Geist aufgegeben gehabt –, und die Sonne brannte erbarmungslos auf ihren Arm.

Ihr Fotoapparat lag einsatzbereit in ihrem Schoß, aber sie hatte keine Lust, ihn zur Hand zu nehmen, nicht jetzt. Noch hatte sie Pause. Ihr Blick schweifte träge über die öde Landschaft, auf der Suche nach irgendetwas, woran sich das Auge klammern konnte – ein grüner Baum, ein Vogel am Himmel, grasende Kühe, ein paar Blumen. Aber um sie herum gab es nur staubige rote Erde, eine ausgedörrte Landschaft. In ihrem Rücken lagen eine Bergkette und ein paar Meilen südlich der träge dahinfließende mächtige Euphrat. Gelegentlich kamen sie an einer mit Stacheldraht abgesperrten Stelle vorbei, an einem Loch in der Straße, wo eine Splitterbombe hochgegangen war, oder an den Ruinen eines ehemaligen Dorfes. In der Ferne wogten vereinzelt Staubwolken auf, hervorgerufen durch Geschützfeuer und explodierende Granaten.

Lee schloss die Augen und genoss das Gefühl ihres im Wind flatternden Haars, das ihr Gesicht kitzelte. Fast wäre sie eingeschlafen, kämpfte aber dagegen an. Sie war erst seit drei Tagen zurück, und diese drei Tage hatte sie ausschließlich damit verbracht, Cunningham hinterherzujagen. Sie war auf einer Militärbasis in Hama gelandet, wo sie ihn eigentlich hätte treffen sollen. Die letzten sechs Wochen war sie auf Heimaturlaub gewesen, eine dringend benötigte Auszeit. Cunningham dagegen hatte offenbar keinen Gedanken an eine Pause verschwendet. Sie hatten sich in Rakka getrennt, aber er war weiter nach Hama gereist, und nun befanden sie sich unweit der türkischen Grenze, in der Provinz Aleppo.

Nach ihrer Zeit im Land des elektrischen Stroms und fließenden Wassers, der Luxusautos und Federbetten kam es Lee vor, als befände sie sich hier am Ende der Welt. Ein leerer Horizont und danach nichts mehr. Die Farben, die Hitze, die Geräusche – hier war alles hart und rau. Es schien, als hätten sich die Verhältnisse während ihrer Abwesenheit sogar noch verschlimmert. Lee hätte das nicht für möglich gehalten, nicht nach den Vorfällen in Homs, und dennoch schienen sich immer tiefere Abgründe aufzutun.

Die Straße war in einem verheerenden Zustand, der arme Wagen holperte durch tiefe Schlaglöcher, und sie wurden auf ihren Sitzen hin und her geworfen. Kaum vorstellbar, wie das die altersschwachen Stoßdämpfer des Toyotas überhaupt noch aushielten. Aber der tapfere kleine Wagen rumpelte unermüdlich voran, dicke Staubwolken hinter sich herziehend.

»Hab gehört, du hast dich mit Schneider zusammengetan«, sagte Lee mit hochgezogener Augenbraue.

Cunningham warf ihr einen Blick zu und lachte verlegen auf. »Kein Grund zur Eifersucht. Irgendjemanden brauchte ich nun mal. Ich wusste ja nicht, ob du überhaupt noch mal wiederkommst.«

»Ich hab doch gesagt, ich komme wieder.«

Er schob seine Pilotenbrille ein wenig nach unten und bedachte sie mit einem dieser Blicke, die ausdrückten, was Worte nicht konnten. Beide wussten, in welchem Zustand sie gewesen war, als sie sich diese Auszeit genommen hatte. Die Angriffe in Homs waren brutal gewesen, ein Dauerbeschuss, der selbst den erfahrensten und hartgesottensten Kriegsberichterstattern an die Substanz gegangen war.

»Er kann dir nicht das Wasser reichen, Fitch, das weißt du doch.« Cunningham schenkte ihr sein berühmtes Grinsen, und sie konnte nicht anders, als es zu erwidern. Ja, sie wusste es selbst. Beide verspürten sie einen ersten Anflug des Adrenalinrauschs, den dieser Job mit sich brachte. Man musste schon verrückt sein, um so wie sie sehenden Auges in ein Kriegsgebiet zu reisen, ja, sich auch noch darauf zu freuen.

Wie viele Einsätze hatten sie jetzt schon gemeinsam hinter sich gebracht? Elf, zwölf? Ganz schön beeindruckend, wenn man bedachte, in welchen Gegenden sie gewesen waren. Und dass dies zu Beginn eine mehr oder weniger zufällige Partnerschaft gewesen war. Aber Homs war der Wendepunkt gewesen, für beide. Sie hatten dortdas Schlimmste gesehen, was Menschen einander antun konnten. Lee hatte geglaubt, schon alles erlebt zu haben, dass nichts sie mehr so leicht schockieren konnte. Bis es angefangen hatte, Fassbomben zu regnen. Selbst jetzt noch blieb ihr beim Geräusch eines Hubschraubers, des typischen surrenden Knatterns, fast das Herz stehen.

Und wozu das alles? Wieso taten sie und Cunningham sich das an? Ließen sich die Seele zerreißen, setzten ihr Leben aufs Spiel, wenn es doch nichts änderte? Schlagzeilen waren auch nur Worte, sie genügten nicht. Fotos von verängstigten Kindern und verzweifelten Müttern konnten die Bombardierungen nicht stoppen, die Geschosse fielen weiter vom Himmel. Aber etwas trieb sie immer wieder hierher zurück – gegen ihren Willen, gegen jede Vernunft. Aus dem einfachen Grund, dass sie es tun musste. Denn wenn nicht sie, wer dann? Die Menschheit glaubte nur das, was sie mit eigenen Augen sah. Diese Geschichten mussten erzählt werden. Die Leute hier hatten sonst niemanden. Und sie ebenso wenig.

Cunningham nahm eine Hand vom Steuer und drückte ihren Oberschenkel. »Ich bin froh, dass du wieder da bist, Fitch. Du hast mir gefehlt.«

»Ja, deine hässliche Visage hat mir auch gefehlt, ich geb’s zu. Allerdings wäre es nett gewesen, wenn ich rechtzeitig erfahren hätte, wo du dich derzeit aufhältst. Dann wäre ich nicht hundert Meilen weit entfernt gelandet.« Sie lächelte sarkastisch. »Drei schlaflose Nächte, wer gibt mir die zurück?«

Er grinste und trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. »Ich muss nun mal da hin, wohin mich die Story führt, das weißt du doch.«

»Storys gibt’s hier überall, in diesem Höllenloch. Man kann sich vor Geschichten kaum retten. Jeder in diesem Land hat eine zu erzählen.«

Er zwinkerte ihr zu. »Aber keine wie diese.«

Etwas daran, wie er das sagte, ließ Lee aufhorchen. »O nein!« Sie kannte diesen Ausdruck auf seinem Gesicht. Auch wenn sie ihn im Laufe ihrer Zusammenarbeit nur wenige Male gesehen hatte, wusste sie sofort, was er bedeutete. »Worum geht’s?«

»Hab einen Hinweis gekriegt.«

»Ach nee.« Sie wartete auf mehr. Cunningham war stolz auf seine Kontakte, die sich wie ein Spinnennetz über das ganze Land ausbreiteten und nur sichtbar wurden, wenn ein Windhauch die Fäden erzittern ließ.

»Es gibt da ein kleines Dorf, Khrah Eshek, acht Meilen westlich von hier. Da ist ein Typ, mit dem ich mich treffen will. Mussef. Ich habe seinem Cousin Abbad geholfen, in Rakka …«

Lee musterte ihn –seine tief gebräunte Haut und die Erschöpfung, die sich in seine Züge eingegraben hatte wie der Staub der Landschaft. Merkte er selbst das überhaupt noch? Sie war nur sechs Wochen weg gewesen, doch das hatte ihre Perspektive verändert. Sie sah diesen Ort jetzt mit neuen Augen.

»… geholfen, seine drei Kinder aus dem Haus zu retten, das einen direkten Treffer abbekommen hatte. Sein kleines Töchterchen war unter dem Türrahmen eingeklemmt. Wir haben sie schließlich freibekommen, aber sie hatte sich beide Beine gebrochen.«

Lee zuckte zusammen, sie sah es deutlich vor sich. Wie viele solcher Situationen hatte sie schon fotografieren müssen? Wie viele schwer verletzte kleine Mädchen?

»Wie alt ist sie?«

Er zuckte mit den Schultern, aber sie sah, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten. »Etwa sechs?«

»Wird sie wieder laufen können?«

»Das schon. Aber Balletttänzerin wird sie keine mehr, das kannst du dir denken.«

Lee sog scharf die Luft ein und wandte den Blick von ihm ab. In diesem Land tanzte ohnehin niemand mehr. Es wäre ihr grotesk vorgekommen, sich Musik, Gelächter und Tanzvergnügungen vorzustellen, wenn Feuersbrünste den Himmel rot färbten und ganze Ortschaften brannten.

