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Karrierefrau Allegra hat keine Zeit für Romantik. Doch das Fest der Liebe macht seinem Namen alle Ehre ...
Weihnachtszeit in London: Die Stadt funkelt, unter den Sohlen knirscht der Schnee – doch Allegra Fisher hat nur einen Wunsch: dass die Feiertage schnell vorübergehen. Die Karrierefrau arbeitet an einem Riesendeal und hat keine Zeit für das »Fest der Liebe«. Als im verschneiten Zermatt eine alte Berghütte entdeckt wird, kann Allegra kaum glauben, dass der Fund etwas mit ihrer Familie zu tun haben soll. Gemeinsam mit ihrer Schwester Isobel fliegt sie in die Schweiz – und mit der Reise und ihrem attraktiven Konkurrenten Sam nimmt Allegras Leben eine neue Wendung. Vielleicht wird es doch ein Fest der Liebe ...
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Seitenzahl: 727
Buch
Weihnachtszeit in London: Die Stadt funkelt festlich, unter den Sohlen knirscht der Schnee – doch die Finanzexpertin Allegra Fisher hat nur einen Wunsch: dass die Feiertage schnell vorübergehen. Die Karrierefrau arbeitet gerade an einem Riesendeal und hat keine Zeit für das »Fest der Liebe«. Als im verschneiten Zermatt die sterblichen Überreste einer Frau in einer alten, lange verschütteten Berghütte entdeckt werden, kann Allegra kaum glauben, dass der Fund etwas mit ihrer Familie zu tun haben soll. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Isobel fliegt sie in die Schweiz – und mit der Reise und ihrem so attraktiven wie gefährlichen Konkurrenten Sam nimmt Allegras Leben eine ganz neue Wendung. Vielleicht gibt es Wichtigeres als die Karriere – und vielleicht wird es ja doch ein Fest der Liebe …
Weitere Informationen zu Karen Swan
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
KAREN SWAN
Winterküsse
im Schnee
Roman
Übersetzt
von Gertrud Wittich
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Christmas in the Snow« bei Pan Books, an imprint of
Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited,
London, Basingstoke and Oxford.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung November 2015
Copyright © 2014 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung der Originalgestaltung
Umschlagbild: Frau: © Ayal Ardon/Trevillion Images
London: ©Doug Armand/Getty Images
Zweige: © SuperStock/Corbis
Schneehügel: © Emilie Chaix/Photononstop/Corbis
LT · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-17117-9
www.goldmann-verlag.de
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Für William
Skiteufel. Bär
Prolog
21. Januar 1951
Der Wind pfiff durch ein Astloch und ließ die Kerze flackern, doch sonst rührte sich nichts – kein Rascheln im Stroh, kein Windstoß in ihrem langen schwarzen, lose herabhängenden Haar. Ihr Blick hing unverwandt an der Tür, um die herum sich ein schmaler Lichtrand abzeichnete.
Sie war schon viel zu lange hier. Draußen schneite es wie verrückt, da würde sich keiner herauswagen. Ihr dagegen kam das zupass, da ihre Spuren inzwischen längst wieder zugeschneit waren. Keiner würde merken, dass sie hergekommen war.
Sie kam sich vor wie eine langsam schmelzende Wachsfigur. Der Holzboden zu ihren Füßen hatte überall dunkle Wasserflecken. Rhythmisch wiegte sie sich vor und zurück, um den Blutkreislauf in Gang zu halten. Sie sollte wirklich gehen; sie durfte nicht länger bleiben.
Mit den Händen hielt sie ein Zinnglöckchen umklammert, mit dem sie bimmeln würde, sobald das Zeichen kam. Sie strich zärtlich darüber; es war schon ganz warm. Das Lederband, an dem es hing, war um ihr zartes weißes Handgelenk gewickelt.
Da ertönte ein Geräusch. Wie erstarrt blickte sie zur Tür. Aber der Lichtrahmen schien auf einmal zu verblassen, und dem kurzen Peitschenknall, den sie gehört hatte, folgte ein dumpfes Poltern: Der Berg entledigte sich seiner Schneelast wie eines überflüssigen Pelzmantels. Das beunruhigte sie nicht weiter, sie war mit solchen Geräuschen aufgewachsen, sie waren ihr vertraut wie das Schnarchen ihres Großvaters, wenn sie in der warmen Stube gesessen hatten, während sie zu seinen Füßen mit ihren Spielsachen spielte. Aber das hier war anders. Der Fußboden begann zu vibrieren. Sie warf einen Blick zur Tür: Der Lichtrahmen war vollkommen verschwunden, als hätte jemand die Sonne am Himmel ausgeknipst.
Es blieben nur zwei Sekunden. Keine Zeit zu schreien, ja nicht einmal, um nach Luft zu schnappen. Schon brach der Schnee über sie herein.
1. Kapitel
Allegra konnte nur betreten den Kopf schütteln, während sie ihrer Schwester zuschaute, die mit wehendem blondem Haar vor ihr herrannte und wie ein Kind nach Blättern haschte. Sie hatte die Arme hochgestreckt und versuchte lachend eins der großen braunen Herbstblätter zu fangen, die rings um sie her von den Bäumen trudelten. Allegra war sich fast sicher, dass nur die Tatsache, dass Isobel einen Kinderwagen vor sich herschob, die Passanten davon abhielt, sie in die Klapsmühle zu stecken.
Ein Gutes hatte die Sache zumindest: Ihre Schwester war jetzt schon fast hundert Meter voraus. Allegra beschloss blitzschnell, ihre Chance zu nutzen. Sie verschwand hinter der nächstbesten Rosskastanie und holte ihr BlackBerry aus der Tasche, das bereits mehrmals aufdringlich gepiept hatte, seit Isobel sie auf diesen »Spaziergang« verschleppt hatte. »Du brauchst dringend frische Luft und Bewegung!«, hatte sie gemeint, und Allegra hatte sich wohl oder übel fügen müssen. Rasch scrollte sie durch die ungelesenen Nachrichten – und alles schien wie immer äußerst dringend zu sein.
»Was zum Teufel machst du da?« Mit empörtem Gesichtsausdruck hatte Isobel sich vor ihr aufgepflanzt, die Hände in die Hüften gestemmt. »Los, gib schon her.« Sie streckte gebieterisch die Hand aus, die Handfläche nach oben gewandt, als wäre Allegra das ungehorsame Kind und nicht das Baby im Kinderwagen, dessen Pausbäckchen ganz orange waren vom Karottenbrei und das eine bedauerliche Schwäche dafür hatte, umherstreunenden Hunden mit dem Finger ins Auge zu stechen.
»Ich wollte bloß …«
»Los, her damit!«
Allegra gab klein bei und händigte ihr Smartphone aus. Sie mochte ja die ältere der beiden Schwestern sein, die »Erwachsene« dagegen war Isobel, denn sie war verheiratet, hatte ein Kind und wohnte in einem hübschen Londoner Reihenhaus mit Garten. Sie gab Dinnerpartys und fuhr, wie sollte es anders sein, einen SUV, die Familienkutsche des gehobenen Mittelstands.
»Danke«, schmunzelte Isobel, schon besänftigt, und steckte den Übeltäter mit der einen Hand ein, während sie ihrer Schwester mit der anderen ein karamellbraunes Kastanienblatt überreichte, so groß wie ihre Handfläche. »Als Gegenleistung!«, strahlte sie.
»Nicht doch, das ist zu viel!«, antwortete Allegra ironisch. »Dein allerschönstes Blatt!«
»Das ist kein Blatt.«
»Ach nein?« Allegra hob die Braue und ließ das Blatt am Stängel kreiseln.
»Es bringt Glück, wie du sehr wohl weißt! Ich hab’s extra für dich gefangen.« Sie keuchte dramatisch, wie um zu beweisen, wie viel Mühe sie sich damit gegeben hatte.
»Du machst das doch nicht etwa immer noch?«, fragte Allegra fassungslos.
»Na klar!«, antwortete Isobel stirnrunzelnd. Ihre Stirn war aufgrund der gestörten Nachtruhe in den letzten Monaten merklich faltiger geworden, fand Allegra.
»Und ich dachte, du wolltest bloß Ferdy zum Lachen bringen«, spottete Allegra. Dann zuckte sie zusammen. Ihr BlackBerry, das nun in den Tiefen von Isobels dickem Dufflecoat steckte, hatte schon wieder gepiept.
Sie selbst trug natürlich etwas deutlich Modischeres – auch wenn sie sich darin zu Tode fror –, einen taillierten olivgrünen Burberry-Kurzmantel mit hohem Kragen, der um die Oberschenkel in kesse Falten auslief: die ideale Kombi zu Skinny Jeans. Leider nicht gerade geeignet für diese Temperaturen. Laut Wettervorhersage sollte es gegen Ende der Woche sogar Schnee geben.
