Die Inseltöchter - Die gestohlenen Stunden - Karen Swan - E-Book

Die Inseltöchter - Die gestohlenen Stunden E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Eine Insel voller Geheimnisse, eine widerwillige Braut, eine verbotene Liebe

Sommer 1929: Mhairi ist die Älteste von neun Geschwistern und braucht dringend einen Ehemann, weil ihre Eltern sie nicht länger ernähren können. Doch auf der schottischen Insel St. Kilda sind Heiratskandidaten Mangelware. Daher begleitet Mhairi ihren Nachbarn Donald mit dem letzten Walfangschiff der Saison auf die Isle of Harris, um den Sohn eines Farmers kennenzulernen. Als sie drei Tage später zurückkehrt, ist Mhairi verlobt und hat ihr Herz verloren – allerdings nicht an ihren zukünftigen Ehemann. Für ihre wahre Liebe scheint es keine Zukunft zu geben. Doch dann erfährt Mhairi, dass alle Inselbewohner aufs Festland übersiedeln sollen ...

Band zwei der großen neuen Serie der SPIEGEL-Bestsellerautorin, basiert auf wahren historischen Ereignissen.

»Der beste historische Liebesroman des Jahres.« Independent

»Lebendig erzählt und wunderbar atmosphärisch. Ein wahrer Genuss!« Heat Magazine

»Eine vielversprechende neue Serie. Diese großartige Geschichte und ihre unkonventionelle Heldin werden viele Herzen erobern.« Publishers Weekly

»Die aufregendste, bezauberndste und bewegendste Geschichte über verbotene Liebe, die ich jemals gelesen habe.« Cathy Bramley

»Eine hinreißende Liebesgeschichte im wilden Schottland der 1930er-Jahre. Perfekt für alle, die vom Sommer träumen.« Rachel Hore

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Seitenzahl: 569

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Buch

Sommer 1929: Mhairi ist die Älteste von neun Geschwistern und braucht dringend einen Ehemann, weil ihre Eltern sie nicht länger ernähren können. Doch auf der schottischen Insel St. Kilda sind Heiratskandidaten Mangelware. Daher begleitet Mhairi ihren Nachbarn Donald mit dem letzten Walfangschiff der Saison auf die Isle of Harris, um den Sohn eines Farmers kennenzulernen. Als sie drei Tage später zurückkehrt, ist Mhairi verlobt und hat ihr Herz verloren – allerdings nicht an ihren zukünftigen Ehemann. Für ihre wahre Liebe scheint es keine Zukunft zu geben. Doch dann erfährt Mhairi, dass alle Inselbewohner aufs Festland übersiedeln sollen …

Weitere Informationen zu Karen Swan

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Karen Swan

Die gestohlenen Stunden

Die Inseltöchter

Roman

Aus dem Englischen von Anne Fröhlich

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Stolen Hours« bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2024

Copyright © 2023 by Karen Swan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: © FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29914-9V001

www.goldmann-verlag.de

Für Clare Boret,

die ebenso großzügig wie loyal ist.

Karte

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich entschlossen haben, Die gestohlenen Stunden zu lesen, den zweiten Teil meiner Reihe Die Inseltöchter. Die Geschichte spielt auf der abgelegenen schottischen Inselgruppe St. Kilda, und im Mittelpunkt der Handlung steht ein wichtiges Ereignis, das im Sommer 1930 stattfand. Zu dem Zeitpunkt wurden die Inselbewohner auf das britische Festland evakuiert, und die zweitausend Jahre menschlicher Besiedlung von St. Kilda fanden ein Ende.

Die Reihe beruht auf genauen historischen Fakten, aber die Charaktere und ihre Herausforderungen sind ganz und gar fiktiv. Im Mittelpunkt eines jeden Bandes steht eine einzelne junge Frau von St. Kilda – sie sind dort alle miteinander befreundet oder benachbart –, aber ihre Geschichten sind durch ein zentrales Mysterium miteinander verbunden. In Die gestohlenen Stunden geht es vor allem um Mhairi MacKinnon, während Der letzte Sommer sich mit ihrer besten Freundin Effie Gillies befasst. Auch wenn jedes Buch für sich gelesen werden kann, empfehle ich, mit Der letzte Sommer zu beginnen, damit Ihnen keiner der versteckten Hinweise entgeht, die im Verlauf der Reihe eingestreut werden.

Wenn das aber nicht möglich ist, oder wenn Sie einfach eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse aus Der letzte Sommer brauchen, handelt es sich, kurz gesagt, um eine Liebesbeziehung, die räumlicher Distanz, gesellschaftlichen Grenzen und einem gefährlich eifersüchtigen Mann trotzt. Natürlich werfen Sie auch in Die gestohlenen Stunden einen Blick auf Effies Kampf und ihre aufregende Romanze, aber was Sie wirklich wissen müssen, ist, dass Frank Mathieson, der Verwalter des Landlords, während der Evakuierung verschwunden ist, und dass seine Leiche später auf der Insel Hirta gefunden wurde – was die Frage aufwirft, was in jener Nacht dort geschehen ist.

Am Ende von Der letzte Sommer erfährt Effie – die immer das Ziel von Mathiesons unerwünschten Annäherungsversuchen war –, dass Scotland Yard gegen sie ermittelt.

Diejenigen, die das Buch gelesen haben, werden mir den Cliffhanger, mit dem es endet, vielleicht noch nicht ganz verziehen haben, und auch wenn manche Fragen in Mhairis Geschichte beantwortet werden, tauchen etliche neue auf, als sich herausstellt, dass Effie womöglich nicht die einzige Person ist, die ein Motiv gehabt hätte, den Verwalter zu ermorden.

Willkommen zurück auf St. Kilda!

Viel Spaß beim Lesen.

Alles Liebe

Karen

Als ich die niedrige Mauer erreicht hatte, die unseren Hof umgab, rief meine Mutter mich scharf zurück nach Hause; ich sollte die Wassereimer füllen. Ich gehorchte, und als ich mich umwandte, sah ich das Dorf, bereits in das graue Licht der winterlich frühen Abenddämmerung getaucht, und für einen kurzen Augenblick bildete ich mir ein, es hätte sich verändert. Natürlich stimmte das nicht. Ein Dorf kann sich nicht einfach über Nacht verändern. Aber ein Junge kann es.

Finlay J. MacDonald, Crowdie and Cream:Memoirs of a Hebridean Childhood

Prolog

5. September 1929

Das Nordmeer

Mhairi schrie, als die beiden Männer kämpften. Fäuste flogen, in der engen Kabine stank es nach Whisky und Ruß. Das Walfangschiff neigte sich, und die Männer prallten in der Dunkelheit heftig gegen die Wand. Mhairi wurde von dem Gurt gehalten, der über ihre Matratze gespannt war, doch auch wenn er sie davor bewahrte, hin und her geschleudert zu werden wie eine Stoffpuppe, machte er sie gleichzeitig zu einer Gefangenen.

Donald kam wieder auf die Beine und platzierte noch drei kräftige Schläge in die Nierengegend des Walfängers.

»Aye, okay! Okay!« Der Mann krümmte sich und hielt sich die Arme schützend über den Kopf.

»Das nächste Mal breche ich dir die Beine, verstanden?«, schrie Donald. Er stand mit blitzenden Augen da – die Fäuste erhoben, den ganzen Körper angespannt – und wartete, bis der Mann davongetaumelt und verschwunden war. Erst dann wagte er es, sich wieder zu Mhairi umzudrehen.

Er schaute in die enge Koje und Mhairi in die schreckgeweiteten Augen. »Alles in Ordnung, Mhairi. Er ist betrunken, aber nicht lebensmüde. Er kommt nicht zurück.«

»Aber was, wenn da noch andere sind?«

Er presste die Lippen zusammen. »Da sind keine.«

»Woher willst du das wissen?«, beharrte sie.

»Ich weiß es eben. Jetzt versuch zu schlafen, ich bin draußen vor der Tür. In ein paar Stunden sind wir da.« Er musterte sie prüfend, als suche er ihren Körper nach Wunden ab oder sonst irgendetwas, das er ihrem Vater melden müsste, und ahnte nichts von ihren unsichtbaren Verletzungen. Wieder sah er sie fragend an, als spüre er ihre frühere Feindseligkeit, einen Streit, der unausgesprochen, aber immer noch greifbar war. »Dann also gut’ Nacht, Mhairi.«

Er trat zurück und schlug die Tür zu. Sie starrte noch eine Weile darauf, fürchtete, der Türknauf könnte sich erneut drehen. Anders als Donald glaubte sie nicht, dass die Nacht ruhig bleiben würde. Wenn der heutige Tag ihr eines gezeigt hatte, dann dass sie niemandem trauen durfte.

Sie konnte nicht einfach hier liegen und abwarten. Sie konnte nicht schlafen. Sie musste wachsam sein … Und sie brauchte eine Waffe. Es war reiner Zufall gewesen, dass Donald den Walfänger überrascht hatte, darauf konnte sie sich nicht verlassen.

Auf dem Weg hier herunter hatte sie an der Wand eine Axt gesehen. Der Raum bot zwar kaum genug Platz, um sie zu schwingen, aber vielleicht konnte sie den nächsten Betrunkenen damit wenigstens zum Nachdenken bringen.

Sie wartete, bis das Schiff sich erneut hob und senkte. Im Wellental gab es immer eine kurze Ruhepause, in der es etwas einfacher war, sich fortzubewegen, und die nutzte sie, um zur Tür zu gelangen. Dann stand sie breitbeinig da und hielt sich fest, wurde zwar dennoch mit der Schulter gegen die Kabinenwand gedrückt, erlangte aber im nächsten Augenblick das Gleichgewicht zurück und spähte durch das Guckloch nach draußen. Sie musste sich vergewissern, dass der Gang frei war, bevor …

Sie runzelte die Stirn, als sie sah, dass Donald noch dort stand, direkt gegenüber der Tür zwischen zwei Stahlträgern. Er hatte die Arme in zwei schmale Öffnungen geschoben und den Fuß gegen die Tür gestemmt, sein Kopf war nach vorne gesunken. Anscheinend versuchte er – unfassbar! – in dieser Position zu schlafen.

Sie sah, wie sein Körper den Bewegungen des Meeres folgte. Wollte er wirklich die ganze Nacht dort stehen bleiben?

Wieder ein Schlag! Sie wurde erneut zu Boden geworfen und stöhnte. Hier drinnen war es schlimm genug, sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es erst war, dort draußen hin und her geschüttelt zu werden … Sie dachte an die Prellungen, die Donald sich auf der Hinfahrt zugezogen hatte, an seine aufgeplatzte Lippe. Hatte er auch da schon Wache gestanden vor ihrer Tür, für sie als einzige Frau auf einem Schiff voller Männer?

Sie beobachtete wieder, wie er zu schlafen versuchte, sah sein blasses Gesicht, seinen geschundenen Körper. Er hielt die Augen geschlossen, aber die Ohren offen. Sie war immer noch wütend auf ihn, würde ihm nie verzeihen, was er getan hatte, aber wie immer fühlte sie sich in seiner Gegenwart auch sicher. Beschützt.

Ihr Aufpasser war zwar nicht ohne Fehler, aber doch ein Held.

1. Kapitel

Vier Tage zuvor

Hirta, St. Kilda

Die Dämmerung brach herein, als der Wal explodierte, und ein scharlachroter Schwall färbte den dunkler werdenden Himmel. Mhairi MacKinnon, die gerade Torfplatten stapelte, blickte hoch und sah, dass Blut das Meer befleckte. Die Seevögel, die sich zuvor ruhig auf dem Wasser hatten treiben lassen, flatterten hektisch auf. Seit der Kadaver vor ein paar Tagen an einer Boje in der Bucht befestigt worden war, hatten die Vögel mit wenig Erfolg daran herumgepickt. Nun konnten die Fischer jeden Tag wieder hier auftauchen, auf dem Rückweg zur Walfangstation auf der Insel Harris, und ihn mitnehmen.

Es wurde auch wirklich Zeit. Der Spätsommer war sonnig und ausnahmsweise fast völlig windstill, und so hatte sich auf der Insel ein ekelerregender Geruch nach verrottendem Fleisch festgesetzt. Er hing den Dorfbewohnern in Haaren und Kleidung und machte Mhairis Mutter Rachel schier wahnsinnig. Jetzt aber, von seinen wabbeligen Wänden befreit, würde der bestialische Gestank in einer unsichtbaren Wolke über das Wasser getragen werden, wie eine dieser Regenbomben, die sich manchmal über den Kamm des Mullach Bi schoben und ihren Inhalt irgendwann mit plötzlicher Gewalt ausspuckten.

Mhairi blickte hinunter zum Dorf. Sie war nicht weit vom Hauptdeich entfernt und konnte die Frauen, die vor ihren Cottages standen und das Spektakel beobachteten, gut erkennen. Die Hunde stürmten hinunter zum Strand, die Männer hinter ihnen her. Sie würden das Boot ins Wasser ziehen und versuchen, einen Teil der Beute für sich zu retten. Der angebundene Kadaver war offiziell Eigentum des norwegischen Walfangunternehmens Christian Salvesen – der Landlord von St. Kilda, Sir John MacLeod, hatte den Walfängern den Ankerplatz verpachtet –, aber der tote Wal würde bald sinken, und dann hätte niemand mehr was davon. Warum sollten die Inselbewohner sich also heute Abend nicht einmal eine andere Art von Fleisch auf dem Teller gönnen? Die übliche Kost, bestehend aus gepökeltem Sturmvogelfleisch, Lummengrütze oder Basstölpeleiern war, gelinde gesagt, kärglich.

Mhairi schlüpfte unter die steinerne Kuppel des Cleits und hob die letzten Torfstücke in ihren Korb. Sie waren zu Beginn des Frühlings gestochen und den Sommer über in dem alten Steinbau gelagert worden, der seit Generationen zu dem bescheidenen Besitz ihrer Familie gehörte. Es gab über zweitausend Cleits, die über die zwei Meilen lange Insel verstreut waren wie Riesenmurmeln. Sie waren so gebaut, dass sie den Regen abhielten, aber dennoch Wind hereinließen, um die Vorräte trocken zu halten. Die gut betuchten Touristen, die auf Dampfschiffen oder Schaluppen auf die Insel kamen, hatten den Dorfbewohnern erklärt, die Cleits sähen aus wie grasbewachsene Bienenkörbe, aber da es keine Bienen auf St. Kilda gab, wusste niemand so richtig was damit anzufangen.

Jede Familie besaß Dutzende Cleits. Manche wurden für die Lagerung von Sturmvogelöl oder Vogelfedern benutzt, in anderen bewahrten sie gepökeltes Vogelfleisch, Butter oder die Torfplatten auf. Bei Regen suchten oft Schafe darin Schutz, und manchmal wurde man von einem neugierigen Vogel erschreckt, der einem entgegenflatterte, wenn man den Cleit betrat.

Mhairi trat wieder hinaus und richtete sich auf, hob die Arme über den Kopf und streckte sich, während sie zusah, wie die Männer das Boot zur Wasserkante zogen. Norman Ferguson, kräftig und breitschultrig, bildete die Vorhut, hinter ihm kamen Donald McKinnon und Angus, ihr ältester Bruder. Floras Vater Archibald ergriff die Ruder, ihre beste Freundin Effie und Effies Onkel, Hamish Gillies, bildeten das Schlusslicht. Obwohl unterschiedlichen Alters – zwischen siebzehn und sechsundvierzig –, arbeiteten alle in perfekter Synchronizität, gewohnt, schnell aufs Wasser zu gelangen.

Die einzige Person, die aus dem Takt geriet, war Frank Mathieson, der vom Landlord beauftragte Verwalter. Sein zweiter Besuch in diesem Jahr diente dem Zweck, ihnen Wintervorräte zu bringen und die Erträge einzusammeln, die sie als Miete zahlten. Die ganze Woche über hatte er alle nervös gemacht, indem er das Gewicht der Federn überprüfte, die Qualität des Sturmvogelöls anzweifelte oder die für die Insel charakteristischen Tweedstoffe misstrauisch beäugte. Die ewige Falte zwischen seinen Brauen verriet, dass er mit allem unzufrieden war.

Die Dorfbewohner wuchteten das Boot ins Meer, und Mathieson stieg nach drei Trippelschritten durch das flache Wasser hinein, als wäre er der Laird persönlich. Drei kräftige Ruderschläge, und das Boot schnitt durch das Wasser wie eine Messerklinge durch blaue Seide.

Mhairi schwang ihren Tragekorb wieder über die Schulter und ging den Hang hinunter zum Dorf. Es lag in der südöstlichen Kurve der hufeisenförmigen Bucht, eine einzige Reihe niedriger Steincottages, dazwischen vereinzelt die Ruinen ihrer dunkleren, grasbewachsenen Vorgänger, die Blackhouses. Manche Dorfbewohner benutzten sie als Ställe oder Vorratslager, aber es war auch nicht unüblich, sie kurzzeitig wieder zu beziehen, wenn Familienstreitigkeiten eskalierten. Norman Ferguson trug regelmäßig seinen Kaminsessel und eine Decke zu dem alten Blackhouse seiner Familie hinüber, wo er dann so lange schmollte, bis seine arme Frau Jayne ihn wieder nach Hause holte.

Ein breiter, gepflasterter Weg, bekannt als »die Straße«, führte vor den Häusern entlang, auf der anderen Seite begrenzt von einer niedrigen Mauer, dahinter lange und schmale Grundstücke, die bis zur Küste hinunter reichten. Außer ein paar Kartoffeln und etwas Gerste wuchs hier nicht viel, denn durch das Zusammenspiel von Wind und Gischt war der Boden nicht sehr fruchtbar; ertragreicher waren die höher gelegenen Lazybeds, vereinzelte Beete rund um das Tal, und ein paar kleine, von Mauern umgebene Landstücke auf der Hinterseite der Cottages, die bis zum Deich reichten. Es gab keine Bäume, die Bau- oder Feuerholz, Obst oder Schatten hätten spenden können, aber es gab Schafe und ein paar Milchkühe, und natürlich beherbergten die atemberaubenden Klippen auf der anderen Seite des Tals eine der größten Seevogel-Kolonien der Welt. An Fleisch oder Eiern würde es ihnen auf den Inseln des Archipels St. Kilda nie fehlen, nur an Vielfalt.

Mhairi ging an ihren jüngeren Geschwistern vorbei, die im Gras spielten. Der kleine Murran, gerade fünf Jahre alt geworden, legte einen Arm um ihre Beine und rannte um sie herum, während sie sich ihrem Zuhause näherten. Geduldig wartete sie einen Moment, als auch die rothaarige Annie an ihr vorbeirannte. Das sechsjährige Mädchen kreischte vor Vergnügen, und Mhairi erinnerte sich an dieses aufgedrehte Gefühl am Ende des Tages, wenn der Magen gefüllt war und die Sonne unterging. Es war noch nicht so lange her, da hatte sie selbst vor dem Schlafengehen so gespielt oder mit Effie, Flora und Molly im Kreis gesessen, während sie einander munter plaudernd die Haare flochten. Aber mit achtzehn Jahren lagen diese wunderbaren Kindheitstage nun hinter ihr – im Dorf wurde jede helfende Hand gebraucht.

Sie trat ins Haus und legte den Torf neben dem Kamin ab. Ihr Vater würde ihn vor dem Schlafengehen ins Feuer werfen, damit es die Nacht über schwelte und am nächsten Morgen vor dem Frühstück neu angefacht werden konnte.

Ihre Mutter knetete zügig Teig, schlug ihn so fest, dass kleine Mehlwolken aufstoben. Rachel war eine auffallende Frau, und Mhairi hatte ihr feuerrotes Haar geerbt und auch ihre Augen, deren helles Grau sich von der meerblauen Augenfarbe der meisten Inselbewohner unterschied. Das Feuer im Kamin flackerte schwach, die Öllampe, die an der rauen Wand hing, brannte noch nicht; nach den Regeln ihres Vaters durfte sie erst angezündet werden, wenn die Sonne hinter dem Ruaival untergegangen war, dem Berg auf der anderen Seite der Bucht. Auf dem breiten Fensterbrett lagen ein paar Sturmvogeleier, eingewickelt in Heu, damit sie nicht zerbrachen, und die kleine Tafel, die ihre zwölfjährige Schwester Christina an diesem Morgen für ihre Schulaufgaben benutzt hatte. Das Cottage wirkte überladen und spärlich eingerichtet zugleich: Sie besaßen einen einfachen Küchenherd und einen Eisenhaken über dem Feuer für die größeren Töpfe, im Kamin hingen Ketten für Räucherfleisch, und Wasser wurde aus dem Bach geschöpft. Der Esstisch war aus drei verschiedenen Arten von Treibholz gezimmert, und sie saßen auf zwei alten Bänken, die sie sich aus der Kirche geholt hatten, als der Pastor noch nicht auf der Insel gewesen war und niemand es gemerkt hatte, wenn dort etwas fehlte. Der Vater hatte einen eigenen Stuhl mit hoher Rückenlehne neben dem Feuer, die Mutter bevorzugte einen niedrigen Hocker, und das Baby setzten sie während der Mahlzeiten in eine alte, mit Sackleinen gepolsterte Kartoffelkiste. Kochutensilien und Arbeitsgeräte hingen an den Wänden, aufgewickelte Kletterseile aus Pferdehaar an den Dachsparren, und jeder Winkel war ausgefüllt mit irgendwelchen Gebrauchsgegenständen: Butterspachtel, Bürsten, Kardierbretter … Der Schrubber stand in der einen Ecke, das Spinnrad in der anderen, der Webstuhl war unterm Dach befestigt.

In allen Nachbarhäusern holte man den Webstuhl hervor, sobald es dunkel wurde. Das Weben der Tweedstoffe wurde von den Männern erledigt, aber Mhairis Vater war der Postmeister und hatte eigene Aufgaben, wie das Verteilen und Versenden der Briefe, die auf der Insel eintrafen oder geschrieben wurden. Die Post war eine wackelige Holzhütte neben ihrem Cottage, und nach jedem Sturm musste ihr Vater nachsehen, ob sie noch stand. Es schien kaum vorstellbar, dass man in einer Gemeinde von nur sechsunddreißig Personen so beschäftigt sein konnte, aber Ian MacKinnon arbeitete oft bis spät abends. Aus unerfindlichen Gründen waren neuerdings Postkarten mit einem Stempel von St. Kilda bei den Menschen auf dem Festland sehr begehrt. Die Postsäcke, die Fischtrawler und Walfänger mitbrachten, waren immer prall gefüllt, und Ian musste sich um sie kümmern, bevor die nächste Ladung eintraf.

Für den Webstuhl wäre im Wohnraum ohnehin kein Platz gewesen – mit elf Personen waren sie die größte der Familien, die noch auf der Insel lebten, und sie drängten sich zusammen wie Ölsardinen. Ihre Eltern schliefen bei geöffneter Tür in der Abstellkammer, Baby Rory, knapp elf Monate alt, daneben in einer Küchenschublade. Mhairi als älteste Tochter hatte ihre eigene schmale Pritsche im gemeinsamen Schlafzimmer, aber das große Bett mit Vorhang teilten sich Christina – zwölf Jahre alt –, Euphemia – zehn – und Red Annie – sechs – mit dem fünfjährigen Murran und dem dreijährigen Alasdair. Ihre älteren Brüder – Finlay war neunzehn, Angus zweiundzwanzig Jahre alt – schliefen im Stall, nicht nur weil es nicht anders ging, sondern auch weil sie es so wollten. Wenn sie erst einmal verheiratet wären, würden sie in eins der Cottages ziehen, die leer standen, seit Dougie MacDonalds Familie vor ein paar Jahren nach Australien ausgewandert war. Allerdings war ihre Auswahl an möglichen Ehepartnerinnen begrenzt. Die einzigen Mädchen im heiratsfähigen Alter waren Effie Gillies, Flora MacQueen und Molly Ferguson, aber keine davon würde Mhairis tölpelhafte Brüder ertragen. Außerdem war Molly unsterblich verliebt in Floras Bruder David. Effie würde Angus und Finlay den letzten Nerv rauben, und Flora würde jedem von ihnen das Herz brechen.

»Hallo.«

Mhairi blickte auf. Wenn man vom Teufel sprach …

»Kommst du runter zum Strand?«, fragte Flora, die in der Tür stand. Vor dem tiefvioletten Himmel war nur ihre schlanke Silhouette erkennbar. Sie hatte eine Öllampe in der Hand.

»Aye.« Mhairi griff nach ihrer Lampe auf der Fensterbank. Wenn sie zurückkam, würde es dunkel sein.

»Sag deinem Bruder, er soll etwas für die Hunde mitbringen, wenn es geht«, rief ihre Mutter ihnen nach.

Sie gingen die Straße entlang, vorbei an offen stehenden Cottages, in denen routinierte Betriebsamkeit herrschte, während sich ihre Bewohner für die Nacht fertigmachten. Zinnwannen standen vor offenen Kaminfeuern, die kleinsten Kinder zogen ihre Nachthemden an, ältere kamen im Dämmerlicht mit dem gespülten Geschirr vom Bach zurück. Mad Annie und Ma Peg saßen am Feuer und strickten plaudernd, wobei sie die flinken Bewegungen ihrer Hände genauso wenig zu bemerken schienen wie die perfekt geformten Socken, die sie hervorbrachten.

»Ich habe einen Brief bekommen.«

Mhairi bemerkte den schüchternen Unterton in Floras Stimme und sah ihre Freundin an. »Von wem?«

Mhairi hatte noch nie einen Brief bekommen. War das nicht eine Ironie in Anbetracht der Tatsache, dass sie die Tochter des Postmeisters war? Tatsächlich hatte sie auch noch nie einen Brief geschrieben, denn dazu hätte sie zunächst einmal einen Adressaten gebraucht, und alle Menschen, die sie kannte, lebten hier, auf dieser Insel.

»Mr Callaghan … James.«

Mhairi schnappte nach Luft angesichts der Vertrautheit, mit der Mhairi den Vornamen des Mannes benutzte. Er hatte vor ein paar Wochen drei Tage auf der Insel verbracht – als Freund eines der Besitzer des Fischereiunternehmens war er auf einer Grönlandfahrt mitgereist, und ein Sturm hatte die Besatzung gezwungen, für ein paar Tage in der Bucht anzulegen. Natürlich war Flora ihm aufgefallen – sie fiel schließlich jedem auf. Aber noch nie war auf eine harmlose Romanze ein Brief gefolgt.

»Was schreibt er?«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht ihrer Freundin, und ihr Blick war überraschend weich.

»Dass er nicht aufhören kann, an mich zu denken, und dass er mich gerne näher kennenlernen möchte.«

»Und wie will er das anstellen?«, spottete Mhairi und zeigte mit dem Kinn in Richtung Horizont, wo die Wellen bereits höher wurden, bereit, sie bis zum nächsten Frühjahr vom Festland abzuschneiden. Tief in ihrem Inneren spürte sie einen Stachel von Neid.

»Er schlägt vor, wir könnten uns schreiben.« Floras Ton war beiläufig, aber Mhairi wusste, dass dies etwas war, das beinahe einem Erdbeben gleichkam. Es kam zwar hin und wieder vor, dass reiche, gut aussehende Fremde ihren kleinen Archipel besuchten, und ihre Freundinnen und sie selbst waren in einem Alter, in dem sie das aufregend fanden. Aber so attraktiv und zuvorkommend die jungen Männer auch waren, stiegen sie doch alle irgendwann wieder auf ihr Schiff und segelten davon, und die Romanze mit den hübschen Inseltöchtern war vergessen, kaum dass sie wieder zu Hause angekommen waren. Als Mhairi noch sehr klein gewesen war, hatte sie einmal mit angehört, was einer der Marinesoldaten, die während des Krieges auf der Insel stationiert gewesen waren, erzählte: Die Mädchen von St. Kilda würden auf dem Festland betrachtet wie Meerjungfrauen oder Selkies: bemerkenswerte Schönheiten, aber zu weit entfernt, um real zu sein. Flora war ungewöhnlich schön, und Mhairi konnte sich vorstellen, dass man um die ganze Welt segeln konnte, ohne ein Gesicht zu sehen, das so bezaubernd war wie ihres. Und dennoch hatte ihr noch nie jemand geschrieben.

Bis jetzt.

Mhairi blickte auf das Meer hinaus, und das Gefühl in ihrem Magen gefiel ihr nicht. Sie besaß ein sanftes, freundliches Wesen – alle bezeichneten sie als »selbstlos« –, warum also sollte sie ihrer Freundin ihr Glück missgönnen? Aber das tat sie, und es fühlte sich so an, wie der verrottende Wal roch. So widerlich und bitter, dass sie davor zurückzuckte.

»Du mochtest ihn«, sagte sie ruhig, während sie den Strand betrat und auf das tintenblaue Wasser starrte. In der Bucht blitzten Lichter auf wie Sterne, wo die Männer – und Effie – an dem ausgeweideten Kadaver arbeiteten, fieberhaft angesichts der herannahenden Flut.

»Er war ein Gentleman. Hat mit mir geredet. Die meisten sehen mich nur an.«

»Er hat dich auch angesehen.« Sie betrachtete ihre Freundin von der Seite – ihr langes schwarzes Haar, das im Abendwind flatterte, ihre vollen Lippen und die gerade Nase, die geschwungenen Augenbrauen über diesen verwirrend grünen Augen.

»Aye. Aber eben auch mit mir gesprochen. Und mir geschrieben.«

Mhairi schluckte. Niemand sah jemals sie an, nicht auf diese Weise; ihre Wangen waren zu rot, ihre Haarfarbe zu grell, ihre Hüften zu rund, ihre Hände zu rau. »Was stand noch in dem Brief?«

»Er hat mir ein bisschen von seinem Leben erzählt. Dass er Geschäftsmann ist, aber im Grunde seines Herzens ein Forscher. Sein Vater war ein Industrieller.«

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Flora und zuckte mit den Schultern. »Er hat eine jüngere Schwester, einen Neffen und mehrere Nichten. Wenn er nicht auf Reisen ist, lebt er in Glasgow.«

»Was erforscht er?«

»Das hat er nicht gesagt. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihm zurückschreibe; soll ich?«

»Du willst ihm antworten?«

»Oder ist das eine dumme Frage? Ich will nicht, dass er mich für ein schlichtes Gemüt hält.«

»Das ist das Letzte, was du bist«, sagte Mhairi spöttisch. Ihre Mutter nannte ihre Freundin ein »kleines Luder«, weil Flora schon früh erkannt hatte, dass ihre seltene Schönheit sie zu etwas Besonderem machte, und sie zu ihrem Vorteil zu nutzen wusste – ob es nun darum ging, sich vor der Arbeit zu drücken oder einer Bestrafung des Pastors zu entgehen.

»Ich will nicht, dass er schlecht von mir denkt.«

Mhairi hörte die seltenen Selbstzweifel in der Stimme ihrer Freundin und bekam Mitleid. »Warum sollte er das tun?«

Die Sonne war hinter dem westlichen Bergkamm untergegangen, und sie schauderte leicht, als es plötzlich dunkel wurde. Sie drehte sich zu Flora um, die sich gerade hinunterbeugte und ihre Lampe anzündete. Floras Schönheit war frappierend, auch dann, wenn sie sich dessen nicht bewusst war.

Effie und die Männer hatten ihre Arbeit beendet und kehrten zurück. Als das Boot näher kam, wurden ihre Gesichter im Licht der Lampen erkennbar, und man konnte das Geräusch der Ruder hören. Mhairi stellte ihre Lampe ab und zog den Rock hoch, um ihre nackten Füße freizulegen. Hinter ihnen erklangen Schritte und leise Stimmen; weitere Dorfbewohner kamen an den Strand, um zu helfen. Norman Ferguson und Donald McKinnon sprangen als Erste ins hüfttiefe Wasser, um das Boot an Land zu ziehen. Sie hielten den Bug fest, während Hamish Gillies und Effie anfingen, schwere Eimer hinüberzureichen.

Mhairi watete hinein, nahm den ersten und reichte ihn an Flora weiter, die ihn Mary McKinnon gab. Mhairi hütete sich, auf die glänzenden rosafarbenen Fleischstücke hinabzublicken, die in Blut schwammen. Flora hielt sich weniger zurück und stöhnte laut auf, als die Eimer weitergereicht wurden. Als alles ausgeladen war, sprangen die Männer aus dem Boot und zogen es ganz an den Strand. Der Verwalter ging wieder als Letzter an Land, sodass er mit nur ein paar Schritten trockenen Boden erreichte; aber anders als die Inselbewohner war er es nicht gewöhnt, barfuß zu gehen, und so stakste er unbeholfen über die Steine, worüber die Männer und Effie grinsen mussten.

»War es viel?«, rief Lorna MacDonald, die jetzt auch heruntergerannt kam. Die Krankenschwester der Insel war bei Old Fin gewesen, um den Verband an seinem Bein auszuwechseln.

»Aye, nicht schlecht«, sagte Hamish Gillies und beugte sich über die Eimer. »Dafür, dass er schon halb untergegangen war, als wir ankamen.«

»Ma will ein paar Stücke für die Hunde«, sagte Mhairi zu ihrem ältesten Bruder.

»Tja, davon haben wir genug«, sagte Angus und reichte ihr einen Eimer. Mhairi beging den Fehler, hineinzusehen, und spürte, wie sich ihr beinahe der Magen umdrehte.

»Dieser Gestank«, sagte sie und schlug die Hand vor Mund und Nase. »Der ist doch sonst nicht so schlimm.«

»Ach, das ist nicht das Fleisch. Es ist dieser schwarze Schleim, den der Verwalter unbedingt mitnehmen wollte«, murrte Norman Ferguson und warf dem älteren Mann einen finsteren Blick zu.

»Schwarzer Schleim …?«

»Erbrochenes«, murmelte Norman.

Flora schlug sich die Hand vor den Mund, als der Eimer mit diesem »Schleim« an ihr vorbeigereicht wurde. Mhairi spürte, dass ihre Augen tränten. Einen solchen Geruch hatte sie noch nie wahrgenommen – salzig und nach Tabak und Fäkalien, nach staubigem altem Papier, saurer Milch, dem Strand bei Ebbe … Sie konnte es nicht genau bestimmen.

»Warum in aller Welt habt ihr das mitgebracht?«, stieß Flora hervor und wendete sich ab. »Oh! Das ist widerlich!«

»Dieser schwarze Schleim, wie Sie es nennen«, sagte der Verwalter unwirsch und ohne sich von der theatralischen Gebärde der jungen Frau beirren zu lassen, »ist als Heilmittel gegen Gicht bekannt.«

»Gicht?«

»Aye, und meine arme Mutter leidet sehr darunter.«

»Was ist Gicht?«, fragte Mhairi.

»Ist das nicht die Reiche-Leute-Krankheit?«, fragte Donald McKinnon stirnrunzelnd, ganz offensichtlich ohne jedes Mitgefühl für die missliche Lage von Frank Mathiesons Mutter.

»Aye«, bestätigte Lorna.

»Die Krankheit heißt Gicht und ist sehr schmerzhaft«, erklärte der Verwalter schmallippig. Er und Donald McKinnon waren immer noch nicht über den erbitterten Streit hinweg, in den sie in der vergangenen Woche geraten waren. Es war darum gegangen, wie viel Mathieson für ihre schwarzen Papageientaucherfedern zu zahlen bereit war.

»Und wie wendet man es an?« Flora verzog das Gesicht und hielt sich die Nase zu. »Bitte sagen Sie mir nicht, dass man es anfassen muss.«

Frank Mathieson grinste. »Mehr als das, Miss MacQueen, man muss es essen.«

»Essen?« Floras Blick war so angewidert, dass der Verwalter lachte.

»Genau. Auch wenn es ein Jahr dauert, bis es fertig ist.« Er sah in fragende Gesichter – keiner von ihnen hatte so etwas je gesehen – und seufzte. »Unter bestimmten Bedingungen – es muss ständig Sonne und Meer ausgesetzt sein – wird es hart und heller, manchmal sogar weiß, wenn es lange genug dauert. Erst dann kann es zu feinen Spänen zerkleinert und über das Essen gestreut werden.«

Flora sah aus, als müsse sie sich gleich übergeben. »Und das werden Sie tun?«

»Aye. Aber zuvor brauche ich jemanden, der mir hilft. Jemand muss sich für mich darum kümmern, jeden Tag, bis ich im Frühjahr wiederkomme. In diesem Zustand kann ich es nicht transportieren, es muss zuerst hart werden. Wer hilft mir?« Er blickte hoffnungsvoll in die Runde, aber niemand war gewillt, ihm irgendeinen Gefallen zu tun, und alle standen stumm und teilnahmslos da. Donalds und Normans Blicke waren voller Hohn, und Hamish wirkte skeptisch. Was kümmerte es sie schon, wenn die Mutter des Verwalters unter der Reiche-Leute-Krankheit litt? Sie selbst hatten größere Härten auszuhalten.

Er sah Effie an, die ebenfalls finster dreinblickte. »Tja, ich sehe schon, es nützt nichts, an Ihr Verständnis zu appellieren. Dann versuche ich es eben mit Geld. Einen Schilling?«

Jetzt schoss Effies Hand nach oben. »Ich mache es«, sagte sie schnell. Ihr Bruder John war vor drei Jahren gestorben, und weil ihr Vater zu alt war, um noch am Seil zu klettern, musste sie ihn alleine versorgen. Die anderen Dorfbewohner packten mit an, wo sie konnten, aber Effies Stolz duldete keine Wohltätigkeit, und so kämpfte sie wie eine Löwin um jedes Privileg, was immer wieder zu Problemen führte. Aber das hier konnte ihr niemand verwehren, es sprach nichts dagegen, dass ein Mädchen diese Arbeit verrichtete.

Obwohl er sie gerade noch erwartungsvoll angesehen hatte, schüttelte der Verwalter jetzt den Kopf. »Nein.«

»Nein?«, stieß sie hervor.

»Sie haben genug zu tun, Miss Gillies, denn Sie haben schon die zusätzliche Arbeit mit dem Bullen, nicht wahr?«

»Aber ich könnte trotzdem …«

»Nein. Es wäre nicht fair Ihren Nachbarn gegenüber, wenn Sie all diese Gefälligkeiten für sich beanspruchen.«

Gefälligkeiten? Mhairi schnaubte ungläubig, aber er schien es nicht zu bemerken. Sie sah das empörte Gesicht ihrer Freundin, sah ihre blaue Augen funkeln.

»Es ist keine schwere Arbeit, aber ich gebe zu, dass der Geruch abstoßend ist, deshalb bin ich gerne bereit, dafür zu bezahlen.« Der Verwalter ließ den Blick über ihre Gesichter wandern. »Miss MacQueen?«

Machte er Witze? Er amüsierte sich auf Kosten anderer. Flora hob nur eine Augenbraue. »Meine Mutter würde dieses Zeug nicht in der Nähe des Hauses dulden«, sagte sie, aber niemand nahm ihr ab, dass es ihre Mutter war, die daran Anstoß nähme.

»Dann Miss MacKinnon, wie wäre es mit Ihnen?« Plötzlich richtete der Verwalter seinen scharfen Blick auf Mhairi. »Möchten Sie nicht ein paar zusätzliche Pennys für Ihre große Familie verdienen? Oder soll ich mit Ihrem Vater sprechen und es von der Miete abziehen? Sie haben natürlich wenig Verwendung für Bargeld.«

Mhairi wollte schon antworten, da begegnete sie Effies vorwurfsvollem Blick – aber was konnte sie dafür? Natürlich musste Effie sich und ihren Vater alleine versorgen, aber Mhairis Vater hatte elf Mäuler zu stopfen, und alles, was diese Belastung verringern konnte … Einmal hatte sie gehört, wie ihre Eltern darüber sprachen, als sie dachten, dass alle Kinder schliefen: Es wurde immer schwerer, mit dem, was sie hatten, auszukommen.

»Mach es, Mhar!«, forderte Angus grob, als sie zögerte.

Sie senkte den Blick und nickte.

»Gut. Dann ist es abgemacht.« Der Verwalter nahm den stinkenden Eimer und betrachtete ihn grinsend. »Ich bringe das hier nach oben und zeige Ihnen, was zu tun ist, Miss MacKinnon. Ihre Eltern werden bestimmt dankbar sein.«

Angus trat mit finsterem Gesicht zu ihr und hielt ihr einen weiteren Eimer hin. Ihr Bruder war groß und gut gebaut, mit riesigen Händen und einem dichten Bart, der einem zehn Jahre älteren Mann hätte gehören können. Immer noch konnte er es nicht lassen, sich sein einschüchterndes Äußeres ihr gegenüber zunutze zu machen.

»Warum hast du so lange gezögert?«, schimpfte er. »Wenn Vater gehört hätte, wie du beinahe einen Schilling ausgeschlagen hast …«

»Das habe ich nicht getan und würde es auch niemals tun.«

»Du hast dir aber ganz schön viel Zeit gelassen bei der Entscheidung. Bist dir wohl zu fein für diese Arbeit, was?«

Effie kam vorbei, in den Händen zwei Eimer, die aussahen, als wären sie schwerer als sie selbst. Sie hielt den Blick starr nach vorne gerichtet, und Mhairi wusste, dass auch ihre Freundin böse auf sie war.

Sie sah, dass Angus ihrer zierlichen Freundin nachsah. »Ein Schilling macht sowieso keinen großen Unterschied«, erwiderte sie verärgert. »Und außerdem, wenn du Pa wirklich entlasten wolltest, würdest du heiraten. Aber glaub nicht, dass Eff diejenige wäre. Sie ist zu klug für einen wie dich.«

»Oh, und sie hat natürlich jede Menge anderer Möglichkeiten, was?«

»Es gibt immer eine andere Möglichkeit.«

»Wirklich?« Er sah sie aus schmalen Augen an und trat drohend auf sie zu. »Und was ist mit dir? Wer von hier heiratet dich, Mhar, oder willst du eine alte Jungfer werden? Denn soweit ich weiß, bekommst du keine Briefe.«

Seine Augen funkelten siegessicher, und sie schluckte. Wie schon früher als Kind wusste ihr ältester Bruder genau, wie er sie am empfindlichsten treffen konnte. Sie würde nie einen Verehrer von der Anderen Seite hierherlocken wie Flora. Für eine große Liebesgeschichte war sie zu gewöhnlich.

Das waren sie beide.

Er drehte sich um und fing an, den Strand zu überqueren. Sie folgte ihm schweigend.

Das Licht der Cottages fiel auf die Straße, verriet aber vorbeifahrenden Schiffen kaum Anzeichen von Leben, denn die Nacht legte sich wie ein Schleier über die einsame Insel. Der Mond ging bereits auf, und hinter ihnen rauschten die Wellen, während irgendwo in den Tiefen ein toter Wal langsam hinabsank in sein Grab.

2. Kapitel

Das Geräusch von tröpfelndem Regen an den Fensterscheiben weckte Mhairi. Jenseits der schmalen Bucht war der Horizont kaum zu erkennen. Der Wetterumschwung deutete darauf hin, dass der Herbst bevorstand – früh in diesem Jahr. Immerhin würde der Regen den widerlichen Gestank fortwaschen. Über der Boje kreisten keine gierigen Vögel mehr. Die Walfänger würden nicht glücklich sein, wenn sie zurückkämen und erführen, dass ihre kostbare Beute geplatzt und auf den Meeresgrund gesunken war.

Sie erhob sich von ihrer schmalen Pritsche und zog sich ein Wolltuch über das Nachthemd. Das lange Haar hatte sie sich zu einem losen Zopf geflochten. Ihre kleinen Geschwister schliefen noch fest, schnieften und wimmerten in ihren unruhigen Träumen und bewegten sich hin und wieder. Im Raum war es stickig.

»Zeit, aufzustehen«, sagte sie sanft, wissend, wie hart der Beginn des Tages für kleine, noch wachsende Körper sein konnte. Im Vorbeigehen berührte sie das nächstgelegene Paar Beine – es gehörte Red Annie. Das Mädchen zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Stoß versetzt.

Mhairi hörte schon das Kratzen der Ofenschaufel und das Klappern der Töpfe, die ihre Mutter auf den Herd stellte, und betrat den Wohnraum.

»Guten Morgen«, murmelte sie und sah durch die offen stehende Tür Old Fin über sein Grundstück zum Strand hinunterschlurfen, auf der Suche nach frischem Seetang, weil jetzt Ebbe herrschte. Der dünne Baumwollstoff ihres Nachthemds hing in der feuchten Luft schlaff an ihr herunter, und sie zog ihr Wolltuch enger um sich.

»Sind sie wach?«, fragte Rachel ohne aufzublicken, während sie die süßen Teiglinge auf die heiße Ofenplatte legte.

»Aye.« Sie ging um ihre Mutter herum und schenkte ihr und sich selbst je eine Tasse dünnen Tee ein.

»Danke.«

Mhairi stellte sich an die Tür und blickte über die Bucht. Sie genoss diese ersten, stillen Momente, bevor ihre große, laute Familie sich nach und nach regte. Die scharfen Konturen des gestrigen Tages waren über Nacht verlaufen und die satten Farben verblasst, sodass die Landschaft weich und unfertig wirkte. Ein leichter Küstennebel schwebte durch das Tal wie ein Geist und schien die Wände ihrer Welt enger zu ziehen. Sie konnte kaum das Verwalterhaus ausmachen oder das Federnlager am anderen Ende der Straße, alle Formen verschwammen zu grauen Flecken. Um diese Uhrzeit sprachen alle noch mit gedämpften Stimmen, und der Wind trug nur das Muhen der Kühe zu ihr.

Ein kratzendes Geräusch ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken, und als sie heraustrat, sah sie ihren Bruder Fin. Er stand barfuß auf dem First des Stalldaches, groß und schlaksig, in seiner braunen Hose aus Wollstoff und seinem Arbeitshemd. Er hielt die Arme ausgestreckt, bereit, das Ende des Hanfseils aufzufangen, das ihr Vater aufgewickelt in der Hand hielt.

Der Winter würde hereinbrechen, ehe sie sichs versahen, und wenn sie den Stürmen trotzen wollten, waren Reparaturen unumgänglich. Der Wind konnte hier heftig sein, wenn er mit einer Kraft über die Hänge pfiff, die Felsbrocken am Strand bewegen konnte oder Dächer von den Häusern riss, und oft waren die Dorfbewohner danach noch tagelang taub von seiner Lautstärke. MacLeod hatte seine Pflicht als Landlord erfüllt und die Zinkdächer der neuen Häuser – vor vierzig Jahren erbaut – mit Stahlbändern befestigen lassen, aber die alten Blackhouses und Ställe wurden stillschweigend dem Verfall überlassen. Für manche Familie mochte das zu verkraften sein, aber die kinderreichen MacKinnons waren auf jeden Winkel angewiesen. Sie sah, wie Fin das Seil auffing und es über den First und das alte Fischernetz spannte, mit dem sie mindestens diesen Winter über vorliebnehmen mussten, weil sie mit ihrer Bitte um neues Reet beim Verwalter auf taube Ohren gestoßen waren.

Sie ging wieder ins Haus. Porridge blubberte auf dem Herd, ihre Mutter wendete die Brotfladen, und ein Kreischen aus dem Schlafzimmer verriet, dass ihre Geschwister jetzt richtig wach waren. Der Kessel, am Abend zuvor mit Wasser aus dem Bach gefüllt, hing an Ketten über dem Feuer, und das Wasser begann schon zu sieden, bereit für die Wäsche des Bettzeugs, das sie gleich abziehen würde.

Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, und die Kleinen, Murran und Alasdair, tapsten herein, die Augen noch geschwollen vom Schlaf. Alasdair wollte nach einem Brotfladen greifen, der zum Abkühlen dalag.

»Finger weg«, sagte seine Mutter und schlug ihm leicht auf den Handrücken. »Erst Gesicht und Hände waschen.« Sie zeigte auf einen Eimer in der Ecke, ohne hinzusehen, denn das Baby hatte angefangen zu weinen. Mhairi ging zu ihm und nahm es aus seiner Schublade, drückte es an sich und küsste es auf das Köpfchen.

»Heute färben wir die erste Ladung Stoff«, sagte ihre Mutter, nahm ihr das Baby ab und trat zurück, damit Mhairi das Frühstück übernehmen konnte. »Also hol ein paar Flechten, ja, wenn alle gegessen haben?«

Mhairi nickte, während ihre Mutter ins Schlafzimmer ging, um das Baby zu stillen.

Alasdair griff erneut mit ungewaschenen Händen nach dem Brotfladen. »Oh, oh«, sagte Mhairi und zeigte auf den Eimer, wie es zuvor ihre Mutter getan hatte. »Saubere Hände, reines Herz.«

Als er davontapste, fiel ihr ein großes Loch am Ellbogen seines Pullovers auf. Ein Flicken ist immer noch besser als ein Loch, sagte ihre Mutter immer, aber dieses war zu groß, um es zu stopfen – Mhairi würde den Pullover heute Abend auftrennen und neu stricken müssen. Sie begann, den Porridge in die angeschlagenen Steingutschalen zu füllen, während das Wasser im Kessel brodelte – Zeit, die Betten abzuziehen. Der neue Tag begann wie jeder andere.

Als die Dorfbewohner sich am Pier versammelten, war der Regen stärker geworden. Die Berggipfel verschwanden in dicken Wolken, und die Schafe blökten aus Protest gegen ihr vor Nässe schweres Fell. Mhairi stand bei ihren Freundinnen und winkte pflichtbewusst dem Verwalter nach, der zum Dampfschiff des Landlords gerudert wurde, das nun mit ihren jährlichen Pachtabgaben beladen war. Im Lagerraum stapelten sich Tweedballen, Säcke voller Federn, mit denen man Kopfkissen und Matratzen füttern würde, Fässer mit Sturmvogelöl, gut verschlossen wegen des nordatlantischen Seegangs, und Bündel von Strickwaren. Jeder hatte seine Verpflichtungen erfüllt, aber Frank Mathieson hatte allen, die ihm die Hand schüttelten, den Eindruck von »nur knapp geschafft« vermittelt, mit seinem strengen und enttäuschten Blick. Die meisten der Dorfbewohner, die sich hier zum Abschied versammelt hatten, wollten sich in Wirklichkeit nur davon überzeugen, dass er wirklich abreiste, hatte Flora ihr zugeflüstert.

»Ein Glück, dass wir den endlich los sind!«, zischte Norman Ferguson, während er seine Kappe wieder aufsetzte, und bahnte sich einen Weg durch die Menge, immer noch in Sichtweite des Verwalters, eine letzte Geste des Trotzes. Bis zum Frühjahr wären sie nun von ihm befreit, mindestens bis Ende April. Mathiesons Abreise signalisierte immer den offiziellen Beginn der Isolation. Der Wind konnte sich nun jeden Moment drehen – vielleicht nicht heute, morgen oder übermorgen, aber doch bald –, und dann würden die Wellen höher werden, und ihre Welt würde wieder zu einem zwei Meilen langen Felsen zusammenschrumpfen. Keine Besucher würden mehr auf Schaluppen oder Jachten auf die Insel kommen, sondern nur noch Trawlerfischer und Walfänger, die in den tiefsten und wildesten Gewässern unterwegs waren, und die waren ein ungeschliffener, roher Haufen.

Der Moment der Abreise war immer ein zweischneidiges Schwert. Niemand mochte den Verwalter, aber immer wenn er etwas nahm, so wie bei diesem Besuch, dann gab er auch etwas. Wenn er kam, dann brachte er auch die Dinge mit, die sie für den Winter dringend brauchten. Sie wollten Mathieson zwar nicht hier haben, konnten aber auch nicht auf ihn verzichten, denn ihr Überleben stand fortwährend auf dem Spiel. Der letzte Winter war besonders hart und lang gewesen, wochenlanger Schneefall und Stürme hatten ihre magere Ernte zunichtegemacht, sodass sie einen Notruf hatten absetzen müssen mithilfe eines »St. Kilda-Postboots«, einer Art Flaschenpost, die fünf Tage später an der Küste von Benbecula angespült worden war. Danach hatte ein vorbeifahrender Trawler ihnen eine Notfallration Hafer und Kartoffeln gebracht. So froh sie auch waren, den Verwalter jetzt im Nebel verschwinden zu sehen, würden sie dennoch dankbar sein, wenn sein Schiff in acht Monaten wieder um die Landzunge von Dún bog.

»Was mit dem Wind kommt, geht mit dem Wasser«, murmelte Flora. Sie hatte stocksteif dagestanden, entspannte sich aber, als das Schiff in der Ferne immer undeutlicher wurde und schließlich ganz verschwand.

»Ein Sturm zieht auf«, sagte Jayne Ferguson.

Mhairi hatte nicht einmal bemerkt, dass sie hinter ihr stand. Einen kurzen Moment wandte sie das Gesicht zum Himmel, spürte, wie sich die Feuchtigkeit auf ihre Haut legte, und lauschte dem Wind und den Vögeln.

»Hoffen wir, dass er ihn einholt«, sagte Flora mit einem kühlen Lächeln. »Und hoffentlich wird er herumgewirbelt wie bei einem Teufelstanz.« Bei diesen Worten drehte sie sich im Kreis und ließ ihren Rock schwingen, als würde sie eine Polka tanzen.

Alle wandten sich wieder in Richtung Dorf. Bis auf eine.

»Kommst du, Eff?«, fragte Mhairi. Als sie sah, dass ihre Freundin immer noch in den Nebel starrte, als fürchte sie, das Boot würde gleich wieder auftauchen, legte sie ihr eine Hand auf die schmale Schulter.

»Was?« Effie sah sie verständnislos an, mit den Gedanken sichtlich ganz woanders. »Aye.«

»Keine Sorge. Für die nächsten acht Monate sind wir von ihm befreit.« Mhairi lächelte, hakte Effie unter und zog sie an sich. »Seid ihr euch über die Mietzahlungen einig geworden?«

Effie schüttelte den Kopf. »Er sagt, die Abgaben bleiben gleich, unabhängig von der Anzahl der Hausbewohner.«

Mhairi war entsetzt. »Das hat er gesagt?«

Effie zuckte nur mit den Schultern, aber ihr Gesicht war starr, und auf einmal sah sie aus, als würde sie an der feuchtkalten Luft frieren. Drei Sommer waren vergangen, seit ihr Bruder John bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen war, und Effie war jetzt, mit siebzehn, im selben Alter wie er, als er »über die Spitze gestiegen« war. Jeden Tag musste sie darum kämpfen, dieselben Aufgaben übernehmen zu dürfen wie die Männer – klettern, angeln, Schafe scheren und weben. Nur so konnte sie sich und ihrem betagten Vater die Erniedrigung ersparen, von der Wohltätigkeit ihrer Nachbarn abhängig zu sein.

»Das tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung. Wenn im Frühling die Basstölpel kommen, fange ich ein paar Vögel mehr.« Ihr Ton war beiläufig, dabei war die jährliche Vogeljagd auf dem Stac Lee – einer hohen Felsinsel, die zwischen ihrer Insel Hirta und der fünf Meilen östlich gelegenen Insel Boreray lag – eine gefährliche Expedition, die es erforderte, von einem Dingi auf einen nassen Felsen zu springen, um ein dort befestigtes Seil zu ergreifen. Keiner Frau war bisher je erlaubt worden, es zu versuchen.

Flora, die direkt vor ihnen lief, unterbrach ihr Gespräch mit Jayne, drehte sich zu ihnen um und ging fröhlich rückwärts weiter. Mit jedem Ruderschlag, der den Verwalter weiter fortbrachte, schien sich ihre Stimmung zu heben. Und Mhairi wusste auch, warum.

»Dann hast du ihm also zurückgeschrieben?«, fragte sie leichthin, während Flora im Vorbeigehen einen Halm abriss und ihn zerstreut durch die Finger gleiten ließ, ein munteres Lied summend.

»Das habe ich«, antwortete sie strahlend. Bis der nächste Trawler vor der Insel ankern und wieder einen Postsack mitnehmen würde, konnte es Wochen dauern. Deshalb war Flora vorhin in der Posthütte aufgetaucht, als Mhairi und ihr Vater gerade den Sack zugeschnürt hatten, um ihn auf dem Schiff des Verwalters mit aufs Festland zu schicken. Als sie auch Mr Mathieson dort vorgefunden hatte, der sich angeregt mit Ian MacKinnon unterhielt, war sie vor Überraschung erstarrt und hatte damit noch mehr Aufmerksamkeit auf den Brief in ihrer Hand gelenkt. Der Verwalter hatte ihn ihr weggenommen und Mr Callaghans Namen laut vorgelesen, bevor er den Brief an den Postmeister weitergereicht hatte.

»Werben Sie um einen feinen Gentleman, Miss MacQueen?«, hatte er sie aufgezogen, nicht ahnend, dass er ins Schwarze getroffen hatte, und die Tatsache, dass er schon die Vorstellung so lustig fand, hatte Flora in schlechte Laune versetzt. Aber jetzt war er fort, und der Brief auch. Mr Callaghan – James – würde seine Antwort früher erhalten, als er vermutlich zu hoffen wagte.

»Und was hast du ihm nun mitgeteilt?«

»Von wem redet ihr?«, fragte Effie verwirrt.

»Von Mr Callaghan, der letzten Monat hier war.«

Effies Augen wurden groß, als sie sich an den gut gekleideten Besucher erinnerte. »Er hat dir einen Brief geschrieben?«

Floras Lächeln wurde noch breiter. »Ja. Und ich habe ihm alle seine Fragen beantwortet.«

»Und welche waren das?«, fragte Mhairi beharrlich.

»Mhairi, hat dein Vater dir nicht beigebracht, dass Briefe etwas Privates sind?«, erwiderte Flora, plötzlich ungewohnt zurückhaltend angesichts der Neugier ihrer Freundinnen, und zog einen Flunsch.

»Flora!«, rief Mhairi ungeduldig aus.

Flora lachte, erfreut über ihre gespannte Aufmerksamkeit. »Gut. Dann nenne ich euch eine der Fragen.« Sie seufzte und blickte auf die wolkenverhangenen Berge. »Er wollte wissen, was ich mir vom Festland wünsche.«

Mhairis Herz zog sich zusammen, denn sie wusste sehr gut, was Flora sich vom Festland wünschte: ein neues Leben dort. Sie selbst und Effie waren mit ihrem Felsen im Meer eng verbunden, aber Flora war schon als kleines Mädchen wie ein verirrter Tropenvogel gewesen, der verzweifelt versuchte, sein wahres Zuhause zu finden.

»Und was hast du geantwortet?«, drängte Effie, als Flora eine dramatische Pause einlegte.

»Einen roten Lippenstift. So einen wie ihn Jean Harlow benutzt.«

Jayne lachte, als würde sie gekitzelt. »O Flora«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ausgerechnet …«

Flora runzelte die Stirn. »Wieso? Was hättest du dir denn gewünscht?«

Jayne zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ein paar Hühner?«

»Hühner?«, prustete Flora. »Wenn du alles bekommen könntest?«

»Aye. Es wäre schön, meine Eier vor der Haustür zu haben anstatt auf den Klippen.«

»Ich hätte mir ein neues Seil gewünscht«, sagte Effie nachdenklich. »Und ein Daunenkissen für Vaters Sessel.«

Flora schüttelte enttäuscht den Kopf. »Mhairi?«, fragte sie dann hoffnungsvoll. »Was ist mit dir?«

Mhairi öffnete schon den Mund. Einen Liebesbrief, hatte sie sagen wollen, aber damit hätte sie zu sehr den Eindruck erweckt, ihrer Freundin nachzueifern. Aber ihr fiel nichts anderes ein. Tatsächlich hatte das Festland ihr immer Angst gemacht; ihre Mutter war einmal dort gewesen und hatte sich danach über die Menschenmengen beklagt, den Lärm, die Autos, »die einen plattfahren konnten«. Außerdem besaß Mhairi bereits alles, was sie brauchte, und sie hatte nie verstanden, warum sie sich Dinge wünschen sollte, die einfach nicht sein konnten. Aber sie sah die Aufregung in Floras Augen und ihr Bedürfnis, dass noch jemand solche Wünsche hatte wie sie selbst.

»Ich hätte mir ein Kleid gewünscht«, sagte sie zögernd.

»Was für eins?«, fragte Flora, und ihre Augen leuchteten, weil sie endlich eine Verbündete gefunden hatte.

»Ein … hellblaues.«

»Wolle?«

Mhairi schüttelte den Kopf. »Hanf? Für den Sommer.«

»Also Baumwolle«, sagte Flora bestimmt.

»Ja, Baumwolle«, pflichtete Mhairi ihr bei.

»Lang?«

»Bis hier.« Mhairi zeigte auf ihre Knie. Ihr Rock – grobe Wolle, dunkelblau mit grünen Streifen – reichte ihr bis zu den Fußgelenken. Wie immer trug sie dazu eine weiße Bluse, und ihr Haar hatte sie zum Schutz vor dem Wind mit dem rot karierten Tuch festgebunden, das hier alle Frauen trugen. Nur Effie widersetzte sich diesem Brauch, indem sie die alten Hosen und Pullover ihres verstorbenen Bruders trug, unter dem Vorwand, es sei nicht anständig, im Rock zu klettern, womit sie sich die gesellschaftlichen Regeln zu ihrem Vorteil zurechtbog. Es war immer etwas sonderbar, sie sonntags in der Kirche im Rock zu sehen.

Flora strahlte, offenbar entzückt bei dem Gedanken an ein so luftiges Kleidungsstück, und Mhairi lächelte ebenfalls – wissend, dass sie der Begehrlichkeit soeben ein kleines Fenster geöffnet hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nie an solche Dinge gedacht – aber jetzt wurde ihr klar, dass sie die Kleider der Touristinnen auf der Insel wahrgenommen hatte und sich an sie erinnerte, wenn sie in der Lage war, solche Details zu nennen. Es musste wunderbar sein, an heißen Sommertagen so etwas zu tragen. Bei dem Gedanken, dass es dazu niemals kommen würde, spürte sie einen Stich des Bedauerns.

Sie hatten ihre Häuser erreicht und bogen eine nach der anderen ab; zuerst Jayne, dann Effie. Floras Cottage lag gleich hinter dem von Mhairi.

Ein paar Männer – Hamish Gillies, Norman Ferguson, Donald McKinnon und Archie MacQueen – standen vor der kleinen Posthütte und redeten aufgeregt auf ihren Vater ein. »Um was geht es da?«, fragte sie ihre Mutter, als sie ins Haus trat.

»Nicht um was. Um wen.« Ihre Mutter saß am Spinnrad, und das Garn wickelte sich um die Spule, während sie rhythmisch auf das Pedal trat. Im Cottage war es ruhig. Mhairis Geschwister hatten Unterricht bei der Frau des Pastors, Rory schlummerte wieder in seiner Schublade, und Alasdair hielt ein Nickerchen auf dem Bett. Das Bettzeug trocknete vor dem Feuer, weil es heute draußen zu feucht war. »Diesmal hat Mathieson zu viele Leute gegen sich aufgebracht. Norman und Donald planen eine Revolution, nach dem, was ich mitbekommen habe.«

»Warum? Was hat er getan?«

Ihre Mutter zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Was soll er schon getan haben? Geschimpft? Gespottet? Gegiftet?«

Mhairi sah den kleinen Topf Wasser, der schon auf dem Herd köchelte, und griff nach den fedrigen Flechten, die sie vorhin gesammelt hatte und die noch in ihren Taschen steckten. Sie warf sie hinein und rührte vorsichtig um, sah zu, wie der meergrüne Farbstoff sich im Wasser verteilte. Durch sonderbare Alchemie würde er der Wolle einen warmen, goldbraunen Farbton verleihen. Die großen Bäusche von Rohwolle, die sie heute färben würde, lagen bereits zum Einweichen in einer großen flachen Wanne auf der anderen Seite der Straßenbegrenzung.

Mhairi nahm den kleinen Topf mit nach draußen und goss das Färbewasser langsam in die Wanne. Dann kniete sie sich ins Gras und fing an, die Wolle sanft durchzukneten, damit die Farbe sich gleichmäßig verteilte. Die Stimmen der Männer drangen zu ihr, aufgeregt und wütend, resigniert und verzweifelt.

»… respektiert uns überhaupt nicht«, sagte gerade einer, und sie vermutete, dass es Norman war. »Ich würde sogar sagen, dass er uns verachtet. Er hält uns für blöd und denkt, dass wir keine andere Möglichkeit haben.«

»Die haben wir ja auch nicht«, spottete ein anderer. War es Archie MacQueen?

»Da täuschst du dich! Ich habe bei meinem Besuch auf Harris im Frühling einen Mann kennengelernt, McLennan. Er sagte, er würde mir mein übriges Öl für einen Schilling und zehn das Pint abkaufen. Einen Schilling und zehn! Mathieson hat uns nur einen Schilling und vier gegeben.« Von ihrem Platz hinter der Mauer konnte Mhairi nichts sehen, aber sie wusste, dass es Donald McKinnon war, der da sprach – er war der Einzige, der die Insel in diesem Jahr verlassen hatte. »Ich habe meinen Überschuss extra behalten; hab ihn oben am Oisebhal versteckt, damit Mathieson nichts davon mitbekommt. Jetzt habe ich neunzehn Pints, die ich verkaufen kann. Und wenn McLennan auch die überschüssigen Federn nimmt und mir dafür mehr als sieben Schilling pro Stone gibt, warum sollte ich die Sachen dann weiterhin dem Verwalter verkaufen?«

»Weil er der Verwalter ist.« Mhairi erkannte die strenge Stimme ihres Vaters.

»Aye. Beauftragt vom Landlord, und ich sage ja nicht, dass wir ihn betrügen. Wir geben ihm das, was MacLeod an Abgaben zusteht, keine Feder zu wenig und keine zu viel. Aber wenn wir mehr Ertrag haben, als wir für unsere Mietzahlungen brauchen, können wir selbst entscheiden, was wir damit machen. Er verlässt sich darauf, dass wir zu dumm oder zu faul sind, unsere Waren woanders hinzubringen – aber ich werde das tun.«

Die anderen Männer raunten nach seiner kämpferischen Rede, dann trat Stille ein.

»Tja, das ist ja alles schön und gut, aber jetzt ist es sowieso zu spät«, sagte Archie MacQueen barsch. »Mathieson ist mit den Mietabgaben fort, und für dieses Jahr ist die Sache erledigt.«

»Nein, ist sie nicht«, widersprach Donald McKinnon. »Die Walfänger können jeden Tag zurück sein. Jede Minute. Sie werden mich mitnehmen – ich habe schon mit dem Kapitän gesprochen.«

»Jetzt fortgehen?«, höhnte Hamish. »Und dann? Die Frage ist, wie du zurückkommst! Du könntest dort stranden, und was würde deine liebe Mary dazu sagen?«

»Sie würde sich bestimmt freuen«, gab Donald wütend zurück.

Ein paar Männer lachten leise. Mhairi fuhr fort, die Wolle in der Wanne zu kneten und zu wenden, war aber fasziniert von dem Gespräch. Geld zu verdienen, war auf St. Kilda, wo vor allem der Tauschhandel zählte, immer zweitrangig gewesen, aber das änderte sich seit ein paar Jahren. Die Touristen brachten Kleingeld für Postkarten, Möweneier, Socken, Fotos mit den Dorfbewohnern oder Klettervorführungen mit. Und wenn es auch auf der Insel keine Läden gab, in denen man es hätte ausgeben können, gab es doch einige auf den Nachbarinseln Harris, Lewis und Uist, eine zehnstündige Bootsfahrt entfernt.

»Aber kannst du dich darauf verlassen, dass dieser McLennan mit dir Geschäfte macht?«, fragte Norman Ferguson. »Es ist ein weiter Weg, und wenn du dann feststellst, dass der Mann nicht besser ist als Mathieson …«

»Es ist ein Risiko, das gebe ich zu. Wir sind uns im Prinzip über den Preis einig geworden, aber ich habe ihm die Waren nicht fest zugesagt. Zuerst wollte ich Mathieson die Chance auf ein faires Geschäft geben. Dachte, das gehört sich so. Ich habe versucht, mit ihm zu verhandeln, und ihm gesagt, was ich für den tatsächlichen Marktwert halte – und er hat mir einfach ins Gesicht gelacht.« Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »Also habe ich meinen Überschuss behalten, und der zusätzliche Gewinn wird ihm wegen seiner Gier entgehen. Jetzt bekommt er nur genau das, was ihm zusteht, und ich mache den Profit – und ihr auch, wenn ihr wollt. Wenn ihr irgendetwas übrighabt, nehme ich es mit und verkaufe es dort für euch.«

Mhairi setzte sich auf und hörte genau zu, wie die Männer das Vorhaben diskutierten. Fahrten zum Festland wurden normalerweise nur in medizinischen Notfällen unternommen. Dort hinzufahren, nur um Geld zu verdienen, war – da hatte ihre Mutter recht – revolutionär. Sie reckte den Hals, sodass sie gerade über die Mauer blicken konnte, und sah die Männer mit gesenkten Köpfen dastehen, die Hände in den Hosentaschen. Ihre älteren Brüder sahen ihren Vater an und wirkten fasziniert, aber auch unsicher.

»Das würde uns natürlich sehr helfen, Vater«, sagte ihr Bruder Fin ruhig. »Wir haben mehrere Ellen Tweed übrig. Mit dem, was wir daran verdienen würden, könnten wir neues Werkzeug kaufen. Ein Torfspaten wäre sehr willkommen. Wenn der nächste Winter so wird wie der letzte …«

Er verstummte, aber sie alle wussten, was er hatte sagen wollen: dass sie ihn dann vielleicht nicht überstehen würden.

Ihr Vater nickte, wirkte aber nicht sehr beruhigt, geschweige denn überzeugt. Mhairi hatte gestern Abend vergeblich auf eine begeisterte Reaktion von ihm gehofft über ihre zusätzlichen Einkünfte, weil sie den schwarzen Schleim umrührte. Mit einem Schilling bekam man keine elf Personen satt, und selbst diese neuen Gewinne würden nur wenig Erleichterung bringen. Aber ihr Bruder hatte recht – ein Spaten war ein Spaten. Alles war eine Hilfe.

»He«, blaffte Angus, als er merkte, dass sie lauschte. »Wir haben eine Spionin unter uns.«

Die Männer folgten seinem Blick, und Mhairi richtete sich auf. Ihr rotes Haar war vor der moosbewachsenen Mauer ohnehin kaum zu übersehen.

»Ich spioniere nicht, ich färbe«, sagte sie flapsig und hielt ein schlaffes Stück Wolle hoch.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung in ihre Richtung. »Verschwinde! Das hier ist Männersache.«

»Nein, ist es nicht«, erwiderte sie spöttisch. »Denn dann wäre Effie dabei.« Sie sah ihn herausfordernd an, denn sie wusste genau, wie sehr Effies Aufsässigkeit die Männer – und vor allem Angus – provozierte.

Angus kniff die Augen zusammen. Der Streit von gestern Abend schwelte immer noch zwischen ihnen, überschattete alles.

»Vielleicht sollte Angus mit dir fahren, Donald?«, sagte sie hinterlistig, immer noch gekränkt von seiner grausamen Bemerkung über Floras Brief und ihre eigenen trüben Aussichten. »Vielleicht findet er dort eine Frau und bringt sie mit hierher. Mit Geld kann man Spaten kaufen, aber wir brauchen auch Hände, die sie benutzen können.«

Ihr Vater blickte mit einem neu erwachten Interesse zu Donald, das sie nicht vorhergesehen hatte. »Da hat das Mädchen nicht unrecht. Gibt es dort Frauen, die einen Ehemann suchen?«

»Auf Harris bestimmt, aber wohl nicht direkt in Bunavoneader.« Donald zuckte mit den Schultern. »Dort gibt es nur eine Walfangstation. McLennans Farm ist ein paar Meilen entfernt, und es wird wohl keine Zeit für lange Ausflüge sein. Wenn möglich, bin ich nach ein paar Tagen wieder zurück.«

»Tja, und dieser McLennan … Hat der eine Tochter?«, fragte ihr Vater. Sein Tonfall klang leicht ironisch – und auch wieder nicht. Ein Hauch von Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit.

»Eine Tochter? Nein.« Donald schüttelte den Kopf. »Aber er hat einen Sohn.«

»Einen Sohn?«, rief Angus und warf Mhairi einen triumphierenden Blick zu. »Also, dann sucht er vielleicht eine Frau! Wie alt ist er?«

»Ein oder zwei Jahre jünger als ich, würde ich sagen.«

»Vater! Denkst du dasselbe wie ich?« Nicht gerade unauffällig zeigte Angus mit dem Kinn in ihre Richtung. »Du musst nicht nur Fin und mich aus dem Haus bekommen. Mhairi ist jetzt auch im heiratsfähigen Alter, und was für Möglichkeiten hat sie hier schon, nachdem der arme John Gillies gestorben ist? David MacQueen hat es auf Molly abgesehen, und Euan Gillies ist wie ein Bruder für Mhairi. Ein Farmersohn auf Harris ist nicht zu verachten.«

Mhairi spürte, wie sie der Mut verließ, als sie den interessierten Blick ihres Vaters sah. »Ein Farmersohn nützt nichts«, protestierte sie. »Denn wenn sie eine Farm haben, muss er sie eines Tages übernehmen und wird dort gebraucht. Er würde nicht so weit wegziehen und hierherkommen!«

Sie sah die steile Falte zwischen den Brauen ihres Vaters, während er ihren Einwand überdachte, aber er blieb nachdenklich, und ihr Herzschlag beschleunigte sich angesichts dieser unerwarteten Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Alle schwiegen angespannt. Er konnte diese Idee doch nicht wirklich ernst nehmen?

»Es würde ein Paar helfende Hände weniger bedeuten, aber auch ein Maul weniger zu stopfen.« Angus ließ nicht locker. »Du hast gestern selbst gesagt, dass du uns nicht alle durch den Winter bringen kannst.«

»Dann wäre es an dir, die Last zu verringern«, brauste Mhairi hitzig auf. Das war der berühmte »rote Blitz«, mit dem ihre Familie sie immer aufzog. »Du bist schließlich der älteste Sohn!«

»Und ich bemühe mich eifrig um eine Frau«, lenkte Angus ein. »Wenn es in diesem Winter nicht zu einem Arrangement kommt, werde ich im Frühling nach Skye reisen.«

Dann wird er das wohl tun müssen, dachte Mhairi, denn weder Flora noch Effie würden ihn jemals als Ehemann akzeptieren. Besonders Flora – nun, da sie den Brief von Mr Callaghan bekommen hatte, der ihre schon lange gehegte Vorstellung bestätigte, dass etwas Größeres für sie bestimmt war als das Leben einer Ehefrau auf St. Kilda.