»Wie auch immer«, fuhr er seufzend fort und wandte sich wieder der eigentlichen Geschichte zu – das kleine Mädchen hatte schließlich überlebt, mehr gab es dazu nicht zu sagen. »Mussef ist also sein Cousin. DasDorf ist voll von Flüchtlingen aus Kobanê. Du hast bestimmt gehört, dass derISseine Angriffe auf diese Region verstärkt hat.«

Natürlich hatte sie davon gehört. Lee starrte aus dem Fenster. Sie wusste jetzt schon, was für Geschichten sie und Cunningham dort zu hören bekommen würden, wusste jetzt schon, wie es sich abspielen würde. Das strategische Ziel der Dschihadisten war nicht nur die Hauptstadt, sie wollten die gesamte Provinz erobern. Seit ihrem Eindringen vor wenigen Wochen hatten sie Hunderte von Dörfern überrannt. Man war nirgends mehr sicher. Die Stadt stand unter Belagerung, Strom und Wasserzufuhr sollten, wie man hörte, bereits ausgefallen sein, und außerhalb war es auch nicht besser. Zehntausende flüchteten von einem zerstörten Dorf zum nächsten, direkt in die Arme des Feindes.

Hatten diese Menschen nicht schon genug gelitten? Wann würde das enden? Es gab jetzt schon keine Häuser mehr, in denen man wohnen konnte, keine Geschäfte, in denen man einkaufen, keine Bürger, die man regieren konnte. Millionen Syrer waren durch diesen Krieg heimatlos geworden. Worum kämpfte man überhaupt noch? Um Staub und Ruinen?

»Aber das ist nicht die Story, hinter der ich her bin.« Er beugte sich ein wenig zu ihr herüber.

Nicht? Bei einem Angriff der islamischen Milizen ganz vorne dabei zu sein reichte ihm nicht? Lee zog überrascht eine Augenbraue hoch. Sie bemerkte Cunninghams unterschwellige Erregung, hob instinktiv den Fotoapparat und knipste. Cunningham war ganz in seinem Element. Lee machte nur selten Fotos von ihrem Partner, hielt fast nie die raren Momente der Freude fest, doch manchmal erschien ihr dies ebenso lebensnotwendig zu sein wie das Konservieren der düsteren. Gerade jetzt hatte sie das starke Bedürfnis, diesen Augenblick einzufangen und sich daran zu erinnern, dass es im Leben nicht nur ums Überleben ging. Dass sie ihn perfekt getroffen hatte, wusste sie, auch ohne es zu überprüfen.

»Erinnerst du dich an diese zwei Teenager, diese Mädchen aus Lyon, die Dschihadi-Bräute werden sollten? Vor etwa zwei Jahren?«

»Ja, vage.«

»Abbad behauptet, sie seien vor den Dschihadisten geflohen und würden sich in Khrah Eshek versteckt halten. Sie wollen versuchen, über die Grenze zu fliehen. Ihre Ehemänner wurden bei einem Drohnenangriff getötet; eine hat ein Kind, die andere ist schwanger. Sie wollen nach Frankreich, aber es ist verflucht schwierig, in eins der Grenzlager zu gelangen. Noch dazu hat derISein hohes Kopfgeld auf sie ausgesetzt. Die Mädchen sind total paranoid, sie haben Angst, man könnte sie ausliefern.«

»Das ist nicht paranoid. Das wird man auf jeden Fall versuchen.«

Cunningham nickte.

Lee runzelte die Stirn. »Aber woher weiß Abbad so etwas, das Dorf liegt doch über hundert Meilen weit weg.«

»Mussef versucht, ihnen zu helfen. Abbad hofft, dass wir die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf die beiden Mädchen lenken können. Er hat uns Mussef als Führer und falls nötig auch als Dolmetscher angeboten.«

Allmählich nahm Cunninghams Plan für Lee Gestalt an. »Verstehe. Du willst den Mädchen da raushelfen – und kriegst gleichzeitig das Exklusivrecht auf die Story?« Lee war sich des zynischen Untertons bewusst, aber sie konnte nicht anders.

Er zuckte mit den Schultern und versuchte gar nicht erst, es abzustreiten. »Wir kriegen die Story exklusiv. Ein Insiderblick in den Alltag desIS. Das wird für uns beide der Höhepunkt unserer Karriere.«Lee war sich sicher, dass seine Augen hinter der verspiegelten Brille funkelten; sein ganzer Körper vibrierte vor freudiger Erwartung. Was immer seine Motive sein mochten – Ruhmsucht, Mitleid oder schlicht menschlicher Anstand –, Lee wusste, dass er sich nie lebendiger fühlte als in Momenten wie diesem. »Du kannst doch Französisch, oder?«

»Un peu.« Es hörte sich an, als würde sie eine Fliege ausspucken.

»Gut. Könnte nützlich sein.«

»Das bezweifle ich. Es sei denn, sie schicken mich zur nächsten Bäckerei, um zwei Baguettes und ein Croissant zu kaufen. Oder fragen nach der Uhrzeit oder meinem Stundenplan aus Schulzeiten.«

Am Horizont tauchten die ersten Spuren der Zerstörung auf, die die Belagerung von Kobanê mit sich brachte. Beide zuckten zusammen, als eine Granate über den Himmel zischte und in vielen Meilen Entfernung einschlug, aber doch nahe genug, dass man die Erschütterung spürte. Wieder ein zerstörtes Gebäude, noch mehr Tote und Verletzte.

Lee bemerkte, wie sich Cunninghams Hand am Lenkrad verkrampfte. »Und du bist dir sicher, dass diesem Mussef zu trauen ist?«

»Ich habe seine Verwandten gerettet, Fitch.« Sein Blick war stur auf den Horizont gerichtet. Irgendwo da draußen versteckten sich zwei verängstigte junge Frauen, die nur eins wollten: nach Hause. Einige der gefährlichsten Männer der Welt waren ihnen auf den Fersen, und sie konnten nicht ahnen, dass ihr Ticket in die Freiheit in diesem Moment in Gestalt eines klapprigen hellblauen Toyotas auf sie zuholperte, mit einer Canon 5D MarkIIIals einziger Waffe. »Wir werden in dieser gottverfluchten Gegend zur Abwechslung mal was Gutes tun«, murmelte Cunningham. Ob er damit sich selbst oder sie ermutigen wollte, hätte sie nicht sagen können.

»Na gut.« Lee spürte, wie sich die altvertraute Angst in ihrem Magen regte, während sie sich Meile um Meile dem Kriegsgebiet näherten, und sie rutschte nervös auf ihrem Sitz umher. Sie hatte gehofft, wenigstens noch ein bisschen Zeit zu haben, bevor sie sich erneut in den offenen Schlund des Krieges warfen. Und wenn es nur zwanzig Minuten in einem geschlossenen Raum gewesen wären, mit den Füßen auf festem Boden, anstatt endlos über steinige, staubige Straßen zu fahren.

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. Er kannte sie besser als jeder andere Mensch auf diesem Globus und spürte sofort, wenn sie unsicher oder ängstlich war. »Du vertraust mir doch, oder?«

Lee blickte ihren alten Freund seufzend an, den Fotoapparat einsatzbereit im Schoß. »Ja, das tue ich. Weiß der Himmel, warum.«

Sein preisgekröntes Grinsen huschte über sein hageres Gesicht. »Na, dann kann ja nichts schiefgehen!«

1. Kapitel

Bloemgracht, Amsterdam, 14. November 2020

Ich seh ihn!«

»Wirklich? Toll!«

Gott sei Dank. Lee, die am Geländer stand, verlagerte ihr Gewicht. Jasper saß aufgeregt zappelnd auf ihren Schultern. Die Parade kam jetzt in Sicht, angekündigt vom anschwellenden Lärm der versammelten Menge und dem lauter werdenden Tröten einer Blaskapelle. Endlich war der große Moment gekommen, der Moment, den jedes Amsterdamer Kind das ganze Jahr über herbeisehnte – und auch Lee selbst seit mindestens zwanzig Minuten, weil ihr Nacken steif zu werden drohte und ihre Schultern vom Gewicht ihres heiß geliebten Sohnemanns brannten, der aufgeregt herumzappelte, während sie gespannt auf Sinterklaas’ triumphale Ankunft in der Stadt warteten. Ganz zu schweigen davon, dass es schweinekalt war. Lee sah einem Atemwölkchen hinterher.

»Da ist Zwarte Piet!« Jasper winkte mit einem roten Plastikfähnchen aufgeregt dem ersten Boot der Flottille zu. Es war beladen mit Menschen in altmodischen Samtjacken und Kleidern mit Puffärmeln, steifen Halskrausen und allem Pipapo. Sie warfen den Kindern am Ufer Lebkuchen und andere Süßigkeiten zu. Die Bootsparade war der Startschuss der festlichen Tage, und jedes Kind an diesem Kanal glaubte fest daran, dass Sinterklaas’ Helfer von jetzt an jede Nacht durch die Kamine der Häuser rutschen und den Kindern, die brav gewesen waren, kleine Geschenke hinterlassen würden. Der 5. Dezember, der Pakjesavond oder »Geschenke-Tag«, und der 6. Dezember, der Nikolaustag, bildeten eindeutig den Höhepunkt im niederländischen Festkalender. Weihnachten rangierte weit abgeschlagen an zweiter Stelle. Da Lee jedoch Engländerin war, kam ihr Sohn Jasper in den Genuss beider Bräuche, dem Besuch des Sinterklaas und dem des Santa Claus.

