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Nur noch drei Tage bis Weihnachten. Die ersten Schneeflocken rieseln vom Himmel, als Libby und ihr neuer Freund Max zu einem Treffen mit alten Unifreunden nach Yorkshire fahren. Archie, der Herzensbrecher der Gruppe, hat alle in das wunderschöne Herrenhaus seiner Familie eingeladen. Der Abend ist ein voller Erfolg, doch als die Gäste zu später Stunde abreisen wollen, sind die Straßen vollständig vom Schnee blockiert. Und dann fällt auch noch der Strom aus. Bei Kerzenlicht schwelgen die Freunde in Erinnerungen an alte Zeiten, und so manches Geheimnis kommt ans Licht. Dabei wird Libby mit Gefühlen konfrontiert, die sie jahrelang verdrängt hat …
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Seitenzahl: 503
Nur noch drei Tage bis Weihnachten. Die ersten Schneeflocken rieseln vom Himmel, als Libby und ihr neuer Freund Max zu einem Treffen mit alten Unifreunden nach Yorkshire fahren. Archie, der Herzensbrecher der Gruppe, hat alle in das wunderschöne Herrenhaus seiner Familie eingeladen. Der Abend ist ein voller Erfolg, doch als die Gäste zu später Stunde abreisen wollen, sind die Straßen vollständig vom Schnee blockiert. Und dann fällt auch noch der Strom aus. Bei Kerzenlicht schwelgen die Freunde in Erinnerungen an alte Zeiten, und so manches Geheimnis kommt ans Licht. Dabei wird Libby mit Gefühlen konfrontiert, die sie jahrelang verdrängt hat …
Weitere Informationen zu Karen Swan
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
Karen Swan
Roman
Aus dem Englischen von Sylvia Strasser
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Christmas by Candlelight« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung September 2024
Copyright © 2023 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München, nach einem Design von Pan Macmillan
Covermotive: Schneeflocken © FinePic®, München
Redaktion: Beate De Salve
LS · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31659-4V001
www.goldmann-verlag.de
Für Tina – die original Teabag und meine allerbeste Freundin
L ibby hob eine Sekunde lang den Kopf, als sie flüsternde Stimmen zwischen den Bücherstapeln hörte, und vertiefte sich dann aufs Neue in ihre Lektüre, wie eine Träumerin, die kurz an die Oberfläche des Schlafs trieb. Der Begriff »Zeit« hatte schon lange jegliche Bedeutung verloren. Die Straßenbeleuchtung war bereits vor Stunden eingeschaltet worden, und die leere Verpackung des Schokoriegels auf dem Tisch war der Beweis dafür, dass sie etwas gegessen hatte – nur für den Fall, dass ihre Mutter ihr eine Nachricht schicken und danach fragen sollte.
Plötzlich wurden ihr Hände auf die Schultern gelegt, pressten sich Wangen an ihre Wangen.
»Da bist du ja!«, flüsterte jemand so laut, dass es durch die halbe Bibliothek zu hören war.
»Hey! Was macht ihr denn hier?«, zischte Libby und drehte sich um. Hinter ihr standen, dicht nebeneinander, Zannah, Coco und Ems.
»Wir haben dich von draußen gesehen«, erwiderte Coco aufgeregt. »Wir haben gerufen und gewinkt wie die Verrückten, aber du hast nicht mal aufgeschaut!«
»Doch, hat sie«, verbesserte Ems, »aber sie hat nicht rausgeschaut. Sag mal, was machst du denn um diese Zeit noch hier, Libby?«
»Wie spät ist es denn?«
»Viertel vor zwölf!«
»Oh.« Libby ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen. Nur noch einige wenige Leute – dieselben wie immer – saßen an den Tischen der tagsüber gut besuchten Bill-Bryson-Bibliothek der Universität Durham. »Ich will bloß noch diese Hausarbeit fertigstellen.«
»Logisch.« Zannah nickte. »Wann musst du sie denn abgeben?«
»Am Dienstag.«
Zannahs Brauen schossen in die Höhe. »Am Dienstag. Und du sitzt fünf Tage vorher bis Mitternacht daran, weil …?« Sie ließ ihre Hand kreiseln, während sie auf Libbys Antwort wartete.
»Ich rechtzeitig fertig sein will?«
»Ts, ts«, machte Zannah. Dann seufzte sie und sah die anderen an, wobei sie vielsagend die Augen verdrehte. Die wunderschönen, rötlich schimmernden Haare lagen wie ein Pelzcape auf ihren Schultern, und grüner Lidschatten betonte die strahlend blauen Augen.
»Libs, ich muss morgen um zwölf eine Seminararbeit abliefern. Ihre Bewertung macht zwanzig Prozent meiner Abschlussnote aus, und ich hab bis jetzt ungefähr zehn Prozent geschafft«, verriet Coco, eine Hand auf dem Herzen. »Aber unter Druck arbeite ich nun mal am besten.«
»Ehrlich?« Libby starrte sie verblüfft an. Möglicherweise waren die Anforderungen für einen Abschluss in Psychologie geringer als die in Jura, dennoch war sie nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie man eine so wichtige Arbeit auf den letzten Drücker erledigen konnte. Schließlich hing ihre ganze Zukunft von ihren Leistungen ab. Oder war für Cocos Zukunft sowieso schon gesorgt? Reiche Eltern, die richtigen Schulen, Beziehungen …
»Mach nicht so ein Gesicht! Ich hab ja noch den ganzen Vormittag Zeit dafür.«
»Du willst das morgen früh erledigen? Du bist nicht hergekommen, um jetzt damit anzufangen?«
Libby beobachtete, wie ihre drei Mitbewohnerinnen sich regelrecht krümmten vor Lachen, so als hätte sie etwas richtig Dummes gesagt.
»O Libs, du bist echt zum Schießen!«, japste Zannah. »Zehn Minuten vor Mitternacht hierherkommen, um zu arbeiten, und das am Geburtstag deines Mitbewohners! Das ist wirklich der Brüller!«
»Hä?« Libby guckte die drei verständnislos an.
Ems grinste. »Charlie feiert doch heute seinen Einundzwanzigsten, Dummerchen!«
»O Scheiße, im Ernst?«
»Ja, klar. Hast du denn unsere Nachrichten nicht bekommen? Wir haben dir den ganzen Tag gesnappt.«
»Nein, ich …« Sie warf einen Blick auf ihre am Boden stehende Tasche. »Ich hab alles auf stumm geschaltet. Ich wollte nicht abgelenkt werden. Es war so ein Scheißtag.«
»O nein, Schätzchen, nein, nein, nein!« Zannah schüttelte energisch den Kopf. »Ich war beim Zahnarzt und beim Frauenarzt für einen Abstrich. Das ist ein Scheißtag. Und trotzdem geh ich aus.« Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Kannst du das toppen?
»Wir treffen uns mit den Jungs im Klute«, sagte Ems. »Du musst unbedingt mitkommen.«
»Nein, ausgeschlossen.« Libby lehnte sich zurück. »Ich kann wirklich nicht.«
»O doch, du kannst«, beharrte Coco. »Alle für eine und eine für alle, vergiss das nicht.«
Das war das Motto der Mädels und wurde normalerweise immer dann zitiert, wenn eine von ihnen fest entschlossen war, eine falsche Entscheidung zu treffen. Ging eine unter, würden sie alle miteinander untergehen.
»Wir werden nicht ohne dich von hier weggehen«, betonte Zannah. Dabei ging sie vor Libby in die Hocke und stellte Blickkontakt her, womit sie ihr zu verstehen gab, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde. »Erstens sitzt du seit Stunden hier – wieder einmal –, und zweitens wäre es schäbig, nicht zu seiner Geburtstagsparty zu kommen.«
»Es wird doch gar nicht auffallen, wenn ich nicht da bin!«
»Sagt wer? Charlie steht total auf dich«, sagte Zannah so laut, dass jemand an einem der anderen Tische sich vorwurfsvoll räusperte. Libby schaute ihre Mitbewohnerin ungläubig an. Die nickte. »Zu dir ist er viel netter als zu mir.«
»Das liegt daran, dass du immer sein Brot aufisst.«
»Quatsch. Er futtert andauernd mein Granola«, erwiderte Zannah achselzuckend. »Nein, er hält dich für einen besseren Menschen als den Rest von uns. Er meint, du seist die Einzige im Haus mit einem moralischen Kompass.«
»Damit meint er bloß, dass ich noch Jungfrau bin!«
Alle lachten.
»Was aber nicht stimmt«, schob Libby hinterher. Allerdings hatte in den drei Jahren, die sie nun bereits hier lebte, noch nie ein Mann bei ihr übernachtet, und die wenigen Male, die es zu Fummeleien gekommen war, waren total enttäuschend und nicht der Rede wert gewesen.
»Jaja, schon gut. Du kommst mit, basta«, sagte Zannah im Befehlston und klappte Libbys Nachschlagewerk zu. »Du brauchst Hilfe, und wir sind das Interventionsteam. Du hast selbst gesagt, dass die Hausarbeit erst in fünf Tagen fertig sein muss. Guck dir Coco an! Sie sitzt wirklich in der Scheiße, und sie flippt nicht aus! Wenn sie Zeit hat, hast du erst recht Zeit. Also los!«
»Aber ich … ich bin doch gar nicht richtig angezogen fürs Klute«, protestierte Libby, während Ems ihre Bücher einzupacken begann und Zannah sie am Arm hochzog.
