Der Zitronentisch - Julian Barnes - E-Book

Der Zitronentisch E-Book

Julian Barnes

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Beschreibung

»Erzählungen von großer Meisterschaft, mit Witz, mit Tempo, mit Frechheit« Elke Heidenreich Julian Barnes wird immer wieder gepriesen für seine stilistische Brillanz, für die scharfe Beobachtungsgabe, die Ironie und den oft schwarzen Humor. Der Erzählungsband mit dem geheimnisvollen Titel Der Zitronentisch zeigt Julian Barnes in seiner ganzen Meisterschaft. Jede Erzählung steht für sich, doch sind alle durch das Thema miteinander verbunden – das Altern. Ob die Erzählungen nun im 19. Jahrhundert oder in unserer Zeit spielen, die Menschen nähern sich dem Ende ihres Lebens, dem Ende, das sich in besonderen Erfahrungen und oft irrwitzigen Situationen ankündigt. Sie gehen damit gelassen um oder aufbegehrend, resigniert oder bitter. Die Zitrone, erfährt der Leser in der letzten Erzählung Stille, ist für die Chinesen das Symbol des Todes. In dieser Erzählung über den ausgebrannten Komponisten Sibelius treffen sich die alten Männer an einem (nicht Stamm-, sondern) Zitronentisch, um über ihr Ende zu sprechen: »Kopf hoch! Der Tod ist nicht mehr fern.« Julian Barnes erhielt 2004 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Der Preis wurde im August 2005 verliehen.

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Seitenzahl: 289

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Julian Barnes

Der Zitronentisch

Erzählungen

Aus dem Englischen von Gertraude Krueger

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Julian Barnes

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungEine kurze Geschichte des Haareschneidens1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelDie Geschichte von Mats IsraelsonWas du alles weißt1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelHygieneAufleben1 Petersburg2 Die wirkliche Reise3 Die Traumreise4 In Jasnaja PoljanaWachdienstRindeFranzösischkenntnisseAppetitDer ObstbaumkäfigDie Stille
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Die Arbeit der Übersetzerin an dem vorliegenden Werk wurde vom ­Deutschen Übersetzungsfonds e. V. gefördert.

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Für Pat

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Eine kurze Geschichte des Haareschneidens

1

Das erste Mal, nach dem Umzug, war seine Mutter mitgekommen. Wahrscheinlich wollte sie sich den Haarschneider näher ansehen. Als ob der Satz »hinten und an den Seiten kurz, oben etwas ab« hier in diesem neuen Vorort eine andere Bedeutung haben könnte. Er bezweifelte das. Alles andere war offenbar gleich geblieben: der Folterstuhl, der Krankenhausgeruch, der Streichriemen und das zusammengeklappte Rasiermesser – nicht zum Schutz zusammengeklappt, sondern als Drohung. Vor allem war der Foltermeister gleich geblieben, ein Irrer mit riesigen Händen, der dir den Kopf runterdrückte, bis es dir schier die Luftröhre zerriss, der dir mit seinen Bambusfingern ins Ohr stach. »Generalinspektion, gnä’ Frau?«, sagte er schleimig, als er fertig war. Die Mutter schüttelte die Nachwirkungen ihrer Illustrierten ab und stand auf. »Sehr nett«, sagte sie geistesabwesend, wobei sie sich über ihn beugte und nach irgendeinem Zeug roch. »Nächstes Mal schick ich ihn allein her.« Draußen hatte sie ihm über die Wange gestrichen, ihn mit leerem Blick angesehen und gemurmelt: »Du armes geschorenes Lämmchen.«

Jetzt war er auf sich allein gestellt. Während er an dem Maklerbüro, dem Sportgeschäft und dem Fachwerkhaus mit der Bank vorbeiging, übte er den Spruch: »Hinten und an den Seiten kurz oben etwas ab.« Er sagte das eindringlich, ohne Komma; man musste die Worte unbedingt richtig aussprechen, wie bei einem Gebet. In seiner Tasche steckte ein Schilling und Threepence; er stopfte das Taschentuch fester hinein, damit die Münzen nicht herausfielen. Er mochte es nicht, wenn er keine Angst haben durfte. Beim Zahnarzt war das einfacher: Da ging die Mutter immer mit, der Zahnarzt tat einem immer weh, aber hinterher gab es ein Bonbon, weil man so tapfer gewesen war, und wenn man ins Wartezimmer zurückkam, spielte man vor den anderen Patienten den starken Mann. Man war der Stolz seiner Eltern. »An der Front gewesen, Kamerad?«, sagte sein Vater dann. Schmerzen öffneten den Zugang zur Welt der Erwachsenenausdrücke. Der Zahnarzt sagte immer: »Richte deinem Vater aus, du bist kriegsverwendungsfähig. Der versteht das schon.« Also ging er nach Hause, sein Dad fragte: »An der Front gewesen, Kamerad?«, und er antwortete: »Mister Gordon sagt, ich bin kriegsverwendungsfähig.«

Fast kam er sich wichtig vor, als beim Hineingehen die Tür so erwachsen gegen seine Hand federte. Doch der Haarschneider nickte nur, deutete mit dem Kamm auf die Reihe hochlehniger Stühle und nahm wieder seine geduckt-stehende Haltung über einem weißhaarigen Alten ein. Gregory setzte sich. Sein Stuhl knarrte. Gregory musste jetzt schon aufs Klo. Neben ihm stand ein Behälter mit Illustrierten, den er nicht zu erkunden wagte. Er guckte starr auf die Hamsternester von Haaren auf dem Fußboden.