»Er hat mich gesehen! Er hat mir zugewinkt!«, brüllte Jasper und trommelte mit den Füßen gegen Lees malträtierte Brust.

»Hör auf, mich zu treten, Jazz!«, rief sie zu ihm hinauf und umklammerte seine Schienbeine, damit er sich beruhigte.

»Aber er hat mich angeschaut, Mama, und er hat den Daumen hochgereckt! Er wird uns bestimmt besuchen. Ich war doch brav, ich war ganz brav!«

Gegen ihren Willen musste sie lächeln. »Natürlich warst du brav. Du bist der beste kleine Junge von ganz Amsterdam, das weißt du doch.«

»Da ist er!« Jaspers Stimme überschlug sich vor Aufregung. Abermals trommelte er mit den Fersen seiner Stiefel gegen Lees Brust, denn nun glitt das Boot des heiligen Nikolaus an ihnen vorbei.

Der große Mann trug einen langen weißen Rauschebart und war in einen rot-weißen Mantel gehüllt, dazu trug er eine passende Mitra sowie seinen gebogenen Hirtenstab. Würdevoll winkte er der dichten Menschenmenge zu, die seinetwegen gekommen war. Wenn er ein paar Hundert Meter weiter vorne an Land ging und seinen Schimmel Amerigo bestieg, würden ihm die Menschen auf seinem Zug durch die Straßen Amsterdams folgen. Heute war fast eine halbe Million auf den Beinen, um den Beginn der weihnachtlichen Festivitäten zu feiern.

»Komm, Mama, wir folgen ihm!«, rief Jasper.

»Na gut.« Lee wandte sich vom Ufer ab und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Menge, Jaspers Beine fest umklammert.

Die Hände wollte er ihr nicht geben, die brauchte er, um zu winken und auf die Geschenkberge zu zeigen, die sich auf den Booten türmten, die auf ihrem Weg in die Innenstadt majestätisch an ihnen vorbeiglitten. Lee erklomm langsam die Bogenbrücke und kam sich dabei vor, als würde sie durch Sirup waten. Kinderwagen und Buggys verstopften zusätzlich zu den vielen Menschen die Straßen, und rings um sie versuchten Eltern verzweifelt, ihre Sprösslinge unter Kontrolle zu halten oder wenigstens nicht aus den Augen zu verlieren.

Jedermann war auf den Beinen, es herrschte eine Art Faschingsstimmung im winterkalten Amsterdam. Tröten wurden geblasen, Pfeifen schrillten. Selbst diejenigen, die keine Kinder hatten, standen mit einem Bier in der Hand im Fenster und beobachteten das Spektakel. Aus den malerischen Fachwerkhäusern mit ihren weiß gestrichenen Giebeln drang festliche Musik.

Oben auf der Brücke ließ das Gedränge zwar ein wenig nach, aber sie musste in der Mitte gehen, denn an den Geländern drängten sich die Schaulustigen – kein Wunder, da man von hier aus den besten Blick auf den Kanal hatte. Der aufbrandende Jubel verriet, dass das Boot an seinem Ziel angelangt war und der Nikolaus nun an Land ging.

»Kannst du ihn sehen?«, fragte sie Jasper, der immer noch auf ihren Schultern herumhopste, als wäre sie eine Hüpfburg.

»Er klettert auf Amerigo!« Ihr Sohn deutete nach vorn, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass Lee nicht über die Schultern der Menschen hinwegsehen konnte. Sie war zwar 1,79 Meter groß, was aber wenig brachte, wenn alle anderen genauso groß – oder größer – waren.

»Toll!«, rief sie und hoffte, sie würden jetzt endlich an irgendeinem Stand eine heiße Schokolade mit Marshmallows trinken können. Ihre Finger und Zehen wurden schon taub. »Hör zu, wir …«

Aber diesen Ton kannte Jasper nur zu gut. »Ich will ihn aber noch reiten sehen!«

Lee musste erneut seine Beine festhalten. »Jazz, das reicht jetzt, mehr gibt’s sowieso nicht zu sehen! Er muss sich jetzt um die vielen anderen Kinder kümmern. Und Zwarte Piet hat zu dir geschaut, sagst du? Dann wird er bestimmt vorbeikommen. Also …«

Plötzlich ertönte ein lauter Knall, der alle zusammenzucken ließ. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge. Alle schauten sich nach dem Ursprung des Lärms um – alle außer Lee. Mit einer Kraft und Geschmeidigkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, schwang sie Jasper von ihren Schultern. Das Kind an ihre Brust gedrückt, die Arme schützend um seinen Kopf gelegt, sprintete sie los, geradewegs durch die Menschenmassen. Sie hörte laute Rufe hinter sich, hielt aber nicht an.

»Mama, warte, bleib stehen!« Jaspers Stimme drang nur gedämpft zu ihr, so fest hielt sie sein Gesicht an ihren Anorak gepresst.

Lee bog in eine kleine Seitenstraße ab, hetzte ein, zwei, drei Straßen weiter, und innerhalb weniger Minuten waren sie allein. Abgesehen von einem einsamen Spaziergänger, der auf dieser Seite des Kanals seinen Hund Gassi führte. Am anderen Ufer radelten zwei Männer entspannt nebeneinanderher und unterhielten sich dabei auf diese lockere Art, die die Einheimischen von den Touristen unterschied.

Lee stellte ihren Sohn auf dem Kopfsteinpflaster ab und ging in die Hocke, suchte ihn panisch nach Verletzungen ab, nach Mörserstaub oder Blutspuren … Mit einem Mal spürte sie, dass sie Seitenstechen hatte, und sah, wie verschreckt und verängstigt ihr Sohn wirkte. Da erst wurde ihr klar, was der Mann neben ihr nach dem Knall zu seiner Frau gesagt hatte.

»War bloß ein Feuerwerkskörper.«

2. Kapitel

Hab dich lieb.«

»Ich dich auch, Mama.«

»Komm, gib mir einen Kuss.«

Jasper reckte sich mit rosig gespitzten Lippen und drückte ihr ein Küsschen auf den Mund. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und bewunderte es einen Moment lang: die kindlich vollen Wangen, die dichten, langen Wimpern, die glänzenden schokobraunen Augen. Was für ein perfekter kleiner Mensch er doch war! Lee konnte es manchmal kaum fassen, dass es ihn wirklich gab, auch nach fünf Jahren nicht. Jedenfalls nicht, bis sie morgens die Unordnung in seinem Zimmer erblickte.

»Also los, ab mit dir! Und wenn ihr später einen Spaziergang macht, dann jag bitte keine Tauben und schubs keine Radfahrer in den Kanal. So toll sind die nämlich gar nicht, die Tauben, wenn man mal eine erwischt. Und außerdem hab ich keine Lust, schon wieder eine Reinigung bezahlen zu müssen, das geht nämlich ins Geld.«

Jasper seufzte. Brav sein war nicht leicht. »Okay.«

Sie sah ihm noch einen Moment in die Augen, kniff ihn dann liebevoll ins Kinn und richtete sich auf. »Also gut, dann bis später.«

Jasper wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und stürmte die Stufen zum Kindergarten hinauf, wobei sein Rucksack auf seinen kleinen Schultern hin und her wippte. Er hatte den Saum seiner Jeans ein wenig hochgekrempelt, damit man seine Spiderman-Socken sehen konnte.

Lee verharrte noch einen Moment, falls er sich noch einmal umdrehen und ihr von der Tür aus zuwinken würde – was er nie tat –, dann ging sie zu ihrem Fahrrad zurück, das am Treppengeländer lehnte. Es kam ihr inzwischen immer ganz eigenartig vor, alleine Rad zu fahren, ohne seinen warmen kleinen Körper im Kindersitz am Lenker. Eine Erinnerung an das Leben »davor«, ohne ihn.

Sie radelte los, nahm lässig eine Bogenbrücke nach der anderen und wich auf ihrem Weg etlichen Straßenbahnen aus, aber nicht den Touristen. Die Stadt wimmelte noch immer von ihnen, sie ließen sich nicht einmal durch den eisigen Wind und das vereiste Kopfsteinpflaster davon abhalten, die festlich geschmückten Weihnachtsbäume und Schaufenster zu bewundern. Beinahe freute sie sich auf die ersten bitterkalten Wochen im neuen Jahr, die inzwischen die einzige Zeit zu sein schienen, in der die Einheimischen ihre Stadt für sich hatten, ehe mit dem Frühling neue Touristenhorden über sie hereinbrachen. Amsterdam ächzte schon seit Längerem unter ihrem Ansturm. Zu viele Menschen auf zu wenig Landmasse, genau wie im 17. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter der Stadt.