Prüfend betrachteten die Freundinnen Libbys Jeans, das Adidas-Sweatshirt aus dem Secondhandladen und die Vans, dann zogen sie die hübschen Augenbrauen zusammen.
»Was hast du denn unter dem Sweatshirt an?« Ohne die Antwort abzuwarten, riss Zannah es nach oben.
»Bloß ein Unter…«
»Super, das passt doch.«
»Ich kann doch nicht im Unterhemd gehen«, zischte Libby und schaute sich hastig um, ob jemand zuhörte. »Außerdem hab ich keinen BH an.«
»Im Ernst?« Ems, die ebenfalls Körbchengröße D hatte, fand das offenbar reichlich gewagt.
»Sieht doch keiner, wenn ich den ganzen Tag hier in der Bibliothek sitze.«
»Kein BH, umso besser«, rief Zannah in einer solchen Lautstärke, dass sich viele Köpfe in ihre Richtung drehten.
Unwillkürlich verschränkte Libby die Arme vor den Brüsten, die ihrer Meinung nach immer schon viel zu groß gewesen waren, weshalb sie sie gern unter weiter Kleidung versteckte. Ihr älterer Bruder Rick zog sie ständig damit auf, dass sie in der Pubertät eines Morgens mit einem völlig eskalierten Körper aufgewacht sei.
»Nein, keineswegs!«, widersprach Libby. »Außerdem ist es nicht nur der BH – guck dir bloß mal meine Haare an!«
»Wieso, was ist damit?« Zannah runzelte die Stirn.
»Und ich trag kein Make-up …«
»Ich hab alles dabei, was du brauchst, keine Sorge.« Coco lächelte ihr beruhigend zu. »Du kannst dich auf dem Klo aufbrezeln.«
Inzwischen hatten ihre Freundinnen all ihre Bücher eingepackt. Jetzt nahmen sie Libby in die Mitte und bugsierten sie Richtung Treppe.
»Nein, Leute, im Ernst, ich kann wirklich nicht …«, protestierte sie halb lachend, als die drei sie zwischen sich nach unten eskortierten wie eine Verdächtige, die abgeführt wurde. Die Leute starrten zu ihnen herüber und verfolgten sichtlich verblüfft, wie sie, die Stille, Disziplinierte, Sanftmütige, von den anderen zum Ausgang gedrängt wurde. Ihre Mitbewohnerinnen genossen den Ruf, echte Partygirls zu sein.
»Hm?«, machte Zannah und hakte sich bei Libby unter, um jeden Fluchtversuch im Keim zu ersticken. »Hat sie was gesagt?«
»Ich hab nichts gehört«, erwiderte Ems achselzuckend und schlenkerte fröhlich mit den Armen.
Coco kramte ein paar Mini-Wodkafläschchen aus ihren Taschen und hielt sie Libby hin. »Na dann, ex und hopp!«
Libby sah die anderen nacheinander an. Sie wusste, dass sie morgens um neun eine Vorlesung hatte. Doch sie wusste auch, dass ihre Freundinnen das nicht im Geringsten interessierte. Also gab sie sich geschlagen. Seufzend und unter dem Jubel der Mädchen griff sie nach den Fläschchen, während sie durch die Glastüren in die Nacht hinausgeschoben wurde.
»Charlie!«, schrie Libby über die Menschenmenge hinweg, die sich in dem kleinen, überfüllten Club mit der niedrigen Decke und dem klebrigen Fußboden drängte. Er war nur drei Personen entfernt und schien dennoch unerreichbar weit weg zu sein.
»Liiibs!« Er winkte, ruderte auf sie zu und zog sie an sich. Sein Gesicht war gerötet und sein dunkelblondes Haar verschwitzt. Wäre er nicht in der Menge eingekeilt gewesen, hätte er sich vermutlich kaum noch auf den Beinen halten können. Er und die anderen tranken ja schon seit Stunden. Libby bekam gerade noch die Schlussphase des Saufgelages mit.
»Alles Gute zum Geburtstag, Charlie!«, sagte sie und umarmte ihn.
»Hier, für dich«, nuschelte er und drückte ihr ein Shot-Glas in die Hand.
»Ich kann nicht, ich muss …«
»Austrinken! Befehl des Geburtstagskindes!«
»Na schön, meinetwegen.« Sie stürzte den Drink hinunter und schauderte. Bubblegum-Wodka. Sie hatte auf dem Weg in den Club schon vier Fläschchen davon getrunken.
»Und noch einen!« Er streckte ihr ein zweites Glas hin.
»Charlie!«, protestierte sie. Wo bekam er denn den Nachschub so schnell her?
Sie spähte an ihm vorbei und entdeckte Rollo an der Bar – einen Ellenbogen auf die Theke gestützt, als wäre er ein Stammgast in seiner Lieblingskneipe –, wie er volle Gläser in Charlies Richtung schob.
»Bitte, trink es!«, flehte der. »Du tust mir einen Riesengefallen damit! Ich kann dich schon dreifach sehen.«
»Oh.«
»Die wollen mich abfüllen«, klagte er schwankend. »Ich bin so sternhagelvoll, dass ich mein eigenes Gesicht nicht mehr spüre.«
»Dann sag doch einfach Nein.« Libby nahm ihm das Glas ab und leerte es in einem Zug.
»Hier? Wo sie alle gekommen sind? Ich bin ihr Gefangener. Hicks«, entschlüpfte es ihm.
»Dann sind wir schon zwei«, erwiderte Libby grinsend. »Die Mädels haben mich gerade aus der Bibliothek entführt.«
»Und das völlig zu Recht!«, sagte Charlie und hickste erneut. »Archie hat gemeint, er hätte dich um die Mittagszeit dort gesehen, und gewettet, dass du noch um Mitternacht dort sitzen wirst.«
»Dann hat er die Wette verloren. Die Mädels haben mich um zehn vor zwölf rausgeholt.«
»Wunderbar! In dem Fall gehören die zehn Mäuse mir.« Stolz zeigte er mit einem Daumen auf seine Brust und schaute dabei an sich herunter, wie um sicherzugehen, dass sein Daumen das Ziel nicht verfehlte. Dann bemerkte er plötzlich, dass Libby nur ein Hemdchen und nichts darunter trug, und riss die Augen auf. »Wow!«, entfuhr es ihm. »Libs! Du siehst echt fantastisch aus!« Sein Mund stand sperrangelweit offen, während er sie anstarrte. »Ich meine, das konnte doch keiner ahnen!«
»Was konnte keiner ahnen?«
»Na, dass du so … sexy bist!«
Libby wusste nicht, ob sie beleidigt sein oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Aber inzwischen hatte sie so viel getrunken, dass es ihr im Grunde egal war.
»Wahrscheinlich sollte ich jetzt ›Danke‹ sagen«, meinte sie und zog den Ausschnitt ihres Tops ein bisschen höher.
Coco hatte sie geschminkt, als sie in der Schlange vor dem Eingang gewartet hatten, während Zannah ihr die langen dunkelbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
»Du … du solltest dich öfter so anziehen. Du bist etwas ganz Besonderes, Libs«, lallte Charlie. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«
»Nett von dir, aber meine Titten sind nicht mein Licht, weißt du? Wo sind eigentlich die anderen?«, fragte sie, um von sich abzulenken, während die Menge mit wechselndem Druck um sie herum wogte.
»Oh, irgendwo dort drüben.« Er zeigte dorthin, wo Coco und Zannah, beide groß und sogar in dem überfüllten Club leicht auszumachen, sich angeregt mit ein paar Rugbyspielern unterhielten und gelegentlich lachend ihre glänzenden Mähnen zurückwarfen.
Libby wünschte, sie hätte etwas von der Zwanglosigkeit, mit der ihre Freundinnen Kontakte knüpften. Sie wirkten immer so aufregend. So, als könnte man Spaß mit ihnen haben, während sie selbst andauernd viel zu beschäftigt war.
Sie beobachtete, wie Charlie zu Coco hinübersah. Dabei presste er die Kiefer aufeinander und lockerte sie wieder, was aussah, als wolle er innerlich Schwung holen. Eine Marotte.
»Warum sagst du es ihr nicht einfach?«, fragte Libby. Sie war beschwipst genug, um das Thema endlich mal zur Sprache zu bringen.
Charlies Kopf fuhr herum. Anscheinend bemerkte er erst jetzt, dass sie ihn beobachtete. Seufzend schloss er die Augen. Er war viel zu betrunken, als dass er auch nur versucht hätte, es abzustreiten.
»Kann nicht.«
»Und warum nicht? Du bist doch total verrückt nach ihr.«
Sein Kopf kippte unkontrolliert hin und her. »Weil sie mich in die Friendzone verbannt hat, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«
»Sie findet dich richtig süß. Das hat sie mir einmal ganz im Vertrauen gestanden. Sie mag deine Augen und sagt, du hast einen Mund, den man einfach küssen muss.«
»Ehrlich?« Kurz hellte sich seine Miene auf, und er berührte automatisch seine Lippen. Dann senkte er den Blick, wobei er wieder ein wenig schwankte, und murmelte: »Nein, ich kann nicht. Das wäre nur peinlich. Sie sieht in mir keinen Mann zum Verlieben. Ich sei wie der große Bruder, den sie nie hatte, hat sie einmal zu mir gesagt.«
»Du bist doch einen Monat jünger als sie«, stellte Libby verwundert fest. Coco hatte ihren Geburtstag in den Osterferien mit fünfzig Gästen im »richtigen« Ivy in London gefeiert. Libby hatte nicht dabei sein können. In den Ferien arbeitete sie in einer Bäckerei zu Hause in Herefordshire, und allein für die Bahnfahrt wäre ein Tageslohn draufgegangen.