»Na komm, trinken wir jetzt erst mal einen schönen heißen Latte macchiato«, schlug Isobel gutmütig vor. Die Bemerkung von vorhin überging sie großzügigerweise, da sie sehen konnte, dass Allegras Lippen schon ein wenig blau anliefen. Außerdem bestand wohl kaum die Aussicht, dass ihre modische Schwester in diesen High Heels loslaufen und ihr ebenfalls ein Blatt einfangen würde. »Das wird dich aufwärmen.«
»Ja, haben wir denn noch Zeit dafür? Es wirkt fast so, als wolltest du dich vor dem Besuch bei Mum drücken.«
»Auf keinen Fall!«, antwortete Isobel. »Aber dafür haben wir noch den ganzen Tag Zeit. Und ich weiß, wie unleidlich du wirst, wenn dir die Zehen abfrieren.«
Allegra grinste. »Na gut, aber nur auf einen Kurzen, ja?« Koffein war ihr ohnehin lieber als frische Luft. Außerdem bestand die Chance, dass Isobel sich zwischendurch zum Wickeln aufs Klo zurückziehen musste, was ihr, Allegra, wiederum die Gelegenheit bot, sich über ihr heißgeliebtes BlackBerry herzumachen.
Isobel hakte sich bei ihrer Schwester unter. Mit der anderen Hand steuerte sie geschickt den Racer-Kinderwagen. Gemächlich schlenderten sie die baumbestandene Allee an der Themse entlang, deren braune Fluten sich träge dahinwälzten. An der mit Gummireifen gepolsterten Uferwand hatten vereinzelte Frachtbarkassen festgemacht. Auf der Straße fuhren die typischen klobigen schwarzen Londoner Taxis vorbei.
»Also, nun erzähl schon von dem neuen Haus«, forderte Isobel sie auf.
»Ich hab’s selbst noch nicht gesehen, nicht richtig jedenfalls. Ich weiß auch nicht mehr als du.«
Isobel schnalzte missbilligend. »Wie kannst du ein Haus kaufen, ohne es dir vorher anzusehen!«
»Keine große Sache. Ich hab das meinem Immobilienmakler überlassen. Der hat es sich angeschaut und mir die PDF-Datei gemailt. Es hat genau meinen Anforderungen entsprochen.«
»Immobilienmakler! Das ist ja mal wieder typisch für dich«, schnaubte Isobel.
»Na, dann eben House-Hunter, wenn dir das lieber ist. Er hat seine Sache jedenfalls sehr gut gemacht.«
»Er? Aha! Nachtigall, ich hör dir trapsen!«
Allegra verdrehte die Augen. »Nein, bitte nicht schon wieder! Willst du mich jetzt etwa mit jemandem verkuppeln, ohne ihn dir vorher angesehen zu haben?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Deine Arbeitskollegen verschmähst du ja – was eine Schande ist, denn da wimmelt es nur so von attraktiven ledigen Männern.«
»Mag sein, aber da gibt’s ein klitzekleines Problem, Schwesterherz: Diese ›attraktiven ledigen Männer‹ sind meine Untergebenen. Und die paar, die es nicht sind, sind meine Vorgesetzten.«
Isobel zuckte verständnislos mit den Schultern. Für sie waren das Büroleben und Liebeleien unter Kollegen ja vielleicht wirklich nicht die Todesfalle, für die Allegra sie hielt.
»Und, sieht er gut aus, dein House-Hunter? Sag schon!« Isobel grinste vielsagend.
Allegra musste schmunzeln. »Och, er war ganz okay.«
»Ganz okay? Wow! Dann muss er ja der reinste Adonis sein, wenn du schon so was sagst.« Isobel lachte laut und heimste einen bewundernden Blick von einem Rollerblader ein, der mit orangefarbenen Kopfhörern an ihnen vorbeiflitzte. »Warum lädst du ihn nicht zu einem romantischen Dinner in die neue Wohnung ein? So zur Einweihung und als kleines Dankeschön, was meinst du dazu?«
»Ach, das Haus habe ich doch als reines Spekulationsobjekt gekauft. Ich lasse es ausschlachten und gründlich renovieren; nur die Fassade bleibt erhalten, weil die nämlich denkmalgeschützt ist.«
»Wo liegt die Wohnung denn?«
»Islington.«
»Mann! Wieso denn am anderen Ende der Stadt? Du hättest zumindest eine in Wandsworth kaufen können, da hättest du obendrein ein bisschen mehr Garten dazubekommen. Und wir wären näher beieinander gewesen.«
»Hast du nicht gehört? Ich will da gar nicht wohnen. Es ist nur eine Kapitalanlage. Ich bleibe schön in meinem hübschen Apartment in der Innenstadt.«
»Ja, wo man sich auf den Kopf stellen und mit den Zehen wackeln kann, und man kriegt trotzdem keinen Parkplatz! Da, wo du wohnst, hat doch keiner ein Auto.«
»Ja, weil man keins braucht. Ist doch alles in Fußweite.«
Isobel prustete.
»Was?«
»Du und laufen?! Du bist doch viel zu wichtig und viel zu beschäftigt, um zu Fuß zu gehen. Du lässt dich doch überall hinchauffieren.«
Allegra warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu, konnte aber kaum widersprechen. Sie hatte wirklich keine Zeit, um irgendwohin zu Fuß zu gehen.
»Ich finde trotzdem, dass man, wenn man schon ein Haus kauft, auch drin wohnen sollte. Es zu renovieren und dann leerstehen zu lassen, bis man es gewinnbringend weiterverkaufen kann – also das finde ich einfach nicht richtig.«
»Nicht jedes Haus muss ein Zuhause sein, Iz.«
»Nicht für dich, meinst du! Du wohnst ja praktisch in deinem Büro.«
Darauf ging Allegra nicht ein. »Was soll ich mit einem Achtzig-Quadratmeter-Haus? Das ist doch für einen allein die reinste Verschwendung.«
»Achtzig Komma vierundzwanzig, bitte schön!«
Allegra schmunzelte. »Achtzig Komma vierundzwanzig.« Ihr Blick fiel auf die ferne Silhouette der Canary Wharf, jenseits der Themse. Der Büroturm ihrer Firma war der höchste am Horizont. Mit verengten Augen spähte sie dorthin. Brannte nicht Licht in ihrem Stockwerk? Ein Vorwurf aus der Ferne.
Es war wirklich ein schöner Tag, nicht einmal Allegra konnte das übersehen. Kalt und klar, erfüllt mit eisiger Luft aus der Arktis; ein Tag, der in einem herrlichen roten Sonnenuntergang ausklingen würde. Allegra nahm sich vor, unbedingt einen Blick aus ihrem Bürofenster zu werfen, wenn es so weit war.
Sie kehrten in einem Straßencafé ein, vor dessen Eingang so viele Kinderwagen herumstanden, dass in Allegra der Verdacht aufkeimte, es könne sich hier um einen Treffpunkt für alleinerziehende Mütter handeln. Magere dunkelgraue Tauben stolzierten mit nickenden Köpfen über die tannengrünen Metalltische, die schon seit Wochen unbenutzt vor dem Lokal standen, da sich die Kundschaft bei diesen Temperaturen natürlich ins warme Innere flüchtete.
Isobel schnallte Ferdy los und machte Anstalten, ihn ihrer Schwester zu überreichen. »Ich besorge uns was zu trinken«, erbot sich Allegra hastig. In diesem Mantel würde sie ganz bestimmt kein Kleinkind halten, das sowohl oben als auch unten undicht war. »Einen Latte macchiato, oder?«
»Ja, aber bring mir bitte auch einen Brownie oder ein Stück Kuchen mit – ich kann einen Zuckerstoß gebrauchen!«, fügte Isobel hinzu, die sich Ferdy auf die Hüfte gesetzt hatte und nun in der Gepäckschale des Buggys herumkramte. »Und könntest du bitte auch gleich fragen, ob ich einen Krug heißes Wasser bekommen kann? Ich muss die hier aufwärmen.« Seufzend hielt sie ein Milchfläschchen hoch. »Und lass dich ja nicht abwimmeln! Ja, ja, ich weiß, man kann sich mit heißem Wasser verbrühen, und das Lokal übernimmt keine Haftung – aber die sollten erst mal hören, was Ferdy macht, wenn er die Milch kalt trinken muss! Sag ihnen das ruhig!«
»Schon klar.« Allegra nickte und eilte Richtung Theke.
Vier Minuten später kehrte sie mit einem Krug Wasser, einem dicken, schweren Stück Schokoladenkuchen, bei dessen Anblick man förmlich spürte, wie sich die Adern verstopften, einem Latte macchiato und einem doppelten Espresso zurück: Isobel war nicht die Einzige, die in der vergangenen Nacht nur vier Stunden Schlaf abbekommen hatte.