Der neue Bürgermeister wollte die Stadt angeblich autofrei machen, aber Lees Meinung nach waren nicht die Autos das Problem. Die Amsterdamer gingen eh lieber zu Fuß, setzten sich aufs Rad oder fuhren mit dem Schiff. Nein, es waren die Touristen, die die Straßen verstopften, die Instagrammer, die mitten auf der Fahrbahn stehen blieben, um ein Selfie zu machen, und vollkommen unbekümmert zu erwarten schienen, dass der Verkehr auf sie Rücksicht nahm. Dieses Verhalten brachte Lee auf die Palme. Die Leute liefen doch auch nicht mitten auf der Londoner Bond Street herum oder auf den Champs-Élysées oder der Via Monte Napoleone in Mailand und erwarteten, dass der Verkehr um sie herumfloss, oder? Eine unglaubliche Selbstverliebtheit, fand Lee, die Gier nach Selfies verdrängte sogar die Sorge um die eigene Sicherheit. War es das, wohin die Menschheit steuerte? Die Verherrlichung des Egos, die Glorifizierung des Ichs, dem sich alles andere unterzuordnen hatte? Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass dies die Schattenseite eines langen, ungebrochenen Friedens war. Er führte zu Selbstsucht und Engstirnigkeit und zerstörte das Gemeinschaftsgefühl …

Es begann zu nieseln, und der Nieselregen verwandelte sich in Graupelschauer. Lee zog sich die Mütze über die Ohren und wickelte ihren Schal ein wenig fester. Noch war November, aber nach einem regnerischen, windigen Herbst hielt bereits der Winter Einzug. Draußen auf dem Land hatte es angeblich schon den ersten Schnee gegeben. In den Kanälen wurde das Wasser dick und zähflüssig, und die Temperaturen kletterten nicht mehr über null Grad. Die kahlen Baumkronen waren dem eisigen Nordwind schutzlos ausgeliefert, und es würde nicht mehr lange dauern, bis das Meereis in die Kanäle der Stadt kroch wie Quecksilber durch ein Netzwerk von Adern.

Lee radelte durch die schmalen Straßen und klingelte jedes Mal ungehalten, wenn ihr jemand in die Quere kam. Auf der Fahrbahn hatte sie Vorfahrt, und sie scheute sich nicht, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Sie kam an schmucken Stadthäusern mit dunklen Ziegelfassaden und weißen Giebeln vorbei. Licht fiel aus den großen Fenstern, die nicht durch Vorhänge geschützt waren, sodass man die Bewohner wie in einem überdimensionalen Puppenhaus ihren Beschäftigungen nachgehen sehen konnte. Nicht nur die Touristen, selbst Lee riskierte gelegentlich einen Blick. Es gehörte zu den Eigenheiten der Niederländer, dass sie sich niemals hinter Vorhängen versteckten, sondern ihren Alltag vor aller Augen lebten. Daran konnte Lee sich nicht gewöhnen, auch nach fünf Jahren in Amsterdam nicht. Ihr Drang, sich einzuigeln, in einem warmen Nest zu verstecken, war zu stark, es kam ihr geradezu provokant vor, so … so frei, so offen zu leben. Wie auf dem Serviertablett. Sie brachte das nicht fertig.

Ihr Studio lag nur acht Radminuten von Jaspers Kindergarten entfernt. Lee sprang vom Sattel und schloss ihr Fahrrad gleich mit zwei Ketten an einen der Ständer an. Immerhin war das dieses Jahr schon ihr drittes Rad, und sie war mittlerweile fast paranoid, was das Abschließen anging.

»Lee!«, rief Bart, ihr Assistent, erleichtert aus, als sie wenige Minuten später durch die Tür stolperte.

Sie nahm ihre schwarze Mütze ab und schüttelte ihre lange dunkelblonde Mähne. Jasper hatte ihr die Mütze zum Muttertag ausgesucht – mit finanzieller Unterstützung seines stets viel zu großzügigen Patenonkels Noah –, und seitdem trug sie keine andere mehr. Die Mütze hatte zwei süße Katzenöhrchen, und Lee erntete damit nicht selten amüsierte Blicke von Touristen, aber das war ihr egal. Außerdem gab es in Amsterdam viel ausgefallenere Looks. Sie sah fragend zu Bart, der den Telefonhörer in der Hand hielt und jetzt die Sprechmuschel zudeckte.

»Das ist die Galerie. Sie wollen wissen, ob du dir das mit der Gästeliste nicht noch mal überlegen willst? Sie kriegen ständig Anrufe von Agenten, die ihre Klienten auf die Liste setzen möchten. Das Interesse ist jetzt schon riesig, Lee …«

»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Die Antwort ist immer noch Nein«, sagte sie brüsk. Sie schlüpfte aus ihrem dicken dunkelgrün-schwarz karierten Wintermantel und wickelte sich den marineblauen Schal vom Hals.

»Aber was glaubst du, wie viel Aufmerksamkeit wir dadurch …«

»Mag sein, aber aus den vollkommen falschen Gründen. Ich hab’s dir doch schon gesagt, ich wünsche keine C-Promis, die meine Ausstellung benutzen, um sich in Szene zu setzen. Das widerspricht allem, wofür diese Ausstellung steht: Wahrheit, Authentizität und Widerstandskraft.«

Bart gab ein übertriebenes Stöhnen von sich. Lee warf ihm einen scharfen Blick zu und hängte ihren Mantel an den Haken. Debatten und Kabbeleien zwischen ihnen gehörten inzwischen zum Alltag. Lee fragte sich manchmal, ob er überhaupt noch wusste, wer von ihnen beiden der Boss war.

»Ja, aber … würde es nicht ein bisschen Leben in die Bude bringen? Deine Bilder sind überwältigend, deine Botschaft lässt sich durch nichts verwässern. Ein paar Promis in hübschen Fummeln würden die Message schon nicht unterminieren.«

Lee bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. »Bart, ich hoffe doch sehr, dass du nicht andeuten willst, die Leute würden nur dann begreifen, wie entsetzlich die Folgen körperlicher Gewalt sind, wenn irgendein berühmtes Model neben den Bildern posiert.«

»Sag ich doch gar nicht!«, protestierte er und rückte seine Brille zurecht. »Ich meine doch nur, die Chance, dass die Leute das Ausmaß des Horrors begreifen, erhöht sich, wenn dieses berühmte Model es ins rechte Licht rückt.«

Lee schüttelte müde den Kopf. »Lässt sich denn eine harte Botschaft heutzutage nur noch mit dem Zuckerguss des Glamours verkaufen? Braucht Krieg jetzt etwa auch schon Promi-Sponsoren? Was ist los mit der heutigen Gesellschaft, verdammt noch mal? Kapierst du denn nicht, was abgeht? Wenn sogar Krieg und menschliches Leid trivialisiert werden …« Lee hatte durchaus Achtung vor Talent, aber leere Berühmtheit, nur um der Berühmtheit willen – das machte sie wütend.

»Lee, du weißt, ich bewundere deine Prinzipien, aber wir müssen schließlich auch von irgendetwas leben. Die Rechnungen bezahlen sich nicht von selbst. Du kannst deine Fotos nicht bloß ausstellen, du musst sie schon auch verkaufen.«

Sie starrte ihn an.

»Ein paar bekannte Gesichter würden der Sache zu einem höheren Bekanntheitsgrad verhelfen. Es geht nicht darum, deine Botschaft in den Dreck zu ziehen, es geht darum, Kundschaft anzulocken.«

»Du hast doch gerade gesagt, das Interesse wäre jetzt schon riesig.«

»Mann!« Er verdrehte entnervt die Augen.

»Die Antwort ist Nein, Bart.« Damit war die Sache für Lee erledigt. Sie wandte sich ab und steuerte auf direktem Wege den Kaffeeautomaten an. Während sie darauf wartete, dass sich die kleine Tasse mit schwarzem Gold füllte, fielen ihr fast die Augen zu. Sie hatte eine kurze Nacht hinter sich, nur vier Stunden Schlaf. Nicht dass ihre Nächte jemals eine Quelle der Erholung wären. Für gewöhnlich bestand Lees Schlaf aus kurzen Intervallen tiefer Besinnungslosigkeit, die sich mit lebhaften Albträumen abwechselten, in denen die Vergangenheit sie heimsuchte.

»Wir überlegen noch, ich ruf wieder an«, hörte sie ihren Assistenten diskret ins Telefon murmeln.

Sie tat, als hätte sie es nicht gehört. Sie war zu müde, um sich Bart deswegen vorzuknöpfen. Sie brauchte immer erst einen doppelten Espresso, ehe sie halbwegs funktionsfähig war. Aber selbst der stärkste Kaffee, den sie hierzulande aufzutreiben vermochte, verschaffte ihr nicht den Kick, den sie von früher gewöhnt war. In ihrem alten Beruf hatte sie jahrelang ein Gebräu getrunken, mit dem man den Motor eines Panzers hätte befeuern können. Damit konnte sich dieser hauszahme Kaffee nicht messen.