»Ich weiß. Sagt doch alles.« Charlie zuckte mit den Schultern und hickste gleichzeitig. »Und vergiss die Hausregeln nicht.«
Libby biss sich auf die Unterlippe. Zu Beginn ihres Mietverhältnisses – und kurz vor Libbys Einzug – hatten die anderen Regeln für ihr Zusammenleben aufgestellt: kein schmutziges Geschirr in der Spüle stehen lassen (wurde regelmäßig ignoriert), die Waschmaschine nicht permanent mit Beschlag belegen (die Jungs hatten sie noch nicht ein einziges Mal benutzt), nichts Essbares von anderen klauen (ein sinnloses Gebot), nicht mit anderen Mitbewohnern rummachen.
»Ach, komm schon, du weißt selbst, dass die sehr großzügig ausgelegt werden.«
»Aber Coco glaubt nun mal fest daran. Sie sagt, die Atmosphäre im Haus würde darunter leiden, wenn jeder mit jedem rummacht.«
»Sie hat doch auch mit Archie rumgemacht!«
»Wer nicht?«, sagte Charlie stöhnend. »Aber das war im ersten Jahr. Das zählt nicht.«
»Letztes Jahr auch.« Behauptete zumindest Zannah.
»Im Ernst?« Er verzog das Gesicht, als Libby nickte. »Fuck.« Mit bekümmerter Miene fuhr er sich durchs Haar.
»Du weißt doch, dass das nichts zu bedeuten hat.«
»Das macht es nur noch schlimmer! Archie hat was mit ihr gehabt, und für ihn war es völlig unwichtig. Während ich … ich …« Wieder schaute er mit unverkennbarer Sehnsucht im Blick zu Coco hinüber.
Libby legte ihm eine Hand auf den Arm. »Schön, sie hat dich in die Friendzone verbannt. Dann sorg dafür, dass sie dich in einem anderen Licht sieht. Du bist so ein liebenswerter, anständiger Mensch. Du hast immer ein offenes Ohr für andere. Bei dir gibt es nie irgendwelche Dramen. Das ist vielleicht ein Fehler.«
»Wie bitte? Du meinst, ich sollte dramatischer auftreten?«, spottete er.
»Ja! Sei energischer. Hör auf, ständig Rücksicht zu nehmen. Geh rüber, und sag ihr klipp und klar, was du willst! Coco steht auf selbstbewusste Typen.«
»Ich bin selbstbewusst.«
»Ja, in deinen Mathevorlesungen«, brummte Libby. Er war genauso introvertiert wie sie, was auch der wahre Grund war, weshalb er sie mochte. Nicht irgendein moralischer Kompass. »Na los, versuch dein Glück! Mut hast du dir ja schon angetrunken. Riskier es, bevor dir einer von den Rugbyjungs zuvorkommt.«
»Meinst du? Was soll ich denn sagen?«
»Sag ihr, dass sie das schönste Mädchen hier ist.«
»Okay. Ich tu’s«, murmelte er nach einem Augenblick. »Weil es die Wahrheit ist«, schob er, sichtlich schwankend, hinterher.
»Genau.«
Er drehte den Kopf und starrte ihr so ungeniert auf die Brüste, dass er vermutlich vor Scham im Boden versinken würde, wenn er wieder nüchtern war und sich daran erinnerte.
»Aber keine ist so sexy wie du, Libs.«
Peinlich berührt verschränkte sie die Arme vor der Brust. »O mein Gott, halt die Klappe! Jetzt geh endlich, und rede mit ihr!« Augenrollend gab sie ihm einen Schubs in Cocos Richtung und hoffte inständig, dass er diese Unterhaltung am Morgen vergessen hätte. »Sag ihr, dass du sie magst.«
»…kay«, nuschelte er.
Libby schaute ihm nach, wie er durch die Menge wankte, und fragte sich, ob sie ihm – und Coco – wirklich einen Gefallen getan hatte. Der Alkohol verfehlte seine Wirkung nicht, er beeinträchtigte ihr Urteilsvermögen.
Für eine Sekunde schloss sie die Augen und spürte, wie die Bässe in ihrer Brust vibrierten. Dann schaute sie sich suchend nach Ems um, doch die lehnte knutschend mit Prock an einem der Holzpfosten. Rollo flüsterte einem Mädchen etwas ins Ohr, und so wie sie, wiehernd vor Lachen, den Kopf zurückwarf, würde er voraussichtlich Glück bei ihr haben. Archie war nirgends zu sehen, was aber nicht verwunderlich war, weil er normalerweise mit glamouröseren Leuten abhing und höchstwahrscheinlich auf irgendeinem Schloss feierte oder in Edinburgh an einem formellen Dinner teilnahm.
Libby beobachtete Charlies mühsamen Weg durch die Menge. Coco und Zannah waren immer noch mit der Nummer acht und dem Flügelstürmer beschäftigt. Sie war beim Betreten des Clubs von ihnen getrennt worden, als sie ein paar Kommilitoninnen getroffen und sich mit ihnen unterhalten hatte.
Keine gute Idee. Sie hätte ihren Mitbewohnerinnen nicht von der Seite weichen sollen. Die Gruppe gab ihr Sicherheit, und das Image der anderen färbte auf sie selbst ab. Natürlich hätte sie einfach zu ihnen hinübergehen können, aber sie waren ihr in puncto Alkoholkonsum weit voraus, und sie war nicht annähernd betrunken genug, um einfach irgendeinen Mann anzumachen.
Libby war nicht so wie ihre Freundinnen. Es brauchte mehr als ein hübsches Gesicht und Muskeln, um sie anzutörnen. Jeder Versuch, es dennoch »durchzuziehen«, hatte mit einem Gefühl von innerer Leere geendet.
Während sie die anderen beim Flirten, Tanzen und Trinken beobachtete, empfand sie plötzlich eine pulsierende Einsamkeit, ein intensives Gefühl von Desorientiertheit. Sie war da und doch auch wieder nicht. Es tat weh, sich einzugestehen, dass sie nicht dazugehörte, dass es im Grunde niemanden interessierte, ob sie hier stand oder nicht. Sie hatte Charlie gesehen, ihm zum Geburtstag gratuliert und ein paar Minuten mit ihm geplaudert, und jetzt war ihre Anwesenheit überflüssig. Abrupt drehte sie sich um und bahnte sich einen Weg zum Ausgang.
Die lange Schlange, die sich in der Gasse vor dem Club gebildet hatte, war verschwunden. Libby fröstelte in der kalten Nachtluft und hielt unvermittelt inne. Jetzt erst fiel ihr ein, dass sie ihre Tasche mit ihrem Sweatshirt und den Büchern bei Cocos Sachen gelassen hatte. Eine Sekunde lang überlegte sie, ob sie wieder hineingehen sollte, aber dann würde sie möglicherweise wieder in ein Gespräch verwickelt werden, und das wollte sie nicht riskieren. Coco würde ihre Tasche schon mitnehmen.
Mit schnellen Schritten ging Libby weiter. Zum Glück war kaum jemand unterwegs. Die Leute waren entweder zu Hause im Bett oder im Club.
Zielstrebig, die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt, eilte sie durch die Straßen. Wo immer es möglich war, hielt sie sich im Schatten, angestrengt darum bemüht, nüchterner zu wirken als die wenigen Passanten, denen sie begegnete. Wie schön es wäre, wenn sie sich teleportieren, unsichtbar machen oder wenigstens ein Taxi leisten könnte.
Zwölf Minuten später bog sie in ihre Straße ein. Laute, betrunkene Stimmen drangen an ihr Ohr, und sie schaute erschrocken auf. Ein Paar stand mitten auf der Fahrbahn und stritt sich. Der Mann konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er torkelte wie ein Betrunkener in einer Komödie und fuchtelte mit den Armen, während die Frau ihn anschrie. Sie trug eine hautenge schwarze Lederhose und ein weißes Herrenhemd, dessen Zipfel sie um ihre schmale Taille geschlungen und verknotet hatte. Klobige Goldringe funkelten an ihren Händen.
Libby betrachtete das Mädchen, dessen androgyne Erscheinung sie faszinierte. Hoffentlich würde sie dieses Bild wenigstens einen Tag lang im Gedächtnis behalten. Und hoffentlich würde ihr Leben an irgendeinem Punkt in der Zukunft glanzvoller und sie selbst wie dieses Mädchen sein, und sei es nur für einen flüchtigen Augenblick.
Sie kramte die Hausschlüssel aus der Tasche ihrer Jeans, zog den Kopf ein und überquerte die Straße. Den Mann hatte sie sofort erkannt – Archie. Und sie wusste auch, wer der wütende Modefreak war, dessen Zeigefinger sich energisch in die Luft bohrte und dessen Ton nun noch schärfer wurde. Sie hieß Arabella Tait, und laut Durfess, dem Klatschportal von Durham, war ihr Name bereits zweimal in Tatler’s Little Black Book genannt worden. Außerdem hatte sie einen Auftritt in der Fernsehserie Made in Chelsea gehabt. Archie ging seit ein paar Wochen mit ihr, was im Haus für so viel Gesprächsstoff sorgte, dass Libby absurderweise ganz aufgeregt war, Arabella jetzt leibhaftig vor sich zu sehen. Wie es aussah, war der Hype völlig gerechtfertigt.