Als sie sah, dass ihr BlackBerry auf dem Tisch lag, erhellten sich ihre Gesichtszüge. Und es blinkte wie verrückt. Aber Isobel drehte das Gerät sofort um. »Hände weg! Wir müssen unbedingt reden. Ich hab’s bloß da hingelegt, weil ich mir mit dem Ding in der Tasche wie Inspektor Gadget vorkomme.« Sie schnalzte missbilligend. »Andauernd piept und brummt es. Ich hatte schon Vibratoren, die sich weniger angestrengt haben.«
Allegra prustete überrascht los. »Das ist nicht mein Fachgebiet.«
Isobel tunkte die Milchflasche in den Krug und warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wie auch? Wann hast du eigentlich zum letzten Mal Sex gehabt?«
»Wie bitte?!« Allegra hätte im Boden versinken können. Das Pärchen am Nebentisch hatte offenbar mitgehört und glotzte nun neugierig herüber.
»Du hast doch schon seit ewigen Zeiten keine Beziehung mehr gehabt. Du bist einunddreißig, Schwesterherz. Die Uhr tickt.« Als ob Allegra das nicht selbst wüsste.
»Ach bitte, fang nicht schon wieder damit an!« Allegra war das Grinsen vergangen. »Ich hab so viel um die Ohren, dass ich kaum Zeit zum Duschen habe.«
»Dein Beruf kann dich aber nachts nicht warm halten.«
»Doch, kann er schon.« Allegra zuckte mit den Schultern. Sie dachte an die gemütliche, warme Luxussuite im Four Seasons, in der sie mindestens zweimal pro Woche übernachtete. So viel musste die Firma schon für sie springen lassen (gemäß EU-Regulation), wenn sie wieder mal bis zum Morgengrauen im Büro aufgehalten worden war.
»Was ist eigentlich aus diesem Philip geworden? Der war doch ganz nett.«
Allegra schnalzte missbilligend und trommelte ungehalten mit ihren kurzen manikürten Fingernägeln auf die Tischplatte. »Überempfindlich, der Knabe. Ich bin doch kein Babysitter.« Ihr Blick fiel auf Ferdy, der nun in einem Hochstuhl saß und glücklicherweise vorerst mit den Plastikkugeln an der Haltestange beschäftigt war.
»Überempfindlich?!« Isobel lehnte sich seufzend zurück. »Was hast du angestellt? Los, spuck’s aus.«
»Ich? Gar nichts.«
Isobel sagte nichts, verdrehte nur die Augen.
»Wir standen kurz vorm Abschluss eines ganz wichtigen Deals. Und er hat mich andauernd angebettelt, er müsse mich unbedingt sehen: Bloß auf einen Drink, komm schon. Ich will dich doch bloß sehen und hören, was so bei dir los ist.« Allegra zog die Nase hoch. »Also hab ich Kirsty geschickt. Das war alles.«
Schweigen.
»Kirsty? Du meinst deine persönliche Assistentin Kirsty?«
Allegra nickte. »Er wollte wissen, was so bei mir los ist. Das konnte Kirsty ihm auch erzählen.« Sie zuckte mit den Schultern.
Isobel war fassungslos. »Du hast echt deine Assistentin zu deinem Date mit deinem Freund geschickt?«
»Na ja, jetzt ist er mein Exfreund.«
»Und da wundert man sich, wieso! Einfach unglaublich«, sagte Isobel mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Sie nahm das Fläschchen aus dem Wasserkrug und träufelte ein paar Tropfen Milch auf ihr Handgelenk, um die Temperatur zu prüfen. »Und war’s das wenigstens wert?«, fragte sie. Ihr Ton verriet, dass nichts es wert war, dafür eine Beziehung aufs Spiel zu setzen.
»Und ob! Dieser Deal hat uns statt der zwei die zwanzig eingebracht. 27 Millionen Pfund Provision.« Allegra nippte lässig an ihrem Espresso. Dass ihre Schwester keine Ahnung von der 2/20-Regel hatte, die einer der Hauptanreize im Hedgefondsgeschäft war, daran dachte sie nicht. »Allein dafür hab ich mir eine Beförderung verdient. Das wird mich in den Vorstand katapultieren, wirst sehen. Ist dir bewusst, dass ich der einzige weibliche Präsident in der Firma bin?«
Isobel schüttelte verständnislos den Kopf. »Kein Wunder, dass Mum sich andauernd solche Sorgen um dich macht.«
Allegra warf ihrer Schwester einen grimmigen Blick zu und Isobel senkte sogleich beschämt den Kopf. Beiden war bewusst, dass ihre Mutter sich dieser Tage höchstens phasenweise um sie Sorgen machen konnte. »Entschuldige, das war dumm von mir«, murmelte Isobel. Sie holte Ferdy aus seinem Stuhl und nahm ihn auf den Schoß.
Allegra lehnte sich zurück, um ihrer Schwester, die nun ihren Sohn zu füttern begann, ein wenig Raum zu lassen. Sie nippte an ihrem Espresso und schaute sich um. Sie fühlte sich fehl am Platz in dieser Umgebung, in der die Leute plauderten und aßen, als ob sie alle Zeit der Welt hätten und nirgendwo dringend erwartet würden. Sie starrte auf ihr BlackBerry, das auf dem Tisch lag und wie eine Satellitenschüssel blinkte, und stellte sich vor, wie sich die dringenden Nachrichten stapelten, eine auf der anderen, wie Flugzeuge in einer überdimensionalen Parkgarage. Ihr Puls begann unwillkürlich zu klettern.
Wie auf ein Stichwort begann ihr BlackBerry zu klingeln. Beide Schwestern schauten sich kurz an – Isobel in Panik, Allegra triumphierend. Erstere hatte beide Hände voll und wäre nie vor Allegra an das Gerät rangekommen – was diese natürlich wusste. Isobel schnalzte missbilligend und wandte resigniert den Blick ab, während ihre Schwester sich das BlackBerry schnappte.
»Fisher«, meldete sich Allegra mit diskret gedämpfter Stimme. Ihre Schwester plapperte derweil liebevoll auf Ferdy ein. Wie sie bloß so unterschiedlich sein konnten, fragte sich Allegra. Von außen betrachtet gab es unübersehbare Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Beide waren schlank und mit ihren gut eins fünfundsiebzig überdurchschnittlich groß, und beide besaßen einen sportlich durchtrainierten Körper. Doch während Allegra an Triathlons teilnahm (zum Ausgleich und um »ein wenig Dampf abzulassen«, wie sie behauptete), gab sich Isobel mit der Tatsache zufrieden, dass alle Mütter im Schwangerschaftskurs sie beneideten, weil sie die Erste war, die wieder in ihre alte Jeans passte. Zwischen ihnen lagen eineinhalb Jahre und nur sieben IQ-Punkte – sie waren weder Genies noch Dummchen –, doch während Allegra der fast pathologische Zwang, immer gewinnen zu müssen, antrieb, egal, was sie sich in den Kopf setzte, war Isobel den bequemen Weg gegangen. Es reichte ihr zu wissen, dass sie bewundert wurde und das Leben es gut mit ihr meinte.
Allegra führte das auf ihre Kindheit zurück. Isobel war Papas Liebling gewesen – das hatte Allegra immer gewusst, und sie hatte es ohne Groll akzeptiert. Außerdem hatte Isobel das hübschere Gesicht, sie kam nach ihrem Vater, mit ihren rosigen Wangen, den blauen Augen und dem hellblonden Haar. Allegra dagegen wirkte schärfer, hagerer, war schon als Kind fast altklug gewesen, zu ernst für ihr Alter. Ihre Augen waren im Gegensatz zu denen ihrer Schwester mandelförmig und bitterschokoladenbraun, Augen, die verbargen, was sie fühlte, dazu besaß sie hohe, gemeißelte Wangenknochen und von Grübchen konnte keine Rede sein – oder gar von Apfelbäckchen. Der einzige »Schönheitsfehler«, den sie besaß, war die schmale Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Ihre Mutter hatte sich eine entsprechende Zahnbehandlung nicht leisten können, und von der Krankenkasse wurde so etwas nicht übernommen. Bemerkungen wie »süß« oder »kess« fand Allegra nervtötend. Immerhin war ihr Spitzname in Börsenkreisen »Lipstick-Killer«. Zum Glück sah man die Zahnlücke nur, wenn sie lächelte – was in der Welt der Aktienspekulanten ohnehin nur schaden konnte. Also vermied sie es zu lächeln.
Was die beiden jedoch vor allem voneinander unterschied, war die Frisur: Isobels Haar war lang und glänzend und immer in Bewegung, eine wogende Fülle, wie Kim Sears’ in Wimbledon oder Kate Middletons Mähne. Ihr Haar verriet, dass sie aus der Oberschicht kam (oder zumindest aus der gehobenen Mittelschicht) und in einer guten Gegend wohnte. Natürlich durfte auch die Designer-Handtasche nicht fehlen. Allegras Haar hingegen war kurz, die Frisur nüchtern, ein fast strenger Pagenschnitt, der ihr nur bis knapp über die Ohren reichte und sich dann in einer natürlichen Welle nach innen rollte, darunter ein langer, schlanker Schwanenhals, von dessen Anmut und Wirkung Allegra keine Ahnung hatte, dazu eine stets angespannte Kinnpartie, die aus dem Stress im Job resultierte und daraus, dass sie nachts im Schlaf mit den Zähnen knirschte.