Sie kippte den doppelten Espresso hinunter und wandte sich gestärkt wieder ihrem Assistenten zu.

Beflissen stand er auf. »Ach, übrigens, wo wir gerade dabei sind, ich habe dir für den Eröffnungsabend eine Limousine organisiert. Der Chauffeur wird Punkt zwanzig Uhr bei dir klingeln.«

»Gut.«

»Und dasselbe gilt auch für das Dinner am Freitag in zwei Wochen.«

»Okay«, murmelte sie.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Lee blickte sich abwesend in dem großen Raum um, der zum Mittelpunkt ihres Schaffens geworden war. Wie sehr er sich doch von den Orten unterschied, an denen sie früher gearbeitet hatte. Er war groß, mit massigen Deckenbalken und einem schlichten Betonboden. Durch die hohen Südfenster fiel an sonnigen Tagen gleißendes Licht herein. Aber heute war der Himmel wolkig und trübe, und alles wirkte wie unter einem Gazeschleier. In einer Ecke stand ein großes schiefergraues Leinensofa mit einem niedrigen Beistelltisch. In der Mitte des Raums hing eine schwarze Leinwand von der Decke; davor stand ein dreibeiniger Hocker. Alles war hell und luftig und karg – Innenarchitekten nannten das »urban«, aber Lee assoziierte mit diesem Wort eher die Schuttberge der Vorstädte des Nahen Ostens, mit ihren herausragenden Metallstreben und Plumpsklos.

Mit einem unwillkürlichen Schaudern dachte sie an die bevorstehenden Aufgaben des Tages. Sie näherten sich dem Ende eines besonders wichtigen Projekts: Seit zweieinhalb Wochen machte Lee Porträtaufnahmen der diesjährigen neuen Sternchen am Celebrity-Himmel. Auftraggeber war die Kultzeitschrift Black Dot, die jedes Jahr eine Hotlist der angesagtesten niederländischen Newcomer zusammentrug. Wer den Zeitgeist einfangen wollte, kam nicht um Black Dot herum, die Zeitschrift war die Königsmacherin unter den Glamour-Magazinen. Jeder aufstrebende Möchtegern wollte hier porträtiert werden.

Lee hasste diese Art der Fotografie. Lieber wäre sie durch einen Granatenbeschuss in Beirut gelaufen, als Promifotos machen zu müssen. Aber es war nun mal ein äußerst lukrativer Auftrag, und man bezahlte ihr eine obszöne Summe dafür. Sie hatte sich geschworen, es würde das letzte Mal sein – aber dasselbe hatte sie sich auch schon letztes Jahr vorgenommen, und im Jahr davor. Bart zog sie inzwischen auf, sie würde sich »zieren wie Daniel Craig«, der ebenfalls zunächst davon abgestoßen gewesen war, wie kommerziell James Bond daherkam, dem Lockruf des Geldes letztendlich aber doch nicht hatte widerstehen können …

Lee verachtete die Leute, die für sie Porträt standen. Für sie waren sie allesamt nur süchtig nach Ruhm. Dabei hatte Ruhm keinerlei echte Bedeutung, ebenso wenig wie Erfolg und Beliebtheit. Das war alles reine Eitelkeit. Keiner ihrer »Stars« hatte auch nur das Geringste dagegen, von ihr als Abklatsch, als Kopie eines bereits etablierten Stars in Szene gesetzt zu werden. Lee hatte bereits die »neue Naomi« abgelichtet, den »neuen Quentin Tarantino«, den »neuen Ronaldo«, die »neue Ellen«, den »neuen Justin Trudeau«. Und heute war der »neue Kit Harington« dran, wer immer das auch war. Sie kannte sich mit Fernsehschauspielern einfach nicht aus. Wie hieß der Typ heute noch mal …?

Egal. Man würde zweifellos erwarten, dass sie das Ego ihres Kunden streichelte. Und Bart die angegriffenen Nerven seiner PR-Agentin. Fotoaufnahmen bei einer so profilierten Fotografin wie ihr, und das für eine Zeitschrift wie Black Dot, das war der erste Schritt nach ganz oben. Der prominente Kunde würde das volle Programm erwarten – Schmeicheleien, Lobgesänge und sonstiges Umgarnen. Das erwarteten sie alle. Aber das Einzige, wozu sie sich in dieser Hinsicht herabließ, war, Bart in die nahe gelegene Lanskroon-Bäckerei zu schicken, um eine Tüte extragroße stroopwafels zu besorgen.

»Also dieser Typ heute … wie heißt er noch gleich?«, fragte sie Bart und trat an die Leinwand, um einen Fussel zu entfernen. Ansonsten würde er später beim Shooting auf dem schwarzen Hintergrund leuchten wie ein Glühwürmchen.

»Matteo Hofhuis.«

»Hofhuis, ach ja.« Sie schnippte mit den Fingern, als ob es ihr gerade wieder einfiele, was nicht der Fall war. Sie runzelte die Stirn. »Und wer ist er noch mal? Wieso interessiert er uns?«

»Hat die Hauptrolle in der Netflix-Serie Liar Liar gespielt und ist jetzt der Schwarm jeder europäischen Hausfrau. Man munkelt, dass Barbara Broccoli ihn bereits als neuen Bond in Betracht zieht.«

Lee stöhnte leise.

»Und man hat ihn kürzlich zum UNICEF-Botschafter ernannt.«

Lee verdrehte die Augen. »Wie könnte es anders sein«, murmelte sie.

»Rechnungen, Lee! Rechnungen!«, mahnte Bart mit einem Schulterzucken. Er konnte mindestens ebenso zynisch sein wie sie.

Lee trat an ihren zwei Meter langen Arbeitstisch, wo die Mappe von Matteo Hofhuis schon aufgeschlagen für sie bereitlag. Sie setzte ihre Brille auf und studierte die Porträtfotos – alle in Schwarz-Weiß. Auf einem lag er lässig mit gespreizten Beinen in einem Sessel, das Hemd halb geöffnet, damit man seine muskulöse, Fitnessstudio-gestählte Brust sehen konnte, den Blick herausfordernd zur Kamera gerichtet. Er sah gut aus, und das wusste er offenbar auch. Sie sah sich die restlichen Bilder an: in Frack und Fliege. Dann wieder barfuß, in Jeans und markigem Strickpulli. So weit, so klischeehaft. Ein nichtssagender, hübscher Mann, der nette Nachbar … Sie warf einen Blick auf den vollen Kleiderständer, der von seinem Management zur Verfügung gestellt worden war: weiße Hemden, Maßanzüge, ein Kurzmantel, ein hochwertiger Rollkragenpullover. Alles sehr geschmackvoll, genau durchdacht und sorgfältig kuratiert. Und harmlos. Sein Management wollte offenbar Risiken vermeiden.

Vom Treppenhaus her näherten sich Stimmen, und sie und Bart blickten überrascht auf. Die schrille, befehlsgewohnte Stimme einer PR-Agentin war zu hören. Hofhuis war schon hier? Zwanzig Minuten zu früh? Der konnte es wirklich kaum erwarten. Der Rest von Lees eigenem Team – Friseurin und Maskenbildnerin – war noch nicht mal eingetroffen.

»Hast du die Waffeln besorgt?«, flüsterte sie.

»Jep«, antwortete Bart, ebenso leise. Er wies mit einer Kopfbewegung zum riesigen Kühlschrank. In diesem Moment ging die Tür auf, und eine junge Rothaarige platzte herein. Sie trug hochhackige Stiefel, eine schwarze Skinny-Jeans, dazu einen grauen Blazer.

»Hi! Lee?« Sie rannte geradezu auf Lee zu, die still neben ihrem Arbeitstisch verharrte, und drückte ihr forsch die Hand. Lee vergaß für einen Moment weiterzulächeln.

»Hallo.« Sie schob ihre Brille ein Stück hoch. In ihrer zerrissenen Boyfriend-Jeans, dem lässigen Rolli und ihren Hi Tops kam sie sich im Vergleich zu diesem Püppchen fast maskulin vor. Kein ungewöhnliches Gefühl für sie und ein durchaus willkommenes.

»Hi, ich bin Claudia, Matts PR-Agentin.«

»Hi, Claudia, ich bin Lee.«

»Wir freuen uns riesig über dieses Fotoshooting! Matt hat sich schon immer gewünscht, einmal von Ihnen fotografiert zu werden. Er liebt Ihre Arbeit, wissen Sie.«

»Ach, wie nett.« Lee wusste, dass damit ihre geschönten Fotos gemeint waren, bei denen sie fürs Schmeicheln bezahlt wurde und nicht dafür, die ungeschminkte Wirklichkeit zu zeigen.