Arabella musste Libby zwischen den parkenden Autos bemerkt haben, denn der wüste Strom von Beschimpfungen geriet ins Stocken und brach schließlich ab. Sie warf den Kopf zurück, fuhr sich mit einer Hand durch die blonde Mähne und atmete so tief aus, als wäre sie ein Yogi. Offenbar half es ihr, zumindest ein Stück weit ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen.
Archie nutzte die Pause, um einen Arm nach ihr auszustrecken, hatte aber sichtlich Mühe, ihn oben zu halten.
»Belly«, nuschelte er. »Komm mit rein, dann … dann können wir über alles … reden. Ich mach’s wieder gut.«
»Fick dich, Archie!«
»Aber Belly …«
»Hör auf mit deinem ›Belly‹! Du bist eine Katastrophe, weißt du das? Du hast Probleme, Archie, verdammt viele sogar!«
Die beiden Frauen stellten kurz Blickkontakt her, während Libby näher kam, und Arabella musterte flüchtig die Vintage-Levi’s und das flaschengrüne Brandy-Melville-Baumwollhemdchen. Als Libby auf das Haus zuging und Arabella sah, um welches es sich handelte, drehte sie sich um und stolzierte mitten auf der Fahrbahn davon.
»Ruf mich nie wieder an, Archie!«, sagte sie drohend. »Ich werde dich überall blockieren!«
»Belly!«, winselte er und stolperte über seine eigenen Füße, als er ihr nachlaufen wollte. »Baby!«
Arabella drehte sich nicht ein einziges Mal um. Sie hatte bereits ihr Handy am Ohr, um irgendjemanden über ihren neuen Beziehungsstatus zu informieren.
Libby stand an der Haustür und wartete darauf, dass Archie, der sie noch nicht bemerkt hatte, sich endlich aufrappelte. Dieser Beziehungskrach ging sie nichts an und war auch nicht untypisch für Archie. Alle wussten, dass er nichts anbrennen ließ – er selbst beschrieb sich als »dekadent«. Für ihn war das also ein ganz normaler Donnerstagabend. Spätestens am Wochenende hätte er wieder eine Neue. Und dennoch …
Libby sah zu ihm hinüber. Er lag im Dunkeln auf dem Asphalt, an einer dunklen Stelle, die das Licht der Straßenlaternen nicht erreichte. Libby seufzte. Sie konnte die Schlagzeilen schon sehen: Adelsspross von Uber-Fahrer niedergemäht.
»Archie …« Sie steckte den Schlüssel wieder ein, wankte zu ihm und ging neben ihm in die Hocke, wobei sie, auf den Zehen balancierend, fast das Gleichgewicht verloren hätte und auf dem Po gelandet wäre. Sie war zwar nicht so betrunken wie er, aber deswegen noch lange nicht nüchtern. »Du musst aufstehen, Archie. Du kannst nicht hier liegen bleiben.«
»Wa…?« Stöhnend rollte er sich auf den Rücken und starrte zu ihr hinauf. Vermutlich sah er, genau wie Charlie, drei Libbys vor sich. »Wer …?«
»Ich bin’s. Libby. Deine Mitbewohnerin, weißt du noch?«
»Libby?« Er klang so verwirrt, als hätte er den Namen noch nie gehört.
Sie wandte den Blick ab. Von Neuem überkam sie ein Gefühl der Trostlosigkeit. Sie war da und doch auch wieder nicht. War sie tatsächlich so unscheinbar, dass sich nicht einmal ihr Mitbewohner an sie erinnerte?
»Hör zu, du musst von der Straße runter. Komm, steh auf. Wir müssen dich ins Haus kriegen, okay?«
Sie richtete sich auf, trat zurück und zog ihn am Arm. Sein Hemd war zerrissen, seine Jeans an einer Seite von oben bis unten verdreckt. Was hatte er denn gemacht? War er in einen Busch gesprungen? Aus ihr unerklärlichen Gründen zählte es zu den Lieblingshobbys der Studenten, in Büsche oder Hecken zu springen oder geworfen zu werden. Das und Leitkegel klauen. Einer stand noch im Bad der Jungs im ersten Stock; jemand hatte eine Klopapierrolle über die Spitze gestülpt.
»Jetzt komm, du musst schon mithelfen«, drängte sie, als er wie eine zerkochte Nudel da hing. »Ich schaff das nicht allein.«
»Nein …« Er runzelte die Stirn, während er immer noch versuchte, seinen Blick zu fokussieren. »Du bist ja winzig«, sagte er kichernd, als ob das zum Lachen wäre. Zu voller Größe aufgerichtet maß sie einen Meter sechzig.
»Steh auf, Archie!«
Irgendwie gelang es ihm mit ihrer Hilfe, auf die Füße zu kommen, doch damit war das Problem nicht gelöst. Er taumelte, schwankte und streckte Halt suchend die Arme aus. Libby konnte gerade noch verhindern, dass er wieder hinfiel.
»Hoppla!«, rief er lachend und mit weit aufgerissenen Augen, als sie ihn in Taillenhöhe am Hemd packte, damit er sich an sie lehnen konnte.
»Leg deinen Arm um meine Schultern, und stütz dich auf mich«, befahl sie, obwohl sie fast unter seinem Gewicht eingeknickt wäre, während sie in Richtung Haus stolperten. Wie zwei Kinder, die ihre Schnürsenkel zusammengebunden hatten, schlurften sie mit Tippelschritten und hinkend zur Haustür. Der Größenunterschied von fast dreißig Zentimetern erschwerte das Vorwärtskommen zusätzlich.
»Okay, bleib da stehen.« Libby lehnte Archie an die Rauputzwand neben der schmalen Trittstufe. Eine Hand auf seine Brust gepresst, damit er nicht umfiel, versuchte sie mit der anderen, den Hausschlüssel aus ihrer Hosentasche zu fischen. Dummerweise hatte sie ihn in das Münztäschchen gesteckt, wo er sich verklemmt hatte. »Grrr«, machte sie ärgerlich, »jetzt komm schon!«
»Libby«, lallte er, während er unter schweren Lidern hervor ihren Kampf mit dem Schlüssel beobachtete. »Libby! Die kenn ich …!«
»Das hoffe ich doch.«
»Aber …« Verwirrt die Stirn runzelnd, musterte er sie, bis sein Blick zu guter Letzt an ihren Brüsten hängen blieb. »Du bist nicht Libby.«
»Nein? Wer bin ich dann?« Das Babysitten ödete sie jetzt schon an. Für einen Mann, der so viel Ausstrahlung hatte, war er betrunken eine ganz schöne Nervensäge.
»Eine … richtig … heiße Braut«, flüsterte er und hob seinen Blick wieder.
Libby hatte das Gefühl, aufgefangen zu werden, obwohl ihr nicht bewusst gewesen war, dass sie fiel. Eine Sekunde lang war es, als würden sie die Seele des jeweils anderen wahrnehmen wie einen Schatten, der hinter ihren Augen vorbeihuschte.
Dann schnellte Archie vor – oder rutschte er an der Wand entlang? –, und sein Mund fand ihren mit einer Zielgenauigkeit, die nicht einmal von einer großen Menge Alkohol beeinträchtigt wurde. Seine Lippen wussten genau, was sie zu tun hatten, und sorgten dafür, dass Libby seinen Kuss automatisch erwiderte. Er roch nach Rauch und Miss Dior und schmeckte nach einem zweifellos teuren Single-Malt-Whisky. Genau so hätte sie es sich vorgestellt, wenn sie davon geträumt hätte, und doch konnte sie nicht glauben, dass Archie Templeton sie tatsächlich küsste.
Sie spürte, wie seine Hand höher glitt und liebkosend ihren Busen streichelte. Die Berührung ließ sie erschauern. Er stöhnte auf, als er feststellte, dass sie keinen BH trug. Libby erstarrte.
»Fuck«, flüsterte er heiser, löste sich von ihr und betrachtete sie ehrfürchtig staunend, als wäre sie etwas ganz Wunderbares. Einen Moment lang verharrten sie beide regungslos, Archies Hand immer noch auf ihrer Brust.
Dann übernahm ihr Verstand die Kontrolle.
Sie schnappte nach Luft und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
»Mach das nie wieder!«, zischte sie. »Fass mich nie wieder ohne meine Einwilligung an!«
»Tttt…«, stotterte er und zog seine Hand abrupt zurück. Sein Kopf fiel gegen die Wand, und auf seiner Wange erschien ein feuerroter Handabdruck. »Ttt… tut mir leid … Libby.«
Ihr Gesicht brannte, als sie endlich den Schlüssel aus der Hosentasche nestelte, aufschloss und die Tür aufstieß. Sie trat zur Seite, um ihm den Vortritt zu lassen. Sich mit beiden Händen an den Wänden entlangtastend, torkelte er im Zickzack zum Sofa, kippte über die Rückenlehne und landete schräg auf den Polstern.
Libby schloss die Tür und ging zum Sofa. Archie lag auf dem Bauch, ein Bein über der Sofakante baumelnd, und war praktisch schon weggetreten.
Sie betrachtete ihn – so schön und gleichzeitig so erbärmlich – und fragte sich, was er getan hatte, dass Arabella Tait ihn abserviert hatte. Morgen um diese Zeit wären sie bestimmt wieder zusammen. Sie gaben ein glamouröses Paar ab, die Schöne und der reiche Erbe. Menschen wie sie gehörten einfach zusammen. Weil sie zusammenpassten.