Sie beendete das Telefonat abrupt, ohne Abschied, ohne ein Wort. »Iz, tut mir schrecklich leid, aber ich muss los.«
»Hätte ich mir ja denken können.« Isobel verdrehte stöhnend die Augen.
»Es geht um diesen Deal, an dem wir gerade arbeiten. Eine Riesensache. Bob hat das Büro schon seit Mittwoch nicht mehr verlassen, und seine Frau besteht darauf, dass er wenigstens zum Mittagessen heimkommt.« Sie schnalzte missbilligend und verdrehte die Augen. »Sie kapiert einfach nicht, dass wir die Zahlen noch nicht ganz zusammenhaben, das Angebot aber schon am Dienstag in Zürich vorlegen wollen.«
»Wie egoistisch von ihr«, bemerkte Isobel sarkastisch.
Allegra hob eine Braue. »Na, ich muss ihn jedenfalls mal ablösen.«
»Aber was ist mit deinen privaten Verpflichtungen? Was ist mit uns? Mit jetzt?« Sie zog Ferdy mit einem Plopp das Fläschchen aus dem Mund und wies damit auf ihre Umgebung, auf all die Fremden in dicken Wollpullis und warmen Winterstiefeln. Ferdy fing prompt an zu weinen, und sie stopfte ihm den Sauger sofort wieder in den Mund. »Wir wollten doch mit dem Ausmisten des Hauses weitermachen. Du hast es mir versprochen!«
»Ja, aber es bleibt doch sowieso nur noch der Speicher, oder?«
»Nur der Speicher? Spinnst du? Da sind doch die besten Sachen! Da tut man doch alles hin, was man nicht wegschmeißen kann. Wer weiß, auf was für Schätze wir da stoßen? Da sind wir Stunden beschäftigt!«
»Oh. Gut.«
»Jetzt komm schon, Legs. Du weißt doch, dass ich das nicht alleine kann. Ich werde nichts wegwerfen können und am Ende alles behalten, und das landet dann in Schachteln und Tüten in unserer Wohnung, und Lloyd wird mich verlassen und …«
»Wo ist der überhaupt?«
»Noch im Bett. Jetlag. Er war doch in Dubai, du weißt schon.«
Allegra bemühte sich um einen mitfühlenden Gesichtsausdruck. Sie selbst erledigte so was wie Dubai noch vor dem Frühstück. »Hör zu, Iz, es war echt schön, dich mal wiederzusehen. Und Ferdy, natürlich.« Allegra beugte sich vor und stützte die Handflächen auf die Tischplatte, wie sie es auch bei Konferenzen tat, wenn sie einen besonders aufrichtigen und ernsthaften Eindruck machen wollte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel entspannter ich nach diesem tollen Spaziergang bin.« Sie schlug sich mit der Hand auf die Brust, wie um ihre Worte zu unterstreichen.
»Du hast Ferdy noch kein einziges Mal auf den Arm genommen«, schmollte Isobel. Sie ließ sich von Allegras Nummer nicht täuschen. Von ihrer Schwester hörte sie sonst nur Börsen-Jargon.
»Na, zuerst hat er doch geschlafen, und jetzt fütterst du ihn, wann hätte ich ihn da nehmen sollen? Aber ich muss wirklich los, sorry.« Sie wandte sich um und griff nach ihrer Handtasche, einer diskreten marineblauen Saint Laurent Besace, die über der Rückenlehne ihres Stuhls hing. Darin befanden sich eine Tube Touche Éclat, ihr Reisepass und Vitamintabletten. Isobel dagegen hatte ihre geräumige, auffällig gemusterte Orla Kiely dabei, vollgestopft mit Pampers, Feuchttüchern, Kuscheltieren, sonstigem Spielzeug und einer Garnitur Babywäsche zum Wechseln. »Dann machen wir das eben morgen, ja? Zusammen schaffen wir das sicher blitzschnell.« Allegra beugte sich vor und gab Ferdy einen Kuss aufs Köpfchen. Er roch gut, irgendwie nussig, nach Pastinake oder Babypuder, und sie spürte, wie erstaunlich kräftig er an der Flasche sog. Sie gab auch Isobel einen Kuss auf die Wange, wobei sie roch, dass diese jetzt eine billigere Feuchtigkeitscreme benutzte – Estée Lauder überstieg mittlerweile offenbar das Haushaltsbudget. Nun ja, Kinder sind nicht billig. Lloyd zerbrach sich jetzt schon den Kopf wegen der teuren Schulausbildung später.
»Wann?«
»Um zehn?«
Allegra zögerte. »Lieber um zwei.«
Isobels Augen wurden schmal. »Mittag? Um zwölf?«
»Okay.« Allegra zwinkerte schelmisch.
Isobel stöhnte. Schon wieder reingelegt. »Vergiss nicht dein Glücksblatt.«
»Mein was?«
Isobel wies mit dem Kinn auf das wachsbraune Kastanienblatt, das wie eine Hand zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Steck’s ein. Du hast doch gesagt, du hast einen wichtigen Deal vor dir – da kannst du etwas Glück gut gebrauchen.«
Allegra lag eine abfällige Bemerkung über sentimentale, abergläubische Schwestern auf der Zunge, aber sie verkniff sie sich. »Ja, du hast recht. Ich brauche wirklich alles Glück, das ich kriegen kann. Danke.« Sie öffnete ihre Handtasche und holte ihr großes kaviarschwarzes Lederportemonnaie hervor, klappte es auf und schob das Blatt hinten ins Fach für die Geldscheine, wo es perfekt hineinpasste.
Schmunzelnd fragte sie sich, ob ihre Schwester wohl noch immer ihr Horoskop mitlas. »Dann morgen um zwei im alten Haus, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich um und marschierte zum Ausgang, vorbei an den Cappuccino schlürfenden Samstags-Stammgästen, die eifrig ihren Facebook-Status updateten oder auf ihren Smartphones herumtippten. Sie selbst hatte ihr Handy bereits am Ohr, noch bevor sie die Tür erreicht hatte. Als Isobel Ferdy wieder in den Buggy geschnallt und Zeit gefunden hatte, Allegra eine SMS zu schicken (»Zwölf Uhr war ausgemacht, zwölf!«), saß diese bereits im Taxi und fuhr über die Tower Bridge. Fünf Minuten später betrat sie die große Marmorlobby, zeigte kurz ihren Ausweis vor und stakste lächelnd zu den Aufzügen, die sie hinauf ins zwanzigste Stockwerk bringen würden. Nach Hause – ins Büro.
2. Kapitel
1. Tag: Madonna mit Kind
Oh, Mann, Legs, das ist hier ja die reinste Todesfalle!«, ächzte Isobel. Mit beiden Händen an einen der schweren dunklen Deckenbalken geklammert arbeitete sie sich mit zaghaften Trippelschritten wie eine Seiltänzerin über den scheinbar sperrholzdünnen Speicherboden voran. Allegra saß bereits weiter hinten auf einer – relativ stabilen – Sperrholzplatte. Das Dämmmaterial staubte in rosa Wolken um Isobels Fußgelenke auf und nahm ihr die Sicht. »Ich werde durchbrechen, ganz bestimmt«, wimmerte sie.
»Wirst du nicht«, antwortete Allegra beruhigend. Isobel trippelte auf sie zu, den Kopf unbequem zur Seite geknickt, da die Schrägdecke selbst am höchsten Punkt zu niedrig für sie war.
Als sie schließlich die Sperrholzplatte erreichte (als wäre es eine sichere Insel in einem tosenden pinkfarbenen Ozean), ließ sie den Dachbalken los und presste stattdessen die Hände auf ihr wild klopfendes Herz. »Mann, ich hab mir fast in die Hosen gemacht!«
»Ja, ich weiß, was du meinst«, log Allegra. Isobel faltete ihre langen, schlanken Glieder zusammen wie eine Origamipuppe und nahm neben ihrer Schwester auf dem Fußboden Platz. Um sie herum bauschte sich das rosarote Dämmmaterial. Sie rieb sich die Nase. »Bäh. Dieses Zeugs juckt mir immer in der Nase, dir nicht?«
»Nö.«
»Das kommt sicher von meinem Heuschnupfen.«
»Kann sein. Fass es einfach nicht an.«
»Ja, aber das schwebt hier doch schon überall in der Luft, oder nicht?« Isobel rieb sich heftig die Nase.
Allegra blickte zerstreut auf. Über ihnen hing eine einzelne nackte Glühbirne und erhellte die Stelle, an der sie saßen. Der Rest des Dachbodens lag im Halbdunkel, und man konnte die Kisten, die sich stapelten, nur in Umrissen erkennen.
»Tja, das wär’s dann also. Der Rest der ganzen Chose«, bemerkte Isobel trocken. Sie musterte die kleinen, ordentlich zugeklebten Schachteln, die es noch durchzusehen galt, darunter ein ausgebeulter Hartschalenkoffer aus den Achtzigerjahren, aus dem ein Stück Spitze hervorschaute. »Nur noch die hier, dann haben wir’s geschafft.«
Allegra nickte erleichtert. Dafür brauchten sie sicher nicht mehr als neunzig Minuten, dann konnte sie wieder zurück ins Büro.
Plötzlich ergriff Isobel Allegras Hände. »Ich bin so froh, dass wir das zusammen machen, Legs. Das ist das Ende einer Ära, oder?«
Allegra schaute auf ihre weißen Hände. Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Sie nickte wortlos. Es war nicht nur ein Ende. Es war das Ende – ihrer Familie, ihrer Kindheit, als sie nur einander gehabt hatten und niemanden sonst.
Allein hier oben zu sein war ein Einschnitt. Als Kinder war es ihnen nie erlaubt gewesen, den Dachboden zu betreten. Ihre Mutter hatte sich immer geängstigt, sie könnten durch die dünne Decke brechen. Aber jetzt waren sie keine Kinder mehr. Jetzt war alles verdreht. Jetzt waren sie die Erwachsenen.
Allegra machte sich mit einem kurzen Schniefer von ihrer Schwester los und griff nach der nächstbesten Schachtel. Mit einem Fingernagel schlitzte sie das schon brüchige Klebeband auf und klappte sie auf. »Ah, das fängt ja gut an«, lächelte sie. »Das können wir so, wie’s ist, wegwerfen. Sind bloß alte Schulbücher.«
»Spinnst du?«, rief Isobel und machte sich begeistert über den Inhalt des Kartons her. Ihr Hamsterinstinkt machte sich bemerkbar. Sie nahm einen Stapel alter Schulhefte und Beurteilungen heraus. Die in Allegras Handschrift legte sie beiseite und durchforstete nur ihre eigenen.
Allegra sah, dass dort noch ihr alter Name draufstand: Allegra Johnson. Das versetzte ihr einen Stich. Wie ungewohnt ihr das jetzt vorkam. Ob es sich wohl ebenso fremd anfühlen würde, wenn sie ihn laut ausspräche? Aber das wagte sie nicht, sie befanden sich ohnehin schon auf gefährlich emotionalem Territorium, bei dieser Reise in die Vergangenheit. Sie waren hier, weil sie ihre Mutter nicht mehr lange haben würden. Das Letzte, was Isobel gebrauchen konnte, war eine Erinnerung daran, dass sie einst auch einen Vater gehabt hatten. Rasch blätterte sie das Heft durch. Es war ihr Hausheft aus der ersten Klasse. All diese Kinderzeichnungen: Regenbögen, Strichmännchen mit Haaren, die nur in Büscheln zu wachsen schienen, und ausgestellten Füßen – wie Mary Poppins. Dann das zweite Schuljahr (ihre Schweinchenphase): Schweinchen im Profil, mit Ringelschwänzchen. Auch eins, das ihr ihre damalige beste Freundin Codi als Geschenk reingezeichnet hatte.
»Ha! hör dir das an«, lachte Isobel auf und zitierte aus einem Zeugnis aus der neunten Klasse: »›Isobel ist ein liebenswerter Wildfang.‹«
»Klingt ganz nach dir«, meinte Allegra, »von wem ist das?«
»Von Mr Telfer.«
»Meine Güte, Smellfer! Der arme Mann! Dass er dich hat ertragen müssen!« Sie lachte. »Stacey Watkins hat immer absichtlich einen dunkellila BH unter der weißen Bluse angezogen, nur um zu sehen, wie er rot anlief, während er ihr eine Standpauke hielt. Der Himmel weiß, wie er ein Jahr mit dir überstanden hat!«
Isobel runzelte nachdenklich die Stirn. »Hat er das? Ich bin mir nicht sicher, dass wir ihn überhaupt ein ganzes Jahr lang hatten. Hat er nicht kurz darauf aufgehört?«
Allegra machte sich achselzuckend über die restlichen Hefte her. Ach ja, die alten Schreibübungen: Wie lange sie gebraucht hatte, um »d« und »b« nicht mehr zu verwechseln. Und bis das Schwänzchen vom »j« die richtige Länge bekommen hatte. In die Ecken hatte sie dünne Spinnennetze gekritzelt – ein Zeichen dafür, dass sie allmählich mit dem Unterrichtsstoff zurechtkam, wie sie fand. Aber die zahlreichen Rotstiftmarkierungen verrieten, dass die Lehrer offenbar anderer Meinung gewesen waren. Sie blätterte schneller durch die Seiten, wie in einem Zeitraffer: ihr Kampf mit der richtigen Stellung der »3«, dann ihre Kollision mit dem Bruchrechnen und dem Neuner-Einmaleins … Und überall diese Bemerkungen in Rotstift: »Konzentriert sich nicht«, »Starrt andauernd aus dem Fenster«, »Kichert und schwätzt«, »Bleibt hinter ihrer Leistungsfähigkeit zurück«, »Zu nachlässig«, »Bemüht sich nicht genug« …
»Ach du meine Güte!«, stöhnte Isobel und zeigte Allegra einen Geschichtstest aus der Oberstufe.
»Bloß elf Prozent?«, fragte Allegra fassungslos. »Iz, das ist ja erbärmlich.«
»Ja, aber da ging’s doch um diese blöden Corn Laws, weißt du noch, dieses Getreidegesetz im neunzehnten Jahrhundert. Wer muss das heutzutage noch wissen?« Isobel klappte das Heft mit einem Knall zu und warf es verächtlich beiseite. »Ehrlich, ich werde Ferds bestimmt nicht so antreiben wie eine dieser Tiger-Moms. Ist mir doch egal, wenn er, was weiß ich, Probleme beim Konjugieren unregelmäßiger Verben hat oder mit dem Bruchrechnen nicht zurechtkommt. Die Hälfte von all dem Zeug, das sie einem da beibringen, braucht man im richtigen Leben eh nie mehr.«
»Na, ich weiß nicht«, widersprach Allegra nachdenklich. »Bruchrechnen braucht man überall im Alltag. Und ich bin echt froh, dass ich Französisch gelernt habe.«
»Ja, du! Aber du bist ja nicht normal, Legs. Du und deine Karriere, das kann man doch nicht vergleichen, oder?«
Allegra seufzte, sagte aber nichts. Sie hatte es satt, von ihrer kleinen Schwester ständig als die Ausnahme, die die Regel bestätigt, betrachtet zu werden. Isobel dachte immer, dass Allegra, bloß weil sie Erfolg im Beruf hatte, nie unter Versagensängsten, Kummer oder Enttäuschungen zu leiden hatte.
Mit einer eigenartigen Entrücktheit, ja Gleichgültigkeit, blätterte sie auch die anderen Hefte durch. Das war sie einmal gewesen?! Sie konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern. Aus Regenbögen und Schweinchen wurden in der Mittelschule Herzchen mit Jungennamen darin. Und in den wöchentlichen Beurteilungen hatte sie nie mehr als 45 Prozent geschafft. War das wirklich sie gewesen?
Erst als sie die Hefte aus der Oberstufe erreichte, regte sich ihr Interesse. Wie sie die Geometrie geknackt hatte, ja, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Und ihr Schriftbild hatte sich auch sichtlich verbessert: kein Gekritzel mehr an den Rändern, keine Spinnennetze mehr. Und in den wöchentlichen Beurteilungen erreichte sie jetzt in der Regel 90 Prozent statt 45.
»Mein Gott, das hatte ich ja ganz vergessen. Sieh mal.« Isobel hielt ihr ein Heft hin, in das sie ein Kreuzworträtsel geschrieben hatte. Selbstgemacht. Es bestand nur aus dreckigen Ausdrücken. »Dafür hab ich zweimal Nachsitzen kassiert, weißt du noch?«
»Wundert mich nicht.«
Isobel streckte ihr die Zunge raus. »Spießer! Du hast ja keine Ahnung, wie kompliziert das war. An dem Ding hab ich härter gearbeitet als je zuvor in meinem Leben, das kannst du mir glauben.«
Allegra grinste und nahm ein paar Schulfotos heraus, die auf braune Pappe geklebt waren, doch hatte ihre Mutter offenbar nie Zeit gefunden, sie zu rahmen.
Isobel, die sich mit ihren schulischen Fehlschlägen zu langweilen begann, griff nach der nächsten Schachtel. Sie war schwer, und etwas darin rasselte. Sie schlitzte das Klebeband auf, schlug die Klappen auseinander und stöhnte. Sie hielt ein 1000-Teile-Puzzle mit dem Bild eines kitschigen reetgedeckten Fachwerkhäuschens, das neben einem malerischen Bach stand, hoch: Solche Puzzles fand man heutzutage vor allem in den üblichen Charity-Shops und Secondhandläden. Oder in den Geschenkläden von Krankenhäusern. »Nicht zu fassen! Das wollte ich nie wiedersehen, daran erinnere ich mich noch ganz genau.«
»Deshalb war’s wohl in dieser zugeklebten Schachtel«, bemerkte Allegra zerstreut. Sie betrachtete gerade ein Foto von sich und ihrer Schwester, beide in identischen himmelblau karierten Polyester-Schuluniformen, die Köpfe einander zugewandt. Allegra hatte den Arm um Isobels Schultern gelegt, und sie grinsten zahnlückig in die Kamera. Wie alt waren sie da gewesen? Sieben und acht? Acht und neun?
Abgesehen von den Zähnen hatten sie sich nicht sonderlich verändert, fand Allegra. Isobels Haar war damals noch einen Ton heller gewesen, und ihre, Allegras, Haare waren zu kurz für Zöpfe. Isobel mit ihren Sommersprossen, die sie auch heute bekam, wenn die Sonne über einen längeren Zeitraum schien. Beide Schwestern besaßen dieselben eindrucksvollen kräftigen Augenbrauen, die damals für kurze Zeit so in Mode gewesen waren. Ihre Gesichter erschienen zu klein für ihre Münder – das Grinsen reichte ihnen fast bis zu den Ohren. Gab es diese Mädchen von damals noch? Ein kleiner Rest hatte sicher irgendwo in ihrem Innern überlebt …
»Warum hat Mum das bloß behalten? Das war doch der schlimmste Urlaub, den wir je hatten. Den wollte ich für immer vergessen. Da hat es Tag und Nacht in Strömen gegossen.«
Allegra warf ihrer Schwester einen mitfühlenden Blick zu. Isobel hatte diesen Urlaub nicht wegen des Dauerregens vergessen wollen. Sie waren auf einem vierzehntägigen Campingurlaub in Wales gewesen, und es hatte tatsächlich so sehr geschüttet, dass sogar die Schafe versucht hatten, zu ihnen ins Zelt zu kriechen. Man konnte nichts tun als lesen und puzzeln. Allegra konnte sich noch an den kratzigen Nylon-Zeltteppich erinnern, auf dem sie stundenlang gehockt hatten, während sie heißen Tee aus Emailtassen schlürften und der Regen aufs Zeltdach prasselte wie Gummigeschosse und ihre Mutter im abgeteilten Bereich in ihrem Schlafsack lag und nicht aufhören konnte zu heulen.
»Starburst!«, rief Isobel begeistert. Sie holte ein türkisgrünes Pony mit lila Mähne hervor und untersuchte es kritisch auf eventuelle Makel. »Ich dachte, das wäre schon vor Jahren in den Müll gewandert.«
»Offenbar nicht«, grinste Allegra. Die Begeisterung ihrer Schwester für dieses muffelige, geschmacklos knallige »My Little Pony« konnte Allegra beim besten Willen nicht nachvollziehen. Sie schaute sich das nächste Foto an – immer noch Seite an Seite, Allegras Arm lag immer noch um Isobels Schultern, doch während Allegra noch Zöpfe hatte, die Bluse bis obenhin zugeknöpft, hatte Isobel eine rosa Strähne im Haar, und ihre blauen Augen waren kräftig mit schwarzem Eyeliner umrandet. Da war es bereits geschehen.
Allegra wandte hastig den Blick ab und steckte die Fotos wieder zurück. Sie hatte genug. Da Isobel noch immer damit beschäftigt war, selig in der Schachtel mit ihren alten Spielsachen zu kramen, zog Allegra den Hartschalenkoffer zu sich heran und ließ die Schnallen aufschnappen. Darin befand sich, sorgfältig zusammengefaltet, alte Babykleidung, fast alles selbstgeschneidert oder -gestrickt. Erstaunlich wenig rosa Sachen. Aber das lag wohl eher daran, dass in ihrer Familie mütterlicherseits schon in der fünften Generation nur weibliche Nachkommen zur Welt gekommen waren. Angesichts einer solchen Statistik konnte einem schon mal die Lust auf Rosa vergehen. »Du stammst von einer langen Reihe von Müttern ab« war das Mantra, das sie von klein auf zu hören bekommen hatten. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter hatten großen Wert darauf gelegt, dass sie lernten, wie man Sicherungen auswechselt, einen Grill in Gang bringt, Feuer macht oder die Heizkörper entlüftet. Die klare Botschaft lautete natürlich: Wir schaffen es auch ohne Mann.
Allegra hielt ein rotes Strickjäckchen hoch. »Iz, sieh mal, das würde Ferds doch fabelhaft stehen, oder?«
Isobel blickte auf und stieß ein entzücktes Quieken aus. Starburst, das Pony, war sofort vergessen. »Ach, an die Jacke erinnere ich mich noch! Du nicht?«
»Doch, glaub schon. Die hat Granny gestrickt, oder?«
»Ich glaube, Granny hat das meiste davon gestrickt.« Isobel begann aufgeregt in den Sachen zu wühlen. Da gab es Baumwollstrampler in fröhlichen Karofarben, Strickpullis, gesmokte Kleidchen, bunte Blusen. Ihre Augen wurden groß. Sie hielt ein blassgelbes Baumwollkleidchen mit gesmoktem Oberteil und himmelblauem Kreuzstich am Saum hoch. »Mensch, sieh dir das an! Das nenne ich Qualität! Das ist besser als alles, was du bei Dior findest.«
Iz hatte natürlich noch nie einen Fuß in eine Dior-Boutique gesetzt, wie Allegra sehr wohl wusste. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten ihre Klamotten nie irgendwelche »Label«. Und wenn doch, dann keine, die man stolz vorgezeigt hätte.
Die Begeisterung ihrer Schwester war unübersehbar. Wieso konnte sie selbst nicht etwas Ähnliches empfinden? Alles, was sie fühlte, war eine tiefe Traurigkeit. Das hier war nicht ihre Kindheit, es war nur eine selektive Sicht darauf. Kleine, geschönte Rückblicke auf eine Zeit, die es so nie gegeben hatte. Ihre Mutter hatte nur das Beste aufbewahrt, den schönen Schein, die Sonntagssachen, nicht die Alltagskleidung, die beim Spielen und im täglichen Gebrauch verschlissen worden war. Sie hatte nur die fröhlichen bunten Bilder voller Regenbögen und Schweinchen aufgehoben, nicht die düsteren Kritzeleien in Schwarz und Rot, die später hinzukamen. Ein kitschiges Puzzle als einziges Highlight in einem traurigen, verregneten Campingurlaub in Wales.
Sie hatte gehofft, hier möglicherweise Antworten zu finden, sah nun aber ein, dass das vergeblich war. Denn ihre Mutter hatte die Vergangenheit geschönt, hatte nur das Gute herausgepickt, ein paar Schulhefte, Babykleidung, ihre Lieblings-Spielsachen. Die üblichen Erbstücke, zum Beweis dafür, dass sie eine ganz normale Familie gewesen waren, so wie alle anderen auch. Hier gab es nichts, was zeigte oder, was noch wichtiger war, was erklären könnte, warum ihre Kindheit an einem bestimmten Punkt ein so abruptes Ende gefunden hatte – wie ein Auto, das gegen einen Baum prallt.
Außerdem war es jetzt ohnehin zu spät: Die Darsteller hatten die Bühne verlassen, die Zeit war abgelaufen. Jetzt nach Antworten zu suchen wäre, als würde man einen wolkenlosen Himmel nach dem schlechten Wetter von gestern absuchen.
Sie schaute sich auf dem engen Dachboden um, mit all den rosa Flocken auf dem Fußboden – die letzte unerforschte Wildnis in einem Zuhause, das es bald nicht mehr geben würde. Dies war ihr einziger und letzter Besuch hier oben; danach würden sie dieses Haus nie mehr betreten. Die neuen Besitzer wollten morgen die Schlüssel abholen, und dann würde eine andere Familie hier Geschichte schreiben.
Ihr Blick fiel auf etwas Eckiges, ganz an der Seite, unter der Dachschräge. Was konnte das sein? Stirnrunzelnd griff sie in ihre Gesäßtasche, holte ihr Handy hervor und knipste dessen Taschenlampe an.
Sie beleuchtete die Stelle und sah, dass es sich um eine weitere Schachtel handelte.
»Da ist noch was, da hinten.«
»Was?« Isobel bewunderte gerade ein Paar winzige schwarze Lackschuhe mit dekorativer Schnalle. Sie hob den Kopf und zog eine Grimasse. »Also, da krieche ich nicht hin, das kannst du vergessen.«
»Keine Sorge, ich mach das schon.« Allegra schob die Ärmel ihres Pullis zurück.
»Im Ernst? Bist du sicher, dass es das wert ist? Sind wahrscheinlich bloß ein paar alte Kerzen oder Glühbirnen drin.«
»Na, ich schaue lieber mal nach, das ist schließlich unser letzter Besuch hier.«
Iz sagte nichts. Als Allegra ihren bekümmerten Gesichtsausdruck sah, tätschelte sie ihr tröstend das Knie. »Wühl du nur weiter in den Babysachen.«
Sie entfaltete sich anmutig, die Arme hochgestreckt, um nicht an die Decke zu stoßen. Geschmeidig wie eine Katze bewegte sie sich über einen Balken.
»Was ist es?«, fragte Isobel, als Allegra die Schachtel erreichte. Die Balance haltend wie eine Ballerina, ließ sie sich in die Hocke sinken, klappte die Schachtel auf und spähte hinein.
Sie stieß ein erregtes Keuchen aus. Der Strahl ihrer Handylampe war auf etwas höchst Unerwartetes gestoßen. »Mein Gott, Iz! Ich glaube … Ich glaube, das ist eine Kuckucksuhr!«
»Was? Zeig her!« Isobel schoss in die Höhe, sank aber sofort wieder zurück: Sie hatte die Balken vergessen und sich gestoßen. Ihren Kopf umklammernd, zischte sie: »Auuu! Scheiße, verdammte!«
»Iz! Hast du dir wehgetan?«
»Klar, was glaubst du denn!«, heulte Isobel und hämmerte mit der Faust auf die Sperrholzplatte. Allegra wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Geht’s?«, fragte sie mitfühlend.
»Nö«, antwortete Isobel mürrisch. Immerhin hatte sie aufgehört, auf den Boden zu hämmern.
»Warte, ich komm zu dir rüber.«
»Bring die Uhr mit!«, stöhnte Isobel und blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
Allegra zögerte – wenn sie hier einen falschen Schritt tat, dann würde sie im darunterliegenden Raum landen. Es gelang ihr, sich die Schachtel unter den Arm zu klemmen – von der Größe her ging es gerade so –, dann richtete sie sich schwankend auf und tapste vorsichtig zurück.
Sie stellte die Schachtel ab und beugte sich zu ihrer Schwester hinunter. »Lass mal sehen.« Behutsam untersuchte sie Isobels Kopf. »Nichts zu sehen. Kein Blut jedenfalls. Ist es denn wieder okay?«
»Geht schon. Du hast schon immer zwei Köpfe gehabt, oder?«, grinste Isobel.
Allegra stöhnte. »Dass du immer so ein Theater machen musst! Du bist die reinste Dramaqueen.«
»Weiß ich doch!«, kicherte Isobel. »Und jetzt zeig endlich diese Uhr.«
Allegra hob sie vorsichtig heraus. Ein schweres, kunstvoll geschnitztes Stück. Die Uhr besaß die Form eines malerischen Schweizer Chalets, komplett mit Vorgärtchen und kleinen Felsen.
»Mann, ist die toll!«, hauchte Isobel begeistert – was so viel hieß wie: »Die krieg ich!« Sie streckte die Hände danach aus, und Allegra reichte sie ihr. Beide begutachteten die zahlreichen Fensterchen und kleinen Türen. »Glaubst du, die funktioniert noch?«, fragte Isobel.
»Woher soll ich das wissen?«
»Legs, du weißt doch alles.«
»Na, nicht alles.«
»Alles, was ich je wissen muss.«
Allegra gab auf. »Die müssen wir zu einem Fachmann bringen. Ein Uhrmacher kann sie vielleicht wieder in Gang setzen. Also, die ist wirklich schön.« Allegra fuhr mit dem Finger über die winzigen originalgetreuen Dachschindeln.
»Ein Schmuckstück! Was die wohl hier oben zu suchen hat? Warum hat Mum sie nie runtergeholt?«
»Sie wird sie wohl vergessen haben. Die steckte ja an der hintersten Stelle des Dachbodens.«
»Ob sie vielleicht Dad gehört hat?«, fragte Isobel in dem sehnsüchtigen Ton, in dem sie immer von ihm sprach.
»Möglich.«
Beide schwiegen einen Moment.
»Nimm du sie«, überwand sich Isobel. Sie hielt ihrer Schwester die Uhr hin.
»Wieso ich?«, fragte Allegra stirnrunzelnd. »Du findest sie doch so schön.«
»Du auch. Und ich kriege sowieso immer alles.«
»Weil du ein hübsches Zuhause hast und eine Familie, die sich über solche Dinge freut. Komm schon, was soll ich mit einer Kuckucksuhr in meinem kleinen Apartment? Ganz abgesehen von der Platzfrage wäre das ein ernster Stilbruch.« Es stimmte: Die Zweizimmerwohnung in Poplar, die sie sich von ihrem ersten Bonus gekauft hatte, würde zwar nie einen Designerpreis gewinnen, aber sie lag nur zwölf Gehminuten von der Firma entfernt, und – nicht, dass sie das je vor Isobel zugegeben hätte – die Firma war ihr wahres Zuhause. Und dort wäre man wahrscheinlich nicht sonderlich begeistert, wenn sie mit einer Schweizer Kuckucksuhr antanzen würde.
»Aber du hast doch gerade dieses Haus in Islington gekauft«, widersprach Isobel. »Da würde sie perfekt hineinpassen.«
»Ich hab dir doch schon gestern gesagt, dass ich das Haus nur als Kapitalanlage gekauft habe. Ich will nicht drin wohnen.«
Isobel machte ein finsteres Gesicht. Das Konzept »Kapitalanlage« versus »Eigenheim« wollte ihr einfach nicht in den Kopf. »Ich kapier das nicht. Du machst all die Knete, du kaufst dir ein Haus, und dann wohnst du doch weiter in dieser winzigen Bude. Da war mein Zimmer im Studentenwohnheim ja größer!«
Es stimmte: Das Apartment war wirklich winzig und schäbig. Sie hatte es möbliert übernommen und nie etwas daran geändert in den zehn Jahren, seit sie dort wohnte – wenn sie dort wohnte. Sie war eigentlich kaum da. Ihre Nachbarn glaubten wahrscheinlich, die Wohnung stünde leer. Aber das war ihr ganz recht so. Die Freehold-Gebühr wurde monatlich abgebucht, und sie konnte jederzeit fristlos kündigen. »Lock up and leave«, wie man das nannte. Genau so wollte sie es haben. »Es ist nun mal nicht weit zum Büro« war alles, was sie sagte.
»Das Leben besteht aus so viel mehr als aus der kürzesten Entfernung zum Büro«, seufzte Isobel. »Was ist mit Schönheit und Lebensqualität?« Allegra hob skeptisch eine Braue. Isobel seufzte erneut. »Du bist unverbesserlich. Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt bemühe. Na gut! Steck die Uhr wieder in die Schachtel, dann nehme ich sie eben.«
Allegra schob Isobel die Schachtel hin, doch dabei merkte sie, wie schwer sie noch immer war. Sie warf einen genaueren Blick hinein. »Moment! Da ist noch was.«
Sie holte ein apfelgrün gestrichenes Kästchen hervor, etwa vierzig Zentimeter hoch. Es besaß sechs Reihen mit vier kleinen Schubladen, jede davon mit einer Nummer versehen.
»Oh, wow!«, hauchte Isobel mit der für sie typischen Dramatik. In jedem Ei ein Vogel, wie Granny immer gesagt hatte.
Allegra wollte schon die erste Schublade aufziehen, aber Isobel packte sie beim Handgelenk. »Nicht! Das bringt Unglück!«
»Was meinst du?«
»Wenn man die Schublade vor dem ersten Dezember aufmacht!« Sie spitzte ihre Lippen und wedelte mahnend mit dem Zeigefinger. »Geduld ist eine Tugend, Allegra, das solltest gerade du wissen.«
»Wovon redest du? Heute ist doch der erste Dezember!«
»Ach? Echt?«
Allegra schnalzte missbilligend. Ihre Schwester war im Moment nicht mehr so ganz auf der Höhe der Zeit. Sie berechnete ihre Tage nur noch nach Babymassage-Kursen und dem nächsten Waxing-Termin (für sich selbst natürlich, nicht für Ferds). Ihr Zeitbegriff wurde von solchen Terminen bestimmt. Sie wusste nur, was sie »nächsten Dienstag« oder »Donnerstag in einer Woche« vorhatte. Es war eine Erleichterung für alle, dass Schecks aus der Mode gekommen waren, denn jetzt musste sich Isobel nicht mehr bei der Verkäuferin an der Kasse erkundigen, welcher Tag, Monat oder gar welches Jahr gerade war. »Wieso? Was spielt das Datum überhaupt für eine Rolle?«
Jetzt war es an Isobel, einen überlegenen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Weil das ein Adventskalender ist, du Dummerchen!«
Allegra musterte das Kästchen skeptisch. »Das da? Woher willst du das wissen?«
»Na ja, vierundzwanzig Schubladen – was soll es wohl sonst sein?«
»Ein Schränkchen, das zufällig vierundzwanzig Schubladen hat?«
Isobel lachte freudlos.
»Was? Was wissen wir schon davon? Soweit es uns angeht, kommen Adventskalender von Cadbury und sind mit Schokoladenvögeln gefüllt«, brummelte Allegra und streckte erneut die Hand nach der ersten Schublade aus.
»Aber nur die erste, nicht mehr! Den Rest später, eine nach der andern.«
Glücksblätter. Adventskalender. Ihre Schwester war wirklich in mehr als einer Hinsicht blauäugig. »Ja, Mama.« Allegra zog die erste Schublade auf. Sie hoffte wirklich, dass nichts drin wäre, oder höchstens ein paar rostige Nägel oder vertrocknetes altes Plastilin.
Stattdessen fand sie ein winziges Marienfigürchen – Maria mit dem Jesuskind.
Das Blau von Marias Gewand blätterte zwar schon ein wenig ab, und das Jesuskind hatte an einem Füßchen einen winzigen Haarriss, aber ansonsten war die Figur in gutem Zustand. Allegra hielt sie stirnrunzelnd zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »War Mum denn katholisch? Das hat sie nie erwähnt.«
Isobel nahm das Figürchen und rollte es auf ihrer Handfläche hin und her. »Nicht, dass ich wüsste. Sonst hätte sie uns sicher andauernd zur Beichte geschickt. Zu beichten gab’s ja allerhand, du weißt schon.«
»Bei dir jedenfalls.« Allegra versetzte ihrer Schwester mit dem Ellbogen einen leichten Rippenstoß.
»Ja, ja, du Heilige!« Isobel schwieg einen Moment nachdenklich. »Aber es würde so einiges erklären. Weißt du noch, was sie immer für ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie die Küchenabfälle zum normalen Müll geben musste und nicht kompostieren konnte?«
Allegra lächelte. »Ja, was Schuldgefühle betraf, war sie ganz groß.«
»Schade, dass die Sachen so klein sind«, schniefte Isobel. Sie gab ihrer Schwester die Figur zurück. »Das wäre mir zu riskant. Da könnte Ferdy ja dran ersticken! Nee, die will ich nicht im Haus haben.«
Allegra hob eine Braue. Ihre Schwester trieb den Begriff »paranoide Mutter« förmlich auf die Spitze: Selbst die Toilettensitze in ihrem Haus hatten Sicherheitshaken. »Ist das deine Art zu sagen, dass dir die Uhr lieber wäre?«
»Was?«, fragte Isobel gespielt erstaunt. »Nein, ich …«
Allegra tätschelte Isobels Schulter. »Nimm sie, Iz. In eurer Diele würde sie toll aussehen. Und Ferds wird einen Riesenspaß dabei haben, zuzusehen, wie der Kuckuck rauskommt.«
»Ja, das würde ihm sicher gefallen«, stimmte Isobel zu. »Aber bist du sicher, dass du mit dem Adventskalender zufrieden bist? Ich meine, du hältst doch nichts von Weihnachten.«
Allegra warf einen Blick auf das Figurenpaar in ihrer Hand. »Machst du Witze? Täglich eine Überraschung – wer will das nicht? Da hab ich doch endlich was, worauf ich mich jeden Morgen beim Aufstehen freuen kann!«, witzelte sie.
3. Kapitel
2. Tag: Mistelzweig
Eine angenehme Frauenstimme drang aus dem Lautsprecher der Wartehalle erster Klasse an Allegras Ohr. Alles hier war angenehm oder klang angenehm, aber sie hob dennoch ein wenig entnervt den Kopf: Nach neunzigminütiger Verspätung wurde endlich ihr Flug aufgerufen. Sie steckte die rosa Seiten der Financial Times, in die sie vertieft gewesen war – sie las die Printausgabe dieser Tage eigentlich nur noch auf Flughäfen –, zurück in ihre Tasche, erhob sich und ging zum Boarding-Schalter. Ihre Schritte waren lautlos, die hohen Absätze ihrer Schuhe versanken in der dicken Auslegeware.
Mit einem Lächeln wurde sie begrüßt. »Ah, Ms Fisher«, sagte die Angestellte, »wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Gleichfalls, Jackie«, antwortete Allegra lächelnd. Zerstreut fragte sie sich, seit wann aus ihr eine »Ms« geworden war: Bisher war sie immer als »Miss« betitelt worden. Offenbar hatte sie eine unsichtbare Altersschranke überschritten.
Jackies Finger flogen kompetent über die Tasten. Dann gab sie Allegra ihre Papiere samt Boardingpass zurück. »Guten Flug wünsche ich.«
»Danke.« Allegra machte sich auf den Weg über die lange, leicht abschüssige Rampe zum Flugzeug, ein Weg, der ihr ebenso vertraut war wie ihr heimischer Flur. Mit den Gedanken war sie schon wieder bei den soeben studierten Zahlen. Prada-Aktien waren gestiegen, vor allem in Lateinamerika, hm …
Ohne auf ihr Ticket zu sehen, suchte sie zielsicher ihren Stammplatz auf: 2B. Kirsty kannte ihre Chefin und sorgte dafür, dass diese sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren konnte, indem sie alles so einrichtete, wie Allegra es am liebsten hatte: zweite Reihe, Gang, keine alkoholischen Getränke, nur Biokost, frisch zubereitet, Kaschmirdecke, richtige Kopfhörer, keine Ohrstöpsel und Jo-Malone-Handcreme griffbereit …
Allegra verstaute ihr Handgepäck, zog ihren Mantel aus und setzte sich. Dann schlug sie sofort wieder den FTSE 100 auf, den sie zuletzt studiert hatte. In den Schlagzeilen wurde über eine drohende neuerliche Immobilienblase in London spekuliert, hervorgerufen durch das Eigenheim-Förderprogramm der Regierung. Doch da andererseits erst kürzlich die Zinsen angehoben worden waren, würde das den Hochpreissektor, sprich: Luxusimmobilien, wohl kaum betreffen, wie Allegra vermutete.
Mit verengten Augen, tief in Gedanken versunken, starrte sie auf den schwarzen Bildschirm ihrer Medienkonsole, dann tippte sie kurzentschlossen eine knappe E-Mail an Bob, ihren Analytiker und ihre rechte Hand, in der sie ihn bat, die neuen Wachstumsmärkte genauer unter die Lupe zu nehmen, mit besonderem Schwerpunkt auf Südamerika. Brasilien hatte ja gerade die Fußballweltmeisterschaft ausgerichtet, und die Olympischen Spiele standen noch bevor: Die dortige Elite schwamm wahrscheinlich auf einem All-Time High.
Sie klickte auf »Senden«, dann lehnte sie sich zurück und nahm, schon ein wenig entspannter, ihr Tablet zur Hand. Ihr Blick wanderte gelangweilt durch die Kabine. Einige Gesichter kannte sie – die Route London/Zürich wurde gerade in ihrer Branche häufig benutzt – und erwiderte Grüße mit einem betont zurückhaltenden Nicken. Einige dieser Männer – es waren natürlich fast ausschließlich Männer – hatten sich anfangs eifrig bemüht, ihre Bekanntschaft zu machen, aber derartige Versuche hatte sie durch ihr frostiges Verhalten im Keim erstickt.
Ein Gesicht – oder besser gesagt Profil – war ihr jedoch neu. Er saß auf 1C, eine Reihe versetzt vor ihr: Mitte dreißig, dichtes dunkelblondes Haar, gebräunte, wettergegerbte Haut, als käme er soeben von einem Urlaub am Strand. Ihre Neugier war geweckt: Niemand war um diese Jahreszeit gebräunt, nicht einmal ihr Boss, Pierre, und der konnte es sich leisten, sogar auf dem Mond Urlaub zu machen, wenn er wollte. Nun, die Karibik konnte es nicht sein, und auch für den Pazifik war’s zu früh (Hurrikansaison), und die Skisaison hatte auch noch nicht begonnen: In Verbier würden die Lifte erst nächste Woche in Betrieb genommen werden. Er wandte sich der Stewardess zu, die sich über ihn beugte, und sagte etwas zu ihr. Allegra fiel sein maßgeschneiderter grauer Anzug auf und die handgefertigten Lobb-Schuhe. Das geschah ebenso blitzschnell, wie sie die Zahlen des Dow Jones verarbeitete. Gerade wollte sie wieder wegsehen, als er sich umdrehte und ihren Blick auffing.
Allegra erstarrte. Seine Augen nahmen die Details ihrer Erscheinung ebenso schnell auf wie ihre vorhin die seinen. Und er sah sogar noch besser aus, als sein Profil versprochen hatte: helle, durchdringende blaue Augen, ein kantiges, ausgeprägtes Kinn, das auf Durchsetzungsvermögen und Stolz hinwies. Zu ihrem Entsetzen ertappte sie sich dabei, wie sie verlegen – und völlig unnötigerweise – ihre marineblaue Hose glatt strich. Ihm fiel ihre plötzliche Nervosität sofort ins Auge. Sie zwang sich, die Hände stillzuhalten und die Augen nach einem letzten strengen Blick von ihm loszureißen – was sie einige Anstrengung kostete. Betont interessiert starrte sie auf den schwarzen Bildschirm ihres TV-Schirms und rührte sich erst wieder, als sie aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie er sich nach vorn umwandte. Dann ließ sie den Kopf zurücksinken und schloss kurz die Augen. Was war nur in sie gefahren? Gutaussehenden Männern wie ihm begegnete sie in ihrem Job häufig – aber warum verwandelte sie sich ausgerechnet unter seinen Blicken in eine Pfütze Rosenwasser?
ENDE DER LESEPROBE