»Im Ernst, er hält Sie für eine Visionärin. Ihre Perspektive ist unübertroffen, sagt er. Kein anderer Fotograf …«

»… ist in der Lage, derart zum Wesentlichen vorzudringen, wie Sie.«

Lee hob den Blick und bemerkte nun einen jungen Mann, der ebenfalls eingetreten war. Sein Haar war ein wenig länger als in der Fotomappe und sein Dreitagebart eher ein Fünftagebart, hatte also den Punkt überschritten, wo er kratzte, und wirkte nun weicher (mit Bärten kannte Lee sich aus). Nur seine Augen waren genauso wie auf den Porträts – schön, arrogant und herrisch. Natürlich wurde jetzt von ihr erwartet, dass sie sich augenblicklich in ihn verliebte, das war Lee klar. Obwohl er etwa acht bis zehn Jahre jünger war als sie.

Er streckte ihr seine Hand entgegen und schien plötzlich zu bemerken, dass er kaum größer war als sie, höchstens ein, zwei Zentimeter. Sie standen einander Auge in Auge gegenüber.

»Freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Lee.«

»Ganz meinerseits, Matteo.« Sie drückte seine Hand.

»Ach, nennen Sie mich doch bitte Matt.« Er wollte etwas hinzufügen, wahrscheinlich fragen, ob sie »seine« Serie gesehen habe – das war schließlich das einzige Thema, das die Leute interessierte.

Lee bemerkte jedoch, wie er in letzter Sekunde einen Rückzieher machte, ein wenig kleiner wurde. Als würde er ahnen, dass sie die Serie nicht gesehen hatte, dass sie nicht zu seinen Fans gehörte. Er ließ ihre Hand los und brach den Blickkontakt ab. Dann sah er sich neugierig im Fotostudio um und bemerkte dabei den Kleiderständer voller dunkler Anzüge und weißer Hemden.

»Also, was haben Sie mit mir vor?«, fragte er voller Tatendrang.

»Na, Sie sehen’s ja selbst …« Lee konnte nicht ganz verbergen, wie angeödet sie war.

Spürte er es? Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Ich habe nicht das Geringste dagegen, mich vollkommen in Ihre Hände zu begeben. Ich ordne mich Ihrer Vision unter, egal, wie sie auch aussehen mag.«

Claudia stieß einen überraschten Laut aus, und Bart zog amüsiert die Augenbrauen hoch.

Lee verlagerte ihr Gewicht und musterte ihr Gegenüber prüfend. »Ach ja? Tatsächlich? Sind Sie sich da wirklich sicher?«

3. Kapitel

Die werden an die Decke gehen«, prophezeite Bart.

Lee schlüpfte in ihren Mantel und sah auf die Uhr. Ihre Gäste waren soeben gegangen, und ihr blieb nur noch eine Viertelstunde, um Jasper abzuholen.

»Umso besser. Wir wollen schließlich Aufmerksamkeit wecken, oder nicht?«

»Doch, schon, aber innerhalb eines gewissen Rahmens, Lee, wie du sehr wohl weißt. Du hast den Kleiderständer mit den Klamotten, die sie uns geschickt haben, überhaupt nicht angetastet. Hättest du ihm nicht wenigstens die Hose anlassen können? Das ist ’ne seriöse Zeitschrift, Lee, die wollen ihre Werbepartner nicht vergraulen …«

»Das ist ihr Problem, nicht meins. Die Fotos sind im Kasten, ich habe meinen Beitrag geleistet. Eine von diesen Aufnahmen kommt garantiert aufs Titelblatt, darauf kannst du wetten. Die Leute werden ihnen die Ausgabe aus den Händen reißen, und das wiederum macht die Werbepartner happy.«

Lee wickelte sich ihren Schal zweimal um den Hals, setzte ihre Wollmütze auf und rückte die Katzenohren zurecht, damit sie mittig waren. Dann stützte sie das Kinn auf Barts Schulter, der vor dem beleuchteten Fototisch stand und die Negative betrachtete, und sah sie sich ebenfalls an. Sie verspürte ein freudiges Kribbeln. Auf diese Arbeit war sie ausnahmsweise stolz, und das kam dieser Tage selten genug vor. Matteo Hofhuis wirkte vollkommen verwandelt. Der nette Nachbar, der sieben Stunden zuvor ihr Studio betreten hatte, war nicht wiederzuerkennen. Den Bart hatte er noch, aber anstelle des fast schulterlangen Haars trug er nun eine Glatze (Lee hatte für solche Zwecke immer einen elektrischen Haarschneider parat). Seine nackte, gebräunte Haut war schmutzig und verschmiert (Bart hatte nach Lees Anweisungen rasch eine Pampe aus Blumenerde – gewonnen aus den Blumentöpfen im Foyer – und Wasser angemischt). Lee wollte, dass er aussah wie ein Krieger, wie ein heimatloser Guerillakämpfer, geleitet von Instinkt und Gelegenheit. Sie hatte den Goldlack abkratzen wollen, das Star-Gehabe, das ihn einhüllte wie ein Tortenguss, hatte ihn nackt, rau und entblößt zeigen wollen.

Die Nacktheit hatte ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil, und er sah mit dem kleinen Handtuch, das er sich zwischen den Aufnahmen umwickelte, einfach sexy aus. Er war an einem Punkt in seiner Karriere angelangt, wo er alles getan hätte, um seine »künstlerische Integrität« beweisen zu können. Lees sachlicher, uneitler Umgang tat das Übrige. Sie hatte ihm angeboten, das Set für ihn zu schließen, aber es waren ja ohnehin nur sie beide und Bart und Claudia anwesend gewesen. Maskenbildnerin und Friseurin hatte sie gleich zu Anfang wieder fortgeschickt.

Claudia war anfangs nicht klar gewesen, wie weit es gehen würde. Bart hatte sie im entscheidenden Moment mit den riesigen Sirupwaffeln abgelenkt, während Lee hinter ihrem Rücken den Elektrorasierer zückte. Lee hatte behutsam angefangen, hatte den Hocker entfernt und Matteo Hofhuis vor die schwarze Leinwand gestellt, in der Kleidung, in der er gekommen war. Er sollte sich erst einmal an die Kamera gewöhnen, während sie ihn lauernd umschlich wie eine Katze, ihn aus unterschiedlichen Perspektiven fotografierte, ihm mal ganz nahe kam, mal weiter zurückwich, mal auf Zehenspitzen, mal in der Hocke fotografierte und dabei stets darauf beharrte, dass er in die Kamera blickte. Sie bat Bart, die Heizung aufzudrehen, und als es dann immer wärmer wurde, begann er sich zu häuten wie eine Zwiebel – sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne: Die einstudierten Posen, die Bereitwilligkeit, ihr gefällig zu sein, wichen zunehmend etwas Authentischerem, weniger Gezwungenem.

Allmählich wurde ihm langweilig, der Glanz des Neuen verblasste, er fühlte sich angeödet, ertrug die Fotolinse eher, als sie aktiv zu suchen. Sein Blick wurde härter, seine Kiefermuskeln entspannten sich, und nach und nach verschwand die öffentliche Person, bis es nur noch ihn und sie gab, selbst die Kamera war vergessen. Die Linse war ihre einzige Verbindung, wie eine Nabelschnur, die verband, gleichzeitig aber auch trennte. Er wurde zu dem, der er in seinen ganz privaten Momenten war, wenn er sich unbeobachtet – unbeurteilt – glaubte.

Lee kam es vor, als würde vor ihren Augen eine Wachspuppe schmelzen, als würde der eingeübte stahlblaue Blick sich trüben, öffnen und den harten Kern freigeben. Auf diese Momente arbeitete sie hin. Der Moment der Wahrheit. Der Menschlichkeit. Der geteilten Erfahrung. Der Gleichheit unter Gleichen.

Lee hatte diesen Hausfrauenschwarm in mehr verwandelt als einen Hengst im Maßanzug. Wenn er wirklich Ambitionen hatte, der neue Bond zu werden, dann war dies sein goldenes Ticket. Oder Hamlet. Oder Atticus Finch. Oder Mr Darcy. Mit diesen Fotos würden sich ganz neue Türen für ihn öffnen.

»Hm.« Sie trat mit einem zufriedenen Nicken zurück und machte sich mit energischen Schritten auf den Weg zur Tür. »Kein schlechtes Resultat, für einen Arbeitstag. Wen haben wir als Nächstes?«

»Den Letzten, wie dich freuen wird zu hören. Ein Buchautor. Er ist der neue … hm.« Bart überlegte einen Moment, in welche Schublade er ihn stecken sollte. »A. A. Milne trifft Eckhart Tolle.«

»Wie bitte?«

»Mindfulness, Lee – noch nie davon gehört? Das bedeutet, dankbar zu sein, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind, seinen Nächsten zu lieben, blablabla. Der neue Trend.«

Lee verdrehte die Augen. Sie wusste, was er meinte. Man stieß in den sozialen Medien ja ständig auf derartig kitschige Weisheiten. Instant-Erleuchtung.

»Er kommt am Montag um zehn. Danach hast du’s überstanden – außer, wenn sich Havens Leute noch mal melden. Du weißt schon, die ›neue Billie Eilish‹. Die haben zwar streng genommen kein Mitspracherecht, aber ihr Management ist bekannt dafür, besonders heikel zu sein.« Bart schnitt eine Grimasse.