Als er an der Reihe war, schob der Haarschneider ein dickes Gummikissen auf den Sitz. Das wirkte wie eine Beleidigung: Er trug schon seit zehneinhalb Monaten lange Hosen. Aber das war typisch: Du konntest nie sicher sein, welche Regeln hier galten, konntest nie sicher sein, ob alle so gefoltert wurden oder nur du. So wie jetzt: Der Haarschneider wollte ihn mit dem Umhang erdrosseln. Er zog ihn stramm um Gregorys Hals und steckte ihm dann noch ein Tuch in den Kragen. »Was können wir denn für Sie tun, junger Mann?« Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass eine so niederträchtige und hinterlistige Assel, wie Gregory es offenbar war, sich aus den verschiedensten Gründen in seinen Laden verirrt haben könnte.

Nach kurzem Schweigen sagte Gregory: »Einmal Haare schneiden, bitte.«

»Da bist du hier richtig, würde ich sagen, meinst du nicht auch?« Der Haarschneider tippte ihm mit dem Kamm auf den Kopf; nicht schmerzhaft, aber auch nicht leicht.

»Hinten-und-an-den-Seiten-kurz-oben-etwas-ab-bitte.«

»Allmählich kommen wir auf Trab«, sagte der Haarschneider.

Knaben nahmen sie nur zu bestimmten Zeiten in der Woche dran. Auf einem Schild stand SAMSTAGVORMITTAGS KEINE KNABEN. Samstagnachmittag war sowieso geschlossen, also hätte da genauso gut stehen können SAMSTAGS KEINE KNABEN. Knaben mussten dann kommen, wenn Männer nicht wollten. Jedenfalls keine Männer, die arbeiteten. Er ging dann, wenn die anderen Kunden Rentner waren. Es gab drei Haarschneider, alle mittleren Alters, in weißen Kitteln, die abwechselnd Jugend und Alter bedienten. Sie katzbuckelten vor den sich ständig räuspernden alten Knackern, führten rätselhafte Gespräche mit ihnen, spielten sich auf, als legten sie Wert auf diese Kundschaft. Die alten Knacker trugen auch im Sommer Mantel und Schal und gaben beim Hinausgehen ein Trinkgeld. Gregory beobachtete diese Transaktion aus dem Augenwinkel heraus. Ein Mann gab einem anderen Geld, ein verstohlener halber Händedruck, bei dem beide so taten, als wäre die Übergabe nicht geschehen.

Knaben gaben kein Trinkgeld. Vielleicht war das der Grund, warum Haarschneider Knaben hassten. Sie bezahlten weniger, und sie gaben kein Trinkgeld. Außerdem hielten sie nicht still. In Wirklichkeit sagten ihre Mütter, sie sollten stillhalten, sie hielten still, aber das hinderte den Haarschneider nicht daran, ihnen mit einer Handfläche, so hart wie die Flachseite eines Beils, auf den Kopf zu schlagen und zu murmeln: »Stillhalten.« Man hörte Geschichten von Knaben, denen die Ohrläppchen abgesäbelt worden waren, weil sie nicht stillgehalten hatten. Bei dem Wort Halsabschneider musste Gregory immer an Rasiermesser denken. Alle Friseure waren Irre.

»Wölfling, ja?« Es dauerte eine Weile, bis Gregory begriff, dass er angesprochen war. Dann wusste er nicht, ob er den Kopf unten lassen oder hochschauen und den Friseur im Spiegel ansehen sollte. Schließlich ließ er den Kopf unten und sagte: »Nein.«

»Schon Pfadfinder?«

»Nein.«

»Kreuzfahrer?«

Gregory wusste nicht, was das war. Er wollte den Kopf heben, aber der Haarschneider klopfte ihm mit dem Kamm auf den Schädel. »Stillhalten, hab ich gesagt.« Gregory fürchtete sich so vor diesem Irren, dass er nicht antworten konnte, was der Haarschneider als Verneinung auffasste. »Prachtvolle Organisation, die Kreuzfahrer. Denk mal drüber nach.«

Gregory dachte, da wird man von den Krummschwertern der Sarazenen zerstückelt, mitten in der Wüste an einen Pfahl gebunden und bei lebendigem Leib von Ameisen und Geiern aufgefressen. Doch erst einmal ließ er die kalte Glätte der Schere über sich ergehen – sie war immer kalt, auch wenn sie gar nicht kalt war. Mit fest geschlossenen Augen ertrug er die kitzlige Folter von Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Er saß immer noch da ohne hinzuschauen und fest überzeugt, dass der Haarschneider schon längst hätte aufhören sollen, aber so ein Irrer wie der würde wahrscheinlich ewig weiterschnippeln, bis Gregory eine Glatze hatte. Nun kam noch das Abziehen des Rasiermessers, was bedeutete, dass gleich der Halsabschneider eingesetzt würde; das trockene Kratzen der Klinge an den Ohren und im Nacken; der Fliegenwedel, der ihm in Augen und Nase fuhr, um die Haare herauszuwischen.

Das machte jedes Mal Angst. Es gab aber noch Gruseligeres hier. Er hatte den Verdacht, dass das unanständig war. Alles, was man nicht verstand oder nicht verstehen sollte, war in der Regel unanständig. So wie die Barbierstange. Die war eindeutig unanständig. In dem früheren Salon hatte es nur einen alten angemalten Holzpflock mit farbigen Streifen gegeben. Hier war die Stange elektrisch betrieben und drehte sich ständig wirbelnd im Kreis herum. Das ist noch unanständiger, dachte er. Dann war da dieser Behälter mit Illustrierten. Von denen waren bestimmt auch einige unanständig. Alles war unanständig, wenn man es dazu machen wollte. Das war die große Wahrheit des Lebens, die er gerade entdeckt hatte. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Gregory mochte unanständige Sachen.