Libby holte den für solche Notfälle vorgesehenen gelben Eimer, stellte ihn neben Archies Kopf auf den Boden und stieg dann die Treppen hinauf, wo sie sich in ihrem Zimmer aufs Bett fallen ließ und an die Decke starrte, während sie die letzten Minuten Revue passieren ließ. Sie hatte immer noch Herzklopfen, und in ihrem Kopf herrschte Chaos. Die geordnete Ruhe der Bibliothek schien weit weg zu sein; das Mädchen, das dort den ganzen Abend fleißig gelernt hatte, war nicht dasselbe wie das auf diesem Bett – jedenfalls kam es ihr so vor. Sie hatte geglaubt, sich zu kennen, zu wissen, was ihre Ziele und Prinzipien waren, aber jetzt war die Welt irgendwie aus den Fugen geraten und eierte um ihre Achse. Seltsamerweise ärgerte sie sich nicht über Archies Zudringlichkeit. Sie hasste ihn auch nicht dafür.
Das sollte sie aber, und das war das Verwirrende daran. Archie war total betrunken und hatte nicht gewusst, was er tat, das war ihr klar. Genau wie ihr klar war, dass er sie nicht ohne ihre Einwilligung begrapschen durfte, und wenn er noch so betrunken war. Aber was ihr nicht in den Kopf wollte, war die Tatsache, dass sie ihn nicht instinktiv geohrfeigt hatte, sondern aus Konditionierung heraus.
Hätte sie auf ihren Instinkt gehört, hätte sie ihn gewähren lassen.
Zu ihrer eigenen Überraschung hatte es ihr nämlich gefallen. Und zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass sie es gewollt hatte.
Erst die unerwartete Berührung hatte sie schlagartig in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Archie würde sich bestimmt nicht daran erinnern; er war physisch da gewesen, mehr aber nicht. Und sie war in diesem Augenblick ganz allein gewesen. Wieder einmal.
Als sie um die Kurve bogen, wurden sie von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Wagens so stark geblendet, dass sie gleichzeitig die Sonnenblenden herunterklappten.
»So ein Arsch«, brummte Max.
Libby warf einen Blick in den Spiegel auf der Rückseite der Sonnenblende. Ihre Smokey Eyes hielten sich hervorragend, wenn man bedachte, dass sie das Make-up vor acht Stunden aufgetragen hatte. Aber ein Hauch Rouge könnte nicht schaden, oder? Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie in den schmalen Spalt hinter ihrem Sitz gequetscht hatte. Ein Coupé war schön und gut, solange man damit nirgendwohin fahren musste.
Sie tupfte sich ein bisschen Cremerouge auf die Wangenknochen. Obwohl es draußen kalt geworden war und Schneeflocken die Windschutzscheibe verschmierten, wollte Libby so aussehen, als wäre sie gerade über eine sommerliche Blumenwiese gehüpft.
»Wie fandest du das Kleid?«, wollte sie wissen.
Er zog eine Braue kaum merklich in die Höhe, und sein Blick löste sich für den Bruchteil einer Sekunde von der Straße. »Ja.«
Das war seine spöttische Standardantwort, wenn er seine Meinung nicht äußern wollte. Er war viel zu clever – und als Firmenanwalt viel zu gut ausgebildet –, als dass er sich selbst belastet hätte.
Libby kicherte. »Die Rüschen waren keine gute Idee.«
»Hmm.«
Max streckte die Hand aus und stellte einen anderen Radiosender ein. Je weiter sie in die North York Moors hineinfuhren, desto schlechter wurde der Empfang. Es knisterte und rauschte, als der Horizont sich absenkte und immer weiter zurückzog. Auch die Fahrzeuge waren jetzt andere: Statt kleiner, stadttauglicher Kombis und langer Lastzüge wie auf der Autobahn sah man nun Traktoren, Land Rover und andere Geländewagen.
Je mehr sich die Straßen verengten, desto nervöser wurde Max. Bei jedem entgegenkommenden Fahrzeug bremste er den tief liegenden, breiten Mercedes fast bis zur Schrittgeschwindigkeit ab, damit er nicht die Hecken am Straßenrand touchierte und den glänzenden Lack zerkratzte.
Aber die Fahrt zur Hochzeit hatte einen Riesenspaß gemacht. Die Sonne hatte auf der Windschutzscheibe geglitzert und Max’ Hand auf ihrem Schenkel gelegen. An jeder Tankstelle hatten sie die Blicke der anderen Kunden auf sich gezogen – er im Smoking und sie im marineblauen Seidenkleid von ME+EM, beide völlig overdressed.
Libby schaute gedankenverloren auf die Hochebene, wo in der hereinbrechenden Dämmerung einige Lichtpunkte auf erleuchtete Häuser hinwiesen. Sie war eine Ewigkeit nicht mehr in dieser Ecke der Moors gewesen. Eigentlich kannte sie die Gegend nur vom Durchfahren, wenn sie mit dem Zug nach Durham unterwegs gewesen war.
Sie schluckte. Mit einem Mal verspürte sie ein nervöses Kribbeln in der Magengrube, so wie immer, wenn ihre Gedanken in die Vergangenheit wanderten, was nicht allzu oft geschah. Seit neun Jahren hielt sie den Blick eisern nach vorn gerichtet, und doch ließ sich die Vergangenheit genauso wenig abschütteln wie ihr eigener Schatten.
»Also, wie war das noch mal? Diejenige, die dir diese E-Mail geschickt und dich praktisch angefleht hat, zu diesem Dinner zu kommen, ist …«
»Ems. Emma Proctor«, antwortete Libby und zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. »Verheiratet mit Jack, der seit jeher nur Prock genannt wird.«
»Okay«, murmelte Max und trommelte mit den Fingern leicht auf das Lenkrad. »Und sie erwarten ihr erstes Kind.«
»Genau. Das Treffen heute Abend soll wohl so eine Art Abschiedsfeier sein. Wenn das Baby erst mal da ist, wird sich vermutlich einiges in ihrem Leben ändern.«
»Ja, das hab ich auch schon gehört. Babys sind unglaublich egoistisch. Immer muss sich alles um sie drehen.«
»Haha!« Libby grinste. Sie mochte seinen Sarkasmus.
Max zwinkerte ihr zu. »Und dann ist da noch eine Susannah, richtig?«
»Yep. Genannt Zannah. Oder Zany Zannah, die verrückte Zannah – das sagt eigentlich schon alles über sie.«
Er streifte sie mit einem Seitenblick, als hätte er ihren veränderten Tonfall wahrgenommen, aber Libby schaute aus dem Fenster.
»Und was macht diese Zany Zannah beruflich?«
»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie die Tennisabteilung bei IMG leitet, also Sporteventmanagement.«
»Oh.« Leicht beeindruckt nickte er.
»Sie ist gleich nach dem Studium nach New York gezogen. Anscheinend ist sie per Du mit Serena, Rafa, Roger … mit allen Tennisgrößen.«
»Da kann sie bestimmt ein paar interessante Geschichten erzählen. Hoffentlich sitze ich beim Essen neben ihr.«
»Wenn du gute Geschichten hören willst, musst du dich neben Roly setzen. Es gibt keine Situation, für die der Mann nicht irgendein Zitat aus Blackadder und eine vergleichbare Eskapade aus seiner Zeit im Internat finden würde.«
»Ah! Mir kommt es so vor, als würde ich ihn schon kennen«, bemerkte Max trocken.
»Ja, er ist schon ein Original. Aber du wirst ihn mögen. Jeder mag ihn. Roly ist wie ein Teddybär.«
»Genau das, was ich mir von neuen Bekanntschaften wünsche. Gibt es auch jemanden, den ich nicht mögen werde?« Er sprach das Wort ein wenig abschätzig aus. Er war kein Freund von großen Emotionen.
»Nein. Sie sind alle großartig.« Libby schaute immer noch aus dem Fenster. Ein dünnes, vom Sonnenuntergang gefärbtes Band zog sich zwischen den Wolkenbänken am Horizont entlang.
»Ah-ah.«
Sie wandte ihm den Kopf zu. Der zweifelnde Ton war nicht zu überhören. »Was soll das heißen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Gar nichts.«
»Los, raus mit der Sprache.« Sie setzte sich schräg hin, sodass ihre Knie in seine Richtung zeigten. »Glaubst du mir etwa nicht, dass alle meine Freunde nett sind?«
»O doch. So wie du über sie redest, müssen es tolle Menschen sein. Deshalb verstehe ich nicht, warum du die ganze Zeit praktisch keinen Kontakt mehr zu ihnen hattest.«
Es dauerte einen Moment, ehe sie antwortete: »Das stimmt doch gar nicht. Charlie und ich schreiben uns Mails.«
»Aber ihr trefft euch nicht.«
»Nein, das nicht …«
»Nicht ein einziges Mal in neun Jahren.«
»Entschuldigung, er hat eben auch viel um die Ohren! Für ihn kommt der Beruf an erster Stelle. Er weiß, wie es ist«, verteidigte sie ihn und zuckte mit den Schultern. »Mailen passt für uns beide. Er hat Kontakt zu den anderen und informiert mich, wenn es bei ihnen etwas Neues gibt.«
»Er informiert dich?« Max lachte. »Himmel, Elizabeth, und ich dachte, nur ich hätte Probleme abzuschalten.«
Seine Bemerkung kränkte sie, wusste er doch besser als jeder andere, wie viel dieser Beruf einem abverlangte. Ein Privatleben war da wie die Soße auf einem Roastbeef – purer Luxus. Sie beide waren das beste Beispiel. Seit fünf Monaten hatten sie eine Büroaffäre – wo sollte man denn bei einem Neunzehnstundentag auch sonst jemanden kennenlernen? –, und dass sie ihre Beziehung geheim hielten, verlieh ihr einen zusätzlichen Reiz. Keiner von ihnen hatte je vorgeschlagen, den anderen der Familie oder den Freunden vorzustellen. Als Paar gab es sie nur in ihrer oder seiner Wohnung – und manchmal in diesem Wagen in der Tiefgarage. Auf der Hochzeit waren sie nur deshalb gemeinsam gewesen, weil der Bräutigam ein Firmenteilhaber war und sie die gemeinsame Anreise als praktisch hinstellen konnten.
Das Schweigen zog sich hin. Max warf ihr abermals einen kurzen Blick zu, dann legte er ihr eine Hand aufs Knie und drückte es. Er schien zu spüren, dass er sie verärgert hatte. Wieder sah er sie an und hielt den Blickkontakt einen Moment. Er nahm die Strömungen unter der Oberfläche wahr, das konnte sie in seinen Augen lesen. Es kam nicht von ungefähr, dass Max Prince der jüngste Partner in ihrer Kanzlei werden sollte: Er konnte außergewöhnlich gut zwischen den Zeilen lesen.
»Und wie würden sie dich beschreiben?«, fragte er schließlich.
»Oh.« Es klang wie ein Seufzer. Sie starrte auf den Schneeregen, der gegen die Windschutzscheibe klatschte. »Mit enttäuschenden Worten, da bin ich mir sicher. Ich war damals eine Außenseiterin. Ich habe nur ein bisschen länger als zwei Trimester mit ihnen zusammengewohnt.«
»Ehrlich? Und warum?«
»Na ja, erst habe ich in einem anderen Haus gewohnt, zusammen mit einigen Anwälten … bis wir nach anhaltenden heftigen Regenfällen im Oktober eines Morgens aufgewacht sind und mehrere gewaltige Risse im Mauerwerk entdeckt haben, dazu einen im Boden, der das Potenzial hatte, sich zu einem ausgewachsenen Erdloch zu vergrößern. Wir mussten noch am selben Tag ausziehen, das Haus war nicht zu retten. Wir mussten schnellstens eine neue Bleibe finden und hatten keine Zeit, etwas zu suchen, wo wir alle gemeinsam wohnen konnten.« Libby zuckte mit den Schultern. »Ich kannte Zannah vom Debattierclub, und sie hat mir netterweise das oberste Zimmer in ihrem Haus angeboten. Es war ziemlich groß. Ich konnte mein Glück kaum fassen.«
»Sie hatten ein freies Zimmer?« Max machte ein verwirrtes Gesicht. »Wieso haben sie es denn nicht benutzt?«
»Weil nur ein Einzelbett drinstand«, antwortete Libby trocken. Ihr Blick sagte alles. »Mit so was brauchte man meinen neuen Mitbewohnern gar nicht erst zu kommen.«
»Verstehe.« Er lachte. »Ich nehme an, da ging’s rund.«
»Allerdings. Aus einem Haus mit fünf unermüdlich rackernden Anwälten, in dem eine fast klösterliche Stille herrschte, bin ich in einen Party-Hotspot geraten.«
»Ein Verbindungshaus.«
»Ganz genau.«
»Ha. Respekt, dass du deinen Abschluss trotzdem geschafft hast.«
»Du hast ja keine Ahnung«, erwiderte sie seufzend.
»Trotzdem finde ich es merkwürdig, dass sie das Zimmer leer stehen ließen, Einzelbett hin oder her. Ich hatte am Emmanuel College auch ein Einzelbett und bin damit hervorragend zurechtgekommen.«
»Das glaub ich gern«, versetzte sie, als sie ihn schmunzeln sah; offensichtlich schossen ihm ein paar Erinnerungen durch den Kopf. Sie konnte sich gut vorstellen, wie beliebt er in Cambridge gewesen war. »Alle bei uns im Haus hatten genug Geld. Sie mussten das Zimmer nicht vermieten, sondern haben sich die Kosten dafür geteilt.«
»Die Glücklichen«, bemerkte er ohne eine Spur von Neid. »Und, sind sie alle solche Erfolgsmenschen geworden, wie du einer bist?«
»Ich würde mich nicht als Erfolgsmensch bezeichnen.«
»Nein? Steile Karriere, schicke Wohnung in Chelsea, Handtasche von Hermès … ein sensationeller Körper«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Sie lächelte zwar, aber ihr war nicht entgangen, dass er sich selbst in der Liste nicht aufgeführt hatte – Liebhaber, Partner, fester Freund.
»Sie sind alle auf ihre eigene Art sehr erfolgreich«, antwortete sie loyal. »Charlie hat sein eigenes KI-Unternehmen gegründet und es kürzlich verkauft. Roly ist auf die Militärakademie in Sandhurst gegangen und nach ein paar Einsätzen nach Yorkshire zurückgekehrt, um seinem Bruder auf der Farm zu helfen.«
»Der Lauf der Welt. Ist er der Älteste?«
»Nein, Roly ist jünger als sein Bruder.«
»Dann hat er also nicht geerbt?«
»Hm, darüber hab ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber ich glaube nicht, nein.«
»Große Farm?«
»Soweit ich weiß, ja. Natürlich nicht so groß wie Archies Grundbesitz, aber trotzdem. Warum fragst du?«
»Nur so. Ich möchte mir ein Bild machen.«
»Oh. Na ja, Prock ist Vermessungsingenieur mit eigener Firma und Ems Rechnungsprüferin. Sie wohnen in Harrogate. Und Coco ist eine überaus erfolgreiche Influencerin. Eine TikTok-Berühmtheit.«
»So?« Leiser Zweifel schwang in Max’ Stimme mit. »Und unser Gastgeber?«
Libby seufzte erneut. »Was persönliche Leistung angeht, stellt Archie die Ausnahme von der Regel dar, aber seine Trägheit ist genetisch bedingt.« Jetzt war es an ihr, sarkastisch zu sein.
»Du meinst, sie ist Teil seines privilegierten Standes?«
»Genau das.«
Max lachte leise. »Arbeitet er überhaupt?«
»Na ja, er hatte häufig Geschäftsessen in Pall-Mall-Clubs, bei denen es angeblich um Vermögensverwaltung ging, aber ich glaube, sie haben nur dem Zweck gedient, die Zeit totzuschlagen, bis er sein Erbe antreten kann.«
»Nun, das konnte er ja inzwischen.« Max trommelte wieder mit dem Finger aufs Lenkrad.
»Ja, das konnte er«, brummte Libby.
Archies Vater, der elfte Viscount Templeton, war letztes Jahr gestorben. Sie hatte beim Mittagessen am Schreibtisch die ganzseitige Todesanzeige in der Times entdeckt und immer wieder das Schwarz-Weiß-Foto eines vorpubertären, engelsgleichen Archie betrachtet, der mit seinem Vater vor Westminster Abbey stand. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem schlaksigen Verführer gehabt, der nichts anbrennen ließ und mit dem sie sieben Monate unter einem Dach gelebt hatte.
»Ich bin echt gespannt auf die Hütte. Steht unter Denkmalschutz, hab ich gelesen. Und der Park wurde von Capability Brown entworfen.«
»Erwarte lieber nicht zu viel. Charlie hat erzählt, dass die Heizung nicht richtig funktioniert und der Hausschwamm so schlimm ist, dass neulich jemand bis zum Knie durch die Bodendielen krachte.«
Max schnaubte belustigt. »Kann’s kaum erwarten, dort zu sein.«
Er beugte sich vor, um das Radio endgültig auszuschalten. Sie hatten jetzt fast keinen Empfang mehr. Die Landstraßen waren inzwischen so schmal geworden, dass man den Gegenverkehr an Ausweichstellen passieren lassen musste. Der Himmel hatte sich zum tiefen Blaurot eines kräftigen Blutergusses verfärbt, und der Mond schimmerte durch die Wolken. Die Stille draußen gewann an Intensität, während sich die Landschaft in Wildnis verwandelte und die Schneeflocken immer heftiger gegen die Scheiben geschleudert wurden.
Libby strich ihr Seidenkleid über den Schenkeln glatt. Es war ein Wickelkleid, und die Schöße glitten – sehr zu Max’ Freude – immer auseinander.
Dann rutschte sie ein wenig tiefer und hing ihren Gedanken nach. Trotz ihrer gelassenen Bemerkungen über ihre früheren Mitbewohner war sie nervös. Hatten sich ihre Freunde verändert, oder war sie die Einzige, die die Vergangenheit hinter sich gelassen hatte?
Max hatte wie üblich den Nagel auf den Kopf getroffen: Seit über neun Jahren hatte sie keinen von ihnen wiedergesehen; praktisch alles, was sie über sie wusste, hatte sie von Instagram oder aus Charlies sporadischen E-Mails. Die Einladungen zu den jährlichen Treffen hatte sie höflich abgelehnt; und wenn jemand »in der Stadt« war und auf einen Sprung vorbeischauen wollte, hatte sie sich mit Arbeit oder einer Reise entschuldigt.
Jetzt aber hatte Ems energisch darauf bestanden, dass Libby die Einladung zu diesem Dinner annahm. Schließlich sei es nur ein »kleiner Umweg« auf der Rückfahrt von der Hochzeit und »nach spätestens drei Stunden« könnten sie wieder ins Auto steigen. Wenn sie um elf aufbrechen würden, wären sie gegen vier bei Max zu Hause. Nicht gerade ideal, aber sie hatten beide oft genug die Nacht durchgearbeitet und waren dann auch nicht früher ins Bett gekommen.
Doch je näher sie dem Ort kamen, an dem ihre Vergangenheit ruhte, desto stärker flatterten ihre Nerven.
Drei Stunden, sagte sie sich, während sie in die Dunkelheit starrte. Ihr gespenstisches Spiegelbild starrte zurück. Drei Stunden. Das würde sie schaffen. Danach wäre sie wieder frei.
D ie Badezimmertür öffnete sich genau in dem Moment, als Libby vorbeiging. Dampf waberte heraus, verbunden mit dem starken Duft von Kokosnuss und Mango.
»Hey.« Das Erste, was sie sah, waren Muskeln und Zähne.
»Hey«, murmelte Libby und nickte dem Hünen zu, der in einem drei Nummern zu kleinen pinkfarbenen, lila getupften Morgenrock heraustrat und in Zannahs Zimmer verschwand. Libby erkannte ihn wieder: Das war die Nummer acht des Rugbyteams aus dem Klute.
Sie ging die Treppe hinunter, vorbei an der Etage, auf der die Jungs wohnten, und weiter nach unten ins Wohnzimmer. Keine Spur von Archie, nicht einmal der Abdruck seines schlaffen Körpers in den Polstern. Aber dort, wo er sie berührt hatte, fühlte sich ihre Haut immer noch warm an.
»O mein Gott, wer hat denn das ganze verdammte Brot gegessen?«, jammerte Coco, als Libby ins Erdgeschoss kam.
Ihre Mitbewohnerin stand in Rugbytrikot und Lammfell-Birkenstocks vor dem Vorratsschrank. Charlie saß an dem winzigen Tischchen, las die Times vom Vortag und bemühte sich, nicht auf Cocos Beine zu starren.
»Morgen.«
Coco wirbelte herum. Bei Libbys Anblick klappte ihr der Unterkiefer herunter.
»Libs!«
»Und, wie geht’s dem Geburtstagskind heute Morgen?«, erkundigte sich Libby.
»Beschissen, wie du dir vielleicht denken kannst«, krächzte Charlie. Er war leichenblass und hatte Tränensäcke unter den Augen. »Und du, was machst du hier? Ist der Mond vom Himmel gefallen? Wird die Bibliothek ohne dich nicht einstürzen?«
»Haha, sehr witzig. Ich hab verschlafen.«
Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du verschläfst nie. Ich bin nicht mal sicher, ob du überhaupt schläfst.«
Libby streckte ihm die Zunge raus. »Erst konnte ich nicht einschlafen, und als es dann endlich geklappt hat, bin ich nicht mehr aufgewacht.«
Sie hatte wildes, zusammenhangloses Zeug geträumt und nicht die geringste Lust, in diese Traumwelt zurückzukehren.
»Und Marmelade ist auch keine mehr da!«, klagte Coco, die sich wieder dem spärlich bestückten Schrank zugewandt hatte, und warf verzweifelt eine Hand in die Luft.
»Du hast doch sowieso nichts, wo du die Marmelade draufstreichen könntest«, bemerkte Charlie achselzuckend.
»Willst du was von meinem Müsli?« Libby griff an Coco vorbei, nahm die Packung Frosties aus ihrem Fach und schüttete ein wenig davon in eine Schüssel.
»Ich … Ooh, was haben wir denn da?«, sagte Coco, als sie den Stapel Waffeln in Ems’ Fach entdeckte.
Libby sah Charlie an und nickte kaum merklich in Cocos Richtung. Wie befürchtet schüttelte er traurig den Kopf. Sie lächelte ihm zum Trost zu, und er zuckte mit den Schultern. Eine wortlos übermittelte schlechte Nachricht.
»Wann bist du gestern Abend eigentlich gegangen, Libs?« Coco ploppte die Waffel in den Toaster und drehte sich wieder zu ihr um. Die Aussicht auf Essen hatte ihre übliche gute Laune wiederhergestellt. Obwohl ihr Appetit dem der Jungs in nichts nachstand, war sie gertenschlank, und es war eine ständige Herausforderung, dafür zu sorgen, dass sie auch satt wurde. Hunger machte sie mürrisch und aggressiv. »Wir waren kaum im Club, da hab ich dich aus den Augen verloren.«
»Äh, ich weiß nicht mehr so genau … Gegen eins?«
»Ah, verstehe. Du hast dich auf Französisch empfohlen. Hast du jemanden kennengelernt?« Coco spähte grinsend über den Rand ihrer Kaffeetasse.
»Was glaubst du?«
Coco stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Ich kapier’s einfach nicht! Es gibt hier zwanzigtausend Studenten, und davon sind ungefähr zehntausend Männer! Da muss doch einer drunter sein, den du magst!«
»Ganz bestimmt, wenn ich suchen würde.« Libby nahm die Milch aus dem Kühlschrank und goss sie über ihr Müsli. »Aber mein Fokus liegt auf meinem Studium. Ich kann es mir nicht leisten, keine Bestnote zu bekommen.«
»Aber es gibt doch einen Mittelweg. Du kannst studieren und flachgelegt werden. Das gilt übrigens auch für dich, Charlie. Denk ja nicht, ich würde nicht merken, dass du auch die Enthaltsamkeitskarte spielst.«
Libby und Charlie wechselten einen Blick.
»Dann war es also ein erfolgreicher Abend für dich?«, fragte Libby.
»Das kann man so und so sehen«, brummte Coco. »Jedenfalls nicht so erfolgreich, wie er es gern gehabt hätte.« Sie bemerkte nicht, wie Charlie zusammenzuckte.
»Ist er noch da?«
»Ja, leider. Ich geh erst wieder rauf, wenn er weg ist. Ich glaube, ich werde den Rugbytypen eine Weile aus dem Weg gehen.«
»Das wäre vielleicht keine schlechte Idee«, murmelte Charlie, den Blick auf die Zeitung geheftet.
»Habt ihr schon das Neueste von Archie und Arabella gehört?« Coco grinste anzüglich, streckte die Hand nach der Waffel aus, die aus dem Toaster ploppte, und strich Butter darauf. »Sie hat ihn abserviert. Schon wieder.«
»Nicht dein Ernst! Unser Traumpaar?«, rief Charlie in gespieltem Entsetzen und setzte sich so ruckartig auf, dass er schnell beide Hände ans Gesicht legen musste, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. »Was hat er denn diesmal angestellt?«
»Er hat einen Dreier vorgeschlagen – mit ihrer besten Freundin!« Coco kicherte und biss ein großes Stück von ihrer Waffel ab.
»Ja, weil sie echt heiß ist«, kam es von der Treppe her.
Alle drehten sich um, als Archie in die Küche schlurfte, barfuß und blass. Die dunklen Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab. Er trug nichts außer einer Jeans, die so weit unten hing, dass das Anderson-&-Sheppard-Label am Bund seiner hellblauen Boxershorts zu sehen war.
Als er Libby erblickte, die – an die Arbeitsfläche gelehnt – ihr Müsli löffelte, hielt er inne. »Du.«
Libby hörte auf zu kauen. Ihr Herz schlug schneller. »Was ist mit mir?«
»Du bist ja hier.«
»Ja. Und?«
»Meine Rede«, brummelte Charlie.
»Sie hat verschlafen«, erklärte Coco und biss ein weiteres Mal von ihrer Waffel ab. Flüssige Butter rann ihr übers Kinn. »Weil sie nicht einschlafen konnte.«
»Im Gegensatz zu dir, was, Archie?« Charlie sah ihn an. »Du hast auf dem Sofa gelegen und warst völlig weg, als wir nach Hause gekommen sind.«
»Richtig«, murmelte er und starrte Libby an, als erinnere sie ihn an etwas, das er aber nicht zu fassen bekam.
Wenn ihm seine Auseinandersetzung mit Arabella einfiel, würde er sich vielleicht auch wieder erinnern, was er mit ihr, Libby, gemacht hatte. Und dass sie ihn erst nach einigem Zögern in seine Schranken verwiesen hatte.
Er wandte sich unvermittelt ab und blieb einen Augenblick ratlos mitten in der Küche stehen.
»Alles okay, Archie?«, fragte Coco. »Musst du spucken? Ich hab den gelben Eimer gesehen …«
»Nein.« Als er den Blick auf sie richtete und die Butter über ihr Kinn tropfen sah, fuhr er mit dem Finger darüber und leckte ihn dann lässig ab.
Libbys Blick wanderte zwischen ihren Mitbewohnern hin und her. Ihr gutes Aussehen und ihre Privilegien wirkten an ihnen ganz selbstverständlich; sogar bleich und verkatert schienen sie irgendwie zu strahlen.
»Ich muss was essen, ich bin am Verhungern«, brummte Archie. Dann trottete er zum Kühlschrank, stützte einen Arm auf die offene Tür und steckte den Kopf hinein.
Libby betrachtete verstohlen seinen nackten Rücken, der zwar nicht so muskelbepackt war wie der eines Rugbyspielers, aber geformt von lebenslanger sportlicher Betätigung wie Jagen und Skifahren. Dann merkte sie, dass Charlie sie beobachtete. Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen, wissenden Lächeln. Sie saßen beide im selben Boot.
Coco stemmte sich schwungvoll auf die Arbeitsfläche, ließ die langen Beine baumeln und kickte mit den Fersen gegen die Schranktüren, während sie ihre Waffel futterte.
»Dann ist dir also eingefallen, dass du wieder Single bist, Archie?«, nuschelte sie mit vollem Mund.
»Mir ist nicht bekannt, dass ich jemals was anderes war.«
»Arabella?«
»Das war nichts Festes«, knurrte er und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen.
»Aber immerhin so fest, dass du dir einen Dreier mit ihr und ihrer besten Freundin gewünscht hast?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, sie ist richtig scharf.«
»Archie!« Coco lachte. »Das geht jetzt wirklich zu weit. Du musst damit aufhören.«
»Womit denn? Gerade ist mir auf der Treppe deine jüngste Eroberung begegnet.«
»Das ist nicht das Gleiche«, erwiderte sie achselzuckend. »Bei dir hat das Aufreißen eine neue Dimension erreicht. Du jagst dem Dopaminrausch hinterher, aber im Grunde ist das alles leer und bedeutungslos. Glücklich machen wird dich das nicht.«
»Du hast ja so recht«, sagte er gedehnt und in dem sarkastischen Tonfall, der für ihn typisch war. »Ich war so was von unglücklich, als Belly und ich …«
»Stopp!«, rief Coco und hielt die Hand hoch. »Verschone uns bitte mit Einzelheiten. Erstens ist es zu früh, und zweitens haben wir alle einen Wahnsinnskater.«
»Wie du meinst. Aber ich verstehe nicht, wo das Problem ist, wenn beide damit einverstanden sind.« Er richtete sich wieder auf und fragte: »Ist noch Brot da?«
»Nö«, brummte Coco.
Seufzend steckte er den Kopf wieder in den Kühlschrank. »Wo ist Roly?«
»Noch nicht zurück.«
»Prock?«
»Vögelt Ems.« Coco beugte sich zur Seite und angelte sich eine weitere Waffel. Ich kauf ihr neue. Die mit den Lippen lautlos geformten Worte waren an Libby gerichtet, die bloß mit den Schultern zuckte. »Siehst du, genau darauf will ich hinaus, Archie. Wenn du verliebt bist, kriegst du noch mehr Sex. Und zwar besseren Sex, verstehst du?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Dein Problem ist, dass du ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick bist …«
»Ich hab ein Problem?«
»Ja! Bei dir geht es immer um das nächste Mädchen, um Dreier, Bondage, was auch immer. Aber die Bindungfehlt. Du nimmst ein Mädchen ins Visier und machst Schluss, wenn du gehabt hast, was du wolltest.«
Er nahm den Milchkarton aus dem Kühlschrank und warf ihr einen fragenden Blick zu. »Woher weißt du, dass sie nicht mit mir Schluss machen?«
»Weil aus irgendwelchen Gründen, die wir alle nicht nachvollziehen können, die Frauen offenbar von deinem Machogehabe nicht genug kriegen können. Wieso versuchst du nicht mal, jemanden zu daten, wie es sich gehört?«
»Wieso versuchst du das nicht?«
»Lenk nicht ab.«
»Na schön. Da du in all den Punkten schuldig bist, die du mir zur Last legst, sollte ich vielleicht dich daten.«
Charlies Kopf ruckte alarmiert hoch, doch Coco prustete los und versprühte Krümel nach allen Seiten.
»Kommt überhaupt nicht infrage! Ich hab genug gesehen. Ich würde dir nicht weiter trauen, als ich dich werfen kann!«
Archie betrachtete ihre dünnen Arme und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das ist gar nicht nett.«
Seufzend setzte er den Milchkarton an die Lippen, trank ihn fast leer und stellte ihn dann in den Kühlschrank zurück. Die anderen schauten ihm verblüfft zu.
»Weißt du, Kumpel, da könnte schon was dran sein«, sagte Charlie langsam. »Coco hat recht – du befindest dich in einer Dopaminspirale. Du willst immer mehr und mehr und empfindest jedes Mal weniger. Aber es gibt eine ganz einfache Lösung.«
»Ach ja? Und die wäre?«
»Geh auf Entzug, und starte dein System neu. Übe Verzicht. Lass dich nicht von deinem Verlangen beherrschen.«
Es war ganz still in der Küche, als Archie seinen Mitbewohner ansah.
»Meinst du etwa Enthaltsamkeit?«, fragte er schließlich.
Charlie zuckte mit den Schultern.
Jetzt war es Archie, der losprustete. »Wie kommst du denn darauf, dass das die Lösung sein könnte?«
»Echte Sehnsucht wächst durch bewussten Verzicht.«
Als Libby kicherte, richtete Archie seine Aufmerksamkeit auf sie. Es sah aus, als hätte er völlig vergessen, dass sie auch noch da war. Dennoch hatte sie unter seinem Blick das Gefühl, dass winzige Nadeln über ihre Haut kratzten. Rasch senkte sie den Kopf und guckte wieder in ihre Müslischale.
»Vielleicht würde dir eine kleine Auszeit guttun«, fuhr Charlie fort, der sich für das Thema zu erwärmen begann. »Damit du eine neue Perspektive gewinnst. Du könntest dich darauf konzentrieren, eine Beziehung aufzubauen, die nicht allein auf Sex beruht, sondern auf einer gefühlsmäßigen Bindung.«
Archie war sichtlich perplex.
»Ich vernehme zwar die Worte, die aus deinem Mund kommen, Earnshaw, aber sie ergeben keinen Sinn«, entgegnete er kopfschüttelnd.
»Schlaf erst mit einer Frau, wenn du etwas für sie empfindest«, erklärte Charlie. »Zwinge dich zu warten.«
»Wir wissen alle, dass ich das nicht kann.«
»Wir wissen auch alle, dass du noch nie eine Wette ausgeschlagen hast.«
Archies Brauen schossen in die Höhe, und er lachte verblüfft bei dem Wort »Wette«. Doch Charlie verzog keine Miene.
Ein ungläubiges Schweigen entstand.
»Du willst allen Ernstes wetten, dass ich es nicht schaffe, auf Sex zu verzichten, bis ich mich verliebt habe?«, fragte er dann.
»Ja. Warum nicht?«
Coco jubelte und hämmerte mit den Füßen gegen die Schranktüren. »O mein Gott, das ist das Beste, was ich je gehört habe!«
»Nein, ist es nicht, weil das nicht funktionieren kann. Wie willst du das nachprüfen? Ich könnte Gefühle vortäuschen, nur um eine Frau ins Bett zu kriegen. Das mach ich jetzt schon! Genau genommen ist es exakt das, was ich tue!«
Libby starrte auf den Fußboden.
Charlie gab einen zweifelnden Laut von sich. »Weißt du, wir kennen dich und deine berühmten Tricks gut genug, wir würden dich durchschauen.«
»Angenommen, ich würde mich tatsächlich in jemanden verlieben – und dann?« Archie hatte die Hände in die Seiten gestemmt und einen etwas wilden Ausdruck in den Augen. »Muss ich dir Bericht erstatten, bevor ich alles klarmache? Oder erst hinterher?«
»Egal. Das bleibt dir überlassen.«
»Genau.« Coco nickte zustimmend. »Wie Charlie-Boy gesagt hat – wir würden es merken, wenn du Gefühle heuchelst.«
»Ich glaube, ihr überschätzt eure Fähigkeiten in puncto Analyse von Körpersprache und Mikroexpressionen ganz gewaltig.« Archies Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Außerdem könnte ich eine flachlegen, ohne dass ihr es je erfahren würdet – in der Bibliothek, bei ihr zu Hause, in einer Kneipentoilette, im Auto …«
»Stimmt. Niemand bestreitet, dass du ein Womanizer bist«, sagte Charlie. »Aber du bist auch ein Mann von Ehre, und ich glaube nicht, dass du gegen ein Gentleman’s Agreement verstoßen würdest.«
Archie starrte ihn an. Alle wussten, dass das Codewort für die Aktivierung seiner Werkseinstellung gefallen war – Ehre.
»Von wie viel reden wir?«, fragte er schließlich.
»Ein Tausender.«
»Ein T…tausender?«, stotterte Archie.
»Na, es soll doch ein Ansporn für dich sein«, entgegnete Charlie achselzuckend. »Und soweit ich mich erinnere, hast du gesagt, du hättest Schulden nach diesem Pokerspiel neulich.«
»Wo zum Teufel hast du einen Riesen zum Verwetten her?«
»Ich hab ein bisschen in Kryptowährungen investiert und hatte Glück.«
»Großer Gott.« Archie fuhr sich durchs Haar und blieb mit erhobener Hand einen Moment so stehen.
Libby fragte sich, ob er ihr absichtlich den Rücken zudrehte, was ausgesprochen unhöflich gewesen wäre, oder ob er einfach nicht daran dachte, dass sie dastand.
»Und wie lange muss ich durchhalten?«, fragte er schließlich.
»Solange es eben dauert«, antwortete Charlie gleichmütig. »Bis zum Examen oder bis du Gefühle für jemanden entwickelst.«
»Und wenn ich einknicke, schulde ich dir einen Riesen?«