»Mist.« Früher war sie für gute Fotos durch dichten Dschungel gerobbt oder über ausgebrannte Fahrzeuge geklettert. Wie war es nur dazu gekommen, dass sie jetzt eitle achtzehnjährige Sängerinnen hofieren musste, die noch nicht mal geboren waren, als sie sich diesen Mantel gekauft hatte?

»Rechnungen, Lee«, erinnerte Bart sie, der wieder mal ihre Gedanken las.

»Ja, klar.« Sie wandte sich seufzend zum Gehen.

»Ach, übrigens, wo wir schon davon reden …«

»Nein!«, rief sie ihm über die Schulter zu. Sie wusste genau, worauf er hinauswollte: die Gästeliste für die Ausstellung. Sie war guter Laune, ja. Aber so guter dann auch wieder nicht. »Bis morgen, Bart!«

Die Tür fiel hinter ihr zu, und Lee trat hinaus auf die Straße. Es war bereits dunkel, und Amsterdam erstrahlte im Schein der bernsteinfarbenen Straßenbeleuchtung. Eine Postkartenidylle. Es faszinierte Lee immer wieder aufs Neue, wie eine Stadt, die tagsüber so wohlerzogen maskulin wirkte – dunkle, zurückhaltende Farben, klare Linien –, abends in eine viel weichere, romantischere Atmosphäre umschalten konnte. Das Licht der Straßenlampen spiegelten sich im schwarzen Wasser der Kanäle, die kahlen Baumkronen und die Geländer der gebogenen Kanalbrücken waren mit Lichterketten geschmückt, deren Schein sich wiederum im Kopfsteinpflaster der Straßen spiegelte. Und die berühmten schmalen Ziegelhäuser mit ihren vielen Fenstern wirkten wie schmucke Lebkuchenhäuser.

Lee befreite ihr Fahrrad von den Schlössern und schickte dabei wie immer ein kurzes Dankgebet an die Radgötter, dass es noch da war. Dann stieg sie auf und fuhr los. Die Luft war knackig kalt, und es roch nach Frost. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten, und das hob ihre Laune noch weiter an. Kalte Tage wie diese hatte sie in ihrem alten Leben am meisten vermisst, und sie gehörten eindeutig zu den Gründen, warum sie sich für diesen Ort entschieden hatte. Ganz bewusst hatte sie roten Staub gegen Regen und Schneematsch eingetauscht – ein so großer Gegensatz wie nur möglich.

Leise glitt Lee an den großen Fenstern der Stadthäuser vorbei, nur das Sirren der Reifen auf dem Kopfsteinpflaster war zu hören. Ihr war leichter zumute als heute Morgen. Normalerweise fiel es ihr schwer, nach der anstrengenden Arbeit im Studio mit einem Gefühl der Befriedigung heimzukehren. Wie leer, wie sinnlos diese geleckte, gekünstelte Wirklichkeit war, die sie mithalf zu erschaffen! Aber heute war das anders; heute hatte sie etwas Echtes mit dem Fotoapparat eingefangen, hatte eine echte Verbundenheit mit einem anderen Menschen aufgebaut. Die Welt konnte sie dadurch nicht ändern. Aber zumindest die ihre ein klein wenig aufhellen.

Während sie so entspannt dahinradelte, fiel ihr Blick auf die fröhlich flatternden Goldbänder, die sie Jasper zuliebe an ihrem Lenker befestigt hatte. Sie fuhr zügig, selbstbewusst und verschaffte sich wie immer mit ihrer Stimme Platz, nicht mit der Fahrradklingel. »Aus dem Weg!«, rief sie, wenn es nötig wurde. Sie würde sich nicht von irgendwelchen Influencern auf Fotojagd davon abhalten lassen, ihren Sohn pünktlich vom Kindergarten abzuholen.

Zwanzig Minuten später waren sie und Jasper wieder daheim, und sie drückte die Haustür mit einem Seufzer der Erleichterung hinter sich zu. Jasper warf fröhlich seinen Rucksack zu Boden und strampelte seine Stiefel ab, dann rannte er die Treppe zum großen offenen Wohnbereich hinauf. Lee schob die drei Riegel vor und hängte die zwei Ketten ein. Sie stellte seine Schuhe zur Seite, damit man nicht darüberstolperte. Ihr Sohn lief auf Socken oben im Wohnzimmer herum, und es hörte sich an wie eine ganze Elefantenherde. Lee ging als Allererstes nach hinten in die Waschküche und verfrachtete die Ladung Wäsche, die sie heute Morgen noch rasch in die Maschine getan hatte, in den Trockner. Sie überzeugte sich davon, dass auch die Hintertür zugesperrt war, dann warf sie noch einen Blick ins Gästezimmer, das gleich gegenüber der Treppe im Erdgeschoss lag, um sich davon zu überzeugen, dass alles unberührt war.

Sie knipste das Licht an und versuchte, das Zimmer, das sie nur selten betrat, unvoreingenommen zu betrachten. Lee wusste selbst, dass es nicht der gelungenste Raum im Haus war. Es gab nicht viel mehr als ein schlichtes Doppelbett ohne Kopfteil, der Rattanschirm der billigen Ikea-Lampe erinnerte an eine Hummerreuse, und die beiden Kopfkissen waren unterschlich dick, sodass die türkisfarbene Tagesdecke etwas abschüssig lag. Immerhin, die Wände hatte sie in einem satten Türkis-Schwarz gestrichen, was eine luxuriöse Atmosphäre schuf, zu der auch der dicke cremeweiße marokkanische Teppich beitrug.

Lee schaltete das Licht wieder aus und zog die Tür hinter sich zu. Sie wollte soeben die Treppe hinaufgehen, als es an der Haustür klingelte. Erschrocken wandte sie sich um. Es war halb sechs. Sie hatte acht gesagt. Er würde doch nicht …?

Sie verharrte reglos. Vielleicht waren es Kinder, die sich einen Spaß erlaubten. Oder Touristen, die nach dem Weg fragen wollten. Jemand mit der falschen Adresse … Sie trat zur Tür, und gerade als sie durch den Spion blicken wollte, hörte sie ein Husten.

Sie blieb abrupt stehen, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Dieses Husten hätte sie überall erkannt. Sie brauchte nicht durch den Spion zu blicken, um zu wissen, wer vor ihrer Tür stand: ein Mann mit kantigem Gesicht (inzwischen vielleicht mit einem Ansatz von Hängebacken), mit grau meliertem Haar, einem breiten, meist grinsenden Mund und dunklen, seelenvollen Augen, die sie um Vergebung anflehten.

Sie wagte nicht, sich zu regen, flehte stumm, er würde einfach wieder gehen.

Nach einigen Sekunden rief er: »Fitch, ich habe das Licht ausgehen sehen! Ich weiß, dass du da bist!« Sie zuckte abermals zusammen.

O Gott, Jasper! Die Nachbarn! Sie wollte nicht, dass sie oder ihr Sohn etwas mitbekamen.

Sie wich einen Schritt zurück und trat dabei auf eine knarrende Holzdiele. Sie erstarrte. Das konnte er nicht gehört haben, oder?

Aber schon sagte er, leiser: »Ich weiß, dass du da bist, Fitch.« Wie nahe er klang. »Mach auf, bitte! Fitch, ich bitte dich!«

Sie starrte wie hypnotisiert auf die Tür. Seine Stimme weckte so viele Erinnerungen. Sie hielt sich die Ohren zu, aber es nutzte nichts. Sie konnte weder ihn noch ihre Erinnerungen aussperren, denn sie lebten in ihrem Inneren, in ihrem Kopf.

»Ich will doch nur kurz mit dir reden.«

Sie kniff die Augen zu und wünschte, er würde verschwinden. Sich umdrehen und gehen. Sie hatte ihre Gefühle unmissverständlich klargemacht. Sie hatte jeden Brief, jede Karte, jede E-Mail ignoriert. Er wusste, sie würde nicht öffnen, das tat sie nie.

»Fitch, bitte! Du kannst mich nicht für immer ignorieren.«

Doch, das konnte sie sehr wohl. Sie tat es seit sechs Jahren. Und würde es noch sechs Jahre tun. Und noch mal sechs und noch mal … Sie wartete, zwang sich, tief durchzuatmen. Er würde schon wieder gehen. Musste er ja. Allein die Kälte würde ihn bald vertreiben, wenn schon sonst nichts.

»Na gut, dann mach ich’s halt so.« Sie hörte ihn durch das dicke Holz der Tür seufzen. »Ich muss dir was sagen.«

Interessierte sie nicht. Sie wollte es nicht hören.

»Gisele ist schwanger.«

Lee nahm die Hände von den Ohren. Der Satz landete wie ein Haufen Wackersteine in ihrem Bauch, und einen Moment lang schwankte der Boden unter ihren Füßen. Gisele war schwanger. Das überraschte Lee – und doch auch wieder nicht. Irgendwann hatte es ja so kommen müssen. Die beiden waren jetzt seit drei Jahren verheiratet, und Gisele war noch jung. Natürlich wollte sie Kinder von ihm, wollte eine Familie gründen.