Ohne den Kopf zu bewegen, betrachtete er im Nachbarspiegel einen Rentner zwei Stühle weiter. Der hatte die ganze Zeit mit so einer lauten Stimme gerattert, wie alte Knacker sie immer hatten. Nun beugte sich der Haarschneider mit einer kleinen Kugelspitzenschere über ihn und schnitt ihm Haare aus den Augenbrauen. Dann machte er dasselbe mit den Nasenlöchern, dann den Ohren. Schnippelte ihm große Sprossen aus den Lauschern. Absolut ekelhaft. Zum Schluss tupfte er dem alten Knacker Puder in den Nacken. Wozu das wohl gut war?

Jetzt hatte der Foltermeister die Haarschneidemaschine gezückt. Das mochte Gregory auch nicht. Manchmal nahmen sie eine handbetriebene Maschine und fuhren ihm wie mit einem Dosenöffner quietsch-knirsch, quietsch-knirsch oben um den Schädel rum, bis sein Gehirn bloßlag. Aber das hier war so ein surrender Apparat, und der war noch schlimmer, weil man davon einen tödlichen Stromschlag bekommen konnte. Er hatte sich das schon hundertmal vorgestellt. Der Haarschneider surrt drauflos, merkt gar nicht, was er da tut, hasst dich sowieso, weil du ein Knabe bist, schneidet dir ein Stück vom Ohr ab, das Blut läuft über die Haarschneidemaschine, es gibt einen Kurzschluss, du kriegst einen Schlag und bist auf der Stelle tot. Bestimmt schon Millionen Mal passiert. Und der Haarschneider kam immer mit dem Leben davon, weil er Schuhe mit Gummisohlen anhatte.

In der Schule schwammen sie nackt. Mr Lofthouse trug einen bauschigen Schurz, damit sie seinen Schwanz nicht sehen konnten. Die Jungen zogen sich ganz aus, duschten sich gegen Läuse oder Warzen oder was auch immer, oder weil sie stanken, so wie Wood, dann sprangen sie ins Becken. Erst sprang man hoch, und bei der Landung klatschte einem das Wasser an die Eier. Das war unanständig, darum durfte der Lehrer das nicht sehen. Das Wasser zog einem die Eier zusammen, wodurch der Puller noch weiter rausstand, und hinterher trockneten sie sich ab und guckten sich gegenseitig an, ohne richtig hinzuschauen, mehr so von der Seite, wie in dem Spiegel beim Haarschneider. Alle in der Klasse waren gleich alt, aber manche waren untenrum noch ganz kahl; einige hatten wie Gregory oben einen Querstreifen von Haaren, aber nichts an den Eiern; und andere wie Hopkinson und Shapiro waren schon so behaart wie Männer, und die Farbe war dunkler, bräunlich, wie bei Dad, wenn Gregory in einem Stehklo zu ihm hinüberschielte. Wenigstens hatte Gregory überhaupt schon Haare, anders als Bristowe der Kahle und Hall und Wood. Aber wie waren Hopkinson und Shapiro so geworden? Alle anderen hatten Puller; Hopkinson und Shapiro hatten schon Schwänze.

Er musste aufs Klo. Das ging jetzt nicht. Er durfte nicht daran denken. Er konnte es anhalten, bis er zu Hause war. Die Kreuzfahrer kämpften gegen die Sarazenen und erlösten das Heilige Land von den Heiden. Sie trugen Wappenröcke mit Kreuzen drauf. Und Unterröcke mit Blümchen, Herr Lehrer? Das war so ein Witz von Wood. In diesen Kettenhemden wurde es ihnen bestimmt heiß in Israel. Er durfte nicht daran denken, dass er jetzt eine Goldmedaille gewinnen könnte, wenn jemand gesagt hätte: »Wer pinkelt am höchsten gegen die Wand?«

»Hier aus der Gegend?«, fragte der Haarschneider plötzlich. Gregory sah ihn sich zum ersten Mal richtig im Spiegel an. Rotes Gesicht, kleiner Schnurrbart, Brille, gelbliches Haar von der Farbe eines Schülerlineals. Quis custodiet ipsos custodes, hatten sie gelernt. Und wer schneidet die Haare der Haarschneider? Der da war nicht nur irre, sondern noch dazu pervers, das sah man gleich. Jeder wusste, dass Millionen Perverse frei herumliefen. Der Schwimmlehrer war auch einer. Nach der Stunde, wenn sie in ihren Handtüchern bibberten, wenn ihre Eier ganz schrumpelig waren und alle Puller plus zwei Schwänze rausstanden, spazierte Mr Lofthouse am Beckenrand lang, stieg auf das Sprungbrett, wartete, bis ihn alle beachteten mit seinen gewaltigen Muskeln und der Tätowierung und den ausgestreckten Armen und dem gebauschten Schurz mit Kordeln um den Hintern, holte dann tief Luft, sprang rein und tauchte unter Wasser durch das ganze Becken. Fünfundzwanzig Meter unter Wasser. Danach schlug er an und kam wieder hoch, und alle klatschten Beifall – nicht, dass sie das ehrlich meinten –, aber er achtete gar nicht darauf und trainierte verschiedene Lagen. Er war pervers. Wahrscheinlich waren die meisten Lehrer pervers. Einer trug einen Ehering. Das war der Beweis, dass er pervers war.

Und der da auch. »Wohnst du hier in der Gegend?«, fragte er noch einmal. Darauf fiel Gregory nicht rein. Der käme womöglich an und wollte ihn für die Pfadfinder oder die Kreuzfahrer anwerben. Dann würde er Mami fragen, ob Gregory zum Zelten im Wald mitkommen dürfte – aber da wäre dann nur ein Zelt, und er würde Gregory was von Bären erzählen, und obwohl sie in der Schule Geografie hatten und er wusste, dass die Bären in Großbritannien etwa zur Zeit der Kreuzfahrer ausgestorben waren, würde er es halbwegs glauben, wenn der Perverse ihm erzählte, da wäre ein Bär.

»Nicht mehr lange«, antwortete er. Das war nicht besonders schlau, das merkte er gleich. Sie waren ja eben erst hergezogen. Der Haarschneider würde spöttische Bemerkungen machen, wenn Gregory noch jahrelang wiederkäme. Er warf einen hastigen Blick nach oben in den Spiegel, doch der Perverse ließ sich nichts anmerken, sondern machte gedankenlos ein letztes Mal schnipp. Dann griff er Gregory in den Kragen und wackelte daran herum, damit möglichst viele Haare in sein Hemd fielen. »Überleg dir das mit den Kreuzfahrern«, sagte er, während er langsam den Umhang wegzog. »Das könnte was für dich sein.«

Gregory sah sich wiedergeboren unter dem Leichentuch auftauchen, unverändert, nur seine Ohren standen jetzt weiter ab. Er rutschte auf dem Gummikissen nach vorn. Der Kamm knallte ihm auf den Kopf, jetzt noch schmerzhafter, weil er weniger Haare hatte.

»Nicht so stürmisch, junger Freund.« Der Haarschneider ging gemächlich durch den ganzen lang gezogenen Salon und kam mit einem tablettartigen, ovalen Spiegel zurück. Den hielt er nach unten, um Gregory seinen Hinterkopf zu zeigen. Gregory schaute in den ersten Spiegel, in den zweiten Spiegel, und dann wieder heraus. Das war nicht sein Hinterkopf. So sah der nicht aus. Er merkte, wie er rot wurde. Er musste aufs Klo. Der Perverse zeigte ihm einen fremden Hinterkopf. Schwarze Magie. Gregory starrte immer weiter, wurde immer röter und schaute wie gebannt auf diesen fremden Hinterkopf, glatt rasiert und wie gemeißelt, bis ihm klar wurde, dass er nie nach Hause käme, wenn er nicht das Spiel des Perversen mitspielte, darum warf er einen letzten Blick auf diesen unbekannten Schädel, sah im Spiegel beherzt weiter nach oben zu den gleichgültigen Brillengläsern des Haarschneiders und sagte leise: »Ja.«

2

Der Friseur schaute mit höflicher Verachtung nach unten und fuhr Gregory probehalber mit dem Kamm durch die Haare: als wäre tief unten im Gestrüpp vielleicht noch ein längst vergessener Scheitel zu finden, wie ein Pilgerpfad aus dem Mittelalter. Nach einer resignierten Drehung des Kamms klatschte ihm ein Großteil der Haare nach vorn über die Augen und bis zum Kinn hinunter. Hinter dem jähen Vorhang dachte er, Ach, leck mich am Arsch. Er war nur hier, weil Allie ihm nicht mehr die Haare schnitt. Im Moment jedenfalls nicht. Die Erinnerung traf ihn mit voller Wucht: Er war in der Badewanne, sie wusch ihm die Haare und schnitt sie dann, während er im Wasser saß. Er zog den Stöpsel raus, und sie spritzte ihm die abgeschnittenen Haare mit der Brause ab, spielte mit dem Strahl, und wenn er dann aufstand, lutschte sie ihm oft gleich noch den Schwanz, einfach so, und zupfte ihm dabei die letzten abgeschnittenen Haare ab. Yeah.

»Wünschen Sie eine bestimmte … Stelle … Sir?« Der Typ gab sich bei seiner Suche nach einem Scheitel scheinheilig geschlagen.

»Einfach glatt nach hinten.« Gregory rächte sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung, sodass die Haare über seinen Kopf zurückflogen und wieder da waren, wo sie hingehörten. Er streckte die Hand unter dem wichs-zelt-artigen Nylonfrisiermantel hervor, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bis sie wieder richtig lagen, und lockerte sie auf. So, wie sie waren, als er hereingekommen war.

»Wünschen Sie eine bestimmte … Länge … Sir?«

»Acht Zentimeter über den Kragen. Und an den Seiten bis zum Knochen, etwa hier.« Gregory zeigte die Stelle mit den Mittelfingern an.

»Und wünschen Sie auch eine Rasur, wo wir schon dabei sind?«

Unverschämtheit. So sieht ein gut rasierter Mann heutzutage aus. Nur Anwälte und Ingenieure und Förster tauchen jeden Morgen in ihren kleinen Kulturbeutel und fallen über die Stoppeln her wie die Calvinisten. Gregory drehte sich seitlich zum Spiegel hin und schielte zu seinem Ebenbild zurück. »Sie mag es so«, sagte er leichthin.

»Also verheiratet, ja?«

Pass bloß auf, du Schleimscheißer. Komm mir ja nicht so. Die Kumpeltour zieht bei mir nicht. Aber vielleicht bist du ja bloß schwul. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Ich bin da ganz liberal.

»Oder sparen Sie noch, um sich unter dieses Joch zu begeben?«

Gregory würdigte ihn keiner Antwort.

»Hab’s selbst siebenundzwanzig Jahre ertragen«, sagte der Typ und fing an zu schnippeln. »Hat seine Höhen und Tiefen wie alles andere auch.«

Gregory grunzte etwas annähernd Aussagekräftiges, so wie beim Zahnarzt, wenn der ganze Mund voll Metallteilen war und der Mechaniker unbedingt einen Witz erzählen musste.

»Zwei Kinder. Na, eins ist jetzt schon erwachsen. Das Mädchen ist noch zu Hause. Ehe man sich’s versieht, ist die auch ausgeflogen. Am Ende verlassen sie alle das Nest.«

Gregory sah in den Spiegel, aber der Typ schaute ihn nicht an, er hatte den Kopf gebeugt und schnippelte drauflos. Vielleicht war er doch nicht so übel. Mal abgesehen davon, dass er ein Schwätzer war. Und natürlich psychisch hoffnungslos deformiert durch jahrzehntelange Unterwerfung unter die ausbeuterische Herrschaftsordnung.

»Aber vielleicht sind Sie nicht für die Ehe geschaffen, Sir.«

Also Moment mal. Wer bezichtigt hier wen, schwul zu sein? Friseure waren ihm schon immer zuwider gewesen, und der da war keine Ausnahme. Ein beschissener Provinzheini mit 2 Komma 4 Kindern, der seine Hypotheken abzahlt, sein Auto wäscht und wieder in die Garage fährt. Hübscher kleiner Schrebergarten unten an den Bahngleisen, Ehefrau mit Mopsgesicht, die ihre Wäsche an so einem eisernen Karusselldings aufhängt, yeah, yeah, ich seh’s direkt vor mir. Vielleicht spielt er samstagnachmittags in irgendeiner Gurkentruppen-Liga den Schiedsrichter. Nein, nicht mal den Schiedsrichter, höchstens den Linienrichter.

Gregory merkte, dass der andere schwieg, als erwartete er eine Antwort. Der erwartet eine Antwort? Woher nimmt er sich eigentlich das Recht? Okay, dem werd ich’s zeigen.

»Die Ehe ist das einzige Abenteuer, das auch dem Feigling offensteht.«

»Tja, also, Sie sind bestimmt sehr viel klüger als ich, Sir«, antwortete der Friseur in einem Ton, der nicht unbedingt Hochachtung verriet. »Wo Sie doch an der Universität sind.«

Gregory grunzte nur wieder.

»Ich kann das natürlich nicht beurteilen, aber mir kommt es immer so vor, als ob man den Studenten an den Universitäten mehr Verachtung beibringt, als ihnen zusteht. Wird schließlich alles von unserem Geld bezahlt. Ich bin froh, dass mein Junge aufs Technikum gegangen ist. Hat ihm nichts geschadet. Verdient jetzt gutes Geld.«

Yeah, yeah, genug, um die nächsten 2 Komma 4 Kinder zu ernähren und sich eine etwas größere Waschmaschine und eine etwas weniger mopsgesichtige Frau zu leisten. Tja, wer’s mag. Scheiß-England. Na, bald würde das alles hinweggefegt sein. Und diese Läden wären als Erstes weg, verknöcherte alte Institutionen auf der Basis von Herrschaftsverhältnissen, nichts als gespreizte Konversation, Klassenbewusstsein und Trinkgelder. Gregory hielt nichts von Trinkgeldern. Er betrachtete sie als Zementierung gesellschaftlich bedingter Unterwürfigkeit, gleichermaßen erniedrigend für Geber und Nehmer. Eine Korrumpierung sozialer Beziehungen. Und er konnte es sich auch gar nicht leisten. Außerdem war er doch nicht bescheuert und gab einem Heckentrimmer, der ihn beschuldigte, ein warmer Bruder zu sein, auch noch ein Trinkgeld.

Diese Burschen würden sich sowieso nicht mehr lange halten. In London gab es Läden, die von Architekten gestaltet waren und wo auf topmodernen Anlagen die neuesten Hits gespielt wurden, während dir lässige Typen einen Stufenschnitt verpassten, sodass die Frisur der Persönlichkeit entsprach. Kostete offenbar ein Vermögen, war aber besser als das. Kein Wunder, dass der Laden leer war. Oben auf einem Regal stand ein kaputtes Bakelit-Radio und spielte Tanzteeschmus. Die sollten hier Bruchbänder und Stützkorsetts und Kompressionsstrümpfe verkaufen. Den Markt für Prothesen komplett übernehmen. Holzbeine, Stahlhaken für abgerissene Hände. Und Perücken, natürlich. Warum verkauften Friseure nicht auch Perücken? Zahnärzte verkauften doch auch falsche Zähne.

Wie alt mochte der Mann sein? Gregory sah ihn sich an: knochig, gehetzter Blick, Haare absurd kurz geschnitten und mit Brylcreme angeklatscht. Hundertvierzig? Gregory rechnete nach. Siebenundzwanzig Jahre verheiratet. Also: Fünfzig? Fünfundvierzig, wenn er ihr gleich ein Kind gemacht hatte, als er sich zum ersten Mal die Hose aufknöpfte. Wenn er je so kühn gewesen war. Haare schon grau. Wahrscheinlich waren seine Schamhaare auch grau. Ob Schamhaare grau wurden?

Der Friseur beendete die Heckentrimmphase, steckte die Schere beleidigend in ein Glas mit Desinfektionsmittel und zog eine andere, stummelartige hervor. Schnipp, schnipp. Haare, Haut, Fleisch, Blut, alles so verdammt nahe beieinander. In früheren Zeiten, als jeder ärztliche Eingriff noch eine Metzelei war, fungierten Barbiere auch als Bader und Wundärzte. Der rote Streifen an der traditionellen Barbierstange stand für den Stofffetzen, den der Barbier einem beim Aderlass um den Arm band. Sein Ladenschild zeigte auch ein Becken, das war die Schale, in der das Blut aufgefangen wurde. Das hatten sie nun alles aufgegeben und waren zu Friseuren herabgesunken. Zu Schrebergärtnern, die auf die Erde einstachen statt auf den ausgestreckten Unterarm.

Er konnte immer noch nicht begreifen, warum Allie Schluss gemacht hatte. Angeblich war er zu besitzergreifend, angeblich nahm er ihr die Luft zum Atmen, angeblich kam sie sich vor wie mit ihm verheiratet. Lächerlich, hatte er erwidert: Er kam sich vor, als wäre er mit einer Frau zusammen, die gleichzeitig auch mit einem halben Dutzend anderer Männer ging. Genau das meine ich, hatte sie gesagt. Ich liebe dich, hatte er in jäher Verzweiflung gesagt. Es war das erste Mal, dass er das zu irgendwem sagte, und er merkte gleich, es kam nicht richtig an. So etwas sollte man sagen, wenn man sich stark fühlt, nicht schwach. Wenn du mich liebtest, würdest du mich verstehen, hatte sie erwidert. Na, dann verpiss dich doch und atme, hatte er gesagt. Es war einfach nur ein Krach, ein blöder, beschissener Krach, mehr nicht. Hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Es bedeutete nur, dass sie jetzt nicht mehr zusammen waren.

»Noch was ins Haar, Sir?«

»Was?«

»Noch was ins Haar?«

»Nein. Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen.«

Der Friseur seufzte, als hätte er die letzten zwanzig Minuten nichts anderes getan, als der Natur ins Handwerk zu pfuschen, und dieser nur allzu notwendige Eingriff hätte in Gregorys Fall mit einer Niederlage geendet.

Das Wochenende stand bevor. Neuer Haarschnitt, sauberes Hemd. Zwei Partys. Heute Abend gemeinschaftliches Bierchenstemmen. Stockbesoffen werden und abwarten, was dann passiert: Das ist meine Vorstellung davon, der Natur nicht ins Handwerk zu pfuschen. Autsch. Nein. Allie. Allie, Allie, Allie. Bind mir den Arm ab. Ich biete dir meine Handgelenke dar, Allie. Die Stelle kannst du dir aussuchen. Nichtmedizinische Gründe, aber stich nur zu. Tu, was du nicht lassen kannst. Lass mein Blut fließen.

»Was haben Sie da eben über die Ehe gesagt?«

»Äh? Ach, das einzige Abenteuer, das auch dem Feigling offensteht.«

»Tja, wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten, Sir, die Ehe hat mir immer sehr gut getan. Aber Sie sind bestimmt sehr viel klüger als ich, wo Sie doch an der Universität sind.«

»Das war ein Zitat«, sagte Gregory. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass die fragliche Autorität klüger war als wir beide zusammen.«

»So klug, dass er nicht an Gott glaubte, nehme ich an?«

Ja, so klug, wollte Gregory sagen, ganz genau so klug. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Nur wenn er unter Mitskeptikern war, hatte er den Mut, Gott zu leugnen.

»Und, verzeihen Sie die Frage, Sir, war er für die Ehe geschaffen?«

Hm. Gregory überlegte. Es hatte nie eine Madame gegeben, oder? Immer nur Mätressen, davon war er überzeugt.

»Nein, ich glaube nicht, dass er für die Ehe geschaffen war, wie Sie das nennen.«

»Dann war er vielleicht, Sir, kein Experte?«

In alten Zeiten, dachte Gregory, standen die Barbiere in üblem Ruf, weil bei ihnen die Müßiggänger zusammenkamen und den neuesten Klatsch austauschten, weil ihre Kunden mit Lauten- und Gambenspiel unterhalten wurden. Das kam jetzt alles wieder, zumindest in London. Salons voller Klatschgeschichten und Musik, von Stylisten geleitet, deren Namen man in den Gesellschaftsnachrichten lesen konnte. Da liefen Mädchen in schwarzen Pullovern rum und wuschen einem erst mal die Haare. Wow. Man brauchte sich nicht mehr die Haare zu waschen, ehe man loszog, um sie schneiden zu lassen. Man kam einfach fröhlich winkend hereinspaziert und machte es sich mit einer Illustrierten bequem.

Der Experte in Ehesachen holte einen Spiegel und zeigte Gregory eine doppelte Sicht seines Werks. Saubere Arbeit, das musste er zugeben, an den Seiten kurz, hinten lang. Nicht wie bei manchen Typen im College, die ihre Haare einfach in alle Richtungen zugleich wachsen ließen, Klobürstenbärte, altenglische Koteletten, fettige Wasserfälle über den Schultern und was sonst noch alles. Nein, man soll der Natur nur ein bisschen ins Handwerk pfuschen, das war sein wahres Motto. Der ewige Kampf zwischen Natur und Zivilisation, der hält uns in Schwung. Obwohl das natürlich die Frage der Definition von Natur und Zivilisation offenließ. Es ging ja nicht nur um die Entscheidung zwischen einem Leben als Tier und einem Leben als Bourgeois. Es ging … ach, um alles Mögliche. Er hatte ein jähes, schmerzhaftes Verlangen nach Allie. Lass mein Blut fließen, dann verbinde mich. Wenn er sie zurückholen könnte, würde er nicht mehr so besitzergreifend sein. Dabei hatte er das nur als Nähe empfunden, als Zweisamkeit. Ihr hatte es zuerst auch gefallen. Zumindest hatte sie nichts dagegen gehabt.

Er merkte, dass der Friseur immer noch den Spiegel hochhielt.

»Ja«, sagte er gleichgültig.

Der Spiegel wurde aufs Gesicht gelegt und der wichszeltartige Nylonmantel weggezogen. Eine Bürste wutschte an seinem Kragen hin und her. Dabei musste er an einen Jazz-Schlagzeuger mit gefühlvollen Handgelenken denken. Wutsch-wutsch. Sein Leben war doch noch lange nicht vorbei, oder?

Der Laden war leer, und aus dem Radio kam immer noch ein klebriges Winseln, aber dennoch war die Stimme gedämpft, die nahe an seinem Ohr wisperte: »Noch etwas fürs Wochenende, Sir?«

Am liebsten hätte er gesagt, yeah, ein Fahrschein nach London, ein Termin bei Vidal Sassoon, ein Paket Grillwürstchen, ein Kasten Ale, was Anständiges zu rauchen, Musik zum Betäuben der Sinne und eine Frau, die mich wirklich mag. Stattdessen dämpfte er selbst die Stimme und antwortete: »Ein Päckchen Durex, bitte.«

Endlich zum Komplizen des Friseurs geworden, schritt er hinaus in den hellen Tag, und das Wochenende konnte beginnen.

3

Bevor er aufbrach, ging er ins Bad, zog den Rasierspiegel an dem Teleskoparm nach vorn, drehte ihn auf die Schminkseite und holte die Nagelschere aus dem Kulturbeutel. Zuerst stutzte er ein paar lange, filzige Augenbrauenhaare, dann drehte er sich etwas zur Seite, sodass das Licht auf alles fiel, was ihm aus den Ohren spross, und machte ein-, zweimal schnipp. Leicht deprimiert schob er die Nase nach oben und betrachtete die Tunnelöffnungen. Nichts von übertriebener Länge, im Moment jedenfalls nicht. Er feuchtete eine Ecke des Waschlappens an, schrubbte sich hinter den Ohren, fuhr um die knorpeligen Gänge herum und stupste zum Schluss in die wächsernen Grotten. Als er sich im Spiegel betrachtete, waren seine Ohren durch das Reiben leuchtend rosa, als wäre er ein schüchterner Knabe oder ein Student, der keinen Mut hat zum Küssen.

Wie hieß dieser Belag noch mal, der den feuchten Waschlappen weiß färbte? Er sagte Ohrschorf dazu. Ärzte hatten möglicherweise einen Fachausdruck dafür. Gab es Pilzinfektionen hinter dem Ohr, ein aurikulares Pendant zu Fußpilz? Nicht sehr wahrscheinlich: Die Gegend war zu trocken. Also war Ohrschorf vielleicht ganz okay; und vielleicht hatte jeder seinen eigenen Namen dafür, sodass man keine allgemeine Bezeichnung brauchte.

Komisch, dass noch niemand einen neuen Namen für die Heckentrimmer und Baumskulpteure erfunden hatte. Erst Haarschneider, dann Friseure. Aber wann hatten sie je Männern die Haare »frisiert«? Stylisten? Hochgestochen. »Lockendreher«? Bemüht witzig. Genau wie der Ausdruck, den er neuerdings Allie gegenüber verwendete. »Ich geh mal kurz zum Glatzenstriegler«, verkündete er.

»Ähm, um drei Uhr bei Kelly.«

Ein indigoblauer Fingernagel hangelte sich durch eine Reihe mit Bleistift geschriebener Großbuchstaben. »Ja. Gregory?«

Er nickte. Als er beim ersten Mal telefonisch einen Termin ausmachte und nach dem Namen gefragt wurde, hatte er »Cartwright« geantwortet. Am anderen Ende war Schweigen, darum hatte er gesagt: »Mister Cartwright«, bevor ihm klar wurde, was es mit dem Schweigen auf sich hatte. Jetzt sah er sich verkehrt herum im Terminplan stehen: GREGGORY.

»Kelly ist in einer Minute bei dir. Geh schon mal zum Waschen.«

Nach so vielen Jahren hatte er immer noch Mühe, sich in diese Position zu begeben. Vielleicht wollte seine Wirbelsäule nicht mehr so recht. Die Augen halb geschlossen, tastete man mit dem Nacken nach dem Beckenrand. Wie Rückenschwimmen, ohne dass man wusste, wo das Bassin zu Ende war. Und dann lag man da, den Hals von kaltem Porzellan gestützt und die Kehle preisgegeben. Verkehrt herum, in Erwartung des Messers der Guillotine.

Ein dickes Mädchen mit uninteressierten Händen machte die übliche Konversation mit ihm – »Ist das zu heiß?« »Warst du im Urlaub?« »Willst du Conditioner?« – und bemühte sich dabei halbherzig, mit der hohlen Hand das Wasser von seinen Ohren fern zu halten. Im Laufe der Zeit hatte er sich beim Glatzenstriegler eine halb belustigte Passivität angewöhnt. Als eine dieser rotgesichtigen Azubis das erste Mal fragte »Willst du Conditioner?«, hatte er »Was meinst du?« geantwortet, weil er glaubte, ihre höhere Sicht auf seinen Schädel befähige sie zu einem besseren Urteil über seine Bedürfnisse. Schiere Logik legte den Schluss nahe, wenn etwas »Conditioner« hieß, konnte es die Kondition der Haare nur verbessern; aber andererseits, was sollte die Frage, wenn die Antwort eigentlich schon feststand? Doch Bitten um Rat stifteten nur Verwirrung und hatten die vorsichtige Anwort zur Folge: »Ganz wie du willst.« Also gab er sich damit zufrieden, je nach Laune »Ja« oder »Heute nicht, danke« zu sagen. Auch je nach Fähigkeit des Mädchens, ihm kein Wasser in die Ohren laufen zu lassen.

Sie fasste ihn halb am Arm und führte ihn vorsichtig zu seinem Stuhl zurück, als wäre ein tropfender Mensch so etwas wie ein Blinder. »Magst du einen Tee, einen Kaffee?«

»Nichts, danke.«

Es gab nicht gerade Lauten- und Gambenspiel und eine Versammlung von Müßiggängern, die den neuesten Klatsch austauschten. Aber es gab ohrenbetäubend laute Musik, mehrere Getränke zur Auswahl und ein gutes Sortiment von Zeitschriften. Was wohl aus Reveille und Tit-Bits geworden war, die die alten Knacker immer lasen, damals, als er sich auf dem Gummisitz wand? Er suchte sich eine Marie Claire heraus, eine Frauenzeitschrift, mit der sich auch ein Kerl durchaus sehen lassen konnte.

»Hi, Gregory, wie geht’s?«

»Gut. Und selbst?«

»Kann nicht klagen.«

»Kelly, die neue Frisur gefällt mir.«

»Yeah. Mal was anderes.«

»Gefällt mir so. Sieht gut aus, fällt schön. Wie findest du’s?«

»Weiß noch nicht.«

»Nein, ist ein Hit.«

Sie lächelte. Er lächelte zurück. Er beherrschte das halb ernst gemeinte Kundengeplänkel. Es hatte nur etwa fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis er den richtigen Ton raushatte.

»Und, was machen wir heute?«

Er betrachtete sie im Spiegel, ein großes Mädchen mit einem scharf geschnittenen Bob, den er eigentlich nicht mochte; er fand, damit sah ihr Gesicht zu eckig aus. Aber was wusste er schon? Seine eigene Frisur war ihm gleichgültig. Kelly war ein ruhiger Mensch und hatte schnell begriffen, dass er nicht über seinen Urlaub ausgefragt werden wollte.

Als er nicht gleich antwortete, sagte sie: »Gehen wir in die Vollen und machen genau dasselbe wie letztes Mal?«

»Gute Idee.« Dasselbe wie letztes Mal, und nächstes Mal, und übernächstes Mal wieder.

In dem Salon herrschte die fröhliche Atmosphäre einer Krankenstation für ambulante Patienten beiderlei Geschlechts, die alle nichts Ernstes hatten. Damit hatte er keine Probleme; seine sozialen Ängste waren längst überwunden. Die kleinen Errungenschaften der reiferen Jahre. »Nun, Gregory Cartwright, leg Rechenschaft ab über dein bisheriges Leben.« »Tja, ich hab keine Angst mehr vor Religion und Haarschneidern.« Er war nie den Kreuzfahrern beigetreten, wer immer die gewesen sein mochten; er war den blindwütigen Missionaren in der Schule und auf der Uni erfolgreich aus dem Weg gegangen; er wusste jetzt, was er zu tun hatte, wenn es sonntagmorgens an der Tür läutete.

»Das wird Gott sein«, sagte er dann zu Allie. »Ich mach das schon.« Und dann stand ein adrettes, höfliches Paar vor der Tür, einer von beiden oftmals schwarz, manchmal mit einem niedlichen Kind im Schlepptau, und eröffnete das Gespräch mit einem unverfänglichen Satz wie »Wir gehen gerade von Haus zu Haus und fragen die Leute, ob sie sich Sorgen machen um den Zustand der Welt.« Der Trick war, sowohl das wahrheitsgemäße Ja wie auch ein überhebliches Nein zu vermeiden, damit sie da nicht einhaken konnten. Darum lächelte er hausväterlich und kam direkt zur Sache: »Religion?« Und ehe sie nun ihrerseits entscheiden konnten, ob Ja oder Nein die richtige Reaktion auf seine brutale Intuition war, beendete er die Unterredung mit einem energischen »Vielleicht haben Sie nebenan mehr Glück.«

Im Grunde mochte er es ganz gern, sich die Haare waschen zu lassen; meistens jedenfalls. Aber der Rest war reine Routine. Der Körperkontakt, der heutzutage offenbar dazugehörte, bereitete ihm nur geringes Vergnügen. Kelly drückte wie aus Versehen ihre Hüfte an seinen Oberarm oder streifte ihn mit anderen Körperteilen, und sie war nie übermäßig korrekt angezogen. In früheren Zeiten hätte er sich eingebildet, das gelte alles nur ihm allein, und wäre dankbar gewesen für das drapierte Tuch, das seinen Schoß bedeckte. Heute lenkte es ihn nicht mehr von Marie Claire ab.

Kelly erzählte, sie habe sich für einen Job in Miami beworben. Auf den Kreuzfahrtschiffen. Man fuhr fünf Tage, eine Woche, zehn Tage raus, dann hatte man Landurlaub, damit man das eben verdiente Geld ausgeben konnte. Eine Freundin von ihr war gerade da draußen. Hörte sich gut an.

»Aufregend«, sagte er. »Wann soll’s denn losgehen?« Er dachte: In Miami herrscht doch die Gewalt, oder nicht? Schießereien. Kubaner. Laster. Lee Harvey Oswald. Ob ihr auch nichts passiert? Und was ist mit sexuellen Belästigungen auf diesen Kreuzfahrtschiffen? Sie war ein gut aussehendes Mädchen. Verzeihung, Marie Claire, ich meinte: Frau. Aber doch irgendwie ein Mädchen, weil sie bei Leuten wie ihm solche halb elterlichen Gefühle auslöste: bei Leuten, die zu Hause blieben, zur Arbeit gingen und sich die Haare schneiden ließen. Sein Leben, das musste er zugeben, war ein einziges feiges Abenteuer gewesen.

»Wie alt bist du?«

»Siebenundzwanzig«, sagte Kelly, als sei das das äußerste Ende der Jugend. Wenn sie nicht umgehend etwas unternahm, würde ihr Leben in ewigem Mittelmaß dahingehen; noch ein paar Wochen, und sie wäre genauso wie diese alte Schachtel mit Lockenwicklern auf der anderen Seite des Salons.

»Ich habe eine Tochter, die fast so alt ist wie du. Na ja, sie ist fünfundzwanzig. Ich meine, wir haben noch eine andere. Insgesamt zwei.« Irgendwie kam das nicht richtig heraus.

»Wie lange bist du denn schon verheiratet?«, fragte Kelly gewissermaßen mathematisch erstaunt.