Aber glaubte er wirklich, dass sie das interessierte? War er deshalb plötzlich wieder hier aufgetaucht und stand sich jetzt bei dieser Kälte die Beine in den Bauch? Glaubte er vielleicht, mit einem Mal ein besserer Mensch zu sein, bloß weil er Vater wurde? War es dafür nicht ein bisschen spät? Sie spürte, wie sich etwas in ihr verhärtete. Zorn schoss jäh in ihr auf und riss sie aus ihrer Lähmung. Sie wandte sich ab und stieg entschlossen die Treppe hinauf, ließ seine Stimme hinter sich zurück, obwohl ihr das Herz noch immer bis zum Hals schlug.

»Bitte, Fitch, lass mich kurz rein. Nur fünf Minuten, mehr verlange ich gar nicht …«

Sie betrat den hell erleuchteten Wohnbereich und dimmte das Deckenlicht ein wenig. Jasper rutschte auf dem Fußboden herum und spielte mit seinem ferngesteuerten Spielzeugauto, das ihm sein Patenonkel Noah vor ein paar Wochen »einfach so« geschenkt hatte. Im Fernseher lief LEGOStar Wars und sorgte für die Geräuschkulisse, die Cunninghams Flehen glücklicherweise übertönte.

»Hast du Hunger?« Lee öffnete den Vorratsschrank.

Natürlich hatte sie wieder einmal keine Zeit zum Einkaufen gehabt und konnte nur hoffen, etwas Essbares zu finden. Für gewöhnlich nahm sie mit dem vorlieb, was eben da war – geplant war fast nie etwas, und das Ergebnis war selten gelungen, aber Jasper und sie gediehen trotz dieser etwas bizarren Kost. Sein Lieblingsgericht war ihr Würstchenauflauf, der jedes Mal anders schmeckte, egal wie oft sie ihn kochte.

»Und wie!«

»Na gut, dann …« Sie starrte in den Schrank, als müsste sie eine knifflige Matheaufgabe lösen. Es war zwar erst halb sechs, aber ihre Essenszeiten richteten sich nun mal nach Jaspers Magen. »Wie wär’s mit Spaghetti arrabbiata?«

»Och, heute Mittag im Kindergarten gab’s auch schon Nudeln.«

»Ach, Schätzchen, das ist ein Erste-Welt-Problem.« Sie ging zum Kühlschrank und nahm eine Packung Pancetta heraus. »Du stirbst schon nicht, bloß weil du zweimal am Tag Nudeln bekommst.«

Sie setzte Wasser auf und suchte im Vorratsschrank nach einer Dose Tomatensoße. Hoffentlich war noch was da. Sonst müsste sie Ketchup verdünnen wie beim letzten Mal. Während die Nudeln kochten, machte Lee Feuer im Kamin, einem schönen barocken Marmorkamin. Später, beim Essen, schlürften sie Spaghetti um die Wette. Danach nahmen sie zusammen ein heißes Bad, machten es sich auf dem Sofa gemütlich und schauten noch ein bisschen fern, bis es für Jasper Zeit fürs Bett war und sie ihm noch eine Gutenachtgeschichte vorlas. Das war ihre übliche Donnerstagabend-Routine, die gleiche Routine wie am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und auch am Freitag. Daran änderte sich nie etwas – warum auch? Lee wusste, dass das ein Luxus war. Sie musste auf dem Heimweg keinen Hinterhalt befürchten oder gar einen Bombenregen, wenn sie zum Einkaufen radelte. Hier war das Leben ruhig und monoton und vorhersehbar. Es war sicher. Mehr wünschte sie sich nicht für ihren Sohn.

»Ich hab dich lieb, Jazz.«

»Hab dich auch lieb, Mama«, antwortete er, die Bettdecke bis unters Kinn gezogen.

Sie streichelte die zarte Haut seiner Wange, spürte, wie rau ihre Finger im Vergleich dazu waren. »Küsschen«, sagte sie.

Jasper spitzte die Lippen, und sie gab ihm einen Kuss auf sein rosiges Mündchen. Dann nahm sie einen Moment lang dieses perfekte kleine Gesicht zwischen ihre Hände und bewunderte es hingerissen. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Schlaf gut, mein kleiner Mann!«

»Du auch, Mama!«, sagte er ernsthaft und musterte sie besorgt und ängstlich.

»Ach, keine Sorge, das werde ich ganz bestimmt.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf seine Nasenspitze und zwinkerte ihm zu.

Sie navigierte sich durch das Minenfeld an Legosteinen, die seinen Teppich bedeckten, und zog dann behutsam seine Zimmertür hinter sich zu. Sie verharrte einen Moment lang im Gang und hörte, wie er sich zur Seite drehte und leise etwas zu Ducky sagte, seiner heiß geliebten Kuschelente. Dann ging sie den Korridor entlang in ihr eigenes Schlafzimmer. Das Bett war ungemacht, weil sie in der Hektik heute früh keine Zeit dafür gehabt hatte. Jetzt brauchte sie es auch nicht mehr zu tun, sie würde ja in ein paar Stunden ohnehin wieder darin schlafen.

Sie legte den Bademantel ab und schlüpfte in eine schwarze Marlene-Hose und einen schwarzen Pulli mit tiefem V-Ausschnitt. Auf Unterwäsche verzichtete sie; die war um diese Uhrzeit genauso unnötig wie ein ordentliches Bett. Das noch ein wenig feuchte Haar verknotete sie locker im Nacken und ging dann barfuß hinunter ins Wohnzimmer. Der Raum war in seinen Maßen mehr als großzügig, die Möblierung dagegen nicht. Der Großteil ihres Budgets war für die Renovierung des Hauses draufgegangen. Die Holzfundamente waren verfault gewesen und mussten durch Betonfundamente ersetzt werden, was auch bedeutete, dass das Parkett im Erdgeschoss herausgerissen und neu verlegt werden musste. Es war nicht einfach gewesen, aus dem ersten Stock einen einzigen großen Wohnraum zu machen – und daher auch nicht billig. Die Handwerker hatten mit höchster Achtsamkeit arbeiten müssen, um den herrlichen alten Rokoko-Stuck an den Wänden und der Kassettendecke nicht zu beschädigen.

Nachdem das Knochengerüst des Hauses wieder intakt gewesen war, hatte sie den Rest möglichst schlicht gehalten: weiße Wände, eine freistehende schwarze Küche, die sie sich vom Bekannten eines Bekannten hatte zimmern lassen. Ihre Freunde kritisierten ab und an, wie spärlich möbliert das Haus war, und waren der Meinung, Lee müsse sich unbedingt »mehr Zeug« anschaffen. Doch es wäre ihr reichlich seltsam vorgekommen, irgendwelche Dinge zu kaufen, nur um die Räume zu füllen. Es gab genügend Stühle, der Esstisch war groß genug für alle, die sie einlud, es gab Betten für sie und Jasper und für einen Übernachtungsgast, den sie ohnehin nie hatte. Es gab Sofas, Bücherregale … Was brauchten sie mehr? Sie hatten »genug«. Für alles andere hatte Lee zu lange an Orten gelebt, an denen man bereits zu den Privilegierten gehörte, wenn man mehr als das absolute Minimum besaß.

Gisele war also schwanger.

Diese Tatsache traf Lee erneut mit voller Wucht. Es ließ sich zwar vorübergehend verdrängen, aber nicht vergessen. Sie ging zum Vorratsschrank und nahm ihren Lieblingswhisky aus dem obersten Fach. Sie schenkte sich einen Eierbecher voll ein – eine alte Gewohnheit, die sie nicht ablegen konnte – und leerte ihn in einem Zug. Unwillkürlich schloss sie die Augen und spürte dem Brennen in ihrer Kehle und ihrem Magen nach. Sie mochte das. Mochte es wegen der Erinnerungen an ein intensiveres, gefahrvolleres Leben, die es in ihr wachrief. An ein Leben, in dem es nur das Hier und Jetzt gegeben hatte, in dem ihre Arbeit Sinn ergeben, in dem das Leben selbst Sinn ergeben hatte, gerade weil überall der Tod lauerte. Jetzt war sie zwar in Sicherheit, aber manchmal hatte sie die Befürchtung, dass gerade dieses »zahme« Leben, so bequem und weich gepolstert, sie verwirrte und ihr ein Gefühl von Verlorenheit gab.

Sie hätte am liebsten noch einen Whisky getrunken, zwang sich aber, die Flasche wieder in den Schrank zu stellen und stattdessen zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen. Auf Gläser verzichtete sie nach kurzer Überlegung und ging barfuß nach unten ins Erdgeschoss, wo sie die Bierflaschen auf das Nachttischchen im Gästezimmer stellte. Dann strich sie die Tagesdecke glatt. Ein letzter Rundumblick, und in diesem Moment hörte sie auch schon das dezente Klopfen an der Haustür – nicht die Klingel, ganz nach Anweisung. Sie wollte nicht, dass Jasper gestört